Buch

Toni ist überall und nirgends zu Hause. Erst ein Anruf ihres Vaters führt die Weltenbummlerin zurück an die Nordsee. St. Peter-Ording mit seinen hübschen Reetdächern und dem kilometerlangen Sandstrand ist für viele das Paradies auf Erden. Doch Toni hat sich hier, wo der Wind das ganze Jahr um die Häuser pfeift, nie richtig wohlgefühlt. Auch jetzt macht ihre alte Heimat es ihr nicht leicht. Ihre Eltern werden immer schrulliger, und alles erinnert sie an ihre erste große Liebe. Während sie auf dem Ferienhof der Familie aushilft, begreift Toni, dass sie das Leben anpacken muss, um ihm eine neue Richtung zu geben. Und dabei ist sie nicht allein …

Autorin

Meike Werkmeister ist Buchautorin und Journalistin. Ihre Sommerromane »Sterne sieht man nur im Dunkeln« und »Über dem Meer tanzt das Licht« standen monatelang auf der Spiegel-Bestsellerliste. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg. Wann immer sie kann, fährt Meike Werkmeister an die Nordsee, wo sie oft auch die Ideen für ihre Geschichten findet.

www.meikewerkmeister.de

Meike Werkmeister

Der Wind
singt unser Lied

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Songtexte, die Toni im Roman singt, stammen aus den Liedern »So viele Menschen«, »Liebe diese Liebe« und »Amnesie« aus dem Mini-Album »Amnesie« der Münchener Sängerin und Songschreiberin Julia Kautz und werden mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin abgedruckt. Alle Infos zu Julia Kautz sowie ihre Musik findet man unter:
www.juliakautz.de

Originalausgabe Mai 2021

Copyright © 2021 by Meike Werkmeister

Copyright © dieser Ausgabe 2021 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Karte und Anhang: FinePic®, München

Autorenfoto: Ulrike Schacht

Redaktion: Kristina Lake-Zapp

LS · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-27133-6
V002

www.goldmann-verlag.de

Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Es gibt Menschen
Die passen perfekt ins Herz
Du musst sie nur finden
Dann wird’s besser
Ich schwör’s.

Julia Kautz

Nebel lag über den Feldern, als ich in den kleinen, unbefestigten Weg einbog. Die Wolken hingen so tief, dass ich nicht mal den Deich sehen konnte. Hinter dem Zaun am Wegesrand tauchten die Umrisse einer Kuh auf, die interessiert den Kopf in meine Richtung drehte. Als würde auch sie sich fragen, was ich hier eigentlich wollte. Ich spürte mein Herz unter der Windjacke pochen, dort, wo der Riemen des Gitarrenkoffers spannte. War es eine gute Idee, hier unangekündigt aufzutauchen? Beinahe musste ich lachen. Natürlich war es das nicht. Aber ich hatte bereits Tausende Kilometer zurückgelegt. Auf den letzten Metern drehte ich bestimmt nicht mehr um.

Der Rucksack auf meinem Rücken fühlte sich mit jedem Schritt schwerer an. Vor etwas mehr als einem Tag hatte ich alles hineingestopft, was ich besaß. Nur ein paar ausgewaschene T-Shirts und zwei zerlesene Bücher hatte ich am Ende nicht mehr oben draufgequetscht bekommen und in Costa Rica zurückgelassen. Ich blies mir eine Haarsträhne aus der kalten Stirn. Als ich am Hamburger Hauptbahnhof in den Regionalexpress gestiegen war, ging über der Speicherstadt die Sonne auf. Bis hierher hatte sie sich heute noch nicht durchgekämpft. Ich war andere Temperaturen gewöhnt und fröstelte innerlich.

Im Gestrüpp am Feldrand entdeckte ich im Vorbeigehen die beiden Steine, die mit etwas Fantasie aussahen wie ineinander verschränkte Herzen. Ich kannte hier jeden Stein. Jeden Busch. Hier veränderte sich nichts, das war ja das Problem gewesen, aber in diesem Moment empfand ich es als tröstlich. Egal, was irgendwo auf der Welt passierte – hier liefen die Uhren weiter, als wäre nichts gewesen.

Noch ein paar Schritte, dann tauchte das Haus aus dem Nebel auf, ein weiß getünchter Klinkerbau hinter dicht blühenden Rosenbüschen. Mit seinen kleinen Fenstern und dem massiven Reetdach wirkte es auf mich noch immer wie aus einem Märchenbuch entsprungen. Ein Segeltuch mit dem aufgepinselten Schriftzug Familienhof Ferienglück war mit Karabinerhaken über die moosbefleckten Mauern gespannt.

Ich erreichte das schwere Tor, das den Weg auf den Hof versperrte. Dahinter erkannte ich den alten Opel Kadett, auf dessen hart gepolstertem Rücksitz man mich einst hierher gebracht hatte, unter stillem Protest. Die ganzen sechs Stunden Fahrt von Berlin hatte ich dieselbe Kassette gehört. Wieder und wieder hatte ich sie umgedreht und mit niemandem ein Wort gesprochen. Irgendwann hatte meine Schwester Caro meine Hand genommen und gehalten, bis wir in Heide von der Autobahn fuhren und sie sich die Nase an der Scheibe platt drückte, weil draußen Fohlen auf einer Weide um die Wette rannten.

Dass mein Vater mehr als anderthalb Jahrzehnte später immer noch denselben Wagen fuhr, grenzte an Starrsinn. Neben den schmalen Vorderreifen pickten ein paar Hühner im Sand. Ich atmete tief aus und gab mir einen Ruck. Wuchtete mein Gepäck über das Tor, weil es deutlich anstrengender gewesen wäre, es zu öffnen, und kletterte mit meinem Gitarrenkoffer über der Schulter und leicht zittrigen Beinen hinterher.

Kurz hielt ich inne, weil ich erwartete, dass Hummel angelaufen und kläffen und dann wie verrückt wedeln würde, mit ihrem ganzen weichen Hundekörper, der vor Freude gar nicht wusste, wie er sich verbiegen sollte. Egal, wie viele Jahre ohne sie vergangen waren, ich erwartete diese Begrüßung noch immer, weil die Hündin zu diesem Fleckchen Erde gehörte wie Papas alter Opel. Genau wie der ehemalige Schweinestall zu meiner Rechten, in dem heute die Ferienwohnungen untergebracht waren.

