Die Verräter

Die Verräter – Australien-Saga 3

© Vivian Stuart (William Stuart Long) 1981

© Deutsch: Jentas A/S 2021

Serie: Australien-Saga

Titel: Die Verräter

Teil: 3

Originaltitel: The Traitors

Übersetzung : Jentas A/S

ISBN: 978-87-428-2040-7

Prolog

Abigail Tempest beobachtete angespannt, wie ihr Vater das Pferd bestieg und davonritt. Sie blickte ihm nach, bis er nicht mehr zu sehen war, hielt ihre Stirn an die Fensterscheibe gepreßt und sagte: »Papa ist fort, Rick. Ich hatte so gehofft, daß er bleiben würde ... er hatte es mir versprochen.«

Ihr Bruder Richard trat hinter sie. Er trug seine Marineuniform, und die weißen Streifen auf seinem Jackenärmel verrieten, daß er schon nach zwei Jahren zum Fähnrich befördert worden war. Er war siebzehn Jahre alt, nur ein Jahr älter als Abigail, aber er war mehr als einen Kopf größer als sie und glaubte von sich, sehr viel mehr von der Welt zu verstehen als sie.

Er war bemüht, sich sein Gefühl der Überlegenheit nicht anmerken zu lassen, und entgegnete: »Du verstehst das eben nicht, Abby. Papa konnte diese Einladung von Lord Ashton nicht abschlagen. Er ist Konteradmiral und hat Papa schon viele Dienste erwiesen. Und außerdem —«

»Er ist ein ehemaliger Konteradmiral, Rick«, erwiderte Abigail. »Und der arme Papa braucht jetzt auch niemanden mehr, der ihm bei seiner Karriere in der Marine unter die Arme greift, oder?«

»Das stimmt schon«, gab ihr Bruder zu, »aber ich kann seine Hilfe gut brauchen. Er hat dafür gesorgt, daß ich jetzt auf der Seahorse diene. Es ist eine Zweiundvierzig-Kanonen-Fregatte.«

»Jetzt im Krieg hättest du doch keine Schwierigkeiten gehabt, selber eine Koje zu finden«, meinte Abigail.

Sie wandte sich zu ihm um, und Richard war entsetzt, wie traurig sie aussah. Sie war hübsch und talentiert, dachte er, hatte eine schöne Singstimme und spielte gut Klavier. In ihrem Alter sollte sie ein sorgloses Leben führen können und viele Verehrer haben, aber statt dessen ... Er seufzte und ergriff ihre Hand, und sie fuhr fort: »Sie werden nach dem Essen wieder spielen, Rick — das machen sie immer, und die Einsätze sind so hoch, daß Papa sich das eigentlich gar nicht leisten kann.«

»Er könnte ja gewinnen«, meinte Rick kleinlaut.

Als Antwort deutete Abigail auf das spärlich möblierte Zimmer. »Siehst du nicht ... bist du denn blind? Die Bilder sind weg, Großvaters Bücher und Mamas geliebtes Porzellan auch — du warst zwei Jahre lang von zu Hause weg, Rick, aber du merkst doch bestimmt den Unterschied.«

»Mir ist aufgefallen, daß nur noch drei Pferde im Stall stehen«, gab Richard zu, »und daß die Kutsche weg ist. Aber —«

»Alles ist verkauft worden«, sagte Abigail. »Erst vor drei Wochen waren drei Gerichtsdiener hier und haben Mamas Klavier abgeholt. Mister Madron war zu Gericht gegangen, damit er endlich das Geld kriegt, das Papa ihm schuldet.«

»Madron? Ist das der Lebensmittelkaufmann?«

»Sein Sohn Reuben. Der alte Tobias Madron hat sich zur Ruhe gesetzt. Reuben behauptet, daß Papa mit der Zahlung des Pferde- und Viehfutters ein Jahr im Rückstand ist.« Abigail schüttelte verzweifelt den Kopf und fuhr leise fort: »Anfang des Monats hat Papa die beiden letzten Farmen verkauft, und die drei Pferde, die im Stall stehen, bekommen nichts mehr zu fressen außer Heu.«

»Aber ... Papa hat doch jetzt keine Schulden mehr, oder? Wenn er die Farmen verkauft hat, ist doch sicher alles zurückgezahlt?«

