Ist Liebe letztlich ein Ort, unmöglich sich dort zu treffen? Ein Briefwechsel, spontan entstanden, geschrieben von zwei Liebenden.
»Der beste Prosatext, den ich von Wondratschek kenne.« Patrick Süskind im SPIEGEL
»Wondratschek schreibt so, wie Glenn Gould spielte.« Stuttgarter Zeitung
Ullstein
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© Wolf Wondratschek (2022)
Dieses Werk wurde erstmals veröffentlicht im Jahr
1998, im Verlag Matthes & Seitz.
© dieser Ausgabe by Ullstein Buchverlage GmbH,
Berlin 2022
Alle Rechte vorbehalten
Autorenfoto: © Kai Torsten
Umschlaggestaltung: brian barth, berlin
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ISBN 978-3-8437-2685-6
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Das einzig bestimmbare Reale ist das mir vorliegende Dokument eines Briefwechsels, spontan entstanden, geschrieben zwischen einer Frau und einem Mann, zwei Liebenden.
Der Austausch der Briefe ist also eine Liebesgeschichte. Sie ist, wie immer, vielfältig und sehnsuchtsvoll. Liebe findet wohl statt, leidenschaftlich und unaufschiebbar vom Verlangen der Frau – bezweifelt und distanziert wohl als »eine Sache ohne Wahrheit« von seiten des unschlüssigen Mannes.
Am Ende dieser Briefbegegnungen stehen rätselhafte Ankündigungen, die eine mögliche und doch wohl eher unmögliche konkrete Wiederbegegnung in Kairo verheißen – dorthin will sie reisen, dortselbst soll er sie liebend finden. Kairo als magisch-lustvoller Ort des Verschwindens, damals wie heute, Ort des Sich-nicht-mehr-Wiederfindens, des sphinxhaften Schweigens.
Zwischen den Orten und Gezeiten ist nun dieser schwierige Briefwechsel angesiedelt, fast über ein Jahr wohl. Sie aus Europa in einer chiffrenhaften Bildsprache mit mathematischen Andeutungen schreibend, stark und fordernd – er aus New York, zerstreut und abgelenkt zuerst, über Rückkehr phantasierend, dann zunehmend geistesabwesend, Ruhe suchend in einer psychiatrischen Klinik, in die er völlig zufällig gerät, jedoch schnell wahrnehmend, daß ihm etwas Besseres gar nicht hätte passieren können.
Er will seine »Liebste« keinesfalls sehen, sie darf nicht nach New York kommen. Sie verbleibt in Europa, äußert sich dann aus dem melancholischen Wien und später plötzlich aus Rom. Weniger eine Reise, fragt er sich, sondern eine Flucht?
Die folgenden Feststellungen entbehren weitgehend klarer und vernunftgemäßer Ordnungen, nach denen sich der durchaus intelligente Mann aber zu sehnen scheint. Die Ärzte der Klinik finden keine einheitliche Diagnostik, im Gegenteil zeugen wirre Mitteilungen von vielschichtigen Vermutungen, die der Schreiber seinerseits noch weiter ausmalt und seiner Freundin gegenüber reflektiert. So ist natürlich alles Unverständliche das Resultat einer Krankheit, z. B. die Art seiner »Selbsteinkerkerung« oder die Annahme, er würde mit sich selbst korrespondieren. Eine fingernägelkauende, angstmachende Ärztin, Frau Mitchell, phantasiert »Selbsthaß« eines »größenwahnsinnigen Versagers«? Herr Dr. Bagatella sucht wohl im Grunde einen freundschaftlichen Kontakt, selbst einsam, zu dem fraglichen Kranken, dessen Briefe aus Europa, von Kelly, er heimlich entwendet, um sie in eigenartiger Spannung erregt plötzlich lesen zu können. Er spekuliert über die vermeintliche Liebesunfähigkeit des Mannes, möglicherweise »Hinweis auf eine Schizophrenie«?
Was bewegt den Mann selbst, der weder »krank« noch »normal« zu sein scheint? Er sucht in der Klinik die vollkommene Ruhe des abgeschlossenen Zimmers, er will sich dadurch »wehrlos« fühlen, er philosophiert, »was mich von der Welt draußen trennt, das bin ich«. Er genießt »die Wonnen der Gleichgültigkeit«, den völligen Stillstand. Es bleibt rätselhaft offen, ob seine vermutete Liebesunfähigkeit – und was ist dies wohl in diesem Zusammenhang? – »ein Todesurteil« ist. Sein gegensätzliches Erleben äußert sich auch, fast schreiend, an Kelly gewendet, in dem Ausruf: »Leben, Leben, Leben, singen die Vögel.« Die Doppeldeutigkeit seiner Situation läßt die Vermutung zu, Kelly stärker zu vermissen, als er es sich eingestehen will.
