Manuel Neff

Die Chroniken von

4 City

Band 1 bis 3

Legende

Bei einem wissenschaftlichen Experiment im 21. Jahrhundert ging etwas gewaltig schief. Dies war die Geburtsstunde »der Krankheit«, die wie eine Sintflut fast die gesamte Menschheit dahingerafft hat. Nur die gewaltigen Mauern, welche um die großen Städte erbaut wurden, schienen vor der Krankheit Schutz zu bieten.

 

Im 23. Jahrhundert, etwa 200 Jahre nach der »Großen Pandemie«, sind auf der Erde die gesellschaftlichen Systeme zerfallen. Die ursprüngliche Zivilisation teilt sich nun in vier Gruppen auf:

 

Schrottsammler: Menschen, die in Clans leben und für die nur ein Gesetz gilt: Der Stärkere überlebt.

 

Steamborgs: Wesen, halb Mensch halb kybernetischer Organismus. Unfähig selbst Entscheidungen zu treffen, erwarten sie die nächsten Befehle ihres Masters.

 

Synthetiks: 100% synthetische Lebensformen. Fähig sich selbst zu reproduzieren und in der Lage zu fühlen und zu empfinden.

 

Menschen: Sie leben im Zentrum von 4-City und genießen Dank der Kraft des Dampfes, Wohlstand und technische Errungenschaften.

Alle vier Gruppen leben in 4-City und kämpfen dort hinter der großen Stadtmauer um Macht und ums Überleben.

 

In der Karma-Reihe begegnen uns:

 

Prinzessin Love, Schrottsammlerin auf der Suche nach ihrer wahren Identität.

 

Karma und Myo, Wesen die keiner der vier Gruppen angehören und laut einer alten Prophezeiung dazu bestimmt sind, die Arche zu finden, die allen Erlösung verspricht.

 

Isabell, die in der Lage ist Æther aus Lebewesen zu extrahieren.

 

Ice, dem Master der Steamborgs, gefangen zwischen Liebe, Macht und Intrigen.

 

Reico und Ikumi, synthetische, empfindsame Wesen, die nichts weiter wollen, als ihren Platz in der Gesellschaft zu finden.

 

Stiff, ein Kämpfer aus dem Zentrum von 4-City, der sich hoffnungslos in Karma verliebt und zwischen alle Fronten gerät.

 

Und Aurora, die geheimnisvolle Wissenschaftlerin aus der Alten Welt.

Schlachtfeld

 

Drave, der Master der Schrottsammler schreitet an den qualmenden Überresten des Wracks vorbei, das einmal ein Zeppelin war. Seine Leute haben das dampfbetriebene Luftschiff mit Harpunen vom Himmel geholt und die Steamborgs zur Hölle geschickt. Er bezweifelt, dass es für Steamborgs so etwas wie ein Reich Gottes nach deren Ableben geben könnte, genauso wenig wie für seine eigene Rasse.

Himmelsgewölbe? Unterwelt?

Was spielt das für eine Rolle. Das, was für Drave zählt, ist das Leben in 4-City, so beschissen es auch manchmal sein mag. Alle Steamborgs, die es gewagt haben, in seinem Territorium zu wildern, wurden getötet. Gefangene zu nehmen, hat keinen Sinn.

Drave hebt den kahl geschorenen Kopf und erforscht die fremdartigen Schriftzeichen.

»Macht davon ein Lichtbild und bringt es meiner Tochter. Ich möchte heute Abend noch wissen, was das zu bedeuten hat. Sie hat sicherlich Spaß daran, es zu entschlüsseln«, befiehlt Drave und sofort beginnen ein paar Schrottsammler damit, den großen Apparat, den die Prinzessin rekonstruiert hat, aus dem Zeppelin zu wuchten. Niemand weiß im Grunde, wie er genau funktioniert, doch die Ergebnisse sind verblüffend. Ein Bild festzuhalten, das für gewöhnlich den Augen vorbehalten ist, ist etwas Besonderes in der beschränkten Welt der Schrottsammler. Vielleicht wäre es besser, die Symbole abzumontieren. Aber Drave besteht darauf, den Männern die neue Technik näherzubringen.

Der Master betritt die Abteilung drei. Die Spuren des Kampfes gegen die Steamborgs sind unübersehbar.

»Wer hat das riesige Loch hier rein geschossen?«

»Das waren die Steamborgs«, traut sich einer seiner Leute, das Wort zu erheben.

»Ich will auch so eine große Kanone«, sagt Drave mit rauer, tiefer Stimme, als hätte er die Töne aus dem Grund seines Brustkorbs ausgegraben.

Er geht weiter, kommt an dem Spalt vorbei, in welchem sich Myo, Karma und Reico, drei Frauen auf der Flucht, vor Stunden versteckt hielten, um von der Abtei und der Auseinandersetzung der verfeindeten Rassen zu fliehen. Drave entdeckt etwas und hebt es vom Boden auf. Ein abgerissenes Stromkabel, wie es den Anschein hat und wirft es in einen Einkaufswagen, wie sie in der Alten Welt in Supermärkten benutzt wurden. Der Schrottsammler, der den Wagen hinter seinem Master herschiebt, bedankt sich und folgt mit gebückter, demütiger Haltung dem Chef. Insgeheim verabscheut Drave das Buckeln der Männer, aber andererseits verleiht es ihm ein Gefühl von Macht.

Ein Dampfen, begleitet von einem qualvollen Stöhnen, erweckt seine Aufmerksamkeit, als er den vollkommen zerstörten Kontrollraum betritt. Leichen seiner Leute liegen aufgereiht und zugedeckt an der Wand. Getötete Steamborgs wurden auf einen Berg aufgestapelt. Von dort kommt das Geräusch. Drave nähert sich, ahnt, dass es Überlebende gibt und freut sich auf das, was er gleich tun wird.

Der Steamborg liegt in der zweiten Schicht. Über und unter ihm Tote seiner eigenen Rasse. Abgemurkst von den Schrottsammlern. Drave packt den Feind an einem Bein und zieht ihn aus dem Haufen. Unmengen von Schwaden steigen von dem Steamborg auf und braune Flüssigkeit, Schmierstoff oder Öl tritt aus einer Öffnung aus, wo vormals ein Arm war.

»Wen haben wir denn da?«, fragt Drave, dreht den Steamborg auf den Rücken und reißt ihm mit einem Ruck die lederne, mit Stahl und Kunststoff durchzogene Maske vom Kopf. Es kommt ein Gesicht zum Vorschein. Kein Vollständiges und doch ist noch gut zu erkennen, was er einmal gewesen sein muss, bevor er zu einem Steamborg wurde.

