Kristin Haug, geboren 1982, studierte Medienwissenschaften, Germanistik und Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Jena und Paris. Nach dem Abschluss der Deutschen Journalistenschule in München arbeitete sie seit 2011 als freie Journalistin. Seit 2016 ist sie Redakteurin im Bildungsressort des SPIEGEL, seit 2020 im Ressort Deutschland/Panorama.
Verena Töpper, ebenfalls Jahrgang 1982, studierte Publizistik, Amerikanistik und Filmwissenschaft in Mainz, Wien und Washington D. C. und besuchte die Axel-Springer-Akademie. Seit 2011 arbeitet sie als Redakteurin beim SPIEGEL in den Ressorts Karriere und Bildung, für die sie u. a. aus Kenia, den USA und Australien berichtet hat.
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Kristin Haug
Verena Töpper
Mittagspause
auf dem Mekong
Auswanderer über ihr
neues Leben in 28 Ländern
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Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-26962-3
V001
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Inhalt
Vorwort
Erster Teil
Für dich ziehe ich bis ans Ende der Welt
Köln Cookinseln
Vom Glück, jeden Tag barfuß zu gehen
Nachgehakt: Bochum Sumatra
»Mein Einkommen kann mit dem einer Anwältin mithalten«
Hamburg Singapur
»Wer zuerst einen Job findet, zieht um«
Nachgehakt: Speyer Tobago
»Ich habe meine Bestimmung gefunden«
Schwarzwald Washington, D. C.
Er geht mit
Hamburg Peru
Wie Antonias Kaffee Señor Raúl begeistert
Nachgehakt: Baden Uganda
»Ich war so naiv, einem Verfassungsrichter zu trauen«
München Mauritius
Jedes Wochenende Traumurlaub
Jena Hawaii
»Ich fühle mich wie ein Auserwählter«
Hamburg Sibirische Taiga
»Ich wünsche meinem Mann, dass er eine jüngere Frau findet«
Überlegungen und Tipps
Für die Urlaubsliebe alles hinschmeißen?
Interview
»Das Ausbrechen aus Routinen ist trainierbar«
Zweiter Teil
Hier ist es schön, hier will ich bleiben
München Senegal
Fasziniert von Licht und Farben
Hamburg Grönland
»Meine Enkel lernen im Kindergarten, wie man Fische schlachtet«
Nachgehakt: Düsseldorf New York
Durchbruch mit den Kardashians
Frankfurt am Main Tokio
Regeln, Ordnung, Hierarchien – und Magie
Mannheim Dubai
»Wir wohnen im höchsten Gebäude der Welt«
Nachgehakt: Worms Peru
Glück mit silbernen Knöpfen
Nachgehakt: Stuttgart Thailand
In der Mittagspause in den Swimmingpool
Köln Dominica
»Mein Herz hat über meinen Verstand gesiegt«
Überlegungen und Tipps
Ist dieses Land das richtige für mich?
Interview
»Auswanderer werden wohl nie zu 100 Prozent Teil einer anderen Gesellschaft sein«
Dritter Teil
Immer dem Job nach
Bayern Katar
Ein Leben zwischen Sand und Eis
Hamburg Las Vegas
Vier Mal am Tag über den Grand Canyon
Nachgehakt: Sachsen Brasilien Hessen
»Das erste Jahr war hart für uns«
Niedersachsen Kanada
Eine Farm zieht um
Köln Laos Franken
»Statt eines Vertrags gab es nur einen Handschlag«
Nachgehakt: Marburg Montreal
Vom Bittsteller zum Umworbenen
Stuttgart Vietnam
Deutschland, nur mit geilem Wetter
Nachgehakt: Köln Vietnam Bayern
»Man muss auch erkennen, wann Zeit ist für einen Programmwechsel«
Nachgehakt: Berlin Karibik
»Sonne und Strand kann ich nie genug kriegen«
Überlegungen und Tipps
So klappt der Neustart
Interview
»Es werden diejenigen scheitern, die nicht flexibel sind«
Vierter Teil
Die Welt ist mein Schreibtisch
München Sydney
»Ich müsste bekloppt sein, um hier wegzugehen«
Berlin
»Ich reise um die Welt, ohne mir dafür Urlaub zu nehmen«
Nachgehakt: Erlangen Bangalore Rom
»Meine Töchter lebten in einem goldenen Käfig«
Hamburg Kalifornien
Ich bin Pastor Tia
Frankfurt Shanghai
Gearbeitet wird 996
Hamburg Segelboot im Mittelmeer
»Morgens springen wir erst mal ins Wasser«
Nachgehakt: Schwaben Nicaragua Schwaben
Aus einem Jahr wurden sieben
Berlin Sizilien
»Der Alltag stellt sich schon nach ein paar Tagen ein«
Überlegungen und Tipps
Wissenswertes für Digitale Nomaden und für einen Auslandseinsatz
Interview
Erst verhandeln, dann verreisen
Selbsttest
Sind Sie bereit für eine Zeit im Ausland?
