DAS BUCH

Mit neunzehn verließ Hanna Duncker ihre Heimat Öland, die raue Insel im Süden Schwedens. Damals wurde ihr Vater wegen Mordes und Brandstiftung verurteilt. Nie wieder wollte sie hierhin zurück. Weil sie nicht länger im Schatten der Schuld leben konnte, ist sie Polizistin geworden. Doch sechzehn Jahre sind vergangen, und nach dem Tod ihres Vaters zieht es sie nun plötzlich zurück. Kaum tritt sie ihren Dienst bei der Polizei von Kalmar an, wird ein Junge erstochen aufgefunden. Es ist Joel, der Sohn ihrer besten Schulfreundin. Zusammen mit ihrem neuen Kollegen Erik Lindgren muss Hanna tiefer in ihre Vergangenheit eintauchen, als ihr lieb ist. Als sie Drohungen erhält, kommen ihr immer mehr Zweifel an dem, was angeblich vor sechzehn Jahren geschah. Was, wenn ihr Vater gar nicht derjenige war, für den sie ihn gehalten hatte?

DIE AUTORIN

Johanna Mo wuchs in Kalmar/Südschweden auf und lebt mit ihrer Familie in Stockholm. Neben dem Schreiben arbeitet sie seit zwanzig Jahren als Redakteurin, Übersetzerin und Literaturkritikerin. Nachttod, der Auftakt zur Reihe um die Polizistin Hanna Duncker, ist ihr großer internationaler Durchbruch und erscheint in siebzehn Ländern. Als Teenager musste Johanna Mo erleben, was es heißt, jemanden zu kennen, der zum Mörder wurde. Diese Erfahrung hat sie nie wieder losgelassen und zu der Geschichte von Hanna Duncker inspiriert.

JOHANNA

MO

NACHTTOD

KRIMINALROMAN

AUS DEM SCHWEDISCHEN

VON ULRIKE BRAUNS

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe Nattsångaren erschien erstmals 2020 bei Romanus & Selling, Stockholm.

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Deutsche Erstausgabe 08/2021

Copyright © 2020 by Johanna Mo

Published by agreement with Ahlander Agency

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Sibylle Klöcker

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

unter Verwendung von © mauritius images/

buchcover.com/Corinna Fuckas

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-27689-8
V002

www.heyne.de

Für Mika

Der letzte Tag

Vier Schritte, dann dreht er sich wieder um. Wagt es nicht, der Stille hinter sich zu trauen. Das einzige Geräusch kommt von den Grillen. Keine Motoren. Keine Vögel. Ihm fehlt der Gesang der Nachtigall. Die hohen, schnellen Laute, die das Dunkel zurückdrängen.

Ein Schatten am Wegesrand lässt ihn zusammenzucken, und sofort macht die gebrochene Rippe sich mit einem Stechen bemerkbar.

Es ist nur ein Busch.

Die Dunkelheit wimmelt von Gestalten, die um ihn herumtanzen. Immer schneller, immer näher, sie rauben ihm den Atem. Vielleicht hat die Rippe auch die Lunge verletzt.

Irgendwann entdeckt er das Licht. Einen Punkt, der allmählich zu einem Viereck wächst. In seinem Kopf hämmert es, Übelkeit überkommt ihn stoßweise, lässt das Licht schwanken. Er versucht, sich mit dem Blick daran zu klammern. Dorthin muss er.

Seine Beine geben nach, er sinkt auf die Knie. Stützt sich mit den Händen ab. Sein Mund füllt sich mit Magensäure.

Wie verlockend es wäre, einfach liegen zu bleiben.

Aber er ist so nah.

Er rappelt sich auf und stolpert weiter. Hinter ihm knirscht es. Schritte? Nein, das darf nicht sein. Sicher nur ein Tier.

Dann erkennt er eine Bewegung im schwachen Licht. Die Augen wehren sich gegen das, was sie sehen, wollen die Information nicht weiterleiten.

Warum?

Die Frage erschüttert ihn, erschüttert den Boden unter seinen Füßen. Alles wird kaputtgehen.

MITTWOCH, 15. MAI

1

Hanna Duncker folgte dem Kiesweg bis zum schmiedeeisernen Tor. Es protestierte mit lautstarkem Quietschen, als sie es öffnete. Die Liste von Dingen, die sie in Ordnung bringen musste, wurde länger und länger. Vor gut einem Monat war Hanna in das weiße Holzhaus mit den hellblauen Eckpfosten gezogen. Es war nicht mal fünfzig Quadratmeter groß und lag am Rand des Dorfes Kleva. Aufgewachsen war sie an der Ostküste Ölands, aber dorthin konnte sie unmöglich zurückkehren. Denn dort wäre sie für immer nur Lars Dunckers Tochter.

Im Herbst hatte Lars sich endlich zu Tode gesoffen. Und während Hanna allein ihr Elternhaus ausräumte, hatte sie plötzlich gewusst, was sie wollte. Das erste Mal seit so vielen Jahren über die Ölandbrücke zu fahren hatte eine heftige Sehnsucht in ihr geweckt. Eine Sehnsucht nach all dem, was ihr in Stockholm fehlte. Denn Öland war ihr Zuhause.

Es war nicht unbedingt klug gewesen, sich ein derart reparaturbedürftiges Haus zu kaufen, aber ein besseres hatte sie auf die Schnelle in ihrer Preisklasse nicht finden können. Denn nachdem ihr Entschluss einmal feststand, hatte sie nicht die Geduld gehabt, sich Zeit zu lassen. Innerhalb von drei Wochen hatte sie ihre Wohnung in Stockholm ver- und das weiße Haus gekauft und gleich noch eine neue Stelle aufgetan.

Erst dann hatte sie ihren Bruder Kristoffer in London angerufen und ungefähr die Reaktion geerntet, mit der sie gerechnet hatte.

Du bist doch nicht ganz dicht, hatte er gebrüllt.