Abigails Unterlippe zitterte, und sie nahm sich zusammen, um weitersprechen zu können. »Er hat immer noch Spielschulden. Ich weiß aber nicht wie hoch, er sagt ja nichts Genaues. Rick, aber du hast noch nicht das Schlimmste gehört.«

»Noch nicht? Dann sag es mir doch, um Gottes willen!«

Sie zögerte und schaute ihn unsicher an. »Hat Papa nichts erwähnt? Hat er dir nicht seine — seine Zukunftspläne angedeutet?«

»Nein«, sagte ihr Bruder. »Verdammt noch mal, Abby, ich bin doch erst gestern nachmittag hier angekommen. Wir haben kaum miteinander gesprochen — er hat sich nach meiner Zeit auf See erkundigt, und ich habe ihm natürlich etwas darüber erzählt. Viel mehr Zeit hatten wir nicht, und ich war todmüde. Aber ... nun, er hat natürlich etwas von Mama gesagt. Wie tapfer sie am Ende war, und wie sehr er sie vermißt. Und das tut er wirklich, Abby ... Er hatte Tränen in den Augen, als er von ihr sprach.« »Das weiß ich«, sagte Abigail unglücklich. Sie ging zum offenen Kamin, stocherte in der Glut und legte ein Scheit Holz nach. »Wir vermissen sie alle, Rick. Es wäre ... ach, es wäre alles anders gekommen, wenn Mama noch leben würde! Papa hörte auf sie. Er machte das, was sie für richtig hielt. Auf mich hört er nicht. Er sagt, ich sei noch ein Kind.«

»Und das bist du nicht?« fragte Richard scherzhaft. Aber sein Versuch, sie aufzuheitern, mißlang. Abigail schüttelte den Kopf.

»Nein«, entgegnete sie. »Ich bin kein Kind mehr. Unter den gegebenen Umständen kann ich mir das gar nicht leisten. Papa ist nicht mehr der, der er mal war, Rick. Seit der schlimmen Kopfverletzung in der Schlacht von Kopenhagen hat er sich sehr verändert, und es wird immer noch schlimmer. Als Mama noch lebte, nahm er sich ihr zuliebe zusammen. Er hat auch damals schon zu viel getrunken und mit seinen Freunden um Geld gespielt, aber nicht so — nicht ganz so viel.

Als der Waffenstillstand mit Frankreich vorbei war, hoffte er, daß die Admiralität seine Dienste wieder brauchen würde. Aber obwohl er sich sehr darum bemühte, wurde ihm kein Kommando über ein Schiff mehr angeboten.«

»Weil er ein kranker Mann ist«, warf Richard ein. Er setzte sich zu ihr ans Feuer. »Erzähl weiter, Abby. Du hast seine Zukunftspläne erwähnt.«

Abigail antwortete nicht. Sie starrte ins Feuer und versuchte, ihre Tränen vor ihrem Bruder zu verbergen. Seine Kehle war wie zugeschnürt, er kniete sich neben sie und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Erzähl mir bitte alles, Abby«, bat er sie leise. »Ich muß es doch wissen, selbst wenn Papa es nicht vermocht hat, sich mir anzuvertrauen. Welche Pläne hat er denn?«

Sie versuchte, ganz ruhig zu sprechen. »Er will sich als Freier Siedler in Botany Bay niederlassen und Lucy und mich mitnehmen. Um dort — ein neues Leben anzufangen, wie er sagt. Um dich braucht er sich ja nicht mehr zu sorgen. Er will dieses Haus verkaufen — alles, was wir noch haben —, um das Geld für unsere Überfahrt zusammenzubekommen.«

Richard starrte sie ungläubig an.

»Botany Bay? Aber das ist doch eine Strafkolonie! Und es ist am anderen Ende der Welt! Das ist ... um Gottes willen, Abby, wer hat ihn bloß darauf gebracht? Hat er ... hat er den Verstand verloren?«

»Manchmal glaube ich das wirklich«, gab Abigail zu. Sie wischte sich die Tränen ab und sagte: »Er hat sich so sehr verändert, Rick, aber ... vielleicht hat ihn ein Offizier darauf gebracht, der drüben lebt und gerade auf Heimaturlaub hier ist. Es ist Major Joseph Foveaux vom Neusüdwales-Korps — er lebt als Gast bei den Fawcetts in Lynton Manor. Und«, fügte sie hinzu, »ich glaube, daß er auch heute abend bei Lord Ashton eingeladen ist — ich habe gehört, daß er ein sehr guter Kartenspieler ist. Papa hat ihn in den letzten Wochen oft getroffen und spricht mit ihm den Plan gründlich durch.«