Rund um die drei Türen, die Mama in unterschiedlichen Pastelltönen gestrichen hatte, wucherte dichtes Efeu. Daneben sah ich den windschiefen Hühnerstall, inmitten von hüfthohem Dünengras. Weiter hinten erstreckten sich die endlosen Weiden. Ich stellte mich suchend auf die Zehenspitzen, aber die Schafe waren irgendwo da draußen im Nebel versunken, der die gleiche Farbe hatte wie ihr Pelz. Der Verschlag aus Wellblechplatten, der den Ziegen und Eseln gehörte, war ebenfalls leer. Auf dem brüchigen Asphalt zu meinen Füßen lagen einzelne Strohhalme, etwas zertrampeltes Hühnerfutter und ein schlammverkrustetes Matchbox-Auto.

Ich sog noch einmal tief den Geruch von Tieren und frisch gemähtem Gras ein und wappnete mich innerlich für das, was nun kam. Dann nahm ich meine Sachen und lief zur Tür des Haupthauses. Das Ornamentglas war noch trüber geworden seit meinem letzten Besuch. Dahinter konnte ich die karierten Vorhänge erkennen. Ich blickte nach links zum gekippten Küchenfenster, aus dem ich einen Oldie-Radiosender dudeln hörte. Dann legte ich meinen Zeigefinger auf die Klingel, obwohl ich wettete, dass sie noch immer nicht repariert war. Auf dem Land brauche man keine Türklingeln, sagte meine Mutter gerne, weil die Türen hier ohnehin immer offen stünden. Doch einfach so hineinzuschneien, nach anderthalb Jahren, das traute ich mich nicht. Also klopfte ich, laut genug, um die Musik zu übertönen.

Einige Sekunden geschah nichts. Dann hörte ich Schritte. Sie waren schnell und zackig, und ich wusste sofort, wem sie gehörten. Die Tür wurde geöffnet. Und da stand sie: meine Schwester, in einer geblümten Schürze. Um die kurzen Haare hatte sie ein Tuch gebunden. Ungläubig öffnete sie den Mund.

»Hey, Caro!«, sagte ich und blickte auf meine Stoffturnschuhe hinab, die mal weiß gewesen waren, aber mittlerweile einen undefinierbaren Grauton angenommen hatten. Sie waren in den vielen Monaten, in denen ich immer nur barfuß gelaufen war, in einer Ecke meines Zimmers verstaubt.

»Toni!« Sie sah aus, als ob sie nicht wüsste, ob sie lachen oder weinen sollte.

Ich lächelte sie unsicher an, weil mir nicht klar war, ob sie mir jetzt um den Hals fallen oder sich umdrehen und mit dem weitermachen würde, wobei ich sie gestört hatte.

Sie zögerte nur einen winzigen Moment, dann verzogen sich ihre vollen Lippen zu einem breiten Lächeln. Es wanderte hoch über ihre Apfelbäckchen bis zu ihren großen graugrünen Augen, die zu glitzern begannen. Als wir Kinder waren, hatte mein Vater immer gesagt: »Wenn Linchen lacht, geht die Sonne auf.« Und es stimmte auch heute noch, denn mir wurde augenblicklich warm. Meine große Schwester machte einen Schritt auf mich zu und drückte mich so heftig an sich, dass mir kurz die Luft wegblieb. Sie duftete vertraut nach frisch gebackenen Brötchen und Heu.

»Was für eine Überraschung!«, sagte sie und zog mich hinter sich her in die Küche. »Ich dachte schon, du kommst nie wieder.«

1

Zwei Wochen zuvor

Es roch nach Bananenpfannkuchen, als ich mit nackten Füßen auf die Veranda trat. Die Bodenfliesen waren bereits warm, obwohl es noch früh am Morgen war. Meine Kollegin Helen stand im Nachthemd an der Außenküche und machte wieder einmal Pancakes für alle. Die dicken, fluffigen, amerikanischen, wie sie es von ihrer Mutter gelernt hatte. Die langen Haare fielen ihr über den Rücken, ganz ausgeblichen von den vielen Stunden im und am Meer.

»Hey, Sweety! Hungry?«, rief sie mir fröhlich zu.

»Always!« Ich reckte mich, wobei mein Top über den Bauch nach oben rutschte. Ein Sonnenstrahl fiel durch die Bäume und kitzelte meine gebräunte Haut.

Ich blickte zum Pool hinüber, dessen sattes Türkis zwischen den flachen Bungalows schimmerte. Mein Kollege Nino machte gerade einen gekonnten Kopfsprung ins Wasser. In den dichten Palmen ringsum zwitscherten winzige Vögel. Sie waren so erstaunlich laut für ihre Körpergröße, dass sie uns mit ihrem Gesang jeden Morgen weckten. Sie oder die Affenfamilien, die sich bei Sonnenaufgang ebenfalls alles Mögliche von Ast zu Ast mitzuteilen hatten. Nino schwamm an den Beckenrand und stemmte sich mit wohldefinierten Armen hoch. Aus seinen kinnlangen dunklen Haaren tropfte das Wasser. Diese kleine Einlage war für mich gewesen, das wusste er, das wusste ich. Helen zwinkerte mir zu, während sie mit dem Pfannenheber einen weiteren Bananenpfannkuchen auf den schiefen Turm neben sich stapelte.

Nino schlenderte auf uns zu und blickte mich herausfordernd an. »Hey, Toni, gut geschlafen?«

Er sagte das mit seinem niedlichen lateinamerikanischen Deutsch und mit gekonntem Augenaufschlag. Ein leichter Schauer lief mir den Rücken hinunter, wenn ich daran dachte, wie wir neulich getanzt hatten, bei einer Party hier im Camp. Ich war stolz auf mich gewesen, weil ich danach allein in mein Zimmer gegangen war. Diese Affären mit Kollegen, die auf hundert Meter Entfernung nach Ärger rochen, wollte ich mir endgültig abgewöhnen. Aber jetzt, wo er nur in Badeshorts vor mir stand, sich einen von Helens Pancakes stibitzte und mich mit seinen tiefbraunen Augen anfunkelte, begann mein eiserner Vorsatz in der Morgenhitze Costa Ricas zu schmelzen. Noch während ich ihn musterte, hörte ich jemanden meinen Namen rufen. Es war Elsie von der Rezeption.