Seitdem hatten sie und Kristoffer nicht wieder miteinander gesprochen. Sicher, auch sie hatte ein paar harte Worte an ihn gerichtet, zu viel Wut hatte sich angestaut. Weil er nicht mal zur Beerdigung gekommen war. Weil er ihr alles Praktische überlassen hatte, inklusive Nachlassverzeichnis und der Auflösung ihres gemeinsamen Elternhauses. Sie waren im Abstand von einem Jahr zur Welt gekommen. Eine Zeit lang waren sie wie Zwillinge gewesen.

Gleich am ersten Morgen im neuen Haus hatte Hanna mit einem Ritual begonnen: die siebenhundert Meter bis zum Strand zu gehen. Nach etwa fünfzig Metern kam sie an Ingrids grauem Steinhaus vorbei, das sicher doppelt so groß war wie ihr eigenes neues Heim.

Heute Morgen saß Ingrid mit geschlossenen Augen in ihrer Hollywoodschaukel, eine Decke über die Beine gebreitet. Ihr Haar war silbergrau, das Gesicht faltig. Die Ähnlichkeit mit Hannas Großmutter war frappierend. Seit das große Vergessen sie ereilt hatte, fristete ihre Oma genauso ihr Dasein.

Hanna versuchte, unbemerkt an der Nachbarin vorbeizuschleichen. Gerade wollte sie am liebsten mit niemandem sprechen. Nicht mal mit Ingrid.

Doch da schlug Ingrid die Augen auf, und die Ähnlichkeit war fort. Ihre Augen waren nicht grünblau wie die ihrer Oma, sondern dunkelbraun, außerdem war der Blick sehr klar. Vermutlich saß sie nur hier, weil sie auf Hanna wartete. Die Aussicht in die andere Richtung war viel schöner, dort erstreckten sich schier endlose Felder. In dieser Richtung war nur ödes Brachland zu sehen, das vermutlich bald bebaut würde. Aber Ingrid interessierte sich mehr für ihre Nachbarn als für die Natur.

Die Decke glitt von ihrem Schoß, als Ingrid aufstand und ein paar Schritte auf Hanna zumachte.

»Hallo«, sagte sie. »Heute ist ja der große Tag.«

Hanna nickte. Heute fing sie als Ermittlerin bei der Polizei in Kalmar an und war dann zuständig für schwere Verbrechen in der gesamten Provinz Kalmar, die Ost-Småland und die ganze Insel Öland umfasste. Um ihr den Einstieg so leicht wie möglich zu machen, hatte ihr neuer Chef Ove Hultmark vorgeschlagen, dass sie an einem Mittwoch dazustieß.

Warum hatte er sie trotz ihrer früheren Begegnung eingestellt? Das konnte Hanna noch immer nicht ganz begreifen. Diese offene Frage wurde von einem unbehaglichen Gefühl begleitet: dass hier irgendetwas vor sich ging, was sie nicht verstand.

»Lassen Sie sich nicht aus der Ruhe bringen, dann wird schon alles gut gehen«, sagte Ingrid.

Offenbar gab es für Ingrid keine schlimmere Vorstellung, als aus der Ruhe gebracht zu werden.

Wenige Tage nach Hannas Einzug hatte Ingrid bei ihr angeklopft, eine Dose mit frisch gebackenem Knäckebrot in den Händen. Hanna hatte versucht, das Gespräch im Türrahmen zu beenden, doch Ingrid hatte sich praktisch selbst eingeladen, indem sie um Tee zum Knäckebrot bat. Genauer gesagt, um schwarzen Tee ohne Blütenblätter oder so Schnickschnack. Als sie das Chaos im Haus sah, schnaubte sie: Das war es also, was Sie vor mir verheimlichen wollten?

Durch diese Direktheit hatten sich Hannas Vorbehalte verflüchtigt. Ihre Großmutter hatte eine ganz ähnliche Art gehabt, und ohne sie wäre Hanna damals vermutlich verloren gewesen.

Innerhalb weniger Minuten hatte Ingrid ihr Leben für Hanna zusammengefasst: Dass sie Mattsson mit Nachnamen hieß. Dass sie nach vielen Jahren des unerfüllten Kinderwunsches mit sechsunddreißig ihren Sohn zur Welt gebracht hatte. Dass er den Hof führte, den sie von ihrem Vater geerbt hatte. Dass sie drei Enkelkinder hatte, die beiden älteren studierten in Linköping und Umeå, das jüngste, elf Jahre alt, war ein Nachzügler mit Down-Syndrom. Dass sie Probleme mit der einen Hüfte hatte.

Auf Ingrids direkte Nachfrage hatte Hanna ihren Nachnamen genannt.

Sind Sie etwa die Tochter von Lars Duncker?, hatte Ingrid gefragt.

Hanna hatte genickt, und dann hatten sie nicht weiter darüber gesprochen. Aber für einen Moment war Mitleid in Ingrids braunen Augen zu erkennen gewesen. Vielleicht sollte Hanna wie ihr Bruder einen anderen Nachnamen annehmen. Er hieß jetzt Baxter wie seine Frau. Aber Hanna wollte nicht. Sie hatte schließlich nichts falsch gemacht.

»Was haben Sie heute vor?«, fragte Hanna.

»Es ist Mittwoch«, antwortete Ingrid. »Da nehme ich immer den Bus nach Mörbylånga und gebe eine Kombination ab.«

»Trabrennen«, fügte Ingrid hinzu, als sie Hannas leeren Gesichtsausdruck sah. »Heute ist doch V64.«

Hanna entschuldigte sich mit den Worten weiterzumüssen, um pünktlich zu sein, und folgte weiter dem Kleva Strandväg. Auf dem kleinen Stück bis zum Ufer gab es bislang nur zwei weitere Häuser. In dem einen lebte eine Familie mit kleinen Kindern, das andere schien unbewohnt. Vielleicht war es ein Sommerhaus. Ihren zweiten Besuch hatte Ingrid genutzt, um Hanna von den Einwohnern Klevas zu erzählen, bei denen es sich um wenig mehr als dreißig handelte. Über die Bewohner des Strandväg hatte sie jedoch nicht viel zu sagen gehabt. Am meisten sprach sie von Jörgen, dem Stockholmer, der vor ein paar Jahren mit seiner Frau hergezogen war und sich den lieben langen Tag beklagte. Angefangen bei den Pferdeäpfeln auf der Straße bis hin zu den Leuten, die ihre Häuser verfallen ließen.