Schlusswort
Dank
Links und Buchtipps
Bildnachweis
Bildteil
Vorwort
Kristallklares Wasser, weiße Sandstrände und dahinter eine grüne Bergkette. Auf die geht es jetzt rauf, mit dem Hubschrauber. Weit unter dem Landeplatz erstreckt sich eine farbgewaltige Inselwelt. Ein Moment für die Ewigkeit. Hier oben auf den Bergen Hawaiis arbeitet Marcus Richter. Hier kommen keine Touristen hin und meist nicht einmal Hawaiianer.
»Ich fühle mich wie ein Auserwählter, der das Privileg hat, hier hoch zu dürfen«, sagt Richter, der seit ein paar Jahren auf Maui wohnt und als Naturschützer arbeitet. Er hat hier, weit entfernt von der Heimat, seinen Traumjob gefunden. Ebenso wie Veronika La Fortune, die auf Tobago einen tropischen Reiterhof eröffnet hat und jeden Morgen dankbar dafür ist, im Paradies aufzuwachen. Oder Carina Wenzel, die auf den Cookinseln in einer Tauchschule arbeitet und von dem Glück erzählt, jeden Tag barfuß zu laufen.
Die Menschen in diesem Buch haben sich ihre Träume erfüllt. Vor elf Jahren porträtierten wir im SPIEGEL zum ersten Mal Deutsche, die sich in einem anderen Land ein neues Leben aufgebaut haben, und die Serie entwickelte sich rasch zu einem der meistgelesenen Formate auf unserer Webseite, das pro Folge mehrere Hunderttausend Leser erreicht.
Über die Jahre haben wir so mit mehr als 100 Auswanderern in aller Welt gesprochen. Manche fanden wir über Blogs oder Einträge auf Portalen wie LinkedIn, andere durch Empfehlungen von Freunden, später schrieben uns auch einige von sich aus an.
Bald zeigte sich ein Muster: Die Motive, warum Menschen Deutschland verlassen und einen Neustart in der Ferne wagen, ähneln sich. Da sind die, die sich während einer Urlaubsreise oder eines Praktikums im Ausland in einen Einheimischen verliebt haben, wie zum Beispiel Annette Horschmann auf Sumatra, und die, die Deutschland gar nicht verlassen wollten, aber ihrem Partner oder ihrer Partnerin in die Ferne gefolgt sind, wie Marcus Richter, der für seine Frau nach Hawaii zog.
Dann gibt es die, die sich auch unterwegs verliebt haben – aber nicht in einen Menschen, sondern in ein Land oder ein Lebensgefühl, wie Sophie Markl im Senegal oder Sven Ernst in Thailand.
Andere treibt dagegen nicht die Liebe, sondern die Not: Sie wandern aus, weil sich nur im Ausland ihre beruflichen Pläne verwirklichen lassen. Dazu zählen zum Beispiel die Landwirte Christiane und Jan Teerling, die in Niedersachsen eine erfolgreiche Wildfarm hatten, aber nicht expandieren konnten, weil ihnen der Platz fehlte. Ihr Grundstück in Kanada ist nun zehnmal so groß, und es gehört ein See dazu.
Dann gibt es noch die, die von ihrem deutschen Arbeitgeber in die Ferne geschickt worden sind, wie Gerd Höfner, der als Manager für Siemens nach Indien ging und dort Karriere machte. Und schließlich die, die ihr Homeoffice einfach ins Ausland verlegt haben, wie Maren Wagener und ihr Mann, die von einem Segelboot aus im Mittelmeer arbeiten.
Für das Buch haben wir die besten Geschichten aus den vergangenen drei Jahren zusammengestellt und nach diesen vier Motiven sortiert, wir haben sie aktualisiert und zahlreiche bisher unveröffentlichte Texte beigesteuert. Herausgekommen ist ein Mosaik an Geschichten aus 28 Ländern und von sechs Kontinenten.
Im Jahr 2018 war die Idee entstanden, bei den Protagonisten der Anfangsjahre noch einmal nachzufragen, was aus ihren Träumen geworden ist. Manche sind inzwischen zurück in Deutschland, so wie Jürgen Braunbach, der nach mehr als 30 Jahren in Asien den Neustart in Bayern wagte und bei einem Start-up angeheuert hat. Andere können sich trotz Rückschlägen und Enttäuschungen eine Rückkehr gar nicht vorstellen, so wie Miriam Milord in New York. Diese Geschichten finden Sie hier im Buch unter dem Stichwort »nachgehakt«.
Die Mehrheit unserer Gesprächspartner wohnt seit vielen Jahren im Ausland. Mit einigen hatten wir vor Ausbruch der Corona-Krise gesprochen, sie haben wir um ein Update gebeten: Was bedeutet die Pandemie für ihr Leben? Es zeigte sich: Bei manchen ist nun nichts mehr wie vorher – aber den Mut verloren haben sie trotzdem nicht.