»Toni?« Ihr Kopf mit dem vielen krausen Haar tauchte zwischen den Palmen auf. »A call for you. Someone speaking German.«

Das machte mich stutzig, denn wenn meine Freunde sich meldeten, dann meist auf dem Handy. Außerdem sprachen sie alle zumindest Schulenglisch. Ich warf Nino einen letzten Blick zu, schnappte mir einen Pancake und lief Elsie hinterher. Der Weg war mit hellem Kies bestreut, und die kleinen Steine pikten in meine nackten Fußsohlen. Vor mir flitzte eine feingliedrige Eidechse von dem Palmblatt, auf dem sie sich gerade gesonnt hatte. Nachttau glitzerte in imposanten Spinnennetzen im Morgenlicht.

Elsie verschwand in einem kleinen Holzhaus am Rand der Anlage und hielt mir den bunten Perlenvorhang zur Seite. Ich biss noch einmal in mein Frühstück und trat hinter ihr ein, woraufhin sie den Vorhang losließ und er klappernd zurückschwang. Auf dem Boden lagen handgewebte Teppiche, von der Decke baumelten lackierte Holzfaultiere. Sie lief hinter die Theke, die aus einem alten Surfbrett gebaut war, und reichte mir einen speckigen Telefonhörer. Ich lehnte mich mit dem Rücken an die Wand und hielt ihn mir kauend ans Ohr.

»Hallo?«

Ich hörte es rascheln. Mit etwas Verzögerung sagte eine Männerstimme: »Hallo, Tönchen.«

Verdutzt schluckte ich den letzten Bissen von meinem Pancake hinunter. »Hallo … Papa.« Ich spürte, wie meine Finger sich um den Hörer krampften. Mein Vater rief mich nie an. Mir war nicht mal klar gewesen, dass er diese Nummer besaß. Wenn er sich also meldete, konnte das nur bedeuten, dass etwas Schlimmes geschehen war. »Papa? Ist alles okay?«

Es knackte in der Leitung. »Jaja. Ich wollte nur mal hören, wie es dir geht.«

Meine Finger fühlten sich taub an, auch wenn offenbar niemand gestorben war. Ich bemerkte, dass Elsie mich immer wieder neugierig musterte, während sie ein paar Papiere auf ihrer Surfbrett-Rezeption hin und her schob.

»Es geht mir gut, Papa, danke. Wie geht es euch?«

Wieder dauerte es einen Moment, bis er antwortete.

»Gut, gut, wie ist das Wetter?«

»Sonnig, schwül. Papa … Bist du sicher, dass alles okay ist?«

»Alles in Ordnung. Mal wieder zu wenig Regen, die Nachbarn jammern. Gleich kommt eine neue Familie an. Alles wie immer.«

»Schön.« Vor meinem inneren Auge sah ich meinen Vater in unserer Küche sitzen, mit dem alten Kabeltelefon vor sich auf dem massiven Holztisch. Daneben stand vermutlich der Tonbottich mit Schmalz, mit dem er gleich eine dicke Kruste Brot bestreichen würde. Dann würde er sich die Hände an der modischen Jeans abwischen, die Mama ihm besorgt hatte, und die Esel füttern gehen. Hatte ich ihn je telefonieren sehen? Und wo war Mama? Eigentlich entfernten die beiden sich nie weiter voneinander, als dass sie sich zumindest einen Luftkuss zuwerfen konnten. Der Gedanke machte mein Herz schwer, und ich konnte nicht mal genau sagen, wieso. »Sind die Frühsommerlämmer schon geboren?«

»Kann jetzt jede Nacht so weit sein.« Er atmete schwer. »Ich bin gespannt, ob ein schwarzes für dich dabei ist.«

Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen schossen. Auch das traf mich unvorbereitet. Meine Heimat in Nordfriesland, die Weiden, die Lämmer, mein Vater in der alten Küche, wie er aus dem kleinen Fenster sah und nach seinem »Sternchen« Ausschau hielt – all das könnte nicht weiter weg sein von mir in meinem Schlafshirt, hier, mitten in den Tropen.

»Das würde mich freuen«, hörte ich mich selbst mit belegter Stimme sagen.

Einige Sekunden war es still. Etwas raschelte im Hintergrund. Elsie räusperte sich, aber ich nahm es kaum wahr.

»So.« Mein Vater atmete wieder schwer. »Dann lass ich dich mal arbeiten. Oder was du machst.«

»Ich gebe gleich eine Surfstunde.«

»Gut. Dann.«

»Hab einen schönen Tag, Papa.« Ich kämpfte noch immer mit den Tränen. »Danke für den Anruf. Grüß mir …«

»Tönchen?«, unterbrach er mich.

»Ja?«

»Kommst du bald mal wieder nach Hause?«

Er sagte das beiläufig, als wäre es eine ganz normale Frage. Meine Mutter stellte sie mir in jeder der minutenlangen Sprachnachrichten, die sie mir in unregelmäßigen Abständen schickte und in denen sie immer von »wir« sprach, womit sie natürlich Papa und sich meinte. Anfangs hatte auch Caro mir diese Frage gestellt, wenn sie mich per Videocall anrief. Mein Vater? Von sich aus noch nie.

»Ich weiß noch nicht, Papa. Vielleicht an Weihnachten.«

Ich hörte ihn tief einatmen. »Ginge es vielleicht etwas eher?«

Die Frage hing einen Moment in der Luft, bis sie zu mir durchgedrungen war. »Braucht ihr Hilfe, Papa?«

»Nicht direkt.« Er zögerte. »Ein wenig vielleicht. Für ein paar Wochen nur.« Es knackte in der Leitung, vermutlich spielte er am Kabel herum. »Entschuldige, ich möchte dir keine Unannehmlichkeiten machen.«

»Ich würde gern kommen und euch helfen, Papa, aber ich habe hier noch einen Vertrag bis Ende des Jahres und …«

»Schon gut, schon gut«, unterbrach er mich erneut. »Das dachte ich mir. Gar kein Problem.«

Wir schwiegen beide einen Moment.

»Tut mir leid, Papa«, sagte ich schließlich.