»Aber es ist doch eine Strafkolonie«, wiederholte Richard verständnislos. »Was für ein neues Leben könnte man denn dort aufbauen?«

»Anscheinend ein sehr gutes, wenn man Major Foveaux Glauben schenken soll«, antwortete Abigail. »Er scheint dort drüben ein Vermögen gemacht zu haben. Zuerst in Australien selbst, wo er zweitausend Morgen Land besitzt, und dann auf einer Insel, die neunhundert Meilen weit entfernt von Australien liegt — sie heißt Norfolk. Er erzählte Papa, daß die aufsässigsten und schwierigsten Sträflinge dort hingeschickt werden — die einen Umsturz planen oder zu fliehen versuchen.«

»Und dahin will Papa gehen?«

»Nein, nicht nach Norfolk — nach Sydney. Offenbar bekommen dort Freie Siedler so viel Land, wie sie nur haben wollen, zugesprochen, zu einem lächerlichen Preis, und Sträflinge erledigen alle schweren Arbeiten, wenn man für Kost und Logis sorgt.«

Die Geschwister blickten schweigend ins Feuer. Schließlich fragte Richard: »Möchtest du dorthin, Abby?«

»Ach, Rick, natürlich will ich nicht dorthin!« antwortete Abigail unglücklich. »Hier ist meine Heimat — ich habe mein ganzes bisheriges Leben hier verbracht und unsere kleine Schwester Lucy auch. Ich habe geradezu Angst davor, England zu verlassen! Und außerdem soll Neusüdwales ein schrecklicher Ort sein. Es muß dort dunkelhäutige Wilde geben, von den schlimmsten Verbrechern Englands mal ganz abgesehen, und das muß ganz einfach wahr sein, da nicht einmal Major Foveaux das abstreitet.« Sie zitterte. »Und, Rick, dieser gräßliche Captain Bligh von der Bounty ist der Gouverneur ... stell dir das einmal vor!«

»Papa bewundert Captain Bligh, Abby«, meinte Richard. »Er hat uns doch ein paarmal erzählt, daß sich Captain Bligh in der Schlacht von Kopenhagen als ein wahrer Held erwiesen hat. Selbst Lord Nelson war dieser Ansicht. Er —« Abigail seufzte. »Ich habe ja nicht gesagt, daß ich nicht gehen werde, Richard ... nur, daß ich es nicht möchte. Aber wenn ich dem armen Papa helfen kann, dann darf ich nicht an mich denken. Wenn er sich wirklich entschließt, dort ein neues Leben aufzubauen, dann müssen Lucy und ich ihn begleiten. Außerdem«, fügte sie niedergeschlagen hinzu, »haben wir auch gar keine andere Wahl, oder?«

Das ist wahr, dachte. Richard. Wenn ihr Vater tatsächlich den Entschluß gefaßt hatte, England zu verlassen, konnten die beiden Mädchen nicht alleine hier Zurückbleiben. Und er konnte sie von seinem schmalen Fähnrichsold auch nicht unterstützen.

Als ob sie seine Gedanken erraten hätte, sagte Abigail leise: »Du brauchst dir keine Gedanken um uns zu machen, Rick. Du hast vollauf genug mit deiner Karriere zu tun.« Sie brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Lieber Rick, ich bin so froh, daß du wieder da bist! Und es erleichtert mich sehr, daß ich mit jemandem sprechen kann — jemand, der meine Sorgen um Papa versteht. Lucy ist ja noch ein halbes Kind, mit der kann ich natürlich nicht so sprechen wie mit dir. Und sie ist so sensibel, und betet Papa an. Sie —«

»Das hast du auch getan, Abby«, erinnerte ihr Bruder.