Mittagspause auf dem Mekong ist weder Reiseführer noch Handbuch fürs Auswandern. Das Buch soll inspirieren, Denkanstöße geben, aber auch ganz konkrete Tipps – und zum Träumen einladen. Denn genau das ist es doch, was Berichte von Auswanderern so faszinierend macht, diese Fragen an sich selbst, die immer mitschwingen: Was wäre, wenn ich meine Koffer packen und alles hinter mir lassen würde? Wie sähe es aus, mein ungelebtes Leben?
Im Privatfernsehen zeigt man Auswanderer gern, um ihnen beim Scheitern zuzusehen. Das ist nicht unser Ziel. Unsere Serie heißt auf spiegel.de »Kulturschock«, aber uns geht es nicht um den Schock, sondern um das, was sich daraus lernen lässt.
Wir wollen über Ländergrenzen hinweg Gemeinsamkeiten aufzeigen und haben nicht nur Geschichten, sondern auch Ratschläge gesammelt: Welche Tipps würden sich die Protagonisten rückblickend geben? Und wir haben Expertinnen und Experten interviewt: Kann man Mut trainieren? Wie lässt sich der Kulturschock vermeiden? Was muss in einem Entsendevertrag stehen?
Wir haben versucht, das Erlebnis Auswandern so realistisch wie möglich zu erfassen. Wir beschönigen nichts, sondern lassen unsere Protagonisten in der Ich-Form erzählen – von den grandiosen Momenten genauso wie von denen voller Zweifel und Angst. Wir erfahren von Kindern, die wochenlang weinen, weil sie ihre deutschen Freunde vermissen und sich nicht verständigen können. Von Bränden und Hurrikanen, die alles zerstören. Aber auch von glücklichen Fügungen und lustigen Missverständnissen.
Wir können nicht alle Aussagen unserer Protagonisten überprüfen, weil wir nicht erlebt haben, was sie erlebt haben. Aber wir haben Fakten recherchiert und immer wieder nachgehakt. Wir haben mit allen Auswanderern telefoniert, mit vielen mehrmals, mitunter stundenlang.
Während der Recherche, bei den Gesprächen mit den Protagonisten dieses Buchs und beim Schreiben saßen wir selbst oft bei grauem Himmel und Nieselregen am Schreibtisch und fragten uns: Warum sind wir noch hier? Am anderen Ende der Leitung war gefühlt immer Sommer, die Sonne schien und das Meer rauschte im Hintergrund.
Wollen Sie auch Fernweh bekommen? Dann gehen Sie mit uns auf die Reise!
Erster Teil
Für dich ziehe ich bis ans Ende der Welt
Das Meer funkelt im Sonnenlicht, Palmen rascheln im Wind, alle Sorgen scheinen Zehntausende Kilometer weit entfernt, und plötzlich taucht da dieser Mensch auf mit seinem Lächeln. Ist es im Urlaub leichter, sich zu verlieben, fern des Alltags, mit Sand unter den Füßen und warmen Sonnenstrahlen auf der Haut? Vielleicht. Aber diese Leichtigkeit hat ein Verfallsdatum: der Tag des Rückflugs nach Deutschland. Und auf einmal sind da diese Fragen im Kopf: Was wäre, wenn? Wenn ich hierbliebe? Könnte dieses Paradies mein neues Zuhause werden? Je näher der Abschied rückt, desto lauter werden die Fragen.
Job und Wohnung kündigen, Eltern, Geschwistern und Freunden Lebewohl sagen und in die Ferne ziehen zu jemandem, den man kaum kennt – das scheint auf den ersten Blick verrückt. Kann so etwas überhaupt funktionieren? Ja. Es kann. Das zeigen die zehn Geschichten in diesem Kapitel.
Annette Horschmann, Carina Wenzel und Veronika Danzer haben sich im Urlaub auf einer Insel verliebt – auf Sumatra, Rarotonga und Tobago – und Deutschland verlassen, um der Liebe eine Chance zu geben. Dafür mussten sie sich auch beruflich neu erfinden.
Annette Horschmann hat für ihren Mann ihre geplante Karriere als Anwältin geopfert und leitet jetzt ein kleines Hotel auf Sumatra. Sie spricht fließend Indonesisch, engagiert sich in der Regionalpolitik und sagt: »Mein Einkommen kann mit dem einer Anwältin mithalten.«
Veronika Danzer, die jetzt Veronika La Fortune heißt, verdiente ihr Geld in Deutschland als Reiterin in einer Pferderevue, nun will sie von Zwang und Dressur nichts mehr wissen. Zusammen mit ihrem Mann betreibt sie auf Tobago einen tropischen Reiterhof und zähmt alte Rennpferde, seit fast 15 Jahren sind die beiden ein Paar. Mittlerweile lebt sogar Veronikas Mutter auf Tobago. Sie ist ihr aus Bayern hinterhergezogen.