»Macht gar nichts, wir finden eine andere Lösung. Mach’s gut. Bis bald, mein Kind.«

»Bis bald, Papa.«

Noch ein lautes Knacken. »Tschüss, Tönchen.« Dann legte er auf.

Ratlos stand ich mit dem Hörer in der Hand vor der Rezeption und blickte Elsie an, die den Papierstapel beiseitelegte und mich interessiert betrachtete.

»Time to go home?«, fragte sie und ließ die geschwungenen Augenbrauen tanzen.

Ich gab ihr den Hörer zurück und rieb mir übers Gesicht. »Why do you say that?«

»Just a guess.«

Zwei Tage später erledigte ich mit dem Camp-Pick-up Einkäufe auf einer nahe gelegenen Farm. Gemeinsam mit Pola, die den Hof mit ihrer Familie betrieb, stapelte ich Kisten voller Mangos, Wassermelonen und Kokosnüsse auf der Ladefläche und befestigte sie mit Seilen. Dabei sah Pola mich plötzlich prüfend von der Seite an.

»Was ist denn bei dir gerade los?«, fragte sie und pfiff durch die Lücke zwischen ihren Schneidezähnen.

Ich lachte, denn solche Gespräche führten wir bei jedem meiner Besuche. Pola hatte angeblich übersinnliche Fähigkeiten, sie konnte aus der Hand lesen und hatte schon manchen meiner Kolleginnen Dinge vorausgesagt, die wirklich eingetreten waren. Mir hatte sie bereits mehrfach die große Liebe prophezeit. Allerdings nicht hier, sondern weit, weit weg, mit einem Mann mit dunklem Herzen, dessen Schönheit ich nicht sofort erkennen würde. Ich hatte das immer mit einem wissenden Grinsen hingenommen. Ich glaubte nicht an so etwas, mochte Pola aber gern und spielte das Spiel stillschweigend mit.

Sie kniete in ihrer bunten Haremshose auf der Ladefläche des Pick-ups und reichte mir mit nachdenklicher Miene die letzte Mangokiste.

Ich nahm ihr die Ware ab, verstaute sie, zog das Seil fest und fragte dann neckend: »Sag schon, brauchst du meine Hand?«

Aber da hatte sie schon danach gegriffen und die Handfläche nach oben gedreht. Meine Hände waren vom Surfen braun gebrannt, doch verglichen mit ihren wirkten sie immer noch blass. Polas Hände hatten Furchen von der Feldarbeit, obwohl sie nicht viel älter war als ich. Während sie mit dem rauen Zeigefinger über meine Handflächen fuhr, betrachtete ich ihr Gesicht, das sich in kritische Falten legte.

Dann hob sie den Kopf, und ihre fast runden Augen fixierten mich ernst. »Du hast eine Aufgabe vor dir.«

Ich schmunzelte.

»Du musst mit jemandem sprechen«, flüsterte sie jetzt. »Bevor es zu spät ist.«

Sie blickte wieder auf meine Hand. Ich bewunderte ihre dichten schwarzen Wimpern, die sich hoben und senkten.

»Warum hast du so lange gewartet? Deine arme Seele!« Das wurde mir jetzt doch etwas zu bunt. Noch während ich ihr sanft meine Hand entzog, funkelte sie mich an. »Kläre die Dinge, Toni, bald! Sonst finden die Geister keine Ruhe.«

Ich stupste sie lachend in die Seite. »Pola, das genügt, hör auf mit deinen Geistern!«

Aber sie sah mich verschwörerisch an. »Sie kommen zu dir, ob ich es sage oder nicht.«

»In meinen Albträumen, ja, da hast du wohl recht.«

Jetzt musste auch Pola lachen. Ich bezahlte ihr die Einkäufe aus meiner Hüfttasche und umarmte sie fest. Dabei flüsterte sie mir erneut ins Ohr: »Warte nicht zu lange!«

Als ich winkend von ihrem Hof fuhr, sah ich im Rückspiegel, wie sie mir nachdenklich hinterherblickte. Sie war wirklich wunderlich, aber für Originale wie sie liebte ich dieses Land genauso wie für seine warmen Wellen und immergrünen Wälder.

Auf der Schotterstraße fuhr ich zurück in Richtung Camp. Ich genoss es, Erledigungen wie diese zu übernehmen, mal woanders zu sein als in unserer Ferienanlage oder am Strand. Die Straßen waren nicht gepflastert und führten in tausend kleinen Kurven durch den tiefen Urwald. Ab und an tauchte völlig überraschend ein Haus am Straßenrand auf oder eine Herde Rinder oder ein Ameisenhaufen, der fast so hoch war wie der Pick-up.

Ich gelangte an das Flussbett, das man auf dem Weg zum Camp durchqueren musste. Für den Allradantrieb des Autos war das kein Problem, aber ich musste immer noch kurz die Luft anhalten, bevor ich mit meinem nackten Fuß aufs Gaspedal trat, ins Wasser rollte und es rings um den Wagen in alle Richtungen spritzte. Am anderen Ufer dösten ein paar Krokodile in der Sonne. Ich fuhr über das Kiesbett zurück in den Wald, dessen dichtes Blätterwerk kaum Sonne durchließ. Und ganz plötzlich, von einem Moment auf den anderen, fragte ich mich: Was wollte Papa? Warum hatte er mich um Hilfe gebeten? Das ungute Gefühl, das mich nach unserem Telefonat beschlichen hatte, kam zurück. Vielleicht hatte es mit Polas düsterer Prophezeiung und ihren Geistern zu tun.

In diesem Moment ratterte der Pick-up durch ein mächtiges Schlagloch, und ich hörte hinten auf der Ladefläche einen Knall. Die Straße war hier sehr schmal und ließ eigentlich keinen Platz zum Anhalten, aber ich wollte sichergehen, dass nichts heruntergefallen war, also blieb ich am Straßenrand stehen. Meistens kam einem hier ohnehin niemand entgegen. Auf dem Hinweg war ich nur einem neugierigen Nasenbären begegnet. Ich öffnete die Fahrertür und stieg aus. Mein Bremsmanöver hatte Staub aufgewirbelt, der in meinen Augen brannte. Hustend lief ich um den Wagen herum, kletterte auf die Ladefläche und kontrollierte die Ware. Auf den ersten Blick sah alles aus wie zuvor. Dann entdeckte ich eine Kiste, die durch das Schlagloch verrutscht sein musste. Ein paar Kokosnüsse waren herausgerollt. Ich sammelte sie auf, legte sie zurück und zog das Seil nach. Dabei dachte ich erneut über Polas Prophezeiung nach.