»Ja«, gab sie mit kalter Stimme zu. »Das habe ich getan.«

Richard sagte hilflos: »Ich wünschte, ich könnte dir etwas helfen, ich ... wann will Papa denn aus wandern? Oder weiß er es selbst noch nicht genau?«

»Doch, es steht schon alles fest. Vor einer Woche hat er mir gesagt, daß er für uns drei und Jethro eine Überfahrt an Bord der Mysore gebucht hat. Es ist ein Vierhundert-Tonnen-Ostindienfahrer, und der Kapitän, ein Mann namens Duncan, hat ihm versichert, daß es eine schnelle Überfahrt sein wird. Aber« — Abigail zuckte mit den Schultern — »auch wenn es schnell geht, dauert die Fahrt nach Sydney ein halbes Jahr lang, oder?«

Richard nickte. »Ich glaube, ja. Nur wenige Schiffe schaffen es in kürzerer Zeit.« Die Mysore war wahrscheinlich ein Sträflingstransporter, der ein paar zahlende Passagiere mitnahm. Wenigstens war es sicher, daß auf einem Sträflingstransporter ein Arzt mitfuhr, der dafür sorgen mußte, daß die Sträflinge ausreichend ernährt und gut behandelt wurden, denn die Bedingungen hatten sich in den letzten Jahren sehr gebessert.

»Wann soll die Mysore denn auslaufen, Abby? Und weißt du, von welchem Hafen es losgeht?«

»In drei bis vier Wochen, glaube ich«, antwortete sie. »Das Schiff liegt schon in Plymouth — wenigstens ist die Fahrt bis dorthin nicht weit.« Nach einer Pause ergriff sie wieder das Wort: »Ich kann einfach nicht glauben, daß Papa England im tiefsten Herzen verlassen will oder daß er dieses Haus verkaufen möchte. Er ist genauso wie wir hier aufgewachsen, und ich weiß, daß er es genauso liebt wie wir. In Neusüdwales wird es für uns so anders sein. Ich —« Sie zögerte und schaute ihn unsicher an, weil sie nicht wußte, ob sie ihm noch mehr anvertrauen könnte.

Richard errötete. »Du kannst mir vertrauen, Abby«, versicherte er ihr. »Ich erzähle niemandem etwas von diesem Gespräch — am allerwenigsten Papa.«

Sie fuhr erleichtert fort: »Wie ich schon gesagt habe, hat Papa all seine Informationen von diesem Major Foveaux, der sehr begeistert von den Möglichkeiten erzählt, die Sydney bietet. Aber ich ... ich habe mich bei einer Frau erkundigt, Rick — und ganz wie ich befürchtet habe, fiel ihr Bericht sehr viel weniger positiv aus als der des Offiziers. Dadurch erfuhr ich von den dunkelhäutigen Eingeborenen — es scheint, daß sie abgelegene Farmen überfallen und unvorstellbar grausam plündern, brandschatzen und morden.«

Richard schaute seine Schwester ungläubig an. »Eine Frau hat dir das erzählt? Aber wo, um alles in der Welt, bist du einer Frau begegnet, die etwas über Sydney weiß?«

Abigail lächelte. »Ach, ganz in der Nähe, und es war wirklich ein Zufall ... Es ist eine Mary Briant, eine Witwe und so etwas wie eine Berühmtheit. Ich hörte von ihr und fuhr einfach hin und —«

»War diese Misses Briant ein Sträfling?« unterbrach Richard sie mißtrauisch.

»Ja, aber sie ist trotzdem eine sehr respektable Frau, wirklich, und sie ist längst vom König begnadigt worden. Sie hat mir erzählt, daß sie mit einer kleinen Gruppe von Sträflingen in einem offenen Kutter nach Timor geflohen ist. Die arme Frau ... sie hat auf der Fahrt von Timor nach England ihre beiden kleinen Kinder und ihren Mann verloren.«

Richard schlug sich überrascht auf den Schenkel. »Das ist eine Heldin! Ich erinnere mich an die Geschichte — es ist schon vierzehn oder fünfzehn Jahre her. Diese unglaubliche Flucht in dem offenen Kutter ereignete sich während der Regierungszeit von Gouverneur Phillip. Seitdem haben sich die Bedingungen geändert, und ich bin ganz sicher, daß jemand wie Captain Bligh alles dafür tut, daß sich die Lebensbedingungen dort verbessern, denn immer mehr Freie Siedler wandern nach Sydney aus.«

»Vielleicht stimmt das, Rick«, meinte seine Schwester, »aber ich möchte noch jemand anderes befragen — Misses Briant hat mir ihren Namen genannt. Eine Misses Pendeen, die die Frau des Vikars in Bodmin ist. Sie ist Bischof Marchants Tochter, und sie kam erst vor kurzer Zeit aus Sydney zurück. Sie —«

