Buch

Wien, wenige Tage vor dem berühmten Kaffeesiederball in der Hofburg: Für ihre erste große Ausgabe als neue Chefredakteurin des Wiener Boten trifft Sarah Pauli Marianne Böhm, Grande Dame der Kaffeehausdynastie Böhm, zu einem exklusiven Interview. Dann der Schock: Mitten im Gespräch sackt die alte Dame leblos in sich zusammen. Ist die Frau bloß an Altersschwäche gestorben? Sarah ist argwöhnisch, denn kurz vor ihrem Tod vertraute Böhm ihr eine rätselhafte Botschaft an. Die Journalistin beginnt zu recherchieren und stößt in der feinen Wiener Kaffeehausgesellschaft schon bald auf Geheimnisse, für die jemand über Leichen geht …

Weitere Informationen zu Beate Maxian sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Beate Maxian

Die Tote im
Kaffeehaus

Der elfte Fall für Sarah Pauli

Ein Wien-Krimi

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Copyright © 2021 by Beate Maxian

Copyright © dieser Ausgabe 2021

by Wilhelm Goldmann Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotive: INSADCO Photography/Alamy Stock Photo; FinePic®, München

Redaktion: Susanne Bartel

KS · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-24916-8
V003

www.goldmann-verlag.de

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Lebe so, als müsstest du sofort Abschied vom Leben nehmen, als sei die Zeit, die dir geblieben ist, ein unerwartetes Geschenk.

Marc Aurel

Prolog

Das Messer.

Die Entdeckung an diesem Morgen hatte Marianne Böhms Puls schlagartig in die Höhe getrieben. Seitdem raste ihr Herz. Ein gefährlicher Zustand, wenn man an Herzinsuffizienz litt. Aufgewühlt tigerte sie durch ihre hundertfünfzig Quadratmeter große Altbauwohnung. Von Raum zu Raum durch die doppelflügeligen Türen, die sie jeden Tag aufs Neue an ausgebreitete Arme erinnerten. Im Gegensatz zu den rotbraunen antiken Mahagonimöbeln im Kolonialstil, die ihr wie dunkle Wächter erschienen. Dennoch konnte sie sich von keinem einzigen Stück trennen. Ihr Großvater hatte sie von einem Wiener Möbelhändler gekauft, der Stammgast im Café Böhm in der Wollzeile gewesen war, das er gegründet hatte und das sie seit über vier Jahrzehnten führte. Angeblich kamen sie direkt aus Indien und gehörten jetzt zur Wohnung wie sie selbst. Die schweren dunkelgrünen Vorhänge vor den Fenstern waren noch immer zugezogen. Das große quadratische Wohnzimmer wurde von Hängeleuchten aus Altmessing mit Opalglas erhellt, die in nahezu vier Metern Höhe an der stuckverzierten Decke hingen.

Marianne Böhm legte den Kugelschreiber auf das Kreuzworträtsel, mit dem sie sich seit zwanzig Minuten abmühte. Normalerweise löste sie allmorgendlich Rätsel, um wach zu werden, aber das gelang ihr schon seit Tagen nicht mehr. Seufzend stützte sie sich auf die Kante des Esstischs und erhob sich. Das in die Jahre gekommene Sternparkett unter ihren Füßen knarzte. Das Geräusch erinnerte sie an ihre betagten Knochen, die manchmal ganz ähnlich knackten. Das hohe Alter war wie eine schmerzbringende Entzündung. Es tauchte plötzlich auf, traf einen aus dem Hinterhalt wie ein todbringender Pfeil.

Der Pfeil. Mit seiner Entdeckung hatte im Grunde genommen alles angefangen. Als sie heute das Messer auf dem Boden sah, steigerte das ihren Verdacht unmittelbar, dass ihr jemand Schaden zufügen wollte. Die Klinge hatte nach oben gezeigt, kein gutes Zeichen. Sie durfte jetzt auf keinen Fall in Panik geraten. Wachsam, aber gelassen bleiben, lautete die Devise. Aufregung tat ihr nicht gut. Keinem Menschen mit achtzig Jahren tat innerer Aufruhr gut. Seit mittlerweile fünfzehn Jahren notierte sie das, was sie erblickte. Mal waren die Entdeckungen positiv, mal negativ. Jetzt war der Moment gekommen, den nächsten Schritt zu gehen. Gut möglich, dass sich dadurch etwas änderte. Es wird gut gehen, beruhigte sie sich, während sie mit kurzen Schritten in die Küche schlurfte, um nicht über eine etwaige Falte im moosgrünen Flurteppich zu stürzen. Zumindest diesen Läufer wollte sie bald entsorgen.

In der rustikalen Küche mit dunklen Kassettenfronten ließ sie Leitungswasser in ein Glas laufen und schluckte rasch Vitaminkapseln und danach ihre Arzneien. Letztere hatte sie wie üblich am Abend zuvor in ihre Pillendose sortiert. So behielt sie den Überblick darüber, welche der vielen Tabletten sie bereits eingenommen hatte. Morgens startete sie mit zwei Entwässerungstabletten, einer Pille vom ACE-Hemmer und einer halben eines Betablockers. Das Alter verzieh keine Fehler, was die Dosierung betraf.

Sie setzte sich auf den Stuhl vor dem Kastenfenster, das in den Innenhof zeigte, und wartete, dass die Tabletten ihre Wirkung taten. Währenddessen starrte sie auf die hellgrauen Bodenfliesen und dachte angestrengt nach. Sie hatte versucht, die ersten beiden Hinweise als Zufall abzutun. Als Hysterie und Fehleinschätzung. Auch weil sie danach tagelang nichts mehr entdeckt hatte, das ihre Befürchtung bestätigt hatte. Doch das Messer hatte die Bemühungen, das Problem auszuradieren, zunichtegemacht. Sie war keiner Einbildung aufgesessen. Das Messer verstärkte das Misstrauen, das sie seit zwei Wochen mit sich herumschleppte. Der Pfeil hatte alles in Gang gesetzt, und elf Tage später hatte sich die Schlange dazugesellt. Seitdem hatte sich Skepsis wie ein viel zu schwerer Rucksack auf ihre Schultern gelegt. Dabei glaubte sie, in Menschen lesen zu können. Normalerweise erkannte sie deren Absichten, selbst die Lüge hinter wohlwollenden Worten enttarnte sie wie ein Drogenhund den Drogenkurier. Eine Gabe, die ihr in die Wiege gelegt worden war. Sie konnte Unwahrheiten förmlich riechen und las in Gesichtern wie andere in einem Buch. Ein ungewolltes Zucken mit der Augenbraue, ein unkontrolliertes Zwinkern oder ein Griff an die Nase: alles Gesten, die ihre Gegenüber überführten. Dass sie momentan jedoch im Dunkeln tappte, verunsicherte sie. Außerdem hatte sie gestern Abend nach der Bridgerunde mit ihren Freundinnen ihr Amulett verlegt. Um sechs Uhr morgens hatte sie die Augen geöffnet und mit der Hand danach getastet. Als sie begriff, dass es nicht an seinem angestammten Platz auf dem Nachtkästchen lag, hatte ein Gefühl der Unwirklichkeit von ihr Besitz ergriffen. Seither suchte sie es, weil sie die Wohnung nicht verlassen konnte, ohne es anzulegen. Was war nur los mit ihr? Schlich sich die Altersdemenz an wie ein hungriger Wolf? Bedächtig atmete sie ein und aus.