Ein Mensch. Die Augen sind weit aufgerissen, sind es nicht gewohnt, Tageslicht ohne Schutzglas zu ertragen. Die Haut ist blass und an manchen Stellen nahezu durchsichtig, sodass man die blaue Flüssigkeit darunter entlangströmen sieht. Ein Öl-, Blut-, Emulsionsgemisch, welche im Blutkreislauf des Steamborgs fließt. Kupferdrähte und dünne, aus schwarzem Plastik bestehende Röhren treten aus den Seiten aus. An den beschädigten Gelenken und den Schläuchen tritt braune, breiige Schmierflüssigkeit aus und verteilt sich neben dem Kopf des Steamborgs auf dem Betonboden. Das bizarre Wesen röchelt und Drave lehnt sich zu ihm hinab.

»Ja, was sagst du da?«

Nach Atem ringen. Dampfen. Blubbern.

»Tut mir leid, Kumpel, ich kann dich unglücklicherweise nicht verstehen«, sagt Drave, holt seinen Dolch seitlich aus dem Schaft im Stiefel, setzt ihn auf der Brust des Steamborgs an und schiebt ihn ganz langsam in ihn hinein. Die Augen des Feindes weiten sich, das Röcheln wird stärker, anschließend verstummt es vollständig. »Sucht nach übrigen Überlebenden und tötet sie alle«, befiehlt Drave und die Schrottsammler schwärmen aus. »Wartet noch! Falls ihr Bücher findet, dann nehmt sie mit!«

Mit dem Diener an seiner Seite, der den Einkaufswagen stoisch vor sich herschiebt, dringt Drave tiefer in die Abtei ein. Er könnte fasziniert sein, von den technischen Errungenschaften, über welche die Einrichtung verfügt. Blöderweise befürchtet er aber, dass diese Sachen den Horizont selbst seiner gerissensten Untertanen übersteigen würden. Nur seiner einzigen Tochter Love könnte er befehlen, die Geheimnisse zu ergründen. Ihr Verstand und die Fähigkeiten, Dinge aus der Alten Welt zu rekonstruieren, übertrifft den eines gewöhnlichen Schrottsammlers bei weitem. Leider lässt sie sich nicht die Bohne von ihrem Erzieher vorschreiben und bitten liegt nicht in der Natur von Drave. Ein Master bittet nicht. Er gebietet. Was für ein Dilemma. Kann die eigene Tochter nicht einfach ihrem Vater gehorchen und ihn unterstützen, noch mächtiger und grausamer zu werden?

Drave erreicht den Raum mit den Regenerationskapseln. Das Blut, das sich ausnahmslos überall befindet, ist selbst für Draves Magen entschieden zu viel. Dennoch behält er die Fassung und zeigt in Anwesenheit der Männer keine Schwäche. Er inspiziert die Leiche von Ikumi, Reicos Schwester. Eine Synth! Eine synthetische Lebensform, in der Lage zu fühlen wie ein Mensch.

»Das waren keine Steamborgs«, sagt er und lässt die behandschuhte Hand über die zerstückelten Überreste der Schrottsammler schweifen. »Und das hier, das war keiner von uns. Kein Schrottsammler hat sich je an einer Synth vergriffen. Es soll danach aussehen, dass sie von uns getötet und geschändet wurde, aber wer mich kennt, der weiß es besser. Niemand würde gegen meine Befehle verstoßen. Und mein Gebot lautet seit je her: Rührt keine Frauen und keine Synthetiks an oder ich hacke euch den Arm ab und schneide euch höchst persönlich die Eier ab!« Seine Männer lachen.

»Das war kein Scherz, ihr Hornochsen. Weiber und die Synthetiks sind heilige Geschöpfe. Unantastbar!«

Drave nähert sich der toten Ikumi und inspiziert sie. Er untersucht ihr, menschlichen Genitalien nachempfundenes, Geschlecht.

»Wusste ich es doch. Keiner hat sie entwürdigt. Es strebt jemand danach, uns das anzulasten. Eine Arglist von einem gerissenen Feind. Ich möchte wissen, was hier passiert ist und wer die Synth getötet hat. Und nichts, hört ihr! Nicht das kleinste Bisschen, was ihr hier seht, verlässt das Gebäude. Schweigt darüber!« Drave überlegt kurz, ob er den vier Schrottsammlern, die ihn begleitet haben, hier und jetzt doch besser sofort den Schädel einschlagen soll. Er würde dann selbst herausfinden müssen, wer ihm diesen Mord in die Schuhe schieben will. Schließlich lässt er den delikaten Gedanken fallen. Die Männer sind ihm treu ergeben. Er hat nichts zu befürchten. Sie werden seinen Befehlen gehorchen. Auf dem Boden erspäht er etwas. Ein zerrissenes mickriges Buch. Drave hebt es auf und entdeckt die handgeschriebenen Zeilen. Es ist zerfetzt, jedoch lesbar. Drave kann nicht gut lesen, aber er erkennt Zahlen. 2021. Eine Niederschrift aus der Alten Welt. Love, seine Tochter wird sich über ein Originalexemplar freuen, auch wenn es unvollständig ist.

Prinzessin Love

 

»Eines Tages verschwinde ich von hier endgültig!«

Prinzessin Love sitzt zwischen Kissen. Hat es sich auf einer, eigens für diesen Zweck hochgeschleppten Matratze, auf dem Dach des 13-stöckigen Hauses bequem gemacht. Einen Wolkenkratzer kann man den Machtsitz ihres Vaters nicht nennen, aber die Höhe reicht aus, um dem Gemisch aus Dunst, Qualm und Gestank, der unter ihr durch die Straßen zieht, kurzzeitig zu entkommen. Love blickt hinab und sieht überall kleine flackernde Feuer. Brennende Mülltonnen, um der Dunkelheit die Stirn zu bieten. Eine Windböe weht einen angeschwärzten Papierfetzen hoch. Er landet auf ihrer sauberen Jeans. Die Prinzessin trägt darüber einen Wollpulli. Ein Mitbringsel des Vaters.

»Und ich werde alle mitnehmen, die den Mief und das Plündern und Abmurksen überdrüssig geworden sind.«

»Also keine Sau«, sagt Lea, ihre dunkelhäutige Freundin, die im Kontrast zur Prinzessin in einen grauen, zerlumpten Stoff gewickelt ist, der einmal ein Kleid gewesen sein könnte.