Eines Tages, zusammen mit Dr. Bagatella Monet-Bilder im MoMA betrachtend, entweicht er später ohne Schwierigkeiten und taucht »genesen« in Miami Beach auf. Ist er genesen, von was ist er geheilt? Oder entspricht dies gar nicht der Wahrheit, seiner Wahrheit? Ist sein Leben im tiefsten Grunde nicht doch eine Katastrophe, die er durch Apathie und Gleichgültigkeit auszubalancieren scheint? Was war das wohl für eine Katastrophe? Ist Liebe letztlich ein Ort, unmöglich, sich dort zu treffen? Ist der Ort möglicherweise ein Ort poetischer Phantasie, wie ihn nur der Briefwechsel, wild und melancholisch, auch komisch und grotesk, zu spiegeln scheint?
Also: Real kann ich nur die Vorlage dieser unterschiedlichen Briefe bestätigen.
Christian d’Orville
»Und so wie üblich verwirrt über die Vielzahl der Dinge, die nach einer Erklärung verlangen und uns ihre Botschaft aufprägen, ohne einen Hinweis auf ihren Sinn zu hinterlassen, warf sie ihre Manila-Zigarre aus dem Fenster und ging zu Bett.«
Virginia Woolf, »Orlando«
NYC
Liebste,
Du willst im Ernst nach NYC ziehen? Nun, dann mußt Du verrückt geworden sein! The city that never sleeps? Alles Quatsch! Natürlich schläft jeder. Es leben hier nur einfach zu viele, viel zu viele Menschen, so daß die Stadt keine andere Wahl hat: Die eine Hälfte schiebt die Tag-, die andere die Nachtschicht; sie würden sich sonst zu Tode trampeln. Es wimmelt hier nur so von Menschen, alle krank, sehr, sehr krank, was kein Wunder ist bei diesem Looping, das sich nicht einmal in den allerdunkelsten Ecken der Stadt verlangsamt. Du behauptest, Europa (ausgerottet durch Erinnerung!) sei wunderlich geworden, wunderlich alt und umständlich. Wie wunderlich? Wie ein Liebhaber mit zuviel Respekt vor frischer Bettwäsche? Na ja, russische Taxifahrer sind da sicher weniger zimperlich, das stimmt.
Du strebst jetzt die drastische Vereinfachung Deiner Ansprüche an? Kann es sein, daß Du auch noch indianische Anteile in Deinem Blut entdeckt hast, und das mit Hilfe mathematischer Gleichungen? Schön, daß es Zahlen gibt, nicht wahr? Auch eine Art abzurechnen!
Solltest Du aber inzwischen tatsächlich übergeschnappt sein, dann komm her. Hier bist Du dann unter Deinesgleichen. Aber ich warne: ein paar Quadratmeter Sand in der Sahara enthalten mehr Wahrheit als die ganze Fifth Avenue zusammen. Auch kann ich mir kaum vorstellen, daß Du in einer Stadt leben willst, in der Analverkehr der sichere Selbstmord ist. Ich kenne Dich doch.
NYC, meine Liebe, das ist die Kollision der Vergangenheit mit der Zukunft. Daß bei diesem Zusammenspiel so etwas wie eine Gegenwart entsteht, ist ein Irrtum.
Ich hoffe, Du warst nur ein wenig verwirrt, als Du mir diesen Brief geschickt hast, und fühlst Dich bereits besser und überlegst Dir das alles noch einmal.
Fahr ans Meer; und wenn es regnet, schau dem Regen zu, der draufregnet. Lehne Dich neben der Küstenstraße an einen krumm gewachsenen Baum. Und wenn Dir nach Schreien ist, tu’s; es ist ja bei diesem Sauwetter niemand unterwegs außer Dir. Aber erspar Dir diese Stadt (und damit die fürchterlichste Variante menschlicher Einsamkeit). Im übrigen bin ich drauf und dran, meinen Rückflug zu buchen. Warte also.