Ein unerträglicher Meckerfritze, hatte Ingrid gesagt. Ich denke gar nicht daran, Sachen zu erneuern, die noch bestens funktionieren, nur weil ein miesepetriger Festländer das sagt. Obwohl Hanna viele Jahre in der Hauptstadt gelebt hatte, zählte Ingrid sie zu den Insulanern. Und laut Ingrid war sie im Dorf willkommen. Schließlich war sie Polizistin.

Der Weg zum Meer bot in Hannas Augen ein Bild von Öland, wie es typischer nicht sein konnte: ein schnurgerader unbefestigter Weg, gesäumt von Getreidefeldern. Rechts wuchs kleiner, struppiger Futtermais, links irgendetwas, das sie nicht kannte. Das Unkraut am Rand stand so hoch, dass es die niedrige Steinmauer fast verbarg. Wenige hundert Meter entfernt warteten die Bäume und schienen von Besserem zu künden. Hinter ihnen lag der Kalmarsund.

Langsam näherte sie sich den Bäumen, und der Güllegestank wich dem Duft von Kiefern und Seetang. Hanna legte den Kopf in den Nacken und ließ sich das Gesicht vom Wind kitzeln. Das hatte ihr gefehlt. In Stockholm hatte sie eingepfercht in einem fünfstöckigen Haus zwischen Menschen gelebt, über die sie praktisch nichts wusste. Hier konnte sie atmen.

Nach ein paar Metern schimmerte die Meerenge allmählich zwischen den Bäumen hindurch. Ein blauer Fleck, der mit jedem Schritt wuchs. Hanna folgte weiter dem Pfad, kreuzte einen kleinen Parkplatz und bog nach Süden ab, weg vom Badestrand. Die Badesaison hatte zwar noch nicht begonnen, außerdem war es sehr früh am Morgen. Trotzdem wollte Hanna niemandem begegnen. Ein älterer Mann mit einem Labrador kam direkt auf sie zu, und Hanna nickte kurz zur Begrüßung.

Vielleicht sollte sie sich einen Hund zulegen. Tagsüber war sie zwar viel unterwegs, aber vermutlich wäre Ingrid gern bereit, auf das Tier aufzupassen. Für ihre einundachtzig war sie sehr rüstig, die Hüftprobleme merkte man ihr kaum an.

Aber nein. Hanna mochte Hunde nicht mal. Außerdem war die Einsamkeit hier auf Öland nicht so spürbar, obwohl sie bislang nur mit Ingrid gesprochen hatte. In Stockholm gab es niemanden, zu dem sie Kontakt halten würde. Ganz bestimmt nicht zu Fabian.

Hanna folgte dem Wanderweg ein gutes Stück, blieb dann stehen und ließ den Blick über den Kalmarsund schweifen. Sog den Geruch von Tang und Salz ein. Der ständige Wind hatte die Kiefern landeinwärts gebogen. Neben Hanna lag ein umgedrehtes Ruderboot. Die weiße Farbe war entlang des Kiels abgeschabt. Eigentlich mochte sie die Aussicht an der Ostküste lieber, wo sich das Meer bis zum Horizont erstreckte und unendlich schien. Auf dieser Seite der Insel konnte man bereits das gegenüberliegende Festland erahnen. Ingrid war nicht allein mit der Meinung, dass die meisten Probleme von dort kamen, und auch nicht die Einzige, die das Wort Festländer wie ein Schimpfwort benutzte. Hanna hatte kurz gestutzt, als es ihr das erste Mal seit ihrer Heimkehr im Ölandsbladet begegnet war. Auf Seite vier gab es zwei Kurzmeldungen über Verbrechen, und in beiden Fällen wurden die Täter als Festländer beschrieben.

Sehnsucht ergriff sie. Ein Nachhall des Gefühls, das sie beim Überqueren der Brücke im Herbst so deutlich wahrgenommen hatte.

Zuletzt war sie mit zwölf richtig glücklich gewesen.

Ihre Finger tasteten unter den Jackenärmel. Sie musste die kleine Tätowierung gar nicht sehen, um zu wissen, dass sie dort war. Ihr eigener Puls schlug wie ein flatterndes Vogelherz unter den schwarzen Linien. Die Tätowierung zu berühren, konnte sie immer beruhigen.

Wenn Hanna es rechtzeitig zum Polizeirevier schaffen wollte, musste sie jetzt umkehren, aber sie konnte nicht. Noch nicht. Gleich sollte sie Ove Hultmark treffen, danach an der Morgenbesprechung teilnehmen. Der erste Punkt war es, der sie nervös machte. Als sie ihm zuletzt gegenübergesessen hatte, war sie neunzehn gewesen, und er hatte sie über ihren Vater ausgehorcht. Über das, von dem Ove behauptete, dass es ihr Vater getan hatte.

Du bist doch nicht ganz dicht.

Kristoffers Worte waren zurück, quälten und piesackten sie. Dazu der leise Verdacht, er könne recht haben. Und dann das, was er noch gesagt hatte, mit gebrochener Stimme, kurz bevor er auflegte:

Dir ist nicht klar, was du da aufwirbelst. Du wirst alles zerstören.

2

»Frühstück«, sagte Rebecka Forslund und klopfte unterhalb des Einhorns, das Molly für ihren Bruder gemalt hatte, an die Tür.

Die Tablette hatte den Kopfschmerz zu einem dumpfen Dröhnen gemildert, aber die Übelkeit hatte nicht nachgelassen. In der Nacht hatte Rebecka kaum Schlaf gefunden. Noch dazu war mit sinkendem Alkoholpegel die Angst zurückgekehrt. Sie hatte versucht, ganz still zu liegen, um Petri nicht aufzuwecken, aber irgendwann war sie dann doch aufgestanden, um heiß zu duschen. Danach war sie ins Bett zurückgekehrt. Als Petris Wecker klingelte, stellte sie sich schlafend. Und obwohl sie wach war, fiel ihr das Aufstehen schwer, als schließlich auch ihr Wecker anging. Mittwochs musste Joel zwar erst um neun zur Schule, aber er hasste es, morgens gehetzt zu werden. Deshalb wollte er sicher nicht erst eine halbe Stunde vor Abfahrt des Busses geweckt werden.

