Das Buch

Nach knapp 20 Jahren Berliner Großstadtflair will Sebastian Lehmann dem ewigen Trubel nur noch entfliehen und endlich seine Ruhe haben. Immerhin wird er auch bald 40. Also kauft er sich zusammen mit seiner Freundin ein Gartengrundstück im zwei Stunden entfernten Meck-Pomm. Doch das vermeintlich entspannte Leben im Garten entpuppt sich schnell als Herausforderung: Denn die Armeen von Schnecken und Giersch müssen besiegt, die morsche Datsche renoviert und der kritische Blick der neuen befeinrippten Nachbarn erst besänftigt werden. Also legt Sebastian los, hämmert, bohrt, mäht Rasen, trimmt Hecken, scheitert, fängt noch mal von vorn an – und beschreibt in seinem neuen Buch sein chaotisches, skurriles und doch so glücklich machendes erstes Gartenjahr!

Der Autor

Sebastian Lehmann, in Freiburg geboren, lebt in Berlin. Auf SWR3 und RBB radioeins laufen seine Radiokolumnen »Elternzeit«, »Elterntelefonate« und »Popgedichte«. Mit seinen Soloprogrammen ist er so viel auf Tour, dass ihn seine eigene Katze schon nicht mehr erkennt. Er ist Mitglied der größten Lesebühne Deutschlands, der Lesedüne, und hat zahlreiche Bücher geschrieben. Zuletzt erschienen »Mit deinem Bruder hatten wir ja Glück – Telefonate mit meinen Eltern« (Goldmann) und der Roman »Parallel leben« (Voland & Quist). Außerdem hat er den Kleinkunstpreis Baden-Württemberg gewonnen.

Sebastian Lehmann

Das hatte ich mir grüner vorgestellt

Mein erstes Jahr im Garten

Dieses Buch schildert meine persönliche Geschichte und beruht auf Erfahrungen, Erlebnissen und Aufzeichnungen. Es ist meine persönliche Sicht auf mein Leben und hat keinen Anspruch auf Richtigkeit oder Vollständigkeit. Die Namen sind aus Gründen der Privatsphäre geändert worden.

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Originalausgabe, Februar 2021

Copyright © 2021 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
ein Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © 2021 by Sebastian Lehmann

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München,

unter Verwendung eines Motivs von © FinePic®

Redaktion: Dr. Marion Preuß

MP · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-26531-1
V001

www.goldmann-verlag.de

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Inhalt

Prolog

Raus aus der Stadt

Aufs Land

Das erste Mal im Garten

Heinz

Tiere 1: Rehe

Freiheit und Gartenarbeit

Der Bungalow

Tiere 2: Schnecken

Der Baumarkt

Die Hecken der Anderen

Das Auto

Brennnessel

Der See

Tiere 3: Waschbären

Die Handwerker

Keinnetzanbieter

It never rains in northern Mecklenburg

Tiere 4: Wespen

Wie sehen Sie denn aus?

Elternzeit

Die Grube

Das Kleine im Großen

Tiere 5: Marder

Rohre verlegen und Land vermessen

Der Fuchsbandwurm-Fluch

Elton John im Gartencenter

Tiere 6: Eule

Chillen

Probleme

Tiere 7: Schmetterlinge

Gefallene Blätter

Zwei Bäume

Epilog

Zitatabdruck

Anmerkungen

»Berechtigte Schuldgefühle derer, die von der physischen Arbeit ausgenommen sind, sollten nicht zur Ausrede werden für die ›Idiotie des Landlebens‹.«

Theodor W. Adorno, Minima Moralia (1951)

»Komm vorbei in meinem Bungalow
By the rivers of cashflow
Wir trinken Soda, trinken Soda
Komm vorbei mit deinem Skoda.«

Bilderbuch, Magic Life (2017)

Prolog

Ein Baum fällt

Der Baum fällt. Erstaunlich langsam. Fast wie in Zeitlupe. Igor steht mit der Kettensäge in der Hand neben dem Stamm. Er trägt eine riesige Schutzbrille und sieht aus wie ein Chemiker im Labor.