Carina Wenzel hat ihre Arbeit als Schreinerin aufgegeben und hilft nun in der Tauchschule ihres Lebensgefährten auf Rarotonga mit. »Kein Tag ist wie der andere«, sagt sie. Der Bungalow, den die beiden bewohnen, ist nur 20 Quadratmeter groß, »aber die meiste Zeit verbringen wir ohnehin draußen in der Natur.«
Alle drei Frauen sind glücklich mit ihrer Entscheidung. »Allein, dass ich jeden Tag barfuß laufen kann, ist für mich ein großes Glück«, sagt Carina Wenzel. »Ich wache jeden Morgen auf und bin dankbar«, sagt Veronika La Fortune. Und Annette Horschmann meint: »Wir leben hier im Paradies.«
Marcus Richter fiel der Abschied aus Deutschland schwer. Seine Frau hatte eine Zusage bekommen, um ihre Doktorarbeit auf Hawaii zu schreiben – aber seine Freude hielt sich in Grenzen. Er sei kein Mensch, der Veränderungen brauche, sagt er: »Ich wollte nicht weg. Aber eine Fernbeziehung zu meiner Frau hätte ich auch nicht ausgehalten.« Und so folgte er ihr nach Hawaii. Wo er nach einem schwierigen Start nun glücklich ist.
Uli Mans ist seiner Frau schon dreimal ins Ausland hinterhergezogen und hat sich dreimal beruflich neu erfunden. Er ist mit einer niederländischen Diplomatin verheiratet, alle vier Jahre ziehen die beiden mit ihren Töchtern um.
Vanille, Chili, Kakao und Kaffee – damit haben sich Clemens Fehr und Antonia Schwoche ihren Lebenstraum im Ausland erfüllt. Auch sie sind für die Liebe in die Ferne gezogen, er nach Afrika, sie nach Lateinamerika. Fehr lebt als Farmer in Uganda, Schwoche betreibt in Peru ein Kaffeehaus.
Nicht alle Auswanderer, die wir in diesem Kapitel vorstellen, sind noch mit dem Partner zusammen, für den sie Deutschland verließen. Fiona Kau zog für ihren Freund nach Mauritius, die Beziehung zerbrach – aber sie blieb. »Seit ich hier bin, habe ich gelernt, mich einfach auf Dinge einzulassen und Gelegenheiten zu ergreifen, wenn sie kommen«, sagt sie. Sie arbeitet auf Mauritius als Psychologin für Kinder und Jugendliche.
Lutz Rahe hat seine große Liebe nicht im Urlaub, sondern im Internet kennengelernt. Sie wohnte in Singapur, er in Hamburg, beide waren verheiratet, aber nach vielen Chats, Telefonaten und zwei Besuchen war ihnen klar: Das ist etwas Ernstes zwischen uns. Und sie vereinbarten: Wer zuerst einen neuen Job findet, zieht um. Und so lebt Rahe nun in Singapur. Er arbeitet dort als Informatiker.
In der neuen Heimat von Karin Haß gibt es kein Internet und auch kein fließendes Wasser. Sie hat sich in Sibirien in einen Pelztierjäger vom Volk der Ewenken verliebt. Ihr Dorf ist nur per Boot zu erreichen – und mindestens vier Monate im Jahr von der Außenwelt abgeschnitten, weil der Fluss nicht befahrbar ist, wenn er zufriert oder taut. Seit 14 Jahren sind die beiden verheiratet. »Er hat für mich das Trinken aufgegeben. Ich bin für ihn von der Vegetarierin zur Fleischesserin und von der Feministin zur Hausfrau geworden«, sagt sie.
Köln Cookinseln
Vom Glück, jeden Tag barfuß zu gehen
Carina Wenzel, 41, lebt auf den Cookinseln im Südpazifik. Für ihre Arbeit als Tauchlehrerin steht sie früh auf und macht spät Feierabend. Und fühlt sich doch frei wie nie zuvor.
Fünf Jahre lang hatte ich ihn nicht gesehen: einen Freund aus meinem Abi-Jahrgang. Dann besuchte ich ihn auf Rarotonga, einer der Cookinseln, mitten im Südpazifik. Und verliebte mich – in die Insel, das Meer, die Menschen und in den Schulfreund. Er sagte mir, das müsse wohl der Tauchlehrereffekt gewesen sein.
Nach dem Abi hatte ich erst einmal eine Ausbildung zur Schreinerin gemacht und war dann nach Italien gezogen, um Italienisch zu lernen. Ich habe sieben Jahre lang dort gelebt – es war eine gute Zeit, ich mochte das Land. Nur richtig glücklich wurde ich da nicht. Also machte ich eine Weltreise, um herauszufinden, was ich wirklich wollte: Ich flog nach Hongkong, Australien, Neuseeland, auf die Cookinseln, in die USA und nach Kanada.
Auf den Cookinseln fühlte ich mich am wohlsten, hier hat alles gepasst. Die Menschen, die Natur, ich sammelte Muscheln und ging tauchen. Und entschied mich dazu, mein Leben in Italien hinter mir zu lassen, um nach Rarotonga zu ziehen.