Rebecka öffnete die Tür, ohne auf eine Antwort Joels zu warten. Ihr Sohn konnte schließlich alles verschlafen. Vor wenigen Tagen hatte Ingegerds Garage gebrannt. Die Feuerwehr war mit heulender Sirene angerückt, trotzdem war Joel der Einzige in ganz Gårdby gewesen, der davon nicht aufgewacht war. Glücklicherweise hatte das Feuer sich nicht weiter ausgebreitet.

Im Zimmer roch es schwach nach Schweiß, und nach diesen ekligen Räucherstäbchen, die er mittlerweile so gern anzündete. Rebecka ging zum Fenster, zog die Jalousie hoch, öffnete es und atmete die kühle Luft tief ein. Einen jugendlichen Sohn zu haben war anders, als sie erwartet hatte. Sie selbst hatte ihre Mutter damals angeschrien und Gegenstände nach ihr geworfen. Klar, auch Joel hatte seine Launen, aber die machte er mit sich selbst aus. Oft saß er stundenlang über einen Skizzenblock gebeugt da oder am Computer. Er machte fast alles, was von ihm verlangt wurde. Selten musste sie mal die Stimme heben, wenn Wäsche am Boden lag oder er mit den Hausaufgaben hinterherhing. Trotzdem war da diese Sorge: dass er als Schulverweigerer enden könnte. Dass er mit dem Leben nicht klarkäme. Diese dunkle Seite an ihm machte ihr Angst.

Rebecka drehte sich um, und es dauerte einen Moment, bis sie begriff, was sie sah. Das Bett war leer. Die schwarze Decke lag zu einem Haufen geknüllt in der Mitte.

Ihre Gedanken wanderten zum gestrigen Abend. Sie waren zum Grillen bei Gabriel und Ulrika gewesen. Normalerweise blieben sie unter der Woche zu Hause, aber Gabriel war vierzig geworden, und Ulrika hatte ihm einen schweineteuren Grill geschenkt und sie zur Einweihung eingeladen.

Der Gedanke an Gabriel beschäftigte sie einen Moment lang, dann schob sie ihn beiseite. Die Auseinandersetzung damit war zu schmerzhaft. Joel war gegen neun mit Molly nach Hause gegangen und hatte sie zu Bett gebracht. Als Rebecka und Petri zwei Stunden später ebenfalls heimgekehrt waren, hatte sie in beide Kinderzimmer kurz einen Blick geworfen und ihre Kinder dort in den Betten liegen sehen. In Joels nicht nur seine schmale Gestalt, sondern auch sein dunkles, strubbeliges Haar. Jetzt war sein Bett leer. Was hatte das zu bedeuten? Joel war für gewöhnlich nicht mitten in der Nacht unterwegs. Schon gar nicht wochentags.

Rebecka kehrte in die Küche im Erdgeschoss zurück, und ihre Sorge wuchs. Molly schien dies zu spüren und schaute von ihren Frühstücksflocken auf.

»Soll ich ihn wecken?«, fragte sie.

Manchmal schickte Rebecka sie hinauf, um Joel zum Runterkommen zu bewegen. Egal wie störrisch er am Morgen war, irgendwie gelang es seiner kleinen Schwester fast immer, zu ihm durchzudringen. Neun Jahre und eine zerbrochene Beziehung lagen zwischen ihnen. Manchmal bereute Rebecka, dass sie Petri nicht eher kennengelernt hatte. Dass er nicht der leibliche Vater von ihren beiden Kindern war.

Sie sollte Petri anrufen. Er war schon vor einer Stunde nach Kastlösa aufgebrochen, wo er die Küche im Sommerhaus eines jungen Paars renovieren sollte, bevor sie Anfang Juni wieder auf die Insel kämen. An und für sich bezweifelte sie, dass Joel sich unbemerkt hatte rausschleichen können, ganz besonders nicht nach vier Uhr. Aber sicher konnte sie sich nicht sein, und vielleicht hatte Petri ihn ja mitgenommen. Das machte er manchmal, wenn Joel den Schulbus verpasst hatte oder eher zur Schule musste. Mörbylånga lag schließlich auf dem Weg. Sie suchte nach ihrem Handy, das eigentlich auf der Arbeitsfläche hätte liegen müssen.

»Mama?«, hakte Molly nach.

»Joel ist schon unterwegs«, sagte Rebecka. »Ich hatte ganz vergessen, dass die heute einen Schulausflug machen.«

Die Lüge ging ihr nur zu leicht über die Lippen.

»Ich möchte auch einen Schulausflug machen.«

Molly schaute sie an, wartete wohl auf eine Reaktion, aber Rebecka konnte nur nicken. Wo war denn das verdammte Handy? Sie durchwühlte den Stapel alter Zeitungen mit solcher Wucht, dass die Packung mit den Frühstücksflocken umfiel. Die Übelkeit verstärkte sich, weshalb sie schnell ein paar Schlucke aus dem Glas Wasser trank, mit dem sie auch die Kopfschmerztabletten genommen hatte. Schließlich fand sie das Handy auf der Mikrowelle – dort, wo es immer lag.

Dann trat sie hinaus auf die Veranda, damit Molly sie nicht hören konnte. Nach drei Freitönen antwortete Petri.

»Hast du Joel heute Morgen mitgenommen?«, fragte sie.

»Nein, er kann doch heute ausschlafen.«

»Hast du ihn gesehen?«

»Nein. Warum fragst du?«

»Sein Bett war leer, als ich ihn wecken wollte.«

Das laut auszusprechen, befeuerte ihre Sorge nur noch mehr. Rebecka schluchzte auf.