Der Baum ist eine Tanne. »Ein kleener Weihnachtsbaum«, hatte unser Gartennachbar Heinz gesagt. Sonst dürfe man die nämlich ohne Genehmigung gar nicht fällen. »Dit is wegen die Grünen jetzt alles komplizierter geworden. Neulich haben die sich sogar beschwert, als ick alte Autoreifen aufm Feld verbrannt hab.«

Meine Freundin sagt immer: »Heinz erklärt die Welt.« Denn Heinz kennt sich aus. Jedenfalls jenseits von Politik.

Ich finde, die Tanne ist groß. Ein Weihnachtsbaum höchstens für einen Marktplatz. Außerdem ist es mein erster Baum. Ich habe noch nie einen gefällt. Igor leider auch nicht. Immerhin hat er vor zehn Jahren ein zweiwöchiges Praktikum bei einem Schreiner gemacht. Jetzt ist er Innenarchitekt. Mehr »Handwerker« gibt es in meinem Freundeskreis nicht.

Die Kettensäge haben wir heute Morgen im Baumarkt ausgeliehen. Das geht einfach so. Man sagt zu einem Mitarbeiter: »Ich hätte gern eine Kettensäge.« Dann bekommt man eine ausgehändigt. Keiner fragt, was man damit anstellen will. Wir könnten ja auch Serienmörder sein. Wie Holzfäller sehen wir nämlich nicht aus.

»Dit dürfen die eigentlich gar nicht mehr«, meinte Heinz. »Dafür braucht man jetzt ein Sicherheitstraining oder sowas.«

»Wegen der Grünen?«

»Bestimmt«, sagte Heinz. »Dabei is dit ganz einfach mit so einer Kettensäge.« Er sah mich an, als wäre ich ein ehemaliger Philosophiestudent, der handwerklich völlig unbegabt ist. Was ich ja leider wirklich bin.

Allerdings handelte es sich nur um eine kleine Kettensäge, stellte er dann enttäuscht fest. »Dann geht es vielleicht.«

Eine kleine Kettensäge für eine kleine Tanne.

Ich fand auch die Kettensäge ziemlich groß.

Und jetzt fällt der Baum. Igor schaut unsicher und vielleicht auch panisch zu mir.

»Der Baum wird schon nicht aufs Dach fallen, oder?«, frage ich.

»Fällt der etwa aufs Dach?«, ruft meine Freundin, die neben der Laube steht.

Vielleicht sollte sie da schnell weg. Da ruft Igor auch schon: »Schnell weg!«

Wahrscheinlich fällt der Baum gar nicht langsam. Wahrscheinlich kommt mir das nur so vor, weil wir schon den ganzen Tag auf diesen Moment hingearbeitet haben, den ganzen Sommer immer davon gesprochen haben, die Tanne zu fällen. Die macht unseren neuen Garten ab mittags schattig und scheint sowieso nicht mehr ganz gesund zu sein. Jetzt ist dieser Moment gekommen. Und der Baum wirkt fast so, als könne er sich nicht entscheiden, ob und – vor allem – wohin er fallen soll.

Auf einmal wird mir klar: Wir hätten den Baum nicht fällen sollen. Ich mag Bäume. Bäume sind entspannt und machen kein großes Aufheben um sich. Nicht so wie wir hyperaktiven Großstädter. Wir wollen einen Garten auf dem Land, um mal runterzukommen und zur Entspannung mit unseren ungeschickten Händen zu arbeiten – und dann machen wir uns doch wieder die ganze Zeit Stress: mähen Rasen, pflanzen Brombeersträucher, versuchen, unseren eigenen Honig zu imkern. Und fällen unschuldige Bäume.

Die Tanne hat uns wirklich nichts getan, die steht hier schon seit Jahren. Ist wahrscheinlich sogar älter als wir. Wir sind Eindringlinge. Wir sind es, die nicht hierhergehören.

»Ich bin noch nicht bereit dafür, einen Baum zu fällen«, rufe ich. Aber niemand hört mich. Alle starren nur gespannt auf die taumelnde Tanne.