Aber zum Schluß muß ich Dir doch ein Kompliment machen. Du drückst Dich in Deinem Brief wenigstens klar und deutlich aus. Und deshalb eine klare Antwort auf Deine Frage, ob ich Dich liebe. Liebe ist eine Sache ohne Wahrheit. Suchen wir nicht danach.
W.
NYC
Woran liegt es, daß Du Deinen Humor eingebüßt hast? (Bitte, nicht Du auch!) Natürlich war ich nicht gemein, Dir NYC auszureden. Ich weiß nur nicht, was Dich hierhertreibt. Ich hoffe, ich kann Dich von falschen Entschlüssen abhalten, zweifle aber daran. Ich war auch weder high noch betrunken, als ich Dir antwortete. Und die Befürchtung, Du könntest meinen Brief unbedacht herumliegen lassen und jemand könnte ihn lesen und dann einigermaßen erstaunt sein, teile ich nicht. Ich weiß, daß auch dieser Brief in Deinem Papierkorb landen wird, und sei es nur aus Wut darüber, daß es (wieder) kein Liebesbrief ist. Und so beschimpfst Du mich, und wie!
Andere Frauen? Ich glaube nicht, daß Du mich mit einer anderen Frau im Bett überraschen wirst, solltest Du, was ich nicht hoffe, unangemeldet und unvermutet doch vor meiner Tür stehen. Ich lebe allein. Hin und wieder, zugegeben, vergnüge ich mich (wie selten ist es tatsächlich das, ein Vergnügen!), aber dann in einem Hotel, und das auch nur nachmittags für zwei Stunden. Nein, nicht mit Huren, sondern mit wohlanständigen Ehefrauen, die sich dabei aber wie welche vorkommen wollen. Du kennst meinen Geschmack. Und hast mir dieses Laster ja auch immer nachgesehen, wie Du zugeben mußt.
Welche Entscheidung ist es, die Dich nach NYC treibt? Selbst wenn Du nur endlich mich wiedersehen willst, wäre Dein Entschluß falsch. Oder willst Du reich und berühmt werden? Oder im Gegenteil: Willst Du hier einfach, aber eben aufregender als sonstwo, vor die Hunde gehen? Andere Luft schnappen, wie man so sagt? NYC auf Dich wirken lassen? (Wie kann ich Dich davor warnen?) In jedem Fall aber solltest Du aufhören, das Leben zu suchen. Schon gar nicht hier, und nicht in meiner Nähe.
Es wird Dich langweilen, mich wiederzusehen. Es wird Dir angst machen, wie geistesabwesend ich geworden bin. Jaja, beliebte ich zu scherzen, die gute alte Melancholie, dieses Plüschtier! Aber nein, beliebte der Doktor zu antworten, das hatten wir, hier handelt es sich um ausgewachsene Depressionen. Sie sind krank! Ich mußte gähnen. Krank? Ich weiß, sagte er, leicht ist es nicht, sich das eingestehen zu müssen. Und während er meine Pupillen untersuchte, dachte ich an die vergangenen Wochen zurück, an die qualvollen Stunden stumpfsinnigen Nichtstuns, an das heillos lärmende Durcheinander in meinem Kopf – von Gedanken zu reden wäre wirklich eine Anmaßung –, ich dachte an die Gewißheit, daß der Tag kommen würde, wo abgerechnet wird. Wie oft haben wir darüber Witze gemacht! War er angebrochen? Beruhigend eigentlich nur, daß ich vielleicht noch eine Nacht Aufschub hatte, denn jetzt sah ich durch das Fenster die Sonne untergehen. Die Sonne, nicht mich!! Noch eine ganze lange Nacht also Zeit zu weinen – und bis zum Morgengrauen auf meiner Henkersmahlzeit rumkauen, einer Scheibe trockenen Brots, die ich so geduldig zerkleinere, als gäbe es für diese asketische Übung mildernde Umstände. Ich werde, Doktor, das verspreche ich, mit dem, der da weint, ein bißchen reden. Ich werde versuchen, ihn zu trösten. Ich werde lachen, wenn ihm das hilft. Wenn er will, werde ich tanzen. Und ich werde, sollte ihn das aufheitern, das letzte Glas mit ihm leeren.
Durch mich gehen gefährliche Gedanken. Ich höre die Krokodile atmen unter dem Asphalt. Aber mehr als die fürchte ich den Wahnsinn. Und Deinen nächsten Brief.
W.