»Dann hat ihn sicher jemand anderes mitgenommen«, sagte Petri. »Oder er ist mit einem früheren Bus gefahren.«

Er wollte sie beruhigen, doch tatsächlich hatten seine Worte den gegenteiligen Effekt. Es gab keine vernünftige Erklärung für das leere Bett. Weder musste Joel eine Gruppenarbeit vorbereiten noch hatte er eine Hausaufgabe vergessen, und andere Gründe, um früher zur Schule zu fahren, gab es nicht.

»Hast du schon versucht, ihn anzurufen?«

»Natürlich hab ich das«, fauchte Rebecka und legte auf.

Was war denn nur los mit ihr? Auf die Idee, Joel anzurufen, war sie gar nicht gekommen. Schnell wählte sie seine Nummer, aber sein Handy war ausgeschaltet. Vielleicht hatte sie nicht gleich bei ihrem Sohn angerufen, weil sie genau damit gerechnet hatte. Es fühlte sich besser an, es darauf zu schieben, als auf den schweren Kopf, den sie dem Schlafmangel, dem Restalkohol und den Sorgen zu verdanken hatte. Fünfzehn Jahre mütterlicher Schuldgefühle überfielen sie und brachten sie ins Wanken. Die Gewissheit, dass, egal wie sehr sie sich auch anstrengte, es doch nie reichen würde. Doch statt sich darin zu suhlen, rief sie Joels beste Freundin Nadine an.

»Wann hast du zuletzt mit Joel gesprochen?«, fragte sie, ohne überhaupt Hallo zu sagen.

»Gestern. Warum?«

»Weißt du, was er heute vorhat?«

Eine kurze Pause folgte, die Rebecka als Zögern deutete.

»Sollte er nicht in der Schule sein?«, fragte Nadine schließlich.

Rebecka fehlte die Energie, sich mit ihr rumzuärgern. Für das Zögern gab es so viele mögliche Erklärungen. Vor drei Jahren war Nadine von Gårdby nach Kalmar gezogen, trotzdem war sie noch immer Joels engste Freundin. Manchmal glaubte Rebecka, dass die beiden zusammen waren, aber nachzuhaken stand außer Frage. Lieber wäre es ihr gewesen, wenn es nicht so wäre. Joel hatte nie mit ihr darüber gesprochen, aber Rebecka wusste, dass Nadine mindestens einmal versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. Dass dies einer der Gründe für den Umzug gewesen war.

»Würdest du ihm sagen, dass er sich bei mir melden soll, wenn du das nächste Mal mit ihm sprichst?«

»Mach ich.«

Molly kam heraus, die rosafarbene Einhorntasche auf dem Rücken. Eigentlich hätte sie eine Jacke tragen müssen. Noch war es nicht warm genug, um kurzärmelig herumzulaufen, doch Rebecka entschied sich dagegen, ihr noch eine zu holen. Sie nahm die Hand ihrer Tochter und ging los Richtung Schule. Die lag zwar nur achthundert Meter entfernt, aber sie traute Molly nicht im Straßenverkehr, weil sie sich viel zu leicht ablenken ließ. Genauso wenig traute sie den Menschen, die mit ihren Autos vorbeischossen, denn die wenigsten hielten sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung.

Molly kicherte.

»Was ist los?«

»Willst du wirklich mit denen gehen?«

Rebecka schaute auf ihre Füße, die in Petris Clogs steckten. Die Schuhe waren sieben Nummern zu groß.

»Oha«, sagte sie lächelnd.

Doch das Lächeln erstarb, als sich ihr erneut die beunruhigende Frage aufdrängte: Wo war Joel?

Sie kamen an der verbrannten Garage vorbei, von der nicht mehr als die Rückwand stehen geblieben war. Der Rest war nur noch ein verkohlter Haufen aus verbogenen Balken und Brettern, die in die Luft ragten wie Arme, die um Hilfe flehten. Die Asche roch immer noch beißend. Obwohl in jener Nacht ein Unwetter getobt hatte, glaubten die meisten, dass der Brand gelegt worden war. Brandstiftung war ein heikles Thema auf der Insel: Ende der Fünfzigerjahre hatte zwei Jahre lang ein Pyromane in Ostöland gewütet, der nie gefasst worden war. Im März 2003 wurde Ester Jensen in Åby ermordet und anschließend in ihrem eigenen Haus verbrannt. Zwischen 2005 und 2012 starben sechs Menschen durch Brände in Nordöland. Das letzte Feuer war von einer Garage ausgegangen. Der Täter hatte es gelegt, um einen Doppelmord zu vertuschen.

Molly warf nicht mal einen Blick auf die Ruine. Den ganzen Weg über erzählte sie angeregt, was sie in der großen Pause spielen würden. Irgendwas mit Soldaten und Bauern. Mollys Fahrrad hatte seit dem Wochenende einen Platten, aber sie hatte nicht Bescheid gesagt, dass es repariert werden musste. Rebecka brummte ausreichend oft, um den Eindruck zu erwecken, dass sie zuhörte. Nach einer kurzen Umarmung verschwand Molly in dem gelben Gebäude, in dem auch Rebecka vor beinahe dreißig Jahren zur Schule gegangen war. Damals hatte es weniger Kinder gegeben, sonst hatte sich nicht viel verändert. Rebecka blieb ratlos vor dem Schulgebäude stehen, sie wusste nicht, wohin mit sich.

»Hallo.«

Rebecka drehte sich um. Ulrika hatte Elias im Schlepptau, der im Herbst neun werden würde und nicht sonderlich erfreut darüber war, von seiner Mutter zur Schule gebracht zu werden. Sie rang ihm noch eine Umarmung ab, bevor sie ihn freigab.

»Danke noch mal für gestern«, sagte Rebecka.

»Gern. Das war nett, oder?«

Ulrika sah deutlich fitter aus, als Rebecka sich fühlte, obwohl auch sie am Vorabend nicht gerade wenig getrunken hatte. Frisch geduscht und leicht geschminkt, wenn auch die dunklen Ringe unter ihren Augen nicht ganz von der Foundation verborgen wurden. Sie hatte Rebecka erst gestern im Vorbeigehen eingeladen, hatte geflüstert, dass es eine Geburtstagsüberraschung für Gabriel wäre. Ulrika war ein hoffnungsloser Fall, wenn es ums Planen ging.