»Bleib ruhig und halte die Augen offen«, ermahnte sie sich und sprach sich sogleich Hoffnung zu. »Der nächste Hinweis, den ich entdecke, wird mich bestimmt weiterbringen.«

Sie holte ihr schwarzes Notizbuch aus der Tischlade und schlug es auf. Überflog den Eintrag auf der letzten Seite, und das ungute Gefühl wurde allmählich zu einem großen, festen Klumpen in ihrem Magen. Ihre Angst nahm zu. Obwohl sie doch eigentlich alles im Griff zu haben schien, widersprachen ihr die Signale deutlich. Sie überlegte, wo sie mit ihren Nachforschungen anfangen sollte. Bei niemandem in ihrem Umfeld hatte sie Anzeichen der Illoyalität entdeckt. In dem Moment streifte ihr Blick die Uhr. Zehn Minuten vor neun.

»O Gott, der Sedlacek!«, rief sie erschrocken. »Der sitzt sicher schon an seinem Platz.«

Sie stemmte sich vom Stuhl hoch und ging eilig ins Schlafzimmer. So rasch es ihre Aufgeregtheit zuließ, kleidete sie sich an. Der Gedanke an das verlegte Amulett begleitete sie wie eine dunkle Vorahnung. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, wo sie es zuletzt gesehen hatte, als sie ein Gedankenblitz traf. Sie hastete zurück ins Wohnzimmer und schlug die Zeitschrift mit dem Kreuzworträtsel zu. Tatsächlich lag darunter das gesuchte Schmuckstück: die goldene Blume des Lebens mit einer Kaffeebohne aus einem Swarovski-Kristall in deren Mitte. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Wie hatte sie nur vergessen können, dass sie es am Vorabend auf den Tisch gelegt und dann die Zeitung darauf ausgebreitet hatte? Sie legte sich die Kette um, drückte den Rücken durch und machte sich auf den Weg ins Erdgeschoss. Der Tag konnte beginnen.

Kaum eine Minute später zog sie die Verbindungstür vom Treppenhaus zum Café auf und knipste ihr strahlendes Lächeln an. Der feine Duft nach Mehlspeisen und frisch gemahlenem Kaffee, das typische Stimmengewirr, das Klimpern von Geschirr und Besteck und das Zischen der Espressomaschine empfingen sie. Wie in ihrer Wohnung schien die Zeit hier stehen geblieben zu sein. Luster und Wandleuchten im Jugendstil erhellten den Raum. Eine elegante Holzvertäfelung schützte die Wände. Spiegel mit barocken Rahmen ließen den Raum größer wirken und gaben den Gästen die Möglichkeit, unauffällig andere Gäste zu beobachten. Dunkelhölzerne Thonet-Stühle, gemütliche Polstersitzecken in hellem Rot mit goldenen Stickornamenten und Tische mit Marmorplatten rundeten das typische Wiener Kaffeehausflair ab. Die dunkle Theke mit Intarsien in der Form der Blume des Lebens war das Markenzeichen vom Café Böhm, die Inneneinrichtung der Zweigstellen am Rennweg und in der Operngasse in den jeweiligen Jahrhundertwendehäusern unterschied sich nur geringfügig von der des Stammhauses. Dieses befand sich wie ihre Wohnung in einem Gründerzeithaus in der Wollzeile, dessen Fassade mit aufwendigem Stuck versehen war. Wie vermutet saß Georg Sedlacek, einer ihrer treuesten Stammgäste, bereits an seinem üblichen Tisch beim Fenster.

»Und, wie wird der Tag? Gut, oder ziehen dunkle Wolken auf?«, wurde sie von Antonia begrüßt. Die Kellnerin arbeitete seit einer gefühlten Ewigkeit für sie.

Marianne Böhm zwinkerte ihr vergnügt zu. »Angeblich habe ich heute Glück im Spiel und in der Liebe.« Sie hatte nicht vor, ihrer Angestellten gegenüber das Messer zu erwähnen und somit ihre Bedenken mit ihr zu teilen. Mochte sie auch noch so ein freundschaftliches Verhältnis verbinden. Sollte die Bedienung ruhig denken, sie hätte einen Glücksbringer, vielleicht ein Kleeblatt, entdeckt.

Antonia lachte. »So ein Pech, dass S’ net spielen.«

»Vielleicht fang ich ja heute damit an.«

Die Kellnerin legte skeptisch die Stirn in Falten. »Gehn S’! Halten S’ mich net am Schmäh. Sie und um Geld spielen? Vorher trinkt der Teufel Weihwasser.«

»Zumindest mit Lotto könnt ich’s doch mal versuchen, was meinen S’, Toni? Das mit der Liebe wird schließlich nicht mehr hinhauen. Dafür bin ich zu alt.«

»Das stimmt doch nicht«, behauptete Antonia und nickte dann Richtung Sedlacek. »Am Verehrer scheitert es jedenfalls nicht.«

»Glauben S’ mir, liebe Toni, ich hol mir keinen Mann mehr ins Haus. Viel zu anstrengend. Eher leg ich mir ein Haustier zu.« Lachend eilte sie zum Tisch ihres Stammgastes.

»Sedlacek! Tut mir leid, dass ich mich verspätet hab.« Seit der Arzt nicht mehr praktizierte, verging kein Tag, an dem er nicht im Café Böhm auftauchte.

»Gnädigste.« Er erhob sich und deutete einen Handkuss an, ganz alte Schule. »Hauptsache, Sie sind da.«

Marianne Böhms Augen wanderten zu dem Karton, der auf dem Stuhl neben Sedlacek stand.