Natürlich gab es etwas, was damit gemeint sein könnte. Jemanden, mit dem ich sprechen musste. Aber das war ja das Prinzip von Wahrsagern. Hatten wir nicht alle Dinge, die wir klären mussten, vor denen wir uns drückten, manchmal so lange, bis es zu spät war? Oder waren meine Geister der Vergangenheit tatsächlich größer als die anderer Leute? Waren sie der Grund dafür, dass ich im Moment wieder häufiger am Meer saß und mich fragte, wie es weitergehen sollte?

Über mir im Baum schrien ein paar Papageien und rissen mich aus meinen Gedanken. Ich schob sie endgültig beiseite und sprang von der Ladefläche auf die Straße. In diesem Moment hörte ich einen Motor aufheulen. Ein Auto raste um die Ecke, ich sah nur noch den Staub, die Scheinwerfer, hörte das Quietschen der Bremse.

Danach wurde alles schwarz.

Das Nächste, was ich sah, war Licht, das durch die Blätter über mir fiel. Jemand beugte sich über mich, ein Ranger mit großem Hut, vermutlich der Fahrer des anderen Wagens. Er tröpfelte Wasser aus einer Flasche auf mein Gesicht und stammelte immer wieder: »Dios mío, dios mío.«

»Alles okay«, brachte ich schließlich auf Spanisch hervor.

Wilde Entschuldigungen vor sich hin murmelnd tätschelte er meine Wange. Ganz langsam richtete ich mich ein Stück weit auf. Ich lag neben dem Pick-up im Dickicht am Straßenrand. Offenbar hatte ich mich instinktiv mit einem Hechtsprung ins Gebüsch gerettet.

»Das war so knapp«, stieß der Mann mit bebender Stimme hervor. »So eine schnelle Reaktion, ein großes Glück, ich danke dem Herrn.«

Vorsichtig stand ich auf, klopfte Staub und Blätter von meinen Shorts. Nichts tat weh.

»Es geht mir wirklich gut«, versicherte ich dem Ranger erneut. Er wirkte immer noch besorgt, aber ich sah an mir herunter und entdeckte tatsächlich nichts außer einer kleinen Schnittwunde am Fuß, die mir wohl ein spitzer Ast in die Haut geritzt hatte.

Nach einigen Diskussionen, ob er mich nicht doch zum Arzt bringen sollte, setzte ich mich wieder ans Steuer und fuhr los. Diesmal war mein Kopf völlig leer. Wie ferngesteuert lenkte ich den Pick-up zurück ins Camp. Erst als ich ihn abgestellt und den Zündschlüssel umgedreht hatte, spürte ich, dass meine Hände zitterten. Und dass mir Tränen über die Wangen liefen.

Abends saß ich am Pool und ließ den unverletzten Fuß ins Wasser baumeln. Der mit dem Schnitt pochte leicht, nachdem Elsie die Wunde desinfiziert und einen Verband mit irgendwelchen heilenden Blättern angelegt hatte. Noch immer spürte ich mein Herz heftiger schlagen als gewöhnlich, aber der erste Schock war überwunden. Ich habe wirklich Glück gehabt, dachte ich erneut. Bruchteile von Sekunden, und ich säße jetzt nicht mehr hier. Dann hätte Papa vor zwei Tagen zum letzten Mal mit mir gesprochen.

Es raschelte in den Blättern um mich herum. Um diese Zeit wurde der Dschungel lebendig. Ein großes Bananenblatt fiel neben meinen Füßen herunter und segelte wie ein kleines Schiff auf der Wasseroberfläche, auf der sich das Licht aus den Bungalows spiegelte. Gedämpfte Stimmen drangen zu mir heraus. Neben mir auf dem Boden lag meine Gitarre, die ich mir nun auf den Schoß zog. Ich schlug ein paar Akkorde an und spürte, wie sich mein Herzschlag augenblicklich beruhigte. Leise begann ich eines meiner Lieder zu singen, an dem ich gerade schrieb.

»Oh Mann, du lächelst so schön

Hast immer alles im Griff

Jeder beneidet dich

Und keiner merkt, wie du grad zerbrichst …«

Die Melodie war fast fertig, an Text fehlte mir noch das meiste. Den Rest summte ich vor mich hin. Als ich den letzten Akkord ausklingen ließ, hörte ich aus dem geöffneten Fenster eines der Bungalows ein leises Klatschen.

Ich wollte gerade weitersingen, als das Handy in meiner Hosentasche vibrierte. Also legte ich die Gitarre beiseite, zog es heraus und sah, dass es ein Videoanruf meiner Freundin Maria aus Deutschland war. Eigentlich war ich gerade gar nicht in der Stimmung zu quatschen, dennoch nahm ich das Gespräch an.

»Hey, schöne Frau, wie geht es dir?« Marias strahlendes Gesicht erschien etwas verpixelt auf meinem Bildschirm. »Ich komme gerade vom Surfen, war herrlich heute, da musste ich an dich denken.« Allem Anschein nach waren ihre Haare noch nass.

»Selber schöne Frau«, entgegnete ich. »Es ist doch noch so früh bei euch, ist alles okay?«

Maria sah sich kurz um. Hinter ihr lief ihre kleine Tochter Hannah durchs Bild, nur in Windeln und mit einer Puppe im Arm. »Alles gut, sie hatte heute irgendwie keine Lust, länger zu schlafen. Aber Simon meinte, ich soll ins Wasser, er kümmert sich. Gestern war es im Café echt stressig, da hat das Surfen sehr gut getan.«

Vor meiner Ankunft hier hatte ich etwa ein halbes Jahr bei Maria und ihrer Familie auf Norderney verbracht und wusste, wovon sie sprach. Ich hatte mit ihr die stressigen Tage im Café gemeistert, und zur Entspannung waren wir danach gemeinsam surfen gegangen. Seit ich die Insel verlassen hatte, kamen wir viel zu selten zum Telefonieren. Warum meldeten sich denn plötzlich alle bei mir?