Manchmal fragt sich Love, warum eigentlich nicht Lea die Prinzessin ist. Es würde so viel dafür sprechen. Ihre Hautfarbe ist dunkel, genauso wie die von Loves Vater. Loves Haut hingegen ist weiß. Fast so weiß wie Schnee. Lea ist mit Leib und Seele eine Schrottsammlerin und interessiert sich nicht für Bücher oder stellt solche seltsamen Fragen, was das Leben noch zu bieten hat. Im Grunde sind sich Lea und Loves Vater sehr viel ähnlicher, als sie selbst es ist. Vermutlich hat Love einfach mehr von ihrer Mutter in die Wiege gelegt bekommen. Schade, dass Love sie nie kennengelernt hat. Sie ist bei ihrer Geburt gestorben.

»Du und mein Vater ihr seid euch so ähnlich«, sagt Love.

»Dann sind wir also ein Paar, weil du einen Vaterkomplex hast?«, fragt Lea und stupst Love liebevoll zwischen die Rippen.

»Na warte, du kannst was erleben!«, droht Love und fällt mit einem Kissen über Lea her. Die entfachte Kissenschlacht endet in Gegacker, Umarmen und Kuscheln.

»Hör auf, dir solche Gedanken zu machen!«, sagt Lea sanft und streicht Love eine dicke Falte von der Stirn.

»Ich wüsste so gerne, wer sie war. Ob sie so aussah wie ich? Ob sie auch Bücher gesammelt hat.«

»Frag doch einfach deinen Vater.«

»Immer wenn ich ihn auf meine Mutter anspreche, dann schweigt er. Es ist ein absolutes Tabuthema.«

Die zwei schmusen wieder liebevoll miteinander, bis Lea aus heiterem Himmel einen älteren Gesprächsfaden aufgreift.

»Ich komme mit.«

»Wie meinst du das?«

»Wenn du abhaust. Dann komme ich mit. Aber die anderen Schrottsammler lieben diese Stadt, die Feuchtigkeit und den Mief. Das Töten gehört zu ihrem Alltag, genauso wie das Hungern. Und weiter als hundert Meter in die Ferne zu schauen, würde die meisten für den Rest ihres Lebens nur erschrecken.«

Love küsst Lea auf den Mund.

»Danke!«

»Nichts zu danken, du bist die Prinzessin. Und mein ein und alles.«

»Du bist so lieb. Ich will das umkrempeln. Will etwas verändern. So darf das nicht weitergehen.«

»Mich? Mit mir der was meinst du?«

»Quatsch. Du bist wundervoll, so wie du bist. Ich meine die Schrottsammler. Eines Tages werden sie das Sonnenlicht zu schätzen wissen. Sie werden etwas Höheres anstreben, als nur ein Zweibeiner zu sein, der isst, kackt, und für eine gewisse Zeit einen Platz in 4-City einnimmt. Sie werden ihre Kinder liebevoll aufziehen und auf Schulen schicken, auf denen sie Lesen und Schreiben lernen, anstatt sie in der Gosse im Dreck wühlen zu lassen.«

Lea legt ihre mokkafarbene Hand auf das Knie der Prinzessin.

»So werden die Kleinen aber schneller erwachsen. Die Gosse tut ihnen gut.«

»Du hörst dich an wie mein Vater. Was soll daran gut sein, wenn nur jeder dritte Säugling überlebt?«

»Du übertreibst.«

»Tue ich das wirklich?«

»Dir geht es doch gut, was kümmerst du dich so viel um die anderen? Es ist doch viel einfacher, sich nur um sich selbst zu kümmern«, sagt Lea nachdenklich.

»Nichts, für was es sich zu kämpfen lohnt, ist einfach. Und außerdem ist es mein Volk.«

»Das Volk deines Vaters.«

Love schaut ihre Freundin an. Sie hat es nicht begriffen. Sie weiß nicht, wonach sich das Herz einer Prinzessin sehnt. Hat nicht die Spur einer Ahnung, was Mitgefühl bedeutet. Lea ist keine typische Schrottsammlerin. Sie ist zumindest ein bisschen aufgeweckter als die meisten anderen, aber die Erziehung hat sie dennoch unverkennbar geprägt. Wer will es ihr verdenken? Es ist klar, dass Lea ihr folgen wird, dass Love in ihrer Beziehung den Ton angibt und Lea einfach nur versuchen muss, nicht gänzlich zu versagen.

»Lass uns das Thema wechseln«, sagt Love. »Ich will dir etwas zeigen.« Sie fasst neben sich, hält sich an Leas Schulter fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie greift sich die bunt eingefärbte Stofftasche, die sie bis zu diesem Moment rückseitig eines kniehohen Mauervorsprungs versteckt hatte.

»Du hast die Tasche noch«, quietscht Lea verzückt.

»Klar, was denkst du denn? Es sind die schönsten Farben der Welt.«

»Schmeichlerin. Das sind sie bestimmt nicht. Wenigstens habe ich mir einiges an Mühe damit gegeben, alle Stoffberge von ganz 4-City nach ihnen zu durchsuchen.«

»Du hast die Grenze des Clans doch noch nie verlassen.«

»Aber ich hätte es fast getan. Für dich.«

Love muss über so viel Süßholzraspeln lachen.

»Die Tasche ist wunderschön, weil du sie gemacht hast«, säuselt Love nun und streichelt Lea über ihr sanftmütiges Gesicht.

»Wenn du es sagst. Und was ist da drin? Was ist da eingepackt? Picknick?«, fragt Lea ungeduldig.

»Etwas noch Besseres.« Love holt einen schlichten Apparat aus dem Stoffbeutel. Er ist aus Metall, Kunststoff und Holz und in diesem Moment reißt wie ein Zeichen des Himmels die Wolkennebelwand auf und das rötliche Licht der untergehenden Sonne wird auf der, sich spiegelnden Linse des Geräts, reflektiert.

Ein seltenes Naturschauspiel, das die beiden Mädchen zum Schweigen bringt und verträumt hoch zum Firmament blicken lässt.

»Wow. Das ist so göttlich«, sagt Lea.

»Und doch ist es nicht halb so umwerfend wie du, meine süße Maus«, raunt Love. Lea kuschelt sich an die Prinzessin.

»Und was ist es? Was hast du dieses Mal erfunden?«, flüstert sie an Loves Schulter.