»Heute ist es mal wieder so weit. Ich hab Ihnen etwas mitgebracht.« Er überreichte ihr die braune Schuhschachtel wie ein Geburtstagsgeschenk.

»Vielen Dank.« Sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln und winkte der Kellnerin. »Geh, Toni! Tragen S’ das bitte hinauf in meine Wohnung.« Sie wandte sich wieder an Sedlacek. »Ich pack’s dann später aus. Ich weiß ja, was drin ist. Sie haben es mir oft genug angekündigt. Aber erst mal muss ich noch die anderen aufbrauchen.« Sie legte den Wohnungsschlüssel auf die Kiste und gab alles Antonia. »Aber vorher bringen S’ uns noch zwei Mokka und einen Apfelstrudel mit einer Extraportion Schlagobers für den Herrn Medizinalrat.«

Der Alte grinste glücklich. Als Antonia das Paket so vorsichtig nahm, als enthielte es rohe Eier, folgte Georg Sedlaceks Blick dem Karton. Nachdem die Serviererin ihn auf die Theke gestellt hatte, bereitete sie den Kaffee zu, nahm ein Stück der Mehlspeise aus der Kuchenvitrine, und Sedlacek setzte an, über sein Lieblingsthema zu reden: Gesundheit im Rentenalter.

Als Marianne Böhms Schwiegertochter Michaela auftauchte und einen Blick auf die Pappschachtel warf, kam Marianne ein erhellender Gedanke: Die Schlange zierte doch auch den Äskulapstab.

Zwei Wochen zuvor
Donnerstag, 9. Jänner

Achtzig war nur eine Zahl.

Clemens’ Mutter wirkte wesentlich jünger. Marianne Böhm sprühte vor Energie, strahlte Lebensfreude aus wie Audrey Hepburn in Frühstück bei Tiffany. Ja, er befürchtete seit Langem, dass sie vorhatte, hundert zu werden, und sie dieses Alter auch mühelos erreichen würde. Sie war gesund, geistig fit und umtriebig. Was ihm das eigene Leben gehörig erschwerte, weil das Ende ihrer Alleinherrschaft damit für ihn in schier unerreichbare Ferne rückte. Dabei war es in seinen Augen längst an der Zeit, das Familienunternehmen Café Böhm der nächsten Generation zu übertragen, nämlich ihm. Sein Urgroßvater hatte das erste Kaffeehaus in der Wollzeile im Jahr 1900 eröffnet, damit den Grundstein der Familiendynastie gelegt und zeitgerecht an seinen Sohn übergeben. Dieser trat die zwischenzeitlich drei Cafés ebenfalls beizeiten an seine Tochter Marianne ab. Doch diese dachte nicht mal im Traum an eine Übergabe. Die Arbeit schien sie jung zu halten. Der Einkauf, die Erstellung von Dienstplänen, die Buchführung und die vielen kleinen und großen anderen Dinge. Kaum eine der vielen geschäftlichen Aufgaben der drei Kaffeehäuser gab sie an ihn ab.

Wahrscheinlich weil seine Mutter akribisch auf ihr Wohlbefinden achtete. Stets nahm sie auf die Minute genau zur gleichen Zeit ihre Medikamente gegen ihre Herzschwäche. Manchmal war sie derart energiegeladen, dass er sich im Ernst fragte, ob sie nicht noch andere Substanzen schluckte oder sogar Kokain schnupfte. Auch heute Abend war sie ganz in ihrem Element, gab die charmante Gastgeberin, schwebte förmlich durch das bis auf den letzten Platz gefüllte Café.

Clemens hatte sich hinter der Bar positioniert, da er von hier aus den besten Überblick über das Geschehen hatte. Nur die fünf Tische im rückwärtigen Bereich lagen außerhalb seines Sichtfelds. An der Einrichtung hatte sich seit der Eröffnung vor hundertundzwanzig Jahren nicht viel geändert. Um die Kaffeehaustische mit Marmorplatten standen original Thonet-Bugholzstühle. An der Garderobe beim Eingang hingen Zeitungshalter aus Buchenholz mit der aktuellen Presse zum kostenlosen Lesen. Auf der Speisekarte fanden sich typische Wiener Kaffeehausspeisen: faschierte Laibchen mit Erdäpfelpüree, Würstel in Saft, Kalbsbeuschel mit Serviettenknödel, Gulasch, Krautfleckerl und Milchrahmstrudel mit traditionell warmer Vanillesoße. In der Glasvitrine verführten feinste Patisseriekunstwerke wie essbare Schmuckstücke die Gäste zu einer kleinen Sünde. Hergestellt wurden sie von einem überschaubaren Team unter Clemens’ Anleitung im Stammhaus in der Wollzeile, von wo aus er sie an die anderen beiden Kaffeehäuser in der Operngasse und am Rennweg lieferte. Einzige Neuerung in den letzten Jahrzehnten war das inzwischen allgemein geltende Rauchverbot, das ihm persönlich entgegenkam. Wie oft hatte er früher den Gestank nach kaltem Rauch verflucht, wenn er morgens das Café betrat. Nun dominierte der Duft nach frischem Kaffee. Den mochte er, obwohl er selbst keinen Kaffee trank.

Für die Buchpräsentation am heutigen Abend hatten die Köche ein süßes Büfett mit Amaretto-Kaffee-Creme, Kaffee-Buttercreme-Torte und Mokkamousse vorbereitet, das das Thema der Veranstaltung widerspiegelte. Der Günstling seiner Mutter, Linus Oberhuber, las aus dem von ihm verfassten Sachbuch: Der gute Geschmack des Kaffees.

Der Gastraum lag seit wenigen Minuten im Halbdunkel, um den Fokus der Anwesenden auf einen Stehtisch zu lenken, auf dem eine Leselampe leuchtete.

»Ich freu mich, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind«, flötete Clemens’ Mutter jetzt ins Mikrofon und breitete dabei die Arme aus, als wollte sie alle Anwesenden umarmen. Das zarte Gelb des wadenlangen Kleids, die hochgesteckten grauen Locken und die Brille mit Goldrahmen brachten die Diva in ihr zur Geltung.