Vielleicht bin ich noch nicht bereit für einen eigenen Garten. Ich bin nicht bereit, mir darüber Gedanken zu machen, wie man einen Baum richtig fällt, damit er nicht aufs Dach oder die eigene Freundin kracht. Ich bin auch nicht dafür bereit, ein Hochbeet zu bauen, mir einen Rasenmäher anzuschaffen oder einen Holzfußboden in der Gartenlaube zu verlegen. Ich bin nicht bereit, Tulpenzwiebeln zu vergraben, Zucchini zu ziehen und Schmetterlingsflieder anzupflanzen.

Wir hätten uns keinen Kleingarten kaufen sollen. Weit draußen vor den Toren der Stadt. Auf dem platten Land, wie es so schön und vor allem zutreffend heißt. Wir hätten den Sommer in unserer gemütlichen Altbauwohnung in Berlin verbringen und ein paar Tomaten auf unserem schmalen Balkon anbauen sollen, statt 400 Quadratmeter Wildnis zu zähmen.

Jetzt ist es zu spät.

Jetzt fällt der Baum.

Raus aus der Stadt

Ein dicker Mann in orangefarbener Weste und mit gelbem Helm auf dem Kopf steht in meinem Zimmer. Er grinst mich an, holt einen Presslufthammer hinter seinem Rücken hervor und beginnt, meinen Schlafzimmerboden zu presslufthammern. Es ist unfassbar laut. Ich halte mir die Ohren zu, aber es hilft nichts, es hört sich an, als würde ein Hubschrauber direkt neben mir im Bett landen. Trümmer und Steine fliegen umher. Ich verkrieche mich unter meine Decke, denn es kommen immer mehr Männer mit Presslufthämmern ins Zimmer gestürmt. Eine Teerwalze fährt durch die Tür.

Ich wachte auf. Meine Freundin war schon wach. Sie stand neben mir im Bett und trug keinen gelben Helm. Und hatte zum Glück auch keinen Presslufthammer in der Hand.

Es war trotzdem laut.

Sehr, sehr laut.

LAUT. LAUT. LAUT.

Plötzlich Stille. Sofort entspannte ich mich und schloss die Augen. Ich brauche nach dem Aufwachen immer eine gewisse Zeit, bis ich klar denken kann. So etwa drei Stunden. Die Schulzeit war problematisch für mich. Vor allem, wenn wir in der ersten Stunde, die um 7.50 Uhr begann, eine Klausur schrieben. Ich hatte damals mit dem Gedanken gespielt, einfach nicht ins Bett zu gehen, damit ich am Morgen nicht so erschöpft war. Nie fühle ich mich so erschlagen wie direkt nach dem Aufwachen. Egal, wie lange ich geschlafen habe. Und wenn ich nach dem Aufwachen nicht sofort aufstehe, dann schlafe ich auch gleich wieder ein …

Der Lärm begann von neuem. Noch lauter. NOCH LAUTER. Ich riss meine Augen auf. Meine Freundin wirkte genervt. Das erkannte ich daran, dass sie sich die Haare raufte. Wahrscheinlich sagte – oder eher: schrie sie auch etwas, doch der Lärm verschluckte alles.

Dann wieder Stille.

»Ich kann nicht mehr.« Sie ließ sich neben mich aufs Bett fallen.

»Wie viel Uhr ist es?«, fragte ich.

»7.50 Uhr.«

War das immer noch ein Traum? Musste ich jetzt gleich in die Schule und zum tausendsten Mal eine Matheklausur schreiben, bei der ich nicht einmal die Aufgabenstellung verstand? Noch Jahre nach meiner Schulzeit träumte ich davon. Immer wieder Matheklausuren.

Schon wieder wurde ich müde, ich schloss meine Augen und …

»Sebastian«, rief meine Freundin. »Sie kommen immer näher.«

Sie meinte die Baustelle. Hinter dem Haus klaffte ein riesiges Loch, es sah aus, als wäre eine Meteorit eingeschlagen. Fünf neue Mietshäuser sollten gebaut werden. Wir leben zwar in einer Zeit, in der Ärzte mit winzigen computergesteuerten Roboterärmchen ein künstliches Herz einpflanzen, doch ein Haus baut man immer noch, indem man den Boden mit Baggern aufreißt und danach sehr viel hämmert. Gern auf Metall. Manchmal rammt auch ein Gerät, das aussieht wie ein Freefalltower auf der Kirmes, riesige Metallröhren in den Boden. Dann zitterte bei uns auf dem Küchentisch der Kaffee in der Tasse wie beim Angriff der bösen Dinos in Jurassic Park.