»Hattest du nur Sehnsucht nach mir, oder gibt es einen besonderen Grund, warum du anrufst?«, fragte ich und plätscherte mit dem Fuß im lauen Poolwasser.

»Vor allem Sehnsucht natürlich!« Sie grinste breit. »Aber ja, tatsächlich, es gibt auch einen Anlass. Dein Vater hat vor ein paar Tagen angerufen.« Maria griff nach einem Handtuch und rubbelte ihre nassen Haare. »Er hatte wohl noch irgendwo die alte Nummer notiert und dachte, er könnte dich hier erreichen. Hat sich mehrmals für seinen Irrtum entschuldigt. Ich hab ihm dann deine Handynummer und die vom Camp gegeben. Ich hoffe, das war dir recht?«

»Ja, klar.« Ich geriet sofort wieder ins Grübeln. Warum rief mein Vater auf Norderney an? Meine Mutter und meine Schwester hatten doch alle aktuellen Nummern. Die Sache wurde immer ominöser.

»Ist bei euch zu Hause alles in Ordnung?« Maria wickelte das Handtuch zu einem Turban um ihren Kopf. Im Hintergrund sah ich ihren Freund Simon in Boxershorts durchs Bild laufen. Er blieb im Vorbeigehen kurz stehen und winkte etwas verschlafen in die Kamera: »Hey, Toni!« Schon hatte er sich Hannah unter den Arm geklemmt und war mit ihr aus dem Bildausschnitt verschwunden.

»Ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob da alles in Ordnung ist«, sagte ich zu Maria. »Ich glaube, ich muss noch mal anrufen.«

»Mach das.« Sie benutzte die Handykamera als Spiegel und cremte sich mit schnellen Bewegungen das Gesicht ein. »Hier bei uns ist gerade viel los, die Saison beginnt, und ich könnte dich gut gebrauchen. Falls du irgendwann genug vom Paradies hast, weißt du ja, wo du mich findest.« Sie lachte ihr lautes Lachen.

Ich stimmte halbherzig mit ein. »Diesen Sommer nicht, Süße, ich bin hier bis Ende des Jahres angestellt.«

»Verstehe.« Etwas schepperte im Hintergrund, und ich konnte Simon fluchen hören. Maria wandte sich um. »Ich glaube, ich muss da mal helfen. Wollte dir nur Bescheid geben wegen deines Vaters, bin die Tage irgendwie nicht dazu gekommen, und jetzt fiel es mir im Wasser wieder ein. Pass auf dich auf!«

Wir warfen uns Handküsse zu, dann wurde mein Bildschirm schwarz. Ich steckte das Handy weg und sah mich um. Schon komisch, dass Technik die Illusion erschaffen konnte, wir säßen direkt nebeneinander, auch wenn uns gerade unzählige Flugstunden trennten.

»Schön hast du gesungen!«, hörte ich jemanden sagen. Nino schlenderte am Pool entlang auf mich zu.

»Danke!«, sagte ich und griff wieder nach der Gitarre.

»Wollen wir noch eine Runde spazieren gehen? Geht das mit deinem Fuß?« Er balancierte am Rand des Pools entlang und versuchte, mit den Zehen das Palmblatt aus dem Wasser zu fischen. Ich zögerte, denn eigentlich hatte ich gerade das Bedürfnis, allein zu sein und noch etwas Musik zu machen. Mit gekonntem Augenaufschlag fügte er hinzu: »Komm schon. Wir müssen auch nicht sprechen.«

Also gut, dachte ich, womöglich ist es wirklich keine schlechte Idee, um auf andere Gedanken zu kommen. Außerdem war es bereits spät, und vielleicht wollten einige Urlauber lieber schlafen, statt mir zuzuhören. Ich brachte meine Gitarre rein, zupfte mein Trägerkleid zurecht und tappte barfuß über den Kiesweg hinter Nino her bis zum Tor an der Straße. Auch diese war nicht befestigt. Seite an Seite gingen wir über den Split. Jeder unserer Schritte wirbelte feinen Staub auf und färbte den Verband an meinem Fuß grau. Schmerzen hatte ich dank Elsies heilenden Blättern keine. Was habe ich nur für ein Glück gehabt, schoss es mir erneut durch den Kopf.

Es war schon dunkel, über uns flogen immer mehr Fledermäuse ihre waghalsigen Runden. Aus dem Regenwald links und rechts der Straße waren Schreie zu hören, die ich nicht zuordnen konnte. Waren das Affen, Vögel, Ameisenbären oder doch die Kinder aus dem Hotel einige Hundert Meter weiter, die mit ihren Taschenlampen nach Faultieren suchten?

»Geht es dir besser?«, fragte Nino nach einer Weile.

»Ich denke, ja.« Ich spürte, wie sich ein Schweißfilm auf meiner Nase bildete. Selbst nach Sonnenuntergang war es hier zu schwül für viel Bewegung. »Ich bin mit dem Schrecken davongekommen.«

Ein Hund kam schwanzwedelnd auf uns zugelaufen. Wir streichelten ihn beide. In diesem Dorf gab es viele Streuner, und ich hatte gelernt, dass die Gemeinschaft sich um sie kümmerte. Bei diesem hier handelte es sich um einen Mischling mit drahtigem Fell, der besonders freundlich war und uns häufig im Camp besuchte. Elsie gab ihm regelmäßig etwas zu fressen.

Der Hund folgte uns ein Stück, bis wir in einen kleinen Pfad in Richtung Meer einbogen und er einen Pfiff aus der Ferne vernahm. Blitzschnell hechtete er davon.

Der Pfad war unbeleuchtet, und meine Augen gewöhnten sich nur langsam an die Dunkelheit. Nino hatte einen Stock aufgehoben und klopfte damit auf den Weg, damit keiner von uns auf eine Schlange trat. Blätter knisterten unter unseren Füßen. Wellenrauschen mischte sich darunter, das mit jedem Schritt lauter wurde. Dann lichteten sich die Bäume, und ich spürte grobkörnigen Sand unter den Füßen.