»Dann war sie wenigstens kein Sträfling«, meinte Richard erleichtert. Abigail erinnerte sich daran, daß Mary Briant nebenbei erzählt hatte, daß die Tochter des Bischofs ebenso wie sie selbst vom König begnadigt worden war ... , aber sie hatte das schon damals nicht ganz glauben können und angenommen, daß die Frau sich nicht richtig erinnert hatte. Der alte Bischof Marchant war zwar schon lange tot, als sie noch ein kleines Kind gewesen war, aber es wurde noch mit großem Respekt und viel Liebe von ihm erzählt. Man konnte sich kaum vorstellen, daß seine Tochter, die jetzt die Frau eines Vikars war, einmal als Sträfling nach Neusüdwales geschickt worden sein sollte.

Sie schüttelte den Kopf und antwortete mit überzeugter Stimme: »Nein — nein, natürlich nicht, deshalb will ich sie ja auch sehen. Kommst du mit, Rick? Kannst du dir nicht etwas ausdenken, dann stellt Papa keine Fragen, wenn wir zusammen das Haus verlassen.«

Er lächelte sie an. »Ich komme mit«, versprach er ihr, »wenn es dir so viel bedeutet, meine liebe Abby.« Während er sprach fiel ihm ein, daß er seine gesamte Familie vielleicht nie wiedersehen würde, wenn sie nach .Neusüdwales auswanderte. Er spürte einen Stich in seinem Herzen, und als er seine Blicke über die kahlen Wände und die leeren Bücherregale im Zimmer schweifen ließ; ging er zum erstenmal kritisch mit seinem Vater zu Gericht. Wie Abby und die kleine Lucy hatte auch er seine Eltern geradezu angebetet, aber jetzt ...

»Vielleicht«, meinte er, »vielleicht macht Papa heute abend einen großen Gewinn, und wir können all unsere Ängste vergessen.«

»Darum bete ich schon die ganze Zeit«, gestand Abigail. Sie vermied seinen Blick, und zwei rote Flecken brannten auf ihren Wangen. »Ich weiß, man sollte Gott nicht um solche — solche weltlichen Dinge bitten, aber ich bitte jeden Abend in meinem Nachtgebet darum, Rick. Ich flehe Gott an, daß Papa genug gewinnt, damit wir hierbleiben können und« — sie schaute ihn an — »ich habe auch lange darum gebetet, daß du gesund zu uns zurückkommst. Gott hat diesen Wunsch erfüllt, aber bei dem anderen bin ich mir nicht so sicher.«

Richard drückte seiner Schwester die Hand. »Ist es nicht Zeit zum Abendessen? Komm, wir suchen Lucy und machen uns eine schöne Zeit zusammen ... wir tun einfach diesen einen Abend lang so, als ob noch alles beim alten ist!« Nach einem späten und ausgedehnten Abendessen im Pengallon-House wurde mit dem Lu-Spiel begonnen, und schon nach ein paar Runden einigten sich alle Mitspieler auf Major Foveaux’ Vorschlag, daß der Verlierer jeweils den Einsatz in der Kasse verdoppeln müsse.

Jetzt dämmerte der Morgen, die Kerzen waren heruntergebrannt und es war klar, daß Edmund Tempest wieder einmal eine große Geldsumme verloren hatte. Drei weitere rote Spielmarken landeten im Pool. Mit starrem Gesichtsausdruck schob Foveaux sie ordentlich übereinander. Tempest sagte leise: »Ihr Spiel!«

Ein Diener brachte die heiße Schokolade herein, die der Admiral bestellt hatte, aber er winkte ihn ungeduldig weg und schaute keinen Augenblick lang vom Spieltisch auf. Foveaux spielte die Pikdame, doch Tempest hatte ein As. Als er seinen Herzkönig spielte, merkte er, daß sein Gegner nichts auf der Hand hatte. Er nutzte die Lage und nahm die nächste Karte vom Stapel.

»Herz ist Trumpf, Joseph«, sagte er mit rauher Stimme und ließ seine Hand sinken. »Sie haben keinen Stich.«

»Augenblick mal!« rief Joseph Foveaux aus. »Die Karte, die Sie gerade aufgedeckt haben, die Herz Neun, habe ich