»Die Schlange verzaubert wieder mal die Beute, bevor sie ihre Giftzähne in ihrem Fleisch versenkt«, knurrte Michaela, Clemens’ Frau, die lässig mit verschränkten Armen an der Kaffeemaschine lehnte. Sie trug einen weinroten Rock, der bis zu ihren Knien reichte, und eine schwarze Bluse. Die weizenblonden Haare hatte sie zu einem strengen Knoten zusammengefasst. Schwiegertochter und Schwiegermutter verband so gut wie nichts, nicht mal ein schlechtes Verhältnis. Seine Mutter behauptete, in Michaelas Augen das Böse sehen zu können. Seine Frau nannte Marianne wiederum eine machthungrige Matriarchin, die alle um sich herum manipulierte. Er selbst fühlte sich meist wie ein Knecht. Seit Jahren wartete er vergebens darauf, endlich den Thron zu besteigen wie der englische Prinz. Inzwischen war er fünfzig und grauhaarig.

»Hast du nicht auch das Gefühl, dass sie uns in letzter Zeit noch genauer als bisher beobachtet?«, fragte Michaela und setzte eine verschwörerische Miene auf. »Fast so, als hätte sie Angst, wir könnten hinter ein dunkles Geheimnis von ihr kommen.«

»Sie hat uns doch schon immer auf die Finger geschaut.«

»Eh, aber irgendwie fühlt es sich seit Kurzem so an, als arbeitete sie für den Geheimdienst. Überall taucht sie wie aus dem Nichts auf und sieht ganz genau hin, was man gerade tut.«

Clemens wusste, was Michaela meinte, denn auch ihm war das seltsame Verhalten seiner Mutter aufgefallen. Seit eh und je war sie ein Kontrollfreak, doch in den vergangenen Wochen hatte sie wahrhaftig verhaltensauffällige Methoden entwickelt. Etwa kontrollierte sie jeden Zettel, den man abheftete, oder ließ sich Gespräche, die man mit Angestellten oder Gästen geführt hatte, detailliert nacherzählen. »Vielleicht testet sie, ob wir endlich fähig sind, die Cafés ohne sie zu leiten?«

»Das glaubst du doch selbst nicht«, fauchte Michaela verächtlich.

Nein, das tat er tatsächlich nicht. Seine Mutter war fest davon überzeugt, dass zu hundert Prozent sie für den Erfolg der Kaffeehäuser verantwortlich war. Und niemand auf dieser Welt ihr in dieser Aufgabe das Wasser reichen konnte. Einzige mögliche Ausnahme: Linus Oberhuber.

»Möglicherweise ist sie auch einfach nur nervös, weil sie mir erstmals die Buchhaltungsbelege anvertraut hat.« Er versuchte, locker zu klingen, während seine Mutter mit ausladender Gestik und gesalbten Worten Linus vorstellte.

»Er ist, wie Sie sicher alle wissen, ein leidenschaftlicher Kaffee-Sommelier und der beste Barista in der Operngasse.«

Jene Anwesenden, die wussten, dass er dort im Café Böhm arbeitete, lachten. Clemens fand den Scherz nicht lustig.

»Nun hat er sein erstes literarisches Werk veröffentlicht.«

Clemens atmete tief ein. Literarisches Werk. Die übertriebene Lobhudelei seiner Mutter brachte ihn an die Grenze seiner Belastbarkeit. Ihm kam gleich das Kotzen.

»Sie sollte erwähnen, dass er zudem ihr aufgeblasenes fünfunddreißigjähriges Protektionskind ist.« In Michaelas Blick lag abgrundtiefer Hass. Ihr war der blonde Hüne ebenso ein Dorn im Auge wie ihm. Und doch machten beide gute Miene zum bösen Spiel, weil sich daran nichts ändern ließ.

»Das Buch von Linus Oberhuber«, seine Mutter hielt ein Exemplar in die Höhe, damit auch die Gäste an den hinteren Tischen es sehen konnten, »heißt Der gute Geschmack des Kaffees und wird Sie begeistern, glauben Sie mir.«

Applaus setzte ein, Linus deutete eine Verbeugung an und küsste ihr galant die Hand. Kurz wanderte sein Blick zu Vanessa Hartan. Mit ihren langen cognacfarbenen Haaren war sie äußerst attraktiv und noch dazu Tochter eines vermögenden Kaffeehaus- und Restaurantbesitzers. Der Plan von Clemens’ Mutter, Linus und die sechsundzwanzigjährige Schönheit zu verkuppeln, war von Erfolg gekrönt gewesen. Endlich war ihr etwas gelungen, was ihr bei ihm, Clemens, misslungen war: ihn mit einer Frau aus der Kaffeehauszunft zusammenzubringen. Michaela entstammte keiner derartigen Dynastie. Sie hatte als Grafikerin in einer Werbeagentur gearbeitet, als sie sich kennenlernten. Seine Mutter hatte sie von Anfang an abgelehnt, weil sie für ihn eine Verbindung innerhalb ihrer Kreise vorgesehen hatte.

»Tu felix Austria nube. Du, glückliches Österreich, heirate«, hatte Clemens ihre geplante Verkuppelung spöttisch mit der Heiratspolitik der Habsburger verglichen und sich erfolgreich dagegen zur Wehr gesetzt. Zu ihrer Hochzeit vor zwanzig Jahren war seine Mutter dann einfach nicht erschienen. Nachfolgend hatte sie Michaela wie eine Dienstbotin behandelt. Später war sie dazu übergegangen, die Verbindung zu dulden, als wäre sie eine lästige Angelegenheit, die irgendwann ein Ende hatte und die sie lediglich aussitzen musste.

Linus eröffnete die Buchvorstellung mit einem Witz. »Sagt der Gast: ›Herr Ober, mein Kaffee ist kalt.‹ Erwidert dieser: ›Gut, dass Sie mir das sagen, mein Herr. Der Eiskaffee kostet nämlich einen Euro mehr.‹«

Die Gäste lachten. Unüberhörbar laut die drei alten Grazien, die an einem Tisch saßen. Alberta, Josephine und Leopoldine, die besten Freundinnen seiner Mutter. Allesamt Witwen mit großem Vermögen und schlechtem Geschmack. Nach Clemens’ Empfinden waren sie zu grell, zu laut, zu überladen mit Schmuck und zu vollgekleistert mit Make-up. Er schaute wieder zu Michaela, die zumindest schmunzelte und deren Blick einen Tick zu lange an Linus hängen blieb.

Dieser begann währenddessen, von der Recherche für sein Buch zu erzählen. »In den letzten fünf Jahren habe ich unzählige Kaffeefarmen besucht.«

Auf Kosten meiner Mutter, dachte Clemens bitter.