Vor uns rollten sanfte Wellen auf einen Strand, der von Palmen umrandet war. Ich hatte meine Jugend in der Nähe eines Strandes verbracht, aber er sah ganz anders aus als dieser. Hier war der Sand warm, selbst am Abend, wenn keine Sonne mehr darauf brannte. Und das Wasser war ebenfalls warm, das ganze Jahr über. Musik von den Lokalen am Ufer schallte zu uns herüber. Ihre bunten Lichterketten funkelten mit den Sternen um die Wette. Ein schmaler Sichelmond war am Horizont aufgegangen. Ich drehte mich um mich selbst und betrachtete die Bucht, die seit einigen Monaten mein Zuhause war. Wie ein Band legte sich etwas um meine Brust und zog sich zusammen.

Nino kam ein Stück näher und musterte mich. »Woran denkst du?«

Ja, woran dachte ich?

Ich dachte daran, dass ich froh war, noch am Leben zu sein. Ich fragte mich, wo Papa gerade war. Ob schon ein Lamm geboren war. Wie es Mama ging. Und Caro. Und Mads. Ich dachte daran, dass der Strand in meiner Heimat um diese Uhrzeit kalt unter meinen Füßen wäre und der Horizont düster und dass der Wind niemals heiß war, nicht mal im Hochsommer.

»An viel zu viel«, antwortete ich.

Ich sah auf meine Füße hinab, auf den Verband, der ganz grau und staubig geworden war. Egal, ob Polas Prophezeiungen Hokuspokus waren oder nicht: Sie hatte recht. Ich musste wirklich mit jemandem sprechen. Ich musste ein für alle Mal etwas klären und die Geister der Vergangenheit zum Schweigen bringen. So pathetisch es klang – es war die Wahrheit.

Nino hob sanft mein Kinn an und sah mir tief in die Augen. »Ich mag dich.«

»Ich mag dich auch.« Ich lächelte gedankenversunken. »Aber ich muss jetzt los.«

Nino ließ mit enttäuschter Miene mein Kinn los. »Wo willst du denn hin?«

Ich drehte mich Richtung Wasser und atmete tief die vor Feuchtigkeit schwere Luft ein. »Nach Hause.«

2

Als ich hinter Caro in die Küche mit den verschnörkelten Holzfronten und den alten gemusterten Wandfliesen trat, sah ich zunächst nur Geschirr. Geschirr in allen Farben und Formen, zusammengesucht von meiner Mutter bei ihren zahllosen Flohmarktbesuchen. Tassen mit Goldrand oder feinen Rosenranken waren zu Türmen gestapelt, auf Tellern mit Käserinde und Brötchenresten lagen zerknüllte Stoffservietten. Mitten im Chaos stand mein Vater. Sein noch dichtes graues Haar stand zu Berge, die Jeans wurde von einem Gürtel unter seinem rundlichen Bauch gehalten, das Fischerhemd hing hinten heraus, und er schnaufte angestrengt, während er mit seinen großen Händen Krümel von den Tellern spülte.

»Hallo, Papa«, sagte ich laut, damit er mich bei dem Geklapper überhaupt hörte.

Er hielt mitten in der Bewegung inne und drehte sich abrupt um. Fast erschrocken sah er mich an. »Tönchen.«

Ich verzog entschuldigend das Gesicht. »Doch nicht erst Weihnachten.«

Er ließ den Teller ins Spülbecken sinken, wischte sich die nassen Hände an dem Geschirrtuch ab, das über seiner Schulter hing, und kam mit großen Schritten auf mich zu, um mich in seine weit ausgebreiteten Arme zu ziehen. Er roch nach Tierfutter und Arbeit und Schmalz, wie immer, und ganz kurz spürte ich, wie sehr mich das rührte.

»Immer noch keine Frühsommerlämmer, du kommst genau richtig«, sagte er, während er meinen Rücken tätschelte.

Mein Blick fiel auf meine Schwester, die hinter ihm stand. Mit verschränkten Armen lehnte sie an dem alten Gasherd und beobachtete uns, ein warmes Lächeln im Gesicht. Als unsere Blicke sich trafen, zwinkerte sie mir zu, ging zur Spüle und streichelte mir im Vorbeigehen über die Wange. »Ich kann nicht glauben, dass du wirklich da bist!«, sagte sie und griff nach einem schmutzigen Teller.

Papa ließ mich los. »Lass mal, Linchen, ich spüle gleich weiter.« An mich gewandt, sagte er: »Die Spülmaschine ist seit einigen Wochen kaputt.«

»Seit einigen Wochen?«, fragte ich. »Kann Bob der Baumeister sie nicht reparieren?«

Diesen Spitznamen hatten wir als Jugendliche meiner Mutter verpasst, weil sie niemals auf die Idee kam, einen Handwerker zu rufen. Tatsächlich schaffte sie das allermeiste selbst, wenn auch nicht immer ganz so, wie ursprünglich gedacht.

Caro stellte einen weiteren Teller ins Abtropfgestell. »Leider nein, diesmal ist die Sache offenbar komplizierter.«

Papa wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Ja, leider. Aber jetzt bist du da, und wir haben noch zwei Hände mehr zum Abtrocknen.« Er lachte dröhnend, und wir stimmten mit ein.

Neben der Kaffeemaschine entdeckte ich ein letztes Dinkelbrötchen. Mein Vater backte also immer noch selbst für die Gäste. Ich nahm es mir und biss beherzt in die knusprige Kruste. »Wie geht es euch sonst?«, fragte ich mit vollem Mund.

Mein Vater legte seinen massigen Arm um mich. »Wir freuen uns, dass du da bist.«

Caro ließ den Spüllappen sinken. »Ansonsten alles gut. Aber sag, wie ist es bei dir, wo kommst du her, wie war der Flug?«

»Mir geht es auch gut.« Ich reckte mich. »Aber ich bin echt kaputt. Bin vor über vierundzwanzig Stunden in Samara an der Westküste von Costa Rica aufgebrochen und anschließend von San José über Zürich nach Hamburg geflogen. Von dort mit dem Regionalexpress bis Husum und dann weiter mit dem Bus.«

»Wir hätten dich doch irgendwo abholen können.« Mein Vater klang ehrlich empört.