»Geduld. Lass dich überraschen!« Love zieht Lea noch ein Stückchen näher an sich heran und legt den linken Arm um sie. Mit dem rechten hält sie den Apparat von sich weg und dreht ihn so, dass die Linse ihnen zugewandt ist. Noch immer fällt das Licht auf ihre hübschen Gesichter und dann drückt Love ab. Das kleine Gerät gibt ein klickendes Geräusch von sich.

»Es ist ein Fotoapparat«, jauchzt Lea voller Erkenntnis. »So klein? Darf ich das Bild sehen.«

»Selbstverständlich. Sobald ich eine Dunkelkammer eingerichtet und alles beisammen habe, um die Abzüge zu entwickeln. Ich sagte doch, du musst dich gedulden.«

Lea staunt Bauklötze.

»Ich verstehe das nicht. Dunkelkammer? Entwickeln?«

»Ich erkläre es dir dann, sobald ich soweit bin. Bis dahin gibt es keinen anderen Weg, als zu warten. Du bist doch ausdauernd, was das Abwarten angeht?«

»Natürlich bin ich das. Logisch. Eine Engelsgeduld zu haben, ist eine meiner Tugenden«, verkündet Lea. Die Mädchen blicken zeitgleich nach unten auf Leas wild zappelnde Füße, die sie jedes Mal verraten. Sie lachen.

Love verrät Lea nicht, dass sie noch nicht die geringste Ahnung hat, wie so eine Dunkelkammer überhaupt beschaffen ist und wie der Entwicklungsprozess abläuft, jedoch ist sie sich sicher, dass es so kommt wie immer. Wenn sie sich felsenfest etwas vornimmt, dann wird es auch gelingen. Alles, was sie dazu benötigt sind mehr Informationen.

»Ein Buch über Fotografie wäre gut. Dein Vater könnte dir eins mitbringen«, meint Lea.

»Vielleicht von seinem aktuellen Feldzug.«

Loves Talent

 

Lea und Love begeben sich zur Werkstatt. Dem Tresorraum der Bank, aus der Alten Welt, die sich ihr Vater als Sitz seiner Residenz auserkoren hat. Früher, vor Jahrhunderten, lagerten hier einmal Gold, kostbare Edelsteine, exklusiver Schmuck und Wertpapiere. Aus heutiger Sicht nutzlos. Es gibt keine Währung und niemand würde Essen für Gold eintauschen.

Den Namen Werkstatt hat Love ausgesucht. Es ist ihr zweiter Lieblingsort. Hier kann sie sich verwirklichen. Ihrem Talent freien Lauf lassen. Hier kann sie Stunden oder ganze Tage verbringen mit Basteln, Werkeln und Arbeiten. Mit Ingenieurskunst. Doch obwohl sie hier mit Sicherheit die meiste Zeit in der Sektion der Schrottsammler verbringt, landet er auf dem zweiten Platz ihrer Rangliste der liebsten Orte. Platz eins belegt eindeutig die Dachterrasse, auf der sie entweder mit Lea schmust, ihre neuen Erfindungen, fern von neugierigen Augen, ausprobiert oder beides gleichzeitig tut.

»Du bist ein Phänomen«, sagt Lea stolz, beeindruckt und an ihren eigenen Möglichkeiten zweifelnd. »Wie machst du das nur?« Lea schaut Love dabei zu, wie sie den Fotoapparat in seine Einzelteile zerlegt.

»Ah, das muss es sein«, meint Love und hält ein kleines undefinierbares Teil in die Höhe. »Das muss ich austauschen und er funktioniert wieder.«

»Und wo bekommst du so etwas her?«

»Na hör mal, ich bin eine Schrottsammlerin. Ich bastle es mir aus Gerümpel selbst zusammen.«

»Aus Schrott?«

»Natürlich, davon gibt es mehr als genug.«

»Du hast meine Frage noch nicht beantwortet!«

»Doch, das habe ich schon mindestens hundertmal getan.«

»Du liest ein Buch und kannst es?«

»Genau«, antwortet Love.

»Das ist doch keine Erklärung.«

»Aber eine Antwort.«

»Ist es nicht! Niemand liest etwas und kann es danach einfach tun.«

»Vielleicht liegt es daran, dass die meisten gar nicht lesen können.«

Lea lässt betrübt den Kopf nach unten sinken. Sie kann auch nicht lesen, so wie es Love gesagt hat.

»Steck den Kopf nicht in den Sand, ich bringe es dir bei. Das habe ich dir versprochen.«

»Ja ich weiß, aber ich bezweifle trotzdem, dass ich ein Buch übers Fliegen lese und danach fliegen kann.«

»Aber das geht bei mir doch auch nicht. Man muss mit seinen Erwartungen immer schön auf dem Boden der Möglichkeiten bleiben und die Gesetze der Physik respektieren. Menschen haben nun mal keine Flügel. Aber ein Buch übers Schwimmen könntest du lesen und wer weiß, vielleicht kannst du es dann wirklich.«

»Vorausgesetzt dein Vater findet einen Swimmingpool«, fügt Lea der Konversation hinzu.

»Wann immer man vom Teufel spricht«, sagt Love, als das Gebrüll und der Jubel über die Rückkehr des Masters, ihres Vaters, aus dem Gebäude zu ihnen vordringt. Love richtet sich auf und stellt sich hinter Lea. Eine Hand schiebt sie von oben unter den Stoff ihres Kleides auf die nackte, spitze Brust, die andere an den schlanken Hals ihrer hübschen kaffeebraunen Freundin. Sie presst ihre Lippen in Leas Nacken, während ihre Hände das weiche Fleisch besitzergreifend erforschen.

»Begib dich in meine Gemächer und warte dort auf mich. Der Master der Schrottsammler möchte mich mit Gewissheit sehen.«

Die Entscheidung des Masters

 

Alle Härte entweicht aus Draves Gesicht. Die Ursache ist seine Tochter, die ihm in der Lobby gegenübertritt. Allein ihr Aufzug könnte ihn rasend machen. Jeans und Schafspulli sind einer Prinzessin unwürdig. Er würde sie lieber in einem eleganten königsblauen Seidenkostüm und mit Ohrringen in Form silberner Spiralen sehen, aber Drave schafft es - wie immer - über diese Lappalie hinwegzusehen. Nach dem Verlust ihrer Mutter ist Love das einzig Schöne, das ihm noch neben den Pflichten als Master geblieben ist.

»Vater«, begrüßt ihn Love mit einem atemberaubenden Lächeln und beschleunigt ihre Schritte, um ihm um den Hals zu fallen. Sie weiß genau, wie sie ihn um den Finger wickeln kann, und der Master lässt es nur zu gerne zu.

»Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht«, sagt er und blickt in die Tiefen ihrer wunderschönen Augen.

»Ich hoffe nicht so ein Abscheuliches, wie das letzte Mal.« Drave versucht, sich zu entsinnen, aber schon nach wenigen Augenblicken der Ratlosigkeit gibt er es auf. Er kann sich an keine Abscheulichkeit aus einem zurückliegenden Streifzug erinnern. Statt sich weiter den Kopf zu zerbrechen, befiehlt er mit rauem Ton zwei Schrottsammler in die Empfangshalle. Sie schleppen eine kleine eisenbeschlagene Holzkiste herein.

»Wow, ein Piratenschatz für mich? Papi, du weißt doch, dass ich mir nichts aus Reichtümern mache.«

Der Master blickt seine Tochter wütend an.

»Nenn mich nicht so. Nicht wenn meine Männer zuhören!«

»Klar Paps. Habs kapiert.«

Er seufzt. Weitere Untertanen folgen und schleifen etwas Großes herein. Es handelt sich um Loves Rekonstruktion. Sie stellen den riesigen Fotoapparat direkt neben der Kiste ab.

Love zieht eine Augenbraue hoch.

»Ihr könnt wieder gehen«, befiehlt sie den Schrottsammlern. »Oder kommen noch mehr Geschenke?«

Sie blicken unschlüssig zu ihrem Master auf. Drave nickt und anschließend ziehen sie sich rückwärts buckelnd zurück. Einer stolpert dabei über seine eigenen Füße, was Love zum Schmunzeln bringt. Dann gehört ihre ganze Aufmerksamkeit der Kiste.

»Was ist da drin?«

»Ein Schatz«, lächelt ihr Vater.

Love verliert keine Zeit und öffnet ungeduldig den Deckel. Was sie darin sieht, lässt ihr Herz schneller schlagen. Sie legt beide Hände an ihre Wangen und starrt stumm in die Truhe.

Bücher. Bücher. Bücher. Viel mehr, als dass sie imstande wäre, innerhalb einer Woche zu lesen. Sie löst sich aus ihrer Starre und berührt die Oberfläche eines der obersten Exemplare. Ein schwarzer Ledereinband und silberne Letter. Troja ist der Titel.

Sie streicht über andere, liest die Namen der Folianten und flüstert sie leise vor sich hin. Mobby Dick. Don Quijote. Der Alchimist.

Selten zuvor hat Love so gut intakte Einzelstücke gesehen. Als wären sie konserviert worden, um Jahrhunderte zu überstehen.

»Wo hast du sie her?«, fragt sie atemlos.

Der Master tritt an den riesigen Apparat heran, öffnet an der Seite eine Klappe und zieht den Inhalt aus dem darunter entstandenen Schlitz. Er begutachtet es zufrieden und unübersehbar entzückt von den Fertigkeiten seiner Tochter. In seinen Augen ist sie die intelligenteste, schönste und geschickteste aller Schrottsammler. Ihre Fähigkeiten, Dinge aus der Alten Welt zu rekonstruieren, und funktionsfähig zu machen, suchen ihresgleichen. Stolz überreicht er ihr das Foto.

»Das ist der Ort«, raunt er.

Love betrachtet das Bild und die fremden Schriftzeichen. Es ist keine Sprache, der sie mächtig ist, aber sie fasst in diesem Moment einen Entschluss. Sie wird die Hieroglyphen auf jeden Fall entschlüsseln.

»Ich habe noch eine Überraschung für dich«, flüstert ihr Vater verschwörerisch.

»Nimmst du mich auf den Arm?«, fragt sie ihn, während sie das Foyer verlassen und die privaten Gemächer betreten. Auch hier sieht es nur unwesentlich ordentlicher aus. Es liegt nicht in der Natur eines Schrottsammlermasters, in seinen vier Wänden für Sauberkeit und Ordnung zu sorgen. Es gefällt ihm, wie es ist. Er mag es, all die Dinge chaotisch angehäuft herumliegen und übereinandergestapelt zu sehen. Das Chaos erinnert ihn daran, wer er ist und Love wird den Teufel tun und sich in diese Intimität einmischen.

Sie setzen sich auf das Ledersofa vor dem offenen Kamin. Bis auf die zerfetzten Lehnen scheint es noch gut intakt zu sein. Im Gegensatz zu dem Schornstein, in dem schon seit einem Jahrhundert kein Feuer mehr gebrannt hat. Stattdessen stapeln sich auf der Feuerstelle Straßenschilder des Bezirks.

»Also?«, fragt Love.

»Also was?«

»Die Überraschung!«

»Im Grunde gibt es sogar zwei«, sagt der Master.

Love wird skeptisch. Verengt ihre Augen zu Schlitzen. Sie hat es im Gespür, wenn ihr Vater etwas im Schilde führt. Sie liest seine Gestik. Die verschränkten Arme hinter dem Kopf verheißen nichts Gutes, verraten Love, dass er den Gedanken bereits abgeschlossen und dass er eine Entscheidung getroffen hat. Was auch immer es ist. Sie hält es kaum noch aus, will endlich wissen, was er beschlossen hat und um was für Überraschungen es sich handelt.

Der Master zieht ein weiteres Buch unter dem Ledermantel hervor. Wow. So viel Empathie hat sie ihm nicht zugetraut. Love ist eine leidenschaftliche Leserin, hat sogar schon eigene Texte verfasst. Sie nimmt es entgegen.

»Es ist zerrissen und zerfleddert.«

»Das macht nichts. Ich krieg das wieder hin. Es ist alt«, ergänzt sie.

»Zwei Jahrhunderte oder mehr, um genau zu sein«, sagt ihr Vater.

»Woher weißt du ...«, beginnt sie, aber dann hat sie eine der losen Seite in den Händen und sieht es selbst. Es ist ein Tagebuch und der letzte Eintrag liegt lange vor der neuen Zeitrechnung zurück. Tatsächlich sind seitdem über 200 Jahre vergangen. »Ihr Name war Aurora«, flüstert Love und kann es kaum erwarten, es zu lesen. Memoiren gehören zu ihrer Lieblingslektüre. Es gibt nichts Spannenderes und Authentischeres. Love interessiert sich sehr für die Alte Welt. Damals gab es noch keine Schrottsammler und keine Steamborgs. Die Menschen lebten in Ländern, die seltsame Namen trugen. Zum Beispiel die Vereinigten Staaten von Amerika.