»Auch jene, wo der Kaffee biologisch angebaut wird, der in den Kaffeehäusern unserer hochverehrten Marianne Böhm ausgeschenkt wird.«

Clemens’ Mutter und Linus tauschten ein vertrautes Lächeln.

»Den man ansprechend verpackt hier käuflich erwerben kann für die aromatische Tasse Kaffee daheim.« Er hob eine glänzend schwarze Verpackung hoch, auf der das Böhm-Logo und am oberen rechten Rand ein goldenes Biosiegel prangten.

Was für eine jämmerliche Schmierenkomödie, dachte Clemens. Doch die Augen seiner Mutter und die der Gäste glänzten begeistert. Linus war der Sohn, der er niemals sein würde.

Der Barista schwadronierte weiter über Kaffeesorten, Anbaugebiete und die verschiedenen Arten der Kaffeezubereitung, während er sich immer wieder mit der Hand durch die Haare fuhr. Seine blaugrünen Augen blitzten spitzbübisch, sobald er das Publikum ansah. Er begeisterte die Zuhörer, das musste Clemens ihm lassen. Aber alles andere hasste er an ihm. Ein Stechen in den Schläfen kündigte Kopfschmerzen an. Wahrscheinlich waren sie der Buchführung geschuldet, mit der er sich bis vor einer Stunde herumgeschlagen hatte. Und der E-Mail, die kurz vor Veranstaltungsbeginn ein Inferno der Gefühle in ihm ausgelöst hatte. Er hörte nicht mehr zu, Linus’ Worte plätscherten nur noch an ihm vorbei.

Irgendwann klappte Linus das Buch zu und bedankte sich für die Aufmerksamkeit. Das Zeichen, dass der offizielle Teil des Abends zu Ende war. »Ich hoffe, ich konnte Sie für das Thema Kaffee begeistern. Sollten Sie Fragen haben, kommen Sie einfach zu mir nach vorne, und ich beantworte sie. Und natürlich signiere ich dabei gerne mein Buch für Sie.« Wieder blitzten seine Augen schelmisch, und er zeigte nach links, wo eine Buchhändlerin an einem Tisch hinter Bücherstapeln saß und dem Publikum unsicher zuwinkte.

Die Gäste applaudierten, und die Kellner setzten sich abermals in Bewegung, deckten das Büfett ab und nahmen Getränkebestellungen entgegen. Michaela half Clemens beim Ausschenken. Wein, Bier, Wasser, Kaffee. Die Bestellungen kamen im Sekundentakt. Linus plauderte mit den Leuten und malte seine Unterschrift in unzählige Bücher. Clemens’ Mutter flatterte währenddessen zwischen den Gästen hin und her, schüttelte Hände, küsste Wangen, machte Small Talk. Wie ein verdammter Filmstar nach der Oscar-Verleihung.

Irgendwann hatte sie es an die Bar geschafft. »Wo ist Marcel?«, erkundigte sie sich nach ihrem Enkel.

»Zu Hause«, antwortete Michaela knapp. »Er muss morgen früh raus.«

Clemens wusste, dass seine Mutter sich nicht aus Interesse erkundigte, sondern weil sie die Anwesenheit sämtlicher Familienmitglieder voraussetzte, sobald im Café Böhm eine Veranstaltung stattfand. Sie seufzte enttäuscht. »Na ja, während wir hier schuften, macht der feine Herr sich einen Lenz. Aber wie wir wissen, hat er eh nichts übrig für das Unternehmen, das ihn ernährt.«

Clemens zapfte kommentarlos ein Glas Bier. Er hatte sich schon lange abgewöhnt, auf die spitzen Bemerkungen seiner Mutter zu reagieren. Sie konnte einfach nicht akzeptieren, dass Marcel ein anderes Lebensziel verfolgte als jenes, das sie für ihn vorgesehen hatte. Wenn er seinen Zivildienst beim Roten Kreuz im Herbst beendet hätte, wollte er ein Informatikstudium beginnen.

Abrupt wandte sich seine Mutter an Antonia, die soeben vier Krügel Bier aufs Tablett stellte. »Toni, bringen S’ dem Sedlacek und mir zwei Achtel Grünen Veltliner. Aber den DAC vom Biohof Holzschuh, der schmeckt fantastisch. Ich hab den armen Kerl heute ein bisserl vernachlässigt.« Indem sie ihr perfektes falsches Gebiss zeigte, trippelte sie zum Tisch ihres treuen Stammgastes.

Clemens schenkte den Wein in die Gläser und schob diese Antonia auf der Theke zu. Eine halbe Stunde später war der erste Ansturm bewältigt, und er gab Michaela ein Zeichen, ihm ins Büro zu folgen. Der Weg führte durch die Küche, wo der Koch gerade Palatschinken zubereitete. Clemens massierte sich die Schläfen und den verspannten Nacken.

»Der Schlag soll den alten Drachen treffen«, fluchte er durch zusammengebissene Zähne, nachdem er die Tür zum Büro hinter ihnen geschlossen hatte. Die in ihm aufgestaute Wut entlud sich wie ein Tornado. Eigentlich hatte er seine Eifersucht auf Linus im Zaum halten wollen, schließlich war er ein erwachsener Mann, der nicht mehr um die Gunst der Mutter buhlen sollte wie ein Zweitgeborener. Doch heute war zu viel auf einmal zusammengekommen. Auf dem Schreitisch stapelten sich die Belege. Die Buchführung würde ihn noch die nächsten Tage in Beschlag nehmen, aber er würde den Teufel tun, sich darüber zu beschweren. Jahrelang hatte er darum gebettelt, Verantwortung übernehmen zu dürfen. Jetzt war es endlich so weit.

»Redest du von deiner Mutter?«

»Wie sie diesen Oberhuber anhimmelt, das ist doch peinlich.«

»Trotzdem musst du zugeben, dass er verdammt gut ist in dem, was er tut. Er brennt für seinen Job. Daran könntest du dir ein Beispiel nehmen, statt immer nur die Befehle des alten Drachen auszuführen.«

»Seit wann gehörst du denn zu seinem Fanclub?«, knurrte er.

Michaela verdrehte die Augen und schwieg.

Genervt fuhr er sich mit der Hand durch die Haare, bevor er ihr mit einer wütenden Geste die ausgedruckte E-Mail gab, die vor der Buchpräsentation eingegangen war. »Außerdem haben sich mal wieder die Seemauers beschwert.«

Das Rentnerehepaar war um die sechzig und wohnte seit vierzig Jahren in der Wohnung über dem Café am Rennweg im dritten Bezirk. Seit drei Jahren machten die beiden ihnen das Leben zur Hölle.