Jeden Morgen um halb sieben ging es los. Bis acht Uhr abends. Am Samstag nur bis vier Uhr nachmittags. Dann begann auch schon bald die Party in der WG über uns. Und die feierten meistens bis Montagmorgen um halb sieben.

Berlin stresst mich. Das liegt nicht in erster Linie an Berlin, sondern vor allem an mir. Ich werde alt, ich will meine Ruhe. In zwei Jahren werde ich 40. VIERZIG. Das klingt surreal. Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, als bei Aldi mein Ausweis verlangt wurde, wenn ich Wodka kaufte. Das muss vor etwa drei Wochen gewesen sein. Dabei trinke ich eigentlich gar keinen Wodka mehr. Höchstens einen schottischen Highland Gin. Oder eine kleine Flasche Craft Bier mit Litschi-Mangold-Geschmack, die doppelt so viel kostet wie ein Liter Wodka.

Meine Freundin und ich kommen aus verschiedenen süddeutschen Kleinstädten. Wir haben uns in Berlin kennengelernt, wo wir beide zum Studieren hingezogen sind. Klassisch. »Nervig« würden eingeborene Berliner sagen.

In Berlin habe ich tatsächlich erstmal nur Süddeutsche und seltsamerweise sehr viele Ostwestfalen getroffen. Es dauerte etwa ein Jahr, bis ich mich mit einem echten Berliner anfreundete. Und der kam aus Spandau. Irgendwie zählte das nicht so richtig. In Spandau sieht es schließlich nicht viel anders aus als in einer süddeutschen Kleinstadt.

Während unserer behüteten Kleinstadtjugend sehnten meine Freundin und ich uns nach Berlin. Dort wartete das WAHRE LEBEN auf uns. So stellten wir es uns vor. In unseren Kleinstädten dagegen herrschte Ruhe, Langeweile und Spießigkeit.

Nach knapp 20 Jahren WAHREM LEBEN in Berlin hätten wir es inzwischen allerdings gern manchmal etwas ruhiger und langweiliger. Leider altert Berlin nicht mit uns. Berlin wird immer jünger. Denn nach uns kamen neue süddeutsche Kleinstädter, die das wahre Leben in Berlin suchten und Partys schmissen, Bars eröffneten und in Clubs feierten. Sie brauchten Wohnungen, die natürlich erstmal gebaut werden mussten. Schließlich entdeckten auch noch die Kleinstädter aus anderen Ländern Berlin. Sie kamen aus Spanien, aus den USA, aus Schweden und sogar aus Spandau. Sie alle wollten LEBEN.

Berlin ist ein spätpubertärer Jüngling geblieben, der saufend um die Häuser zieht.

Jetzt hier im Bett wollte ich gerade lieber STERBEN. Denn sie rammten und hämmerten und schweißten auf der Baustelle hinterm Haus. Und das war nicht die einzige Baustelle. Überall wurde nachverdichtet, jede verwilderte Brache in Berlin sollte mit neuen Häusern gefüllt werden. Dachstühle mussten ausgebaut und neue Leitungen unter dem Asphalt verlegt werden. Das alles vor allem mit einem Werkzeug, dem Allheilmittel der Stadtplanung: dem Presslufthammer.

Alle wollen ein Teil des sagenumwobenen Berlin-Mythos werden. Ich kann sie ja verstehen. Ich bin ja auch deswegen hierhergekommen. Aber jetzt reicht es. Endgültig.

»Wir müssen weg«, sagte meine Freundin.

»Aufs Land?«, fragte ich.

Dann schwang eine Abrissbirne in unsere Wohnung, und die Decke stürzte ein. Jedenfalls hörte es sich so an.

Aufs Land

Wenn man Berlin verlässt, kommt erstmal nichts. Außer man fährt zufällig in Richtung Potsdam – dann kommt Potsdam. Und danach nichts.