Hunderte Millionen dienten unter einem Präsidenten. Unvorstellbar! Ihr Vater ist der Master von einem Schrottsammlerclan. Es gibt noch mindestens zwei weitere Clans, vielleicht auch mehr. Jeder herrscht über ein paar tausend Menschen und es ist unausdenkbar, dass alle Schrottsammler nur einem Master dienen würden. Zu groß sind die Differenzen, die Besitzansprüche, die Lebensgewohnheiten und das, obwohl sie alle zur gleichen Gruppierung gehören.

»Ich werde dich verschenken«, stößt ihr Vater plötzlich hervor und reißt Love aus ihren Gedanken. »Dein Mann wird einmal der Nachfolger eines Masters.« Love fällt die Kinnlade herunter. »Die Steamborgs haben an Macht dazugewonnen und wagen sich erstaunlich weit in unser Territorium. Wir müssen uns verbünden, um stärker zu werden und um sie zum Teufel zu jagen. Eine Möglichkeit, um zwei Clans zu vereinen, ist eine Hochzeit.«

»Niemals!«, schreit Love.

Machtverhältnisse

 

»Lass uns verschwinden! Pack das Nötigste zusammen. Wir hauen noch heute Nacht ab.«

Love zerrt ihre Freundin hinter sich her. Lea versteht nicht, was los ist. Seit Love zurückgekehrt ist, ist sie noch weniger zu bremsen als sonst und nicht mehr zu beruhigen. Etwas Schreckliches muss passiert sein.

»Geht es deinem Vater gut?«, fragt Lea aus gutem Grund. Sie kennt den Verhaltenskodex unter den Schrottsammlern. Ein Clan verhält sich wie ein Löwenrudel. Sie weiß, wie schnell und blutig sich die Machtverhältnisse neu ordnen können, vor allem dann, wenn den amtierenden Master so langsam das Alter zeichnet oder er unverhofft aus dem Leben scheidet.

Ist Love womöglich in Gefahr? Wurde ihr Vater gestürzt oder im Kampf schwer verwundet? Müssen sie deshalb verschwinden, weil die Anwärter auf den Titel den Befehl erteilt haben, Love, der einzigen Erbin des Masters, die Kehle durchzuschneiden? Bei diesem Gedanken läuft es Lea eiskalt den Rücken runter. Nicht weil das auch ihr eigenes Todesurteil wäre, sondern weil sie Love liebt. Sie ist dieser frechen, ungezähmten, belesenen, intelligenten, wunderhübschen ...

»Er ist wahnsinnig geworden«, unterbricht Love die Gedankengänge ihrer Freundin und ihrer heimlichen Geliebten.

»Verrückt?«, fragt Lea und weiß nicht, ob das besser ist als tot.

»Er will mich verheiraten. Arrangiert. Stell dir das doch nur einmal vor!«, tobt die Prinzessin und wirft einen einfachen ledernen Koffer auf ihr Bett. Das gute Stück ist wie so vieles andere auch ein Mitbringsel ihres Vaters von seinen zahlreichen Streifzügen durch 4-City. Bislang hat sie für ihn nie eine Verwendung gefunden, lediglich mit dem Gedanken gespielt, aber das wird sich jetzt ändern. Wutentbrannt stopft Love wahllos alle Kleidung hinein, die ihr zwischen die Finger gerät. Plötzlich wendet sie sich Lea zu, schnappt sie sich und drückt ihr einen festen Kuss mitten auf den Mund. Mit einem Schmatzen löst sie sich wieder von ihr, wendet sich fluchend erneut dem Koffer zu und lässt ihre Freundin völlig perplex zurück.

Lea wischt sich mit dem Handrücken über die Lippen.

»Wen sollst du heiraten?«, fragt sie unbedacht und bereut es sofort. Love schleudert ein paar hochhackige Schuhe in den Koffer, dreht sich wie eine Furie um und ihre Augen blitzen gefährlich.

»Das spielt doch überhaupt keine Rolle! Es wird schon irgendein hirnloser Depp sein, der meint, er wäre was Besseres, weil er als Sohn von einem Schrottsammlermaster auf die Welt gekommen ist. Oder noch schlimmer, weil sein Vater den amtierenden Master umgebracht hat. Bei den Wilden da draußen blickt man ja nicht mehr durch. Unser Clan scheint der einzig Beständige zu sein. In den anderen geht es zu wie bei tollwütigen Hyänen. Fressen oder gefressen werden. Pah! Vermutlich hat der Wüstling nur eines im Hirn. Nicht mit mir! Oh nein!«, brüllt sie. »NICHT MIT MIR!«, brüllt sie und schaut Lea wutentbrannt in die Augen.

»Aber was ist das? Sind das etwa Tränen?«, denkt Lea.

»Ich bin eine Prinzessin«, schluchzt Love nun flehentlich und setzt sich rücklings aufs Bett. Vergräbt ihr Gesicht in den Händen und weint leise.

»Scht«, flüstert Lea und setzt sich neben sie, einen Arm um sie gelegt. »Es wird schon alles wieder gut«, tröstet sie die Prinzessin, drückt Love und nimmt sie in den Arm.

»Du wirst Wochen brauchen, um alle zu lesen«, versucht Lea, vom Thema abzulenken und deutet auf die Truhe.

»Die Bücher sind immerhin ein Fünkchen Hoffnung, dass mein Vater mich besser als gedacht zu kennen scheint. Aber ich werde niemals, niemals diesen Schrottsammler heiraten.«

»Scht«, haucht Lea und streichelt ihr über die Haare. Ihre Lippen treffen erneut auf die von Love. Der Atem der Prinzessin beruhigt sich. Ihr Herzschlag verlangsamt sich und ihre wütende Zunge wird von Leas gezügelt.

Zusammen setzen sie sich auf den Boden vor die Truhe und holen sorgfältig ein Buch nach dem anderen heraus. Love geht davon aus, dass ihr Vater höchst persönlich die Werke hineingelegt hat. Oder vielleicht hat er auch einen Schrottsammler unter Androhung, ihn zu köpfen, dazu angewiesen, die Bände umsichtig zu behandeln.

»Eventuell ist auch ein Buch über Fotografie dabei«, mutmaßt Lea und Love hofft, ihr Vater hat in der Tat eines gefunden. Sie wartet schon seit Monaten darauf, dass er ihr ein solches mitbringt. Vermutlich wird sie sich aber selbst aufmachen müssen und den Bezirk das erste Mal in ihrem Leben verlassen, um die große weite Welt von 4-City eigenständig zu erkunden.