»Was ist es diesmal?«

Ein lautes Seufzen entwich ihm. »Stinkbomben. Angeblich legt die jemand von uns vor ihre Haustür.«

Seine Frau lachte kurz auf. »Das hatten wir bis jetzt noch nicht.« Sie gab ihm den Ausdruck zurück.

»Wir haben schon die Öffnungszeiten geändert, sperren seit Monaten erst um acht Uhr auf und schließen bereits um neun Uhr abends. Obwohl wir das nicht hätten tun müssen, aus reiner Kulanz. Und alles nur, damit diese verfluchten Grantler endlich Ruhe geben. Doch was hat es genutzt? Nichts! Nahezu täglich hagelt es Beschwerden. Mal ist es der Lärm, mal eine Gruppe Gäste, die beim Verlassen des Cafés zu laut lacht, mal der Rauch, der in ihre Wohnung weht, weil sich jemand vor dem Lokal eine Zigarette anzündet. Und jetzt sind’s eben verfluchte Stinkbomben. Im schlimmsten Fall zeigen sie uns an, und wir müssen uns wieder mit Dingen beschäftigen, die uns nur die Zeit stehlen.« Er hob einen Abrechnungsbeleg mit spitzen Fingern hoch, als handelte es sich dabei um etwas Ekliges. »Allein im letzten Jahr waren es fünfzig Anzeigen. Fünfzig!«, wiederholte er nachdrücklich. Es war reine Schikane und Zeitverschwendung, weil alle davon bisher im Sand verlaufen waren. Weder war es zu einer Gerichtsverhandlung noch zu der Verhängung einer Strafe gekommen, weil es kein Vergehen gab, das man strafrechtlich verfolgen konnte. Sie hielten sich an die Gesetze. »Das geht mir inzwischen so was von am Oasch. Verstehst?« Er ließ das Papier fallen.

»Das Problem hätten wir schon lange nicht mehr, wenn deine Mutter endlich zustimmen würde, das Café am Rennweg zu verkaufen.«

»Das wird sie nie tun. Allein um die Seemauers zu ärgern. Die kann genauso bösartig sein wie die zwei Raunzer«, entgegnete Clemens, obwohl Michaela das ebenso wusste wie er. Seine Mutter ignorierte schlichtweg den ständigen Streit mit dem Ehepaar. Niemand durfte sie damit behelligen. Nicht mal jener Anwalt, den sie in der Sache beauftragt hatte. Aussitzen, so lautete mal wieder ihre Devise.

»Ich werde noch mal mit ihr darüber reden. So wie’s momentan ausschaut, passt der Umsatz eh nicht mehr.« Clemens schlug mit der Handfläche auf den Tisch mit den Belegen.

»Ja, setz dich endlich mal gegen sie durch.« Michaela erhob sich. »Und jetzt muss ich wieder nach vorne, damit der Drache später nicht Feuer in unsere Richtung speit, weil wir uns verdrückt haben.« Sie wandte sich zum Gehen, drehte sich in der Tür jedoch noch mal um. »Der Drachentöter in der Nibelungensage hieß Siegfried … der heutige könnte Clemens heißen.«

Er blickte von den Unterlagen auf und in ihre Augen. Manchmal lag tatsächlich etwas Böses darin.

Montag, 10. Februar

Der Regen trommelte heftig gegen die Fenster. Windböen von hundert Kilometer pro Stunde fegten durch die nahezu menschenleere Mariahilfer Straße. Sturmtief Sabine tobte seit dreißig Minuten über der Stadt. Am Vortag hatte es bereits in Deutschland Landstriche verwüstet und zugleich die Diskussion um den Klimawandel neu angefacht. Auch im Wiener Boten war die Klimaveränderung Thema. So war in Wien ein Sonderbudget von acht Millionen Euro für die Neupflanzung Schatten spendender Bäume veranschlagt worden. Einer der ausgewählten Standorte war der Yppenplatz im Bezirk Ottakring, Sarah Paulis Zuhause, bevor sie vor wenigen Monaten zu ihrem Freund David, dem Herausgeber des Wiener Boten, nach Währing gezogen war.

Um halb zwölf war die alle Abteilungen umfassende Redaktionssitzung zu Ende. Die Journalisten kritzelten rasch die letzten Notizen auf ihre Blöcke, bevor sie ihre Unterlagen zusammenschoben. Dann löste sich die Runde auf, die Ressortleiter und Redakteure des Wiener Boten verließen das Konferenzzimmer und kehrten wieder an ihre Schreibtische zurück. Nur ein ausgewählter Kollegenkreis blieb sitzen. Mit ihm wollte Sarah noch die Wochenendbeilage Lesezeit erörtern, die nach dem Kaffeesiederball erscheinen sollte. Auch David hatte sich hastig verabschiedet. Er hatte einen dringenden Termin außer Haus, auch zu sehen daran, dass er Anzug mit Krawatte trug. An einem normalen Arbeitstag bevorzugte er legere Kleidung. Sarah musste später noch ein wichtiges Interview führen, weshalb sie heute auch den Businesslook gewählt hatte, allerdings der femininen Art. Ein Langarmshirt mit Wasserfallausschnitt und dazu eine Bundfaltenhose. Alles in Dunkelblau. So wie die Stiefeletten. Ihre dunkelbraunen halblangen Haare hatte sie mit einem blauen Band zum Pferdeschwanz zusammengefasst. Sie sah nach dem aus, was sie seit September letzten Jahres war: Chefredakteurin. Conny Soe, Gesellschaftsreporterin und unangefochtene Modeikone des Wiener Boten hatte am Morgen anerkennend die Augenbrauen gehoben und gemeint, dass Sarah die neue Position gut zu Gesicht stand.

»Wie ihr alle wisst, ist die Wiener Kaffeehauskultur seit 2011 immaterielles Kulturerbe der UNESCO«, eröffnete Sarah die Besprechung mit den verbliebenen Redakteuren. »Der Kaffeesiederball am kommenden Valentinstag hat mich auf die Idee gebracht, unsere darauffolgende Ausgabe am zweiundzwanzigsten Februar komplett dem Kaffee zu widmen.« Anlässlich des Balls verwandelte der Klub der Wiener Kaffeehausbesitzer alljährlich die Hofburg in das größte Kaffeehaus der Welt. Die Damen erschienen in edler Ballrobe, die Herren in Frack, Smoking oder Galauniform. »Auf Radio Wien werden seit heute Morgen VIP-Karten verlost. Wer sie haben will, muss seinem Partner eine Liebeserklärung machen.«

»In unserer morgigen Ausgabe kann man auch vier Eintrittskarten gewinnen«, merkte Herbert Kunz an. »Allerdings muss man uns nur eine E-Mail schicken und kommt dann in einen Lostopf.«

»Wie unromantisch«, sagte Sarah und zog übertrieben die Nase kraus.