Das Nichts sieht sehr schön aus und heißt Brandenburg. Die Felder und Bäume in Brandenburg wirken selbst im Sommer leicht gräulich, doch der Himmel ist weit und sattblau. Brandenburg sieht ein wenig so aus wie der Wilde Westen. Die Dörfer bestehen aus einstöckigen Häusern direkt an der Landstraße, aufgereiht wie Perlen an einer Kette. In der Mitte thront eine Kirche, die schon bessere Tage erlebt hat. Der Dorf-Saloon ist seit der Wende geschlossen. Manchmal wehen ein paar einsame Büsche durch die leeren Straßen der Dörfer, dazu spielt eine Ziehharmonika das Lied vom Tod.

Zwischen den Siedlungen bleibt der Blick nirgendwo hängen. Alles flach und eben. Geometrische Felder und Wälder – als hätte sie jemand mit dem Lineal aufgezeichnet. Dazwischen unzählige Windräder wie Uhren mit drei Zeigern. Manchmal drehen sie sich so schnell, schreitet die Zeit so rasant voran wie die Jahre, seit ich 30 geworden bin.

Nur selten begegnet man Menschen in Brandenburg. Seit Jahren hält sich das Gerücht, dass die Uckermark bei der EU als nicht besiedeltes Gebiet gilt, weil zwischen den unzähligen Seen, Wäldern und Feldern nur sehr versprengt einige winzige Ortschaften liegen.

Ich mag die Leere. In Berlin verschwindet sie ja jetzt völlig, diese schöne Leere. Ja, auch Leere kann verschwinden. Die letzten Leerstellen, wie zum Beispiel bei uns hinter dem Haus, werden gefüllt. Als ich Anfang der Nullerjahre nach Berlin kam, schien die Stadt manchmal wie ausgestorben. Überall standen riesige, schöne Altbauwohnungen leer. Meine erste Wohnung kostete fast nichts, und der Makler bekniete mich, sie doch bitte zu nehmen. Entschuldigung, alter Mann erzählt vom Krieg. Auch wenn es ein sehr leiser und harmloser Krieg war, bei dem kaum jemand mitmachte.

Ich mag auch die Brandenburger. Es gibt sie nämlich wirklich. Sie sind etwas einsilbig, aber nett. Das kommt mir als in Freiburg geborenem Badener entgegen. Die Badener gelten ebenfalls als ziemlich einsilbig. Manche sogar als nett.

Natürlich gibt es auch Neonazis in Brandenburg. Wie leider überall. In Brandenburg fallen sie wahrscheinlich nur mehr auf, weil da sonst nichts ist.

Nun suchten wir also wieder die Leere, die wir in Berlin mitgeholfen hatten zu füllen. Natürlich war das paradox. Ganz aufs Land ziehen wollten wir jedoch nicht, dafür hatten wir uns zu sehr an die Annehmlichkeiten einer Großstadt gewöhnt, an die Kinos und Konzerte, die Partys, die guten Restaurants und Spätkaufs. Auch wenn wir in letzter Zeit abends eher zu Hause saßen, Serien schauten und über Rückenschmerzen jammerten, weil wir es wieder beim Pilates übertrieben hatten.

Ein Garten auf dem Land ist Tradition in Ostdeutschland. Man entflieht im Sommer in sein Gartenidyll vor den Toren der Stadt. Oft liegen sie in der Nähe von wunderschönen Seen. Die Grundstücke sind etwas größer als herkömmliche Schrebergärten, wie man sie in Westdeutschland kennt. Im Osten übernachtet man selbstverständlich auch im Garten, viele verbringen den halben Sommer dort. Denn auf den Grundstücken stehen so gut wie immer Gartenlauben, die eher an kleine Häuser erinnern. Manche nennen diese Häuser auch Datschen. Oder Lauben. Oder Bungalows. Doch wenn ich an einen Bungalow denke, sehe ich vor meinem inneren Auge ein palmenumsäumtes Haus in den Hügeln von L.A. In Ostdeutschland bedeutete Bungalow vor allem Asbest. Ganz Deutschland – auch der Westen – wurde bis in die späten Achtzigerjahre nur aus Asbest gebaut. In meiner Schule, in meiner Uni, in meinem Kinderzimmer – überall fielen Asbestplatten von der Decke, und feiner Staub legte sich auf meine Haare und Lungenflügel. Und jetzt will ich mir einen Garten mit Bungalow zulegen, obwohl ich gerade erst bei aufwendigen Zahnsanierungen alle meine Amalgamfüllungen aus der Kindheit losgeworden bin. Schon droht der nächste Krebstod. Kann man seinen gesunden Berliner Lebensstil in so einem Gartenbungalow eigentlich weiterführen? Lohnt es sich überhaupt, einen veganen Quinoasalat zu essen, wenn dabei Asbeststaub auf den Teller rieselt?