Außer Elias hatte das Paar noch eine Tochter, Linnea, die etwas jünger war als Joel. Durch die Kinder hatte es sich ergeben, dass die beiden Familien viel gemeinsam unternommen hatten, als sie vor sieben Jahren Nachbarn geworden waren. Rebecka, Petri und Joel waren wenige Monate vor Mollys Geburt in das Haus gezogen.

Wie war Joel am Vorabend gewesen? Etwas bedrückt vielleicht, aber er hatte zusammen mit Linnea gezeichnet. Sie wollte Porträtzeichnen lernen, und ihr erster Versuch war überraschend gut gewesen, auch wenn sie sicher nicht so viel Talent hatte wie Joel.

Ulrika schob ihr mintgrünes Fahrrad, damit sie gemeinsam zurückgehen konnten. Sie war Kassiererin bei Almérs und hatte ihre Arbeitszeiten nach den Kindern gerichtet. Wochentags fing sie erst um neun an.

»Ist Linnea in der Schule?«, fragte Rebecka.

»Das will ich hoffen.«

Weil Ulrika sie so besorgt musterte, platzte Rebeckas Sorge aus ihr heraus.

»Er ist sicher schon früher los«, versuchte Ulrika, sie zu beruhigen. »Ich bitte dich, wir sprechen hier schließlich von Joel.«

Durch ihre eigene wilde Jugend hatte Rebecka damit gerechnet, dass es mit Joel schwierig werden würde. Aber sie hatte ihn bisher weder mit Alkohol noch beim Lügen erwischt.

Rebecka warf Ulrika einen verstohlenen Blick zu. Der gestrige Abend war erstaunlich schön gewesen. Allerdings würde sie sich in nächster Zeit nicht mehr ganz so unbeschwert mit Ulrika und Gabriel treffen können, nicht nach dem, was er ihr gestern angetan hatte. Rebecka bezweifelte, dass er Ulrika davon erzählen würde. Dazu war er zu feige. Sie selbst hatte nicht vor, es Petri gegenüber zu erwähnen.

»Bis bald«, verabschiedete sich Ulrika und steuerte ihr Haus an.

Rebecka sollte ins Atelier gehen, sie musste noch eine Obstschale anfertigen, eine Auftragsarbeit der letzten Tage. Zwar malte sie auch mit Ölfarben, aber die Bilder verkauften sich schlecht. Also schlug sie sich hauptsächlich als Keramikerin durch. Jetzt würde sie sich aber unmöglich auf die Arbeit konzentrieren können, das wusste sie. Also lief sie in die Küche und schenkte sich den restlichen Kaffee ein. Joel würde wütend auf sie werden, aber sie konnte nicht anders. Sie wählte die Nummer der Skansenschule und wurde sogleich zur stellvertretenden Rektorin durchgestellt.

»Ist Joel Forslund schon da?«, fragte sie.

»Wie gut, dass Sie anrufen«, sagte die Frau, der sie einmal eine Teetassenserie verkauft hatte. »Ich wollte mich auch gerade bei Ihnen melden. Joel hat schon gestern gefehlt. Ist etwas passiert?«

3

Der Parkplatz vor dem Polizeipräsidium war voll, also stellte Hanna ihren Wagen vor dem Einkaufszentrum Giraffen ab und überquerte die Straße. Für die Fahrt hatte sie nur eine halbe Stunde gebraucht. Die Fassade des Gebäudes bestand aus dunklem Holz und hellen Steinplatten, in die zwei riesige Fingerabdrücke eingearbeitet waren. Hanna betrat es durch den Haupteingang und erklärte dann dem jungen Mann am Empfang, wer sie war und zu wem sie wollte.

Die Sekunden verstrichen, und Hanna wusste nicht, wohin sie schauen sollte. Die hellgrauen und dunkelgrauen Bodenplatten verschmolzen zu einem Einheitsgrau, und Hanna wollte nichts lieber, als sich umdrehen und wegrennen. Alles würde sich ändern, wenn sie sich nicht länger in ihrem Haus in Kleva verstecken konnte. Der Job brachte sie gezwungenermaßen in Kontakt mit anderen Menschen. Und manche von ihnen waren nicht glücklich über ihre Rückkehr.

Hanna versuchte, die Nervosität wegzuatmen.

Ihr Blick wanderte zu dem Mann am Empfang, und er schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. Als reichte ein Lächeln aus, um sie davon zu überzeugen, dass alles gut würde.

Die Tür ging auf, und obwohl sie Ove Hultmark seit sechzehn Jahren nicht gesehen hatte, erkannte sie ihn sofort wieder. Die Haare waren grauer geworden, der Bauch größer, aber Körpersprache und Blick hatten sich nicht verändert. Er war der Typ Polizist, der allen der sprichwörtliche Freund und Helfer sein wollte. Mittlerweile wurden seine Augen von einer schwarzen, runden Brille umrahmt, sonst war auch sein Kleidungsstil unverändert: hellblaues Hemd und Jeans. Einen Moment lang fürchtete sie, er wolle sie umarmen, doch dann streckte er die Hand aus.

»Willkommen. Es ist wirklich sehr schön, dass du jetzt zu unserem Team gehörst.«

Hanna schüttelte ihm die Hand und nickte, ein Wort bekam sie allerdings nicht heraus, sondern folgte Ove nur schweigend die Treppe hinauf in sein Büro.

Das letzte Mal hatten sie sich in einem Vernehmungszimmer des damaligen Polizeireviers gegenübergesessen. Einem anderen Gebäude als diesem, in dem heute das Untersuchungsgefängnis war – und eine Menge Imbissbuden. Es war ein Vernehmungszimmer der gemütlicheren Art gewesen; sie hatte auf einem roten Sofa, Ove auf einem Stuhl gesessen. Hanna erinnerte sich noch genau an Oves erste Sätze. Erst hatte er sie gefragt, wie es ihr gehe Auf ihre Antwort, ihr gehe es gut, erwiderte er, es gebe Beweise. Es bestehe kein Zweifel an der Schuld ihres Vaters. Als hätte er bewusst entkräften, ja zunichtemachen wollen, was sie gesagt hatte. Es gehe ihr gut.