Ich verkaufte meine Sachen, kündigte meine Verträge, verabschiedete mich von den Menschen, die ich liebgewonnen hatte. Es fiel mir relativ leicht zu entscheiden, welche Sachen ich in mein neues Leben mitnehmen wollte: alles, was ich gern hatte, meine Lieblingsklamotten, eine Decke, Tauchzeug, eine Edelstahlpfanne und andere Kochutensilien. Auf den Flug nahm ich nur einen Reiserucksack und eine Tasche fürs Handgepäck mit.
Es ist schon etwas anderes, wenn man mitten im Südpazifik auf einer 67 Quadratkilometer großen Insel lebt, die nur 9000 Einwohner hat. Ich bin in einer Großstadt aufgewachsen, hatte nie zuvor in einem wirklich kleinen Dorf gelebt, wusste nicht, ob mir das nicht zu einsam werden würde. Ich reiste mit einem Touristenvisum ein, das sechs Monate gültig war – und sagte mir, wenn es nicht passt, dann fliege ich wieder zurück.
In Rarotonga angekommen, zog ich bei meinem Schulfreund ein und half in seiner Taucherbasis aus. Er verleiht hier unter anderem auch Motorroller, Fahrräder und Kajaks. Es hat gepasst, ich bin nicht zurückgeflogen und arbeite immer noch im Geschäft mit.
Inzwischen wohne ich seit mehr als neun Jahren hier und bereue keinen einzigen Tag. Ich habe eine Arbeitsgenehmigung, mit der ich im Land bleiben darf. Sie muss aber jedes Jahr erneuert werden. Nach zehn Jahren hier kann ich eine Daueraufenthaltsgenehmigung beantragen. Ich würde wirklich gern bleiben. Es ist aber nicht garantiert, dass ich die Genehmigung bekomme.
Zu zweit auf 20 Quadratmetern
Normalerweise stehe ich jeden Tag um 6.45 Uhr auf und bin kurz vor acht im Shop. Ich gehe mit den Touristen tauchen, verleihe Ausrüstung, repariere Fahrräder oder Roller, mache sauber, gebe Tauchkurse. Kein Tag ist wie der andere. Zwischen 17 und 18 Uhr mache ich Feierabend. Ich bin die einzige richtige Angestellte und arbeite von Montag bis Freitag, an den Wochenenden habe ich normalerweise frei.
Seit der Corona-Krise gibt es hier nun keine Touristen mehr. Nur noch einmal die Woche kommt ein Flugzeug aus Neuseeland her – mit mehr Fracht als Passagieren. Zum Glück unterstützt uns die Regierung. Private Haushalte brauchen keinen Strom mehr zu zahlen, und unser Vermieter hat die Miete reduziert. Unser Alltag ist gemütlicher geworden. Wir haben ja keinen Zeitdruck mehr.
Die Zeit nutzen wir jetzt, um uns weiterzubilden. Ich habe etwa ein paar Kurse über Problem- und Konfliktmanagement, Teamwork und Teambuilding sowie einen Marketingkurs absolviert.
Obwohl mein Freund und ich normalerweise gemeinsame Tagesabläufe haben und unser Bungalow nur 20 Quadratmeter groß ist, gehen wir uns nicht auf die Nerven. Die meiste Zeit verbringen wir ohnehin draußen in der Natur. Wir wohnen 700 Meter vom Meer entfernt, und ich bin auch ganz froh darüber, nicht direkt am Strand zu leben. Manchmal kann es da schon ziemlich stürmisch werden, und Zyklone können viel Schaden anrichten.
Um die Ecke haben wir einen Tante-Emma-Laden, aber Lebensmittel kaufen wir meist in einem großen Supermarkt. Für einen Liter Milch zahlen wir 2,40 Neuseeland-Dollar, das sind umgerechnet 1,50 Euro. Ein 500 g-Stück Gouda kostet 7,30 Euro. Ich verdiene hier umgerechnet 850 Euro netto im Monat, und wir zahlen regulär knapp 410 Euro Miete. Wenn man viele westliche Lebensmittel oder Milchprodukte braucht, ist das Einkaufen eher kostspielig. Aber wenn man zum Beispiel ein Kilo frischen Gelbflossenthunfisch möchte, bezahlt man zwischen zehn und 15 Euro dafür. Auf dem Markt gibt es frische Gemüsesorten zu erschwinglichen Preisen. Und vieles wächst je nach Saison einfach im Garten oder beim Nachbarn auf dem Feld, der uns gern mal einen Sack Tomaten abgibt. Ein Freund versorgt uns mit Bananen und anderem Obst.
Normalerweise fliegen wir alle zwei Jahre nach Deutschland. Das ist selbstverständlich teuer und umständlich. Die Flüge gehen entweder über Los Angeles und London oder über Auckland und Asien, und wir zahlen meist zwischen 1200 und 1700 Euro dafür.
Ich freue mich immer riesig, wenn ich meine Familie und Freunde in Deutschland besuche. Und natürlich tut mir das Abschiednehmen von geliebten Menschen weh, doch ich merke bei jedem meiner Besuche wieder aufs Neue, wie nach ein paar Wochen die Sehnsucht nach meiner Insel wächst. WhatsApp und Skype machen das Kommunizieren heutzutage sehr viel einfacher. Mit meinem Vater telefoniere ich einmal in der Woche.