Doch solche Probleme lagen noch in der fernen Zukunft. Wir mussten erstmal einen schönen und bezahlbaren Garten finden. Das gestaltete sich komplizierter, als wir vermutet hatten.

Wir – eigentlich meint das ich, meine Freundin ist da nicht so kategorisch – legten einige Bedingungen fest, die das Gartengrundstück erfüllen musste:

  1. Nicht länger als zwei Stunden mit dem Auto von unserer Wohnung in Berlin entfernt. Halbwegs vernünftige Bahnanbindung wäre ebenfalls wünschenswert.
  2. Es soll ein Badesee in der Nähe liegen. Wenn man sich eine Karte von Brandenburg ansieht, müsste das machbar sein: überall Seen.
  3. Ruhe.
  4. Das Grundstück darf nicht Teil einer großen Datschensiedlung sein. Wir – also, das heißt eigentlich auch wieder: Ich will nicht jeden Morgen von schreienden Kindern oder rasenmähenden Senioren geweckt werden. Das muss ich schon zu Hause in Berlin ertragen. Also, die Kinder wenigstens. In Ordnung fände ich rasenmähende Kinder, das stelle ich mir niedlich vor. Baustellen gibt es hoffentlich auf dem Brandenburger Land nicht so viele. Problematisch bei großen Siedlungen sind zudem die – nennen wir sie mal Blockwärter. Alteingesessene, die pingelig darauf achten, dass die Hecken akkurat geschnitten und die Beete unkrautfrei sind – und die Deutschlandfahne korrekt gehisst. Ein No-Go für uns. Also, für mich. Meine Freundin sieht das sicher ähnlich, artikuliert es allerdings nicht so lautstark.

Meiner Freundin geht es neben der Ruhe vor allem um Blumen und Gemüse. Sie will gärtnern. Unser schmaler Berliner Balkon, der eher einem etwas größeren Fensterbrett gleicht und leider direkt über der benachbarten Baugrube hängt, ist komplett bepflanzt. Wenn meine Freundin auf dem Balkon zwischen ihrem Grünzeug sitzt, kann man sie fast nicht mehr erkennen. Sie scheint eingewachsen zu sein.

»Gärtnern entspannt mich«, sagt sie. »Ich habe einen Job, bei dem ich den ganzen Tag vor dem Computer sitze, ich brauche das als Ausgleich. Das kannst du dir natürlich nicht vorstellen.«

Damit spielt sie auf meinen ungebundenen Lebensstil als so genannter freier Autor und so genannter Kleinkünstler an. Ja, ich bin ein Kleinkünstler, der Kleingärtner werden will. Ich lebe den Traum. Jedenfalls schreibe ich lustige Geschichten. Die lese ich dann auf Bühnen vor. Das ist mein Job. Oder wie es meine Eltern in meiner Heimatstadt Freiburg ausdrücken: »Damit verdienst du Geld?«

Meine Freundin und ich sind sicher nicht allein mit unserem Bedürfnis, einen Ausgleich zu unseren völlig von allem Materiellen losgelösten Jobs zu suchen. Wer den ganzen Tag vor dem Laptop sitzt, erst bei der Arbeit und dann am Abend beim Serienschauen, der sehnt sich wie ein verwöhnter Stadthund nach etwas Auslauf in der Natur. Ein Beet anlegen, Beeren pflücken und damit selbst Marmelade herstellen, Brot backen – anscheinend wollen viele wieder das zurück, was die Eltern einst in den Wirtschaftswunderjahren erfolgreich ausgesourct haben. Ob irgendwann die Großstädter wieder ihre Wäsche im Fluss waschen?