Love zieht das nächste Exemplar heraus und wahrhaftig, sie hat Glück. Digitale Fotografie steht auf dem Einband. Wie sie ihren Vater dafür liebt. Er hält seine Versprechen immer ein. Love betrachtet die farbige Hülle und fragt sich, was nochmal das Wort digital bedeutet.

Dann plötzlich schießen die Gedanken wieder empor. »Wird er es wirklich tun und mich verheiraten?« Wird er sie mit dem Sohn eines fremden Clanmasters vermählen? Aus politischen Gründen? Wie ekelerregend. Lea legt eine Hand auf ihre Schulter.

»Willst du mir daraus vorlesen?«, fragt sie und hält Love das zerrissene Tagebuch hin. Love nickt.

Aurora

 

Woher weiß Karma von meiner Gabe? Von diesem einen Moment in meinem Leben, der mich bis heute nicht mehr loslässt. Wie wird der Rest des Teams reagieren? Was werden sie mich alles fragen?

Meine Gabe, meine Gotteserfahrung bedeutet, dass die konventionelle Behauptung der Physik falsch ist. Die Prinzipien der Quantenmechanik, welche die Wechselwirkungen zwischen Welle und Teilchen beschreiben, würden nicht nur auf der atomaren Ebene zutreffen, sondern sich auf das gesamte Universum beziehen. Was würde passieren, wenn wir die Öffentlichkeit vom rein mentalen Wesen des Universums in Kenntnis setzen und all unsere Erkenntnisse in Bezug auf Karma als Beweis für Gottes Existenz anführen? Wer würde uns glauben? Fast jeder Mensch glaubt die physische Welt, die wir sehen, sei die Wirklichkeit und das, obwohl Quantenphysiker schon lange festgestellt haben, dass die von uns beobachtbare Welt genau das nicht ist. Einstein kam schon seinerzeit zu dem gleichen Schluss, doch er mochte ihn nicht wahrhaben und verbrachte den Rest seines Lebens mit dem erfolglosen Versuch, die beunruhigenden Konsequenzen der Quantenmechanik zu widerlegen. Karma und meine Gabe sind der Beweis. Die Frage ist nur, wie wird die Welt darauf reagieren? Wie wird die Welt auf Karma reagieren? Wie auf die Wahrheit, dass das Universum nichts weiter als reines Bewusstsein ist?

Aurora, 2046

 

In dem Moment, als sie Auroras Name ausspricht, ertönt das Horn. Es ist ein lang anhaltendes Tönen ohne Unterbrechung. Love hebt den Kopf. Emotionen spiegeln sich auf ihrem Gesicht wieder. Traurigkeit gemischt mit Zorn wird von Erstaunen abgelöst. Darauf folgt Entsetzen und schließlich die ungetrübte Angst.

»Wir werden angegriffen«, ruft sie entsetzt, steht auf und rennt zum gegenüberliegenden Ende des Zimmers.

»Was machst du denn? Wir müssen uns verstecken!«, sagt Lea mit vor Angst zitternder Stimme. Sie kann ihren Stimmbändern genauso wenig befehlen, keine Panik zu haben, wie sie ihrem Herz nicht untersagen kann, sich keine Sorgen um Loves Leben zu machen. Die Prinzessin schiebt die schwere Kommode ächzend zur Seite. Dahinter erscheint ein Tresor, vor den sie sich nun kniet und beginnt, die Nummernscheibe langsam und gleichmäßig drei Markierungen nach rechts zu drehen. Sie darf auf keinen Fall über den Teilstrich hinaus drehen. Bei diesem Fehler müsste sie von vorne beginnen. Und das benötigt Zeit. Eine Dimension, die gerade Mangelware ist. Sie dreht die Scheibe nach links, bis sie die Ziffer 7 erreicht. Nach rechts bis zur 33 und zurück, bis die Scheibe bei 70 einrastet, dann dreht sie wieder nach rechts. Verdammt, warum musste sie die Zahlenkombination des Sicherheitsschlosses auch so kompliziert einstellen! Love hört wieder Leas ängstliche Stimme bitten, sich jetzt sofort davonzumachen. Sie hört die Kampfschreie draußen auf der Straße und wenn sie sich nicht täuscht, dann auch schon vereinzelt innerhalb des Palastes. Palast? Wohl eher die einstige National City Bank of New York.

Love dreht die Zahlenscheibe bis zum Anschlag ganz nach links. Die Schließbolzen ziehen sich zurück. Sie zieht an dem Metallgriff, um den Tresor zu öffnen. Im gleichen Moment wird die Tür zu ihrem Zimmer gewaltsam aufgetreten.

Lea

 

»Ergreift sie!«

Die Schrottsammler stürmen ins Zimmer. Lea hat keine Chance. Selbst wenn sie hätte fliehen oder sich zur Wehr setzen wollen - es wäre mit Sicherheit bei einem aussichtslosen Versuch geblieben. Love muss mit ansehen, wie sich Lea in den Armen der Eindringlinge wiederfindet.

»Hey, da ist noch eine«, ruft einer der Schrottsammler, als er Love entdeckt, die wie festgefroren vor dem Safe kniet und nicht weiß, was sie tun soll. Sie wird sterben. So schrecklich das klingt, es ist die Art und Weise, wie bei der Übernahme eines anderen Clans verfahren wird. Der Master und alle seine Angehörigen werden beseitigt. Danach ist der Machtwechsel vollzogen und der Clan eingegliedert. Loves Vater hat es selbst so gehandhabt. Mehrere Male, und so die Anzahl seiner Untertanen in den letzten Jahren mehr als verdoppelt. Doch wie ist das alles überhaupt möglich? Wie konnten diese Fremden so ohne weiteres eindringen? Es ist ein Verrat, fällt es Love in diesem Moment wie Schuppen von den Augen. Es gibt Verräter in den eigenen Reihen, anders ist das nicht zu erklären.

Die Anzahl der kampffähigen Männer ihres Vaters, die zum Schutz als Leibwache abgestellt sind, plus die Wachen an den Grenzen, die sofort bei der kleinsten Auffälligkeit Alarm schlagen, würden bei jedem Angriffsversuch sofort zum Gegenangriff übergehen. Jemand Neues kommt in das Schlafgemach. Es muss ein Anführer sein. Vielleicht der Master des gegnerischen Clans, aber er scheint zu jung dafür zu sein. Sein Auftreten wirkt alles andere als harmlos. Geradezu tyrannisch. Er trägt eine Lederrüstung und hält in der rechten Hand einen spitzen Dolch, an dem frisches Blut klebt.