»Das diesjährige Motto des Balls lautet: ›Kaffee – Symphonie der Liebe‹. Ich finde, das ist genug der Romantik.« Kunz war Chef vom Dienst und die Schnittstelle zwischen der Chefredaktion und den einzelnen Ressorts. Auf ihn konnte man sich verlassen. Die Stelle des Chefredakteurs hätte auch ihm zugestanden.

»Was hältst du von zwei Seiten vollgestopft mit Ballgeschehen?«, wollte Sarah von Conny wissen.

Die Gesellschaftsreporterin verzog ihre perfekt geschminkten Lippen zu einem Lächeln und hob ihre Kaffeetasse, als wollte sie darauf anstoßen. Sie war komplett in Lila gekleidet und hatte als Schmuck dazu goldene Kreolen gewählt. Die Locken trug die Society-Löwin, wie sie aufgrund ihrer kupferroten Lockenmähne genannt wurde, lässig hochgesteckt. »Was glaubst? Ich halt sehr viel davon. Das gibt der Ball mit Leichtigkeit her. Allein die Atmosphäre in der Hofburg ist der Wahnsinn.« Sie stellte die Kaffeetasse wieder ab. »Zudem trifft sich dort das Who is Who der Branche, und mit etwas Glück macht einer seiner Angebeteten sogar einen Heiratsantrag. Nur weil Valentinstag ist und das so romantisch wäre.« Sie zwinkerte Kunz belustigt zu.

In dem Moment kam Sissi, Connys schwarzer Mops, unter dem Tisch hervor, wo sie bis jetzt nahezu unbemerkt geschlafen hatte. Nur ab und zu hatte lautes Schnarchen die Anwesenheit der Hündin verraten. Nun forderte sie reihum Streicheleinheiten ein.

»Passt.« Sarah wandte sich an Patricia Franz, die vor wenigen Monaten von der Chronik- in die Lifestyle-Redaktion gewechselt war. »Und ihr könntet über stylishe Kaffeemaschinen und die verschiedenen Kaffeezubereitungsarten berichten, was meinst?«

»Eine gute Gelegenheit, um die Glaubensfrage der perfekten Zubereitung zu diskutieren. Ob mit Filter, in der French Press oder in einer Espressokanne«, nahm Patricia Sarahs Vorschlag auf. Sie hatte bei ihrem Abteilungswechsel ihre eigene Stempelkanne in der Chronik-Abteilung stehen gelassen. Maja, ihre Nachfolgerin, brühte seither mehrmals am Tag frischen Kaffee auf. Der betörende Duft lockte regelmäßig Kollegen an, vor allem Conny.

»Apropos Zubereitung«, warf die Gesellschaftsreporterin ein, »Linus Oberhuber, seines Zeichens Kaffee-Sommelier, hat vor wenigen Wochen genau zu dem Thema ein Buch herausgebracht. Der gute Geschmack des Kaffees. Der Verlag hat mir ein Exemplar zugeschickt, das noch in meinem Büro liegt. Ich hole es, wenn’s euch interessiert.«

»Bitte«, forderte Sarah sie auf.

Conny verschwand, ließ die Tür zum Konferenzzimmer aber offen stehen. Sissi watschelte ihr hinterher, während Maja Wasser in Gläser goss.

»By the way«, hob Herbert Kunz an, der sich noch schnell etwas notiert hatte, »der Marketingabteilung ist es gelungen, etliche Inserate für die Wochenendbeilage zu akquirieren. Die übernächste Ausgabe der Lesezeit ist voll durchfinanziert.«

»Wunderbar«, jubelte Sarah. »Aber hoffentlich sind auch ein paar Anzeigen darunter, die zum Thema passen.« Sie hasste es, wenn dem nicht so war. Wenn etwa die Annonce eines Abrissunternehmens neben dem Artikel über eine Wiener Sehenswürdigkeit stand.

Conny kam zurück und legte das Buch auf den Tisch. Das ockerfarbene Cover zeigte eine gefüllte Espressotasse umgeben von Kaffeebohnen. »Oberhuber beschäftigt sich darin unter anderem mit dem biologischen Anbau von Kaffee. Ich konnte leider nicht zur Buchpräsentation gehen, die am neunten Jänner war, deshalb das Buch.« Sie zog eine Einladung mit dem gleichen Motiv wie das auf dem Cover aus dem Buch hervor und überreichte Sarah beides. »Der Autor arbeitet übrigens als Barista im Café Böhm in der Operngasse und ist«, sie rollte gespielt ehrfürchtig mit den Augen, »das Protektionskind von Marianne Böhm.«

Jeder in der Stadt kannte den Namen der über allem thronenden Matriarchin. Sie führte die Kaffeehäuser in der Operngasse, dem Rennweg und in der Wollzeile bereits in dritter Generation. Trotz ihres hohen Alters von achtzig Jahren hatte sie sie noch nicht an ihren Sohn übergeben. Glaubte man den Gerüchten, war dieser bislang ein gewöhnlicher Angestellter in dem Familienunternehmen.

»Sie schleppt den Kerl überallhin mit«, fuhr Conny fort. »Manchmal könnte man meinen, Linus Oberhuber wäre ihr Kind und nicht ihr Sohn Clemens.«

»Kann mir mal wer den Unterschied zwischen Barista und Kaffee-Sommelier erklären?«, fragte Herbert Kunz.

»Der Sommelier bewertet die Qualität und den Geschmack des Kaffees. Der Barista ist Spezialist in der Zubereitung«, erläuterte Conny.

»Aha.« Kunz hob die Augenbrauen. »Das solltest du auf jeden Fall auch in deinem Artikel erwähnen. Ich glaube nämlich, es gibt mehr Leute wie mich, die den Unterschied nicht genau kennen.«

Conny nickte und machte sich eine Notiz.

»Ich treffe die Böhm heute um halb zwei im Hawelka«, kam Sarah wieder auf die Kaffeehausbesitzerin zurück.