Wahrscheinlich geht das gut zusammen: Fortschritt und Tradition, »Laptop und Lederhosen«, wie die CSU leider mal ziemlich catchy plakatiert hat. Jetzt eben: Instagram und Imkern.

Wenn es denn überhaupt stimmt. Vielleicht wird heute genauso viel gegärtnert wie vor 30 Jahren. Vielleicht bleibt der Anteil der Kleingärtner an der Bevölkerung immer gleich. Nur wirkt es eben so, als gäbe es mehr Hobbygärtner, weil heutzutage alle schöne Fotos von selbstangebauten Pastinaken und perfekt ausgeleuchteten Osterglockenkolonien in den sozialen Medien posten. Dazu gibt es bestimmt keine Studie, keine Umfrage, das ist einfach kein relevantes Thema, denke ich. Zwei Klicks im Internet später: Natürlich hat dazu schon jemand eine Studie gemacht. Und zwar 2018 das »Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumordnung«. Davon hatte ich noch nie gehört. Die Studie bestätigt meine Erfahrung: Zumindest in den Großstädten wächst die Nachfrage nach Schrebergärten, übersteigt sogar das Angebot. Die Studie spricht zudem von einem Imagewandel: Kleingärten gelten nicht mehr als spießig, sondern sind im Mainstream angekommen.1 Fast wie Kleinkünstler. Dabei bekommt das so genannte ökologische Gärtnern einen immer höheren Stellenwert. Und die Neugärtner werden jünger.

Wir gehen also mit dem Trend.

Unsere erste Besichtigung fand Anfang Januar statt. Das Grundstück war Teil einer riesigen Kleingartensiedlung und zwei Stunden und fünf Minuten von Berlin entfernt. Der Bungalow sah eher aus wie eine Besenkammer. Der Garten lag direkt an einer großen Straße. Der Hells-Angels-Ortsverein betrieb sein Vereinsheim gegenüber. Selbst jetzt im Januar trafen wir den Blockwart, der uns misstrauisch beäugte. Er stand breitbeinig auf seinem Grundstück, das nur noch entfernt an einen Garten erinnerte. Seine Laube ähnelte einem Einfamilienhaus, der Garten war asphaltiert. Neben dem Blockwart saß eine riesige Deutsche Dogge. »Warnung vor dem Hunde. Er tötet alles, was sich ihm nähert« verkündete ein schwarz-rot-goldenes Schild am Zaun. Genauer: am Stacheldrahtzaun. Dahinter stand noch eine kleine Mauer. Dazwischen der Todesstreifen, in dem sonst wohl die Deutsche Dogge patrouillierte. Ich erkannte ein paar abgenagte Knochen.

»Das ist ja sehr schön hier«, sagte ich zu dem netten Pärchen, das uns das Grundstück verkaufen wollte. Mir fällt es schwer, Leuten, die etwas von mir wollen (in diesem Fall Geld), die Wahrheit ins Gesicht zu sagen. Vor Jahren suchte ich mal einen Mitbewohner für meine damalige WG. Ich plauderte eine Stunde lang mit Klaus-Jürgen, weil ich es nicht übers Herz brachte, ihm zu sagen, dass ich auf gar keinen Fall eine Wohnung mit ihm teilen wollte. Er war 45 und zusammen mit seiner Mutter zur Besichtigung gekommen. Denn er wohnte noch bei seinen Eltern. »Das war total toll. Ich melde mich dann bei dir«, sagte ich Klaus-Jürgen zum Abschied und meldete mich natürlich nie. Seine Mutter rief dann noch mehrmals bei mir an und bot mir vierstellige Summen, wenn ich ihn aufnehmen würde.

»Das war total toll. Wir melden uns dann bei euch«, sagte ich zu dem netten Pärchen.

Meine Freundin rollte mit den Augen.