Meine Zeit in Italien vermisse ich überhaupt nicht. Ich fühle mich frei und ungebunden, alles passt. Allein, dass ich jeden Tag barfuß laufen kann, ist für mich ein großes Glück. Was jedoch jetzt in der Corona-Krise an mir nagt, ist die Ungewissheit. Ich weiß nicht, wann ich meine Familie wiedersehen kann, und ich weiß auch noch nicht, wie lange wir noch warten müssen, bis die ersten Touristen wieder auf die Insel finden. Aber wir kommen schon über die Runden.
Jedem, der auswandern will, rate ich, seinem Herzen zu folgen, aber sich auch zu fragen, ob er auf der anderen Seite der Erde wirklich arbeiten könnte. Natürlich braucht man Geld zum Überleben und muss flexibel sein, sollte nicht stur an einem Plan festhalten.
Ich habe keine Kinder. Hätte ich welche, könnte ich dieses Leben hier nicht so führen wie jetzt. Mutterschutz gibt es nur für vier Wochen, und ohne zu arbeiten habe ich kein Anrecht auf eine Arbeitserlaubnis und müsste das Land verlassen. Klar mag ich Kinder, aber ich finde es nicht schlimm, dass ich keine habe.
In Rarotonga gibt es sehr viele Expats, jedoch verlassen die meisten die Insel nach zwei, drei Jahren wieder. Einer Expat-Gemeinschaft würde ich mich nicht zuordnen. Unser enger Freundeskreis besteht aus Ausländern und Insulanern.
Wenn es regnet, bleiben wir auch gerne zu Hause, schauen uns den Tatort auf YouTube an oder lesen. Wenn ich neue Bücher brauche, dann bestelle ich sie mir einfach online. Zum Glück kommen sie normalerweise auch hier an – am Ende der Welt.
Nachgehakt: Bochum Sumatra
»Mein Einkommen kann mit dem einer Anwältin mithalten«
Annette Horschmann, 53, hatte gerade das erste Staatsexamen in Jura bestanden, als sie sich im Urlaub auf Sumatra in einen Einheimischen verliebte – und blieb. 27 Jahre später lebt sie immer noch dort.
Der Abend, an dem Annette Horschmann sich verliebte, war ihr erster auf der Insel. Sumatra hatte gar nicht auf ihrer Reiseliste gestanden. Aber dann hatten ihr an einem Strand in Thailand andere Backpacker vom größten Kratersee der Erde erzählt, und sie war spontan nach Indonesien geflogen. Für den Mann, den die damals 26-Jährige auf der Insel Samosir traf, opferte sie ihre geplante Karriere als Anwältin.
Das erste Staatsexamen in Jura hatte Horschmann gerade bestanden. Die Reise sollte eine Verschnaufpause vor dem Referendariat sein. Doch zurück in Deutschland packte sie nur einen Stapel CDs ein und machte sich wieder auf die Reise, zurück nach Samosir.
»Meine Eltern waren damals sehr besorgt. Sie hatten Angst, ich würde eine Schmalspur-Juristin werden, weil ich nur das erste Staatsexamen hatte«, sagt Horschmann. »Aber sie hatten mir mit 18 gesagt: ›Du stehst jetzt auf deinen eigenen Füßen.‹ Und daran erinnerte ich sie.«
Sie selbst habe keine Sekunde an ihrer Entscheidung gezweifelt, sagt sie. Und es sind viele Sekunden seit damals vergangen, mehr als 800 Millionen, um genau zu sein. Annette Horschmann lebt seit 27 Jahren auf Samosir. Sie hat den Mann, in den sie sich als junge Reisende verliebte, geheiratet und seine Heimat zu ihrer gemacht. Die beiden betreiben ein kleines Hotel mit 36 Zimmern und haben drei Kinder. Zwei leben gerade in Deutschland; die Tochter studiert, der Sohn macht eine Ausbildung bei einem Sternekoch. Horschmann ist überzeugt, dass sie wieder zurückkommen werden nach Samosir. »Sie wissen, in welchem Paradies sie hier leben.«
Das Hotel liegt direkt am See Toba, umgeben von grünen Hügeln, Reisfeldern und Plantagen. Die Gästezimmer verteilen sich auf mehrere Häuser mit spitzen Dächern, die an Zipfelmützen erinnern. Es ist die traditionelle Bauweise der Region – und ein Teil des Erfolgsrezepts von Horschmann, wie sie sagt. »Wir haben bewusst diese traditionellen Häuser gekauft, weil uns Nachhaltigkeit und Authentizität wichtig sind.«
Nie einen Kredit aufgenommen
Sie sieht sich als Vorreiterin einer Ökotourismus-Bewegung. Langsam wachsen, nachhaltig wirtschaften, das ist ihre Maxime. »Wir haben nie einen Kredit aufgenommen, sondern sind Stück für Stück größer geworden.«
Ihr Start in die Selbstständigkeit war ein vegetarisches Restaurant. Mit den ersten Gewinnen kaufte sie ihr erstes Zipfelmützen-Häuschen, zwei Gästezimmer bot sie an. Nach und nach kamen weitere Häuser hinzu. Heute sagt sie: »Mein Einkommen kann mit dem einer deutschen Anwältin mithalten.«
Sich selbstständig zu machen sei in Indonesien sehr viel einfacher als in Deutschland, schon allein, weil Löhne und Baukosten viel günstiger seien. Die Bürokratie sei allerdings manchmal noch nerviger. Gerade kämpft sie um Lizenzen für die Entsorgung von vermeintlich gefährlichem Müll – der letztlich doch auf den örtlichen Müllkippen verbrannt wird.