Ich drückte seinen Arm, der noch immer über meinen Schultern lag. »Dann wäre es keine Überraschung gewesen.«

Caro strahlte mich an. »Die ist dir echt gelungen! Wisst ihr, was? Wir machen jetzt einen Sekt auf, ja?«

»Oh, ich glaub, ich hab noch einen kalt stehen.«

Mein Vater war schon auf dem Weg zum Kühlschrank, als ich sagte: »Seid nicht böse, aber ich glaube, ich muss mich kurz hinlegen, bevor ich mit euch anstoßen kann. Geht das auch später?«

»Klar, das verstehen wir, oder, Papa?« Caro legte den Spüllappen neben das Waschbecken. »Ich besorge dir Bettzeug.« Sie lief in den Flur.

»Wo ist eigentlich Mama?«, fragte ich.

»Unterwegs«, rief Caro von der Treppe aus.

Mein Vater hatte sich bereits wieder den Lappen geschnappt und spülte munter weiter. »Sie macht Besorgungen.«

Ich zog das Geschirrtuch von seiner Schulter. »Komm, ich helfe dir, bevor ich mich hinlege.«

Mit dem Spüllappen in der Hand schlenderte er zur Fensterbank und drehte das Radio lauter. Es lief ein ABBA-Song. Grinsend schwang er den Lappen wie ein Torero. »Und danach machen wir es uns nett.«

Etwa eine halbe Stunde später folgte ich Caro über den Hof. Ich trug meinen Rucksack auf dem Rücken, den Gitarrenkoffer über der Schulter und ein Kissen vor der Brust. Sie hatte die Daunendecke und ein Bettlaken im Arm. Ich war so erschöpft, dass ich alles nur schemenhaft wahrnahm. Eine Familie am Hühnerstall, die interessiert zu uns herübersah. Die Ziegen am Gatter, die laut meckerten, als wir vorbeigingen. Die Weide dahinter, auf der nur noch hier und da vereinzelte Nebelschwaden waberten. Man konnte jetzt bis zum Deich schauen, auf dem die Schafe grasten.

Caro schritt energisch vor mir her, an den Ferienwohnungen mit der roséfarbenen, der mintgrünen und der babyblauen Tür vorbei, an der Scheune entlang, über die Wiese. Kurz sah ich uns als Jugendliche vor mir, wie wir übers ungemähte Gras hüpften. Hand in Hand, laut singend. Caro mit dickem braunem Haar und unerschütterlichem Selbstbewusstsein, ich zarter und unsicherer mit meinem feinen hellblonden Minizopf, der einfach nicht wachsen wollte. In meiner Erinnerung trug sie einen alten Pulli von Mama, weil es ihr egal war, wie sie aussah, so wohl fühlte sie sich in ihrer Haut. Ich hingegen zupfte ständig an der tief sitzenden Hüftjeans, die man gerade trug, oder an irgendeinem Bandshirt, weil man so in Berlin hatte aussehen müssen, um dazuzugehören. Aber hier war das keine geltende Währung gewesen.

Wie gut, dass ich meine große Schwester hatte, dachte ich, und betrachtete Caro von der Seite. Noch immer musste für sie alles praktisch sein, die kurzen Haare, die bequemen Stoffhosen, die einfarbigen Shirts, die flachen Schuhe. Über die Jahre hatten einige Freundinnen versucht, sie zu mehr Mut in Sachen Mode oder Make-up zu bewegen, aber Caro war immun gegen jede Form von Selbstoptimierung. Und das nicht nur, weil sie auch so schon spitzenmäßig aussah, sondern auch, weil es in ihrem Leben immer wichtigere Dinge als Äußerlichkeiten gegeben hatte, und gerade das machte sie für mich noch schöner.

Caro steuerte auf den alten Schuppen mitten auf der Wiese zu, der in Vanillegelb lackiert war. Der Lack blätterte in großen Stücken von den Holzlamellen ab. Sie griff mit der freien Hand nach dem Schlüsselbund um ihren Hals und suchte nach dem passenden Schlüssel. Als sie ihn gefunden hatte, hantierte sie schimpfend an der Tür herum.

»Gib mal.« Ich drehte den Schlüssel herum und drückte die Schulter gegen die Tür. Sie sprang sofort auf. Das funktionierte also noch immer.

Von drinnen schlug uns abgestandene Luft entgegen. Während Caro sich daranmachte, das schmale Bett zu beziehen, sah ich mich staunend um. Alles sah aus wie früher. Die schwarzen Lackmöbel aus den Achtzigern, die in den Nullerjahren, als ich hier einzog, längst nicht mehr modern gewesen waren, die meine Mutter aber günstig bei einem Hinterhofverkauf erbeutet hatte. Der ovale Spiegel, vor dem ich als Jugendliche stundenlang geübt hatte, mich mit meiner Gitarre zu bewegen wie die Sängerin von Wir sind Helden. Der Schreibtisch, auf dem eine leere Retro-Coladose mit Stiften stand. Mein alter Plattenspieler, die Plattensammlung daneben und meine erste Kindergitarre in der Hülle voller Skateboard-Sticker. Die Poster an den Wänden von The Strokes und The White Stripes. Mehr als anderthalb Jahrzehnte waren vergangen, seit ich sie aufgehängt hatte. Niemand hatte hier je etwas verändert. Ein seltsames Gefühl von Nostalgie machte sich in mir breit.

»Fertig«, sagte Caro, nahm mir das Daunenkissen ab und warf es ans Kopfende des Bettes. »Brauchst du noch was?«

Müde und ein wenig rührselig betrachtete ich meine große Schwester im schummrigen Licht meines alten Zimmers. »Dich könnte ich gebrauchen. Weißt du noch, wie du dich früher manchmal zu mir ins Bett gelegt hast, wenn ich nicht einschlafen konnte?«

Sie lächelte sanft. »Ja, das war schön. Aber du hast mich dann gar nicht mehr losgelassen, du kleines Äffchen.«

»Ja, weil du immer so schön warm warst.«

Wir lachten, dann umarmte sie mich, diesmal noch länger und fester. »Ruh dich aus! Ich bin drüben, wenn du was brauchst, ich hab heute meinen schulfreien Tag. Und heute Abend stoßen wir an.«

Ich warf ihr eine Kusshand zu und ließ mich aufs Bett fallen. Obwohl die Erinnerungen in mir sprudelten, übermannte mich innerhalb von Minuten ein traumloser Schlaf.