In den folgenden Wochen besichtigten wir noch drei weitere Grundstücke. Sie lagen alle an großen Straßen und schienen schon seit der Wende unbewohnt. In den Lauben roch es, als wäre jemand darin gestorben. In einer sah ich auf dem Teppichboden sogar eine Kreidezeichnung vom Umriss eines menschlichen Körpers. Die Maklerin stand die ganze Zeit darauf und lenkte die Aufmerksamkeit auf den angebauten Wintergarten, in dem ein niedlicher Igel und ein Habicht-Ehepaar hausten.

»Das war toll«, sagte ich zum Abschied zur Maklerin. »Wir melden uns dann bei Ihnen.«

Zudem kosteten die Grundstücke viel zu viel. Anscheinend war Brandenburg doch nicht so leer und steckte mitten in der Gartengentrifizierung. Andere Berliner hatten schon die gleiche Idee wie wir gehabt und sich einen Garten zugelegt, wo sie Zucchini züchteten und ihren eigenen Kastanienhonig hobbyimkerten. So stellte ich mir das jedenfalls vor. Die Kleingartenstudie hatte anscheinend recht: Die Großstädter suchten überall nach Gärten.

Manchmal entdeckten wir wirklich Berliner in den Gartensiedlungen, die wir besichtigten. Wir erkannten sie sofort: Sie sahen aus wie wir. Seltsamerweise wirkten sie aber nicht besonders glücklich. Zu imkern schienen sie ebenfalls nicht. Sie handwerkten nur grimmig an ihren Bungalows herum und robbten in Gummistiefeln und Multifunktionskleidung durch matschige Beete ähnlich wie die Bundeswehrsoldaten auf dem Truppenübungsplatz am anderen Ende des Dorfs. Komisch, dachte ich, das hatte ich mir irgendwie grüner vorgestellt. Aber damals wusste ich auch noch nicht, was alles auf mich zukommen würde.

Wir fanden kaum Angebote für Gärten auf den einschlägigen Seiten im Internet. Das Pärchen von der ersten Datsche erklärte uns, dass die meisten Grundstücke unter Hand an Verwandte oder Freunde der Besitzer weggingen.

Wir kannten keine Besitzer von Gartengrundstücken. Unsere Familien lebten in Süddeutschland, konnten uns also keinen Garten vererben. In unserem Freundeskreis waren wir die Ersten, die aus Berlin fliehen wollten. Auch wenn alle ständig davon redeten, suchte eigentlich niemand ernsthaft nach einem eigenen Garten.

Doch da gab es diese zwei Kollegen, Clara und David.

»Kollegen?«, fragte meine Freundin, »wie soll das gehen, wenn man nicht arbeitet?«

»Hallo! Ich arbeite. Die beiden sind freischaffende Autoren, so wie ich«, antwortete ich.

Nach einem gemeinsamen Auftritt hatte ich nämlich Clara von unserer vergeblichen Suche nach einem Gartengrundstück erzählt. Sie sah mich ein paar Sekunden misstrauisch an, dann enthüllte sie lächelnd ihr Geheimnis: »Wir haben einen Garten.«

Ich horchte auf.

»Ein Seegrundstück!«

Ich war elektrisiert.

»400 Quadratmeter, nur eine kleine Siedlung, total ruhig.« Sie legte den Kopf schief. »Das Nachbargrundstück steht noch leer. Sehr schön, etwa genauso groß. Der gleiche Besitzer, von dem wir auch unser Grundstück gekauft haben. Ich glaube, er will den anderen Garten ebenfalls loswerden. Ist allerdings ziemlich verwildert.«

Ich sprang auf. »Ich will den!«, rief ich etwas zu laut. Clara tätschelte beruhigend meine Hand.

»Okay, Sebastian, lass uns einen Termin ausmachen.« Sie stockte. »Es gibt da ein kleines Problem.«

»Nein!«, rief ich und setzte mich wieder. »Ich will es gar nicht wissen.«

»Es ist ziemlich weit weg. Der Garten liegt schon in Mecklenburg-Vorpommern.«

Ich sackte in mich zusammen.

Sie lächelte aufmunternd. »Trotzdem nur etwa zwei Stunden von Berlin entfernt.«

»Na, dann. Klingt doch toll«, sagte ich. Überzeugt war ich nicht.