»Ich bin hier mittlerweile schon als kritische Mitmischerin bekannt«, sagt Horschmann. »Ständig gibt es Meetings, werden Lizenzen und Logos entworfen, aber um konkrete Lösungen kümmert sich niemand. Da kann ich nicht den Mund halten!«
Sie spricht fließend Indonesisch und mischt gerne mit in der Regionalpolitik. Dass die Region rund um den Kratersee von der Unesco zum Geopark, einer Modellregion für nachhaltige Entwicklung, erklärt wurde, sei unter anderem auch ihr zu verdanken, sagt sie. »Da bin ich stolz drauf.«
Ihr neuestes Projekt: Sie markiert Wanderwege und Mountainbike-Strecken. Eine soll im Frühjahr 2021 von Indonesiens Tourismusminister eingeweiht werden. Horschmann hat ihn schon kennengelernt: In einem Videocall durfte sie ihre Ideen für die Region vorstellen. Eine Seilbahn könne man bauen, mehrtägige Wanderungen mit Übernachtungen in andere Dörfer anbieten. Für den SPIEGEL berichteten wir vor fünf Jahren zum ersten Mal über Horschmann. Seither habe sich viel getan, sagt sie. Die indonesische Regierung habe das Potenzial der Region erkannt. Es werde »gebaut ohne Ende«, bis 2024 soll eine Autobahn bis an den See führen, »dann wird es hier anfangen zu boomen«. Schon jetzt kämen immer mehr einheimische Touristen, an den meisten Wochenenden sei ihr Hotel ausgebucht, trotz Corona-Krise. Weil viele Indonesier gern mit der ganzen Familie verreisen, hat sie neue Familienzimmer bauen lassen, der Pool wurde renoviert. Und die verbleibende Zeit nutzt sie für Webinare, in denen sie andere Hoteliers auf den erwarteten Ansturm von Touristen vorbereitet. Wenn die Corona-Pandemie erst mal vorbei und die Autobahn fertiggestellt sei, rechnet Horschmann vor allem mit vielen Reisegruppen aus China. »Indonesien entwickelt sich gerade in eine tolle Richtung. Das ganze Land ist schon viel sozialer, sicherer, umweltbewusster geworden, und vor allem für den Lake Toba heißt es: Weg von den schmutzigen Fischfarmen und hin zum Ökotourismus«, sagt Horschmann. »Für Unternehmer sind die Chancen hier unendlich.«
Hamburg Singapur
»Wer zuerst einen Job findet, zieht um«
Lutz Rahe wollte online Englisch üben – und verliebte sich in seine Chatpartnerin aus Singapur. Hier erzählt der Informatiker, wie er mit 56 Jahren sein Leben umgekrempelt hat.
Wer zuerst einen Job findet, zieht um. Das war die Abmachung zwischen meiner Freundin und mir. Zweimal hatten wir uns für jeweils zwei Wochen in der Heimat des anderen getroffen, in Hamburg und in Singapur. Dann stand für uns fest: Wir wollen ein gemeinsames Leben wagen. Eine weitreichende Entscheidung, denn zu diesem Zeitpunkt waren wir beide noch verheiratet.
Wir haben uns im Internet kennengelernt, in einem internationalen Freundschaftsforum, bei dem ich mich eigentlich nur angemeldet hatte, um mein Englisch aufzubessern. Als Informatiker hatte ich zwar beruflich viel mit Englisch zu tun, aber sich mit jemandem zu unterhalten, ohne auf Google Translate zurückzugreifen, ist ja schon etwas anderes. Wenn mir damals jemand gesagt hätte, dass ich der Liebe wegen bald nach Singapur auswandern und von morgens bis abends Englisch sprechen würde, hätte ich ihn wohl für verrückt erklärt. Aber schon nach meinem ersten Besuch in Singapur war klar: Das ist mehr als eine Brieffreundschaft.
Auch die Stadt hat mir auf Anhieb gefallen. Es ist super sauber hier, geraucht werden darf auch im Freien nur auf bestimmten Plätzen, der Nahverkehr ist wahnsinnig effizient, und es gibt Wasser und Wind – das ist mir als Norddeutschem wichtig. Außerdem liebe ich asiatisches Essen, es darf gern richtig scharf sein. Kulinarisch ist Singapur deshalb für mich ein Traum. An jeder Ecke gibt es leckeres Essen, das sogar günstiger ist, als wenn man es selbst zubereiten würde.