Ove lehnte sich weit zurück in seinem Bürostuhl und verschränkte die Hände vor dem Bauch. Während dieser ersten Vernehmung hatte er sich vorgelehnt, hatte sie mit Blicken auseinandergenommen. Jetzt war seine Körpersprache wesentlich entspannter, sein Blick jedoch ebenso wachsam wie damals. Ein paar Minuten lang sprach er über den Polizeiberuf im Allgemeinen, über ihren Umzug, dann lehnte er sich etwas vor: »Entschuldige die Frage, aber ich muss sie einfach stellen. Warum bist du zur Polizei gegangen?«

Hanna war nicht mal sicher, ob sie das selbst wusste. Direkt nach der Verhaftung ihres Vaters war sie der Überzeugung gewesen, dass die Polizei einen katastrophalen Fehler gemacht hatte, und dass sie die Ermittlungen neu aufrollen und damit alles zutage fördern würde, was beim ersten Mal versäumt oder fehlgedeutet worden war, wenn sie erst selbst Polizistin war. Aber schon bald musste sie sich eingestehen, dass noch etwas anderes hineinspielte. Sie wollte nämlich einfach nicht, dass ihr Vater getan hatte, was sie ihm vorwarfen.

»Um zu verstehen, glaube ich«, sagte sie.

»Und, hast du’s verstanden?«

Hanna zögerte. Es fiel ihr schwer einzuschätzen, wie ehrlich sie sein konnte.

»So viel gibt es ja nicht zu verstehen«, sagte sie schließlich. »Menschen geraten aus den unterschiedlichsten Gründen in Situationen dieser Art. Nicht immer steckt kaltblütige Berechnung dahinter. Auch Verzweiflung, Zufälle. Manchmal einfach Pech … Und ich glaube tatsächlich, dass ich ihnen helfen kann. Vermutlich bin ich deshalb so gut darin, sie zum Reden zu bringen.«

Sie.

Damit meinte sie die Verbrecher. Die Täter. Dabei wollte sie eigentlich den anderen noch mehr helfen. Den Angehörigen und Opfern.

»Ja, deine Vorgesetzte in Stockholm hat deine Vernehmungstechnik besonders gelobt«, sagte Ove.

Er schien zufrieden mit ihrer Antwort.

Gerade wollte Hanna nicht an ihren Vater denken. Sie hatte geglaubt, es würde leichter werden, sobald er aus der Haft entlassen war. Dabei wurde es nur schlimmer. Dreimal hatte sie ihn in dem alten Haus besucht, in dem Dorf, in dem ihn außer seinem alten Freund Gunnar niemand haben wollte. Gunnar war der Einzige, der Lars nicht den Rücken gekehrt hatte, als dieser zu trinken anfing. Und Gunnar war es gewesen, der sich um das Haus gekümmert hatte, während Lars inhaftiert war.

Es war schmerzhaft gewesen, den eigenen Vater so zu sehen, gewissermaßen im freien Fall. Immerhin hatte er sich während seines Gefängnisaufenthalts nicht mehr so gehen lassen können. Ohne ein Wort zu sagen, hatte sie die Besuche bei ihm eingestellt, aber weiter bei ihm angerufen und ihm geschrieben, wenn auch immer sporadischer. Eine Antwort hatte sie selten bekommen.

Vielleicht lastete diese Schuld am schwersten auf ihr: dass sie ihn nicht hatte retten können. Dass sie es nicht mal richtig versucht hatte.

»Deine Vorgesetzte hatte noch viel mehr Gutes über dich zu sagen«, fuhr Ove fort, »und ich bin mir sicher, dass du hier außerordentlich gute Arbeit leisten wirst. Allerdings frage ich mich … Weißt du schon, wie du dich dem Team vorstellen willst? Besonders was deine Vergangenheit betrifft?«

»Was meinst du?«

»Dein Nachname wird Fragen aufwerfen. Da wäre es vielleicht klug … gleich mit der Tür ins Haus zu fallen, sozusagen.«

Die Angst ließ ihr Herz rasen. Wollte Ove sie wirklich als Lars Dunckers Tochter vorstellen? Hanna schluckte. Dann rang sie sich die Worte ab, als würde sie selbst daran glauben:

»Nein. Wer mein Vater war, spielt keine Rolle.«

Ove lehnte sich vor und musterte sie, wodurch sie sich wieder fühlte wie damals mit neunzehn.

»Bist du sicher?«, fragte er nur.

4

Die Morgenbesprechung war eine Stunde vorverlegt worden, und Erik Lindgren kam mit seiner zweiten Tasse Kaffee aus der Cafeteria, um zum Dienstzimmer hinaufzugehen. Er war an diesem Morgen schon zehn Kilometer gelaufen, spürte entsprechend die Oberschenkelmuskeln. Er war ein My schneller gewesen als gestern, knapp über siebenundvierzig Minuten. Erik ging es viel besser mit dem Job hier in Kalmar. Drei Jahre zuvor war er noch durch Malmö gestresst, immer auf der Suche nach Zeugen und Beteiligten verschiedenster Schießereien. Zeit für Sport war kaum geblieben.

Seine Frau Supriya war in Malmö nie glücklich gewesen. Während des ersten Jahres hatte sie Schwedisch gelernt, aber als sie endlich ihre Zulassung erhielt und wieder als Zahnärztin arbeiten durfte, ging das alles andere als gut. Die Sprache war eine Hürde, die Arbeitskultur ebenfalls, und sie verabscheute die Konflikte mit dem Team. Erik hatte ihr zu erklären versucht, dass sie vielleicht einfach nur in der falschen Praxis gelandet war, aber eingesehen hatte sie das erst, nachdem sie die Stelle gewechselt hatte. Manchmal fragte er sich, ob sie sich nach Mumbai zurücksehnte. Dort hatten sie gelebt, bevor sie nach Malmö gekommen waren. Die heiße Millionenmetropole fehlte ihm nicht – die Slums, die Abgase, der Lärm –, aber Indien an sich vermisste er durchaus. Die Lebendigkeit, die Farben, die Gerüche, auch wenn sie manchmal fast unerträglich intensiv waren.