Conny warf ihr einen überraschten Blick zu. »Welch Zufall. Ich interviewe morgen früh Linus Oberhuber im Café in der Operngasse. So kann ich gleich ein paar Fotos von ihm bei der Arbeit schießen. Eigentlich hatte ich einen Bericht über das Buch für die Gesellschaftsseite geplant. Aber weil’s thematisch passt, können wir ihn auch in die Wochenendbeilage packen. Da hätte ich faktisch mehr Platz und könnte zugleich auf die Themen Qualitätsmerkmale, Sorten und Aufbewahrung eingehen. Steht nämlich alles hier drin.« Die Society-Löwin strich mit der Hand fast zärtlich über den Bucheinband. »Ein umfangreicher Artikel über das Werk ihres Günstlings lässt den Wiener Boten in ihrer Gunst mit Sicherheit steigen.« Conny machte keinen Hehl daraus, dass sie die Cafetiere schätzte. Ihre Charity-Veranstaltungen waren legendär und gern besucht von der Wiener Prominenz. Für Conny war jedes Event im Café Böhm ein Fest. In diesem Moment blitzte in ihren Augen eine Art Erkenntnis auf. »Deshalb also das seriöse Outfit. Und ich dachte schon, du wärst beim Bundespräsidenten zum Mittagessen eingeladen.«

Sarah grinste. »Das Stammhaus der Böhms feiert Anfang März sein hundertzwanzigjähriges Bestehen. Das ist doch eine Geschichte und ein adäquates Outfit wert.«

»Schon, aber wieso trefft ihr euch im Hawelka?«, hakte Conny verwundert nach. »Sozusagen bei der Konkurrenz. Zudem ist das Hawelka ein Künstlercafé mit einer unaufgeräumten Atmosphäre, wohingegen die Kaffeehäuser der Böhms aufgrund der klassischen Einrichtung die Strahlkraft von Ringstraßencafés haben.«

Sarah zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. War ihr Vorschlag. Vielleicht hat sie vorher oder nachher etwas in der Nähe zu tun.«

Sie gab Conny das Buch zurück.

»Das wäre kein Grund«, erwiderte die. »Ihr Café in der Wollzeile liegt unweit vom Hawelka. Dich dort zu treffen entbehrt jeder Logik. Da müsste sie schon direkt im Hawelka zu tun haben, und das kann ich mir nun beim besten Willen nicht vorstellen. Die Matriarchin des Café Böhm im Hawelka sitzend, das Bild entzieht sich absolut meiner Vorstellungskraft. Das ist, als würde die Queen zum Tee in den Dienstbotentrakt einladen.«

»Ich werde sie fragen, warum sie diesen Treffpunkt gewählt hat. Versprochen.«

»Was haltet ihr von einer Story über die Historie der Wiener Kaffeehaustradition?«, brachte Herbert Kunz einen weiteren Vorschlag auf den Tisch.

»Gute Idee.« Sarah nickte. Sie musste sich zwar noch daran gewöhnen, als Chefredakteurin Entscheidungsträgerin zu sein, jedoch gefiel es ihr, die Themen mitzubestimmen und damit das Bild des Wiener Boten zu prägen.

»Das wäre doch ein Thema für dich, Maja. Immerhin studierst du neben Publizistik auch Geschichte«, regte Kunz weiter an.

»Gern.« Die Jungredakteurin nickte euphorisch. Ihr langes kastanienbraunes Haar hatte sie zusammengedreht und am Hinterkopf mit einer Spange befestigt. Das Studium würde sie noch etwa ein Jahr in Beschlag nehmen, danach konnte sie ihre gesamte Energie der Arbeit beim Wiener Boten widmen.

Auch nach ihrer Beförderung zur Chefredakteurin war Sarah nicht in ein anderes Büro gewechselt. Ein Wasserrohrbruch hatte das verhindert. Zwischenzeitlich war der Schaden behoben, und die Wände waren vor Ewigkeiten trockengelegt worden, und nun waren die Maler am Werk. Bis sie in wenigen Wochen ihr neues Reich beziehen könnte, arbeitete sie einfachheitshalber an ihrem bisherigen Schreibtisch hinter der Glaswand in der Chronik-Redaktion weiter, in Sichtweite von Maja.

»Spann den Bogen ruhig bis ins siebzehnte Jahrhundert zurück. Und erwähne dabei gerne auch die Legende über die Anfänge der Wiener Kaffeehauskultur«, fuhr Kunz fort.

»Mit Legende meinst du bestimmt jene des aus Ostgalizien stammenden Georg Franz Koltschitzky, oder?«, präzisierte Maja. »Nach der zweiten Türkenbelagerung 1683 soll er angeblich ein paar Säcke mit Kaffeebohnen irgendwo gefunden haben. Die Wiener hielten den Inhalt für Kamelfutter, doch Koltschitzky wusste, dass es sich um Kaffee handelte, und wurde so Wiens vermeintlicher erster Kaffeesieder. Was jedoch inzwischen wissenschaftlich widerlegt wurde. In Wahrheit erhielt Johannes Deodat, ein armenischer Handelsmann und eine strahlende Persönlichkeit, 1685 von Kaiser Leopold I. die Hoffreiheit, Kaffee auszuschenken. Als Gegenleistung für seine Spionagetätigkeit in Zusammenhang mit der Belagerung Belgrads. Damit begründete er das erste Wiener Kaffeehaus.«

Kunz zeigte sich beeindruckt von Majas ausführlicher Antwort.

Conny beugte sich leicht nach vorne. »Außer Acht lassen sollten wir auch nicht die zahllosen Künstler und Intellektuellen, die man einst nahezu täglich in ihren Stammcafés antraf. Etwa saßen im Landtmann Paul und Attila Hörbiger, Max Reinhardt, Hans Moser und Oskar Kokoschka. Nicht zu vergessen die sogenannten Kaffeehausliteraten Friedrich Torberg, Egon Friedell, Alfred Polgar und Stefan Zweig, um nur einige zu nennen. Letztere traf man bekanntlich im Café Central im Palais Ferstel, ebenso wie Sigmund Freud und den Architekten Adolf Loos.«

»Perfekt. Ich seh schon, das wird eine sensationelle Ausgabe.« Sarah war begeistert von der Energie, mit der das Team das Thema anging. Sie klatschte in die Hände, um die Besprechung zu beenden. »Dann lasst uns loslegen.« Es war bereits Viertel nach zwölf, und sie wollte sich vor dem Treffen mit Marianne Böhm noch ein paar Notizen machen.