Ich bin Cloud Architect, das ist derzeit weltweit ein gefragter Beruf, weil gerade viele Firmen ihre Onlineangebote in eine Public Cloud verlagern. Ich habe auf LinkedIn passende Unternehmen in Singapur angeschrieben und mich während meines Urlaubs bei einer Firma persönlich vorgestellt. Noch vor meinem Rückflug nach Hamburg hatte ich den Vertrag in der Tasche, und so stand also fest: Ich werde derjenige sein, der umzieht.
Die folgende Zeit war nicht schön, weder für meine Freundin noch für mich, denn wir mussten ja beide durch eine Scheidung. Als ich dann im Dezember 2018 den Aufkleber in meinem Pass hatte: »Keine Adresse in Deutschland mehr«, hatte ich schon ein mulmiges Gefühl. Aber ich wusste, es ist der richtige Schritt.
Feierabend gibt es hier nicht
Meine Kinder sind erwachsen, sie wollen uns hier besuchen, sobald die Corona-Situation es zulässt. Meine Freundin hat einen neunjährigen Sohn, er wohnt jede zweite Woche bei uns und hat sogar schon ein paar deutsche Wörter gelernt. Kinder werden in Singapur sehr leistungsorientiert erzogen, auch in der Freizeit heißt es ständig: »Das musst du schaffen.« Einfach mal Spielen oder Nichtstun ist nicht vorgesehen. Das finde ich schade, aber ich will mich da nicht einmischen, denn kürzer zu treten oder mal eine Pause zu machen, ist hier auch in der Arbeitswelt nicht vorgesehen. 44 Arbeitsstunden pro Woche sind Standard, und einen Freizeitausgleich für Überstunden gibt es nicht – genauso wenig wie einen richtigen Feierabend. Auch am Wochenende oder um 22 Uhr schreiben Kollegen oder Kunden noch WhatsApp-Nachrichten und erwarten, dass man sofort antwortet. Ich mache das notgedrungen mit, habe aber ausgehandelt, dass ich zumindest im Urlaub mein Diensthandy ausmachen darf und nur in Notfällen erreichbar bin.
Obwohl alle sehr stolz darauf sind, möglichst viel zu arbeiten, ist die Arbeitsweise erstaunlich ineffizient. Singapurer sind meiner Beobachtung nach verrückt nach Meetings. Meine Freundin arbeitet in der Lebensmittelindustrie und hat sogar noch mehr Meetings als ich. Aber herum kommt dabei wenig. Es gibt keinen Kaffee, keine Kekse und nur wenige Diskussionen, stattdessen endlose Monologe, zu denen alle freundlich nicken. Das empfinde ich auch als Redner als schwierig – man weiß nie, wie die eigene Präsentation ankommt und ob man die Erwartungen erfüllt. Nachfragen kommen höchstens von den Chefs, und das auch nur sehr selten. Befruchtende Diskussionen gibt es im Grunde nur mit den Kolleginnen und Kollegen im Team. Aber bis die eigentliche Arbeit losgeht, werden noch weitere Arbeitsstunden vertrödelt. Denn in der Regel kriegt man nach einem Meeting noch 500 E-Mails, in denen alle das Gesagte noch mal in eigenen Worten zusammenfassen, und nach zwei Tagen hat dann auch der Letzte den Überblick verloren.
Meine anfängliche Scheu, Kundengespräche auf Englisch zu führen, ist schnell verflogen. An ausländische Akzente sind hier alle gewöhnt, weil sehr viele Expats aus aller Welt in Singapur arbeiten. Dabei ist es für einheimische Firmen gar nicht so einfach, Ausländer einzustellen. Sie müssen nachweisen, dass kein Einheimischer für den Job infrage kommt, dürfen eine bestimmte Ausländerquote nicht übersteigen und müssen für 2000 Dollar einen Pass für die potenziellen Mitarbeiter beantragen.
Einen solchen Pass habe ich nun. Sollte mir gekündigt werden, hätte ich nur vier Wochen Zeit, um mir einen neuen Job zu suchen, andernfalls müsste ich das Land verlassen. Das empfinde ich schon als belastend, obwohl meine Chancen auf dem Arbeitsmarkt ja gut sind. Eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung könnte ich bekommen, wenn ich meine Freundin heirate. Wir haben uns schon mal erkundigt, welche Formalitäten es da gibt, aber eine Hochzeit ist noch nicht geplant. Ich versuche jetzt erst mal, einen Status als »Permanent Resident« zu erlangen, damit ich in jedem Fall dauerhaft hierbleiben darf. Mit Universitätsabschluss und gefragtem Beruf müssten meine Chancen für die Genehmigung dieses Antrags ganz gut sein.
Mein jetziges Gehalt ist mit dem in Deutschland vergleichbar – allerdings ist brutto hier gleich netto. Was im Vertrag steht, landet auch auf dem Konto; nur einmal im Jahr müssen Steuern abgeführt werden, und der Betrag ist im Vergleich zu Deutschland ein Witz.