Im Dienstzimmer stand eine Frau, die Erik nicht kannte. Das musste die Ermittlerin aus Stockholm sein, die heute anfing. Erik ging zu ihr und stellte sich vor. Verwundert stellte er fest, dass Hanna Duncker größer war als er, und dabei maß er schon einen Meter und dreiundachtzig.

»Warst du schon bei Ove?«

Das war nun wirklich keine schwierige Frage, aber Hanna nickte erst nach kurzem Nachdenken. Erik stellte die Tasse neben seinem Computer ab und loggte sich ein. Er hatte einen von zwei Stehtischen, insgesamt gab es hier fünf Arbeitsplätze.

»Hat er dir die Tränke gezeigt?«

Er konnte ihr ansehen, dass sie nicht verstand, was er meinte.

»Wo es den Kaffee gibt?«

Hanna nickte.

»Meld dich einfach, wenn du bei irgendwas Hilfe brauchst.«

Wieder ein Nicken. Erik warf einen Blick auf die Uhr des Computers. Schon bald halb neun. Schnell überflog er die eingegangenen Mails und loggte sich wieder aus.

»Weißt du, wo die Morgenbesprechung stattfindet?«, fragte er Hanna, die sich an einen Tisch gesetzt hatte, der schätzungsweise nun ihrer war.

»Ja«, sagte sie.

Als er das Zimmer verließ, dachte er zuerst, dass Hanna noch bleiben würde, aber nach wenigen Sekunden hörte er Schritte hinter sich. Sie betraten den Besprechungsraum unmittelbar nacheinander, die anderen waren schon da. Ove hielt das Team bewusst klein, außer Erik gab es nur drei weitere Ermittler. Vier mit Hanna.

»Schön«, sagte Ove. »Da seid ihr ja. Hier haben wir unseren Neuzugang Hanna Duncker. Sie war bisher in Stockholm und hat sich dort einen Ruf als exzellente Vernehmungsleiterin erarbeitet.«

Seine Worte bewirkten etwas, das Erik sich nicht erklären konnte. Amer setzte sich auf und betrachtete Hanna neugierig. Daniel ebenfalls. Nur Carina schaute sofort mit verkniffenem Mund zu Ove, was sie für gewöhnlich tat, wenn ihr etwas missfiel. Vor knapp einem Jahr war Daniel zu ihnen gestoßen, der bis dahin im Streifendienst gewesen war, und damals hatten sich alle besonders ins Zeug gelegt, damit er sich willkommen fühlte. Carina, die alt genug war, um Daniels Mutter zu sein, sogar mehr als alle anderen.

Hanna hob grüßend die Hand und lächelte schwach. Erik hoffte inständig, dass Ove sie nicht dazu nötigen würde, etwas zu sagen. Schnell zog er einen Stuhl unterm Tisch hervor und setzte sich.

Hanna tat es ihm gleich, offensichtlich verlegen.

Ove betrachtete sie ein paar Sekunden lang. Er schien abzuwägen, ob er selbst etwas sagen sollte, aber schlussendlich begnügte er sich damit, die anderen zu bitten, sich vorzustellen.

»Wir sind uns ja gerade schon begegnet«, sagte Erik.

Amer machte wie gewöhnlich einen Scherz über seinen Nachnamen Moghadan. Ihm zufolge konnte den Namen niemand aus dem Team richtig aussprechen, dabei hörte Erik noch immer keinen Unterschied. Er mochte Amer, der wie gewöhnlich tadellos aussah: Jackett, dunkelblaue Jeans, dazu ein kurzer, gepflegter Bart. Daniel Lilja stellte sich nur knapp mit seinem Namen vor, während Carina Hansson außerdem betonte, dass sie aus Kalmar kam und seit über zwanzig Jahren bei der Polizei war.

»Vielen Dank«, sagte Ove. »Dann können wir ja loslegen. Wir müssen mit den Ermittlungen zur Körperverletzung vorm Stadshotel noch mal von vorn anfangen.«

Ove wandte sich an Hanna und erzählte von dem Übergriff auf einen Mann, der so brutal zusammengeschlagen worden war, dass er nun im Rollstuhl saß. Trotz wochenlanger Ermittlungen waren sie kein Stück vorangekommen. Zum Teil, weil das Opfer keine Erinnerung an den Vorfall hatte.

»Ich gehe die Zeugenaussagen noch einmal durch und prüfe, ob wir was übersehen haben«, sagte Amer.

Er trug die größte Verantwortung in diesem Fall, weil er der Einzige war, der Persisch sprach. Das Opfer war, genau wie Amer, im Iran geboren.

»Gestern kam es auf der Norra Långgatan zu einem Raubüberfall«, fuhr Ove fort. »Eine Zweiundzwanzigjährige befand sich auf dem Heimweg von ihrem Freund und wurde mit dem Messer angegriffen. Jetzt liegt sie auf der Intensivstation. Daniel, würdest du mal mit ihrem Freund sprechen und nachhören, wann die Frau befragt werden kann?«

»Na klar«, sagte Daniel und machte sich sofort Notizen.

Amer lehnte sich zu Carina hinüber und flüsterte ihr etwas zu. Ihre Schultern wurden ein wenig weicher, und sie lachte auf. Amer war immer besorgt um das Wohlergehen der anderen, und vermutlich war auch ihm Carinas Widerwille gegenüber der neuen Kollegin nicht entgangen.

»Entschuldigung?«, fragte Ove.

Amer tat so, als wüsste er nicht, worauf Ove anspielte.

»Möchtest du vielleicht mit uns allen teilen, was so witzig ist?«

Doch bevor Amer etwas erwidern konnte, ging die Tür auf, und der Einsatzleiter steckte den Kopf herein.

»Auf dem Alvar wurde eine Leiche gefunden.«