»Prinzessin?«, fragt er mit erregter, süffisanter Stimme und macht eine tiefe, vor Ironie nur so triefende Verbeugung. Um Love kümmert sich immer noch niemand, sie ist aber auch nicht fähig, sich zu rühren. Sie betrachtet die ganze Szene, als würde sich alles in Zeitlupe abspielen. Sie fragt sich, was hier nicht stimmt, was falsch läuft. Und plötzlich kapiert sie es. Der Anführer verbeugt sich vor Lea. Love reißt die Augen auf, will etwas sagen. Will ihm klar machen, dass das ein Irrtum ist, dass sie die Prinzessin ist und nicht Lea. Love öffnet den Mund, doch plötzlich wendet ihr Lea den Kopf zu. Die Todesangst steht ihrer Freundin ins Gesicht geschrieben, trotzdem schüttelt Lea leicht den Kopf und gibt Love so zu verstehen, den Mund zu halten.

Die echte Prinzessin kann sich nicht vom Fleck rühren. Im nächsten Augenblick beendet der Master seine Verbeugungszeremonie mit einer geschmeidigen Bewegung, die Zeugnis von seiner Ausbildung als Kämpfer ablegt. Im gleichen Moment führt er den Dolch schräg nach oben und schiebt ihn Lea unendlich langsam zwischen die Rippen.

»Ich bitte um ihre Hand«, raunt er und ergreift Leas Hand. Lea schnappt nach Luft und blickt auf den Dolch in ihrer Brust. »Ich fürchte, die Hochzeitsnacht fällt leider aus«, sagt der Mörder. Lea blickt zu Love, als wäre alles nur ein Traum und nicht die eiskalte Realität. Dann erreicht die Spitze der Klinge ihr Herz. Lea reißt bei dem langsamen Todesstoß ein letztes Mal ihre Augen auf und nur den Bruchteil einer Sekunde später erschlafft ihr Körper in den Armen ihres Mörders. Es ist der gleiche Mann, mit dem sie ihr Vater verheiraten wollte. Love schreit.

»Stopft ihr das Maul! Vielleicht gibt sie ja eine gute Konkubine ab«, befiehlt er mit einem dreckigen Grinsen im Gesicht und zieht den Dolch aus Leas Herz. Sofort tränkt sich ihr Shirt mit dunkelrotem Blut. Sie werfen ihren leblosen Körper respektlos aufs Bett. Love schreit noch immer. Die Männer, die ihr das Maul stopfen sollen, haben nicht mit solchem Widerstand gerechnet. Love erwischt den ersten an der Kehle und es knirscht seltsam, als sie ihm die Luftröhre mit einem Schlag zertrümmert. Er geht zu Boden, röchelt und ist dem Ende nahe.

Love kämpft wie eine Löwin. Sie kann es nicht ertragen, dass Lea wegen ihr gestorben ist. Nur weil Lea ihrem Vater ähnlicher sieht, als sie selbst. Vielleicht ist der Tod ja auch besser als alles andere, was Love jetzt bevorsteht. Sie ringt mit dem zweiten Schrottsammler, als sie einen harten Schlag an der Schläfe abbekommt. Es ist der Knauf des Dolches, der Loves Lichter ausgehen lässt. Noch im Fallen hört sie das Lachen und die Worte von Leas Mörder.

»Keine Konkubine. Lasst die kleine Löwin in der Arena kämpfen.«

Katakomben

 

»Hey Prinzessin.«

Love öffnet die Augen. Schatten lösen sich auf, es zeichnen sich Konturen einer düsteren Katakombe mit gewölbter Decke ab. Es riecht fürchterlich. Eine undefinierbare Mischung aus Kloake und abgestandener Luft. Ihr Kopf tut weh, als hätte ihn jemand gewaltsam gegen eine Wand geschmettert. So ähnlich war es ja tatsächlich auch, erinnert sie sich. Langsam fasst sie sich an die Schläfe und ertastet die Blutkruste genau dort, wo sie der Knauf des Dolches übel getroffen hat. Ihre Kleidung ist durchnässt und die Kälte kriecht ihr in die Knochen.

»Hey Prinzessin.« Eine Hand berührt sie an der Schulter und Love zuckt vor Schreck und Angst zurück. Bilder von Lea wollen aufsteigen. Sie wehrt sich, kann sie aber nicht zurückdrängen. Der Mann hat ihr direkt ins Herz gestochen, weil er glaubte, Lea sei die Prinzessin. Wenn sie herausfinden, wer Love wirklich ist, wird man sie auch abstechen. Ängstlich blickt sie dem Mann ins Gesicht, der sie berührt hat, der sie Prinzessin genannt hat.

Love glaubt, ihn zu erkennen. Er wurde schlimm zugerichtet. Sein Gesicht ist wächsern und ein Auge ist böse zugeschwollen. Ein langer, blutiger Schnitt verläuft an der Wange bis zum Unterkiefer hinab. Die Nase ist mehrfach gebrochen. Sie erkennt ihn an seiner Statur, seiner Stimme, vielleicht auch an seiner Aura wieder. Er gehörte zur Leibgarde ihres Vaters. Warum haben sie ihn nicht getötet?

»Prinzessin, wir sind hier, um in der Arena zu sterben. Ich kenne das von meinem alten Schrottsammler Clan. Sie lassen uns zur Unterhaltung kämpfen. Es geht mit unfairen Mitteln zu. Es tut mir leid, dass es so enden wird, Prinzessin.«

»Nenn mich nicht so! Ich bin keine Prinzessin mehr. Mein Name ist Love.« Sie rappelt sich auf und schaut auf den gebrochenen Mann herunter. Er blickt zu ihr auf, hat Probleme den Kopf anzuheben. Etwas stimmt mit seiner Wirbelsäule nicht. Es hat ihn noch viel schlimmer erwischt, als Love zunächst glaubte.

»Warst du dabei ...? Hast du gesehen, wie ...?«, Love schafft es nicht, den Satz zu beenden.

»Ich weiß nicht, ob er noch am Leben ist. Aber selbst wenn ich es wüsste, dann würdest du nicht wissen wollen, wie sie deinen Vater umgebracht haben.« Love presst die Lippen aufeinander. Sie hält die Tränen zurück.

»Sind wir die einzigen Überlebenden?«

»Nein, es gibt hier unten noch mehr arme Schweine wie wir.«

»Was ist mit dir? Kannst du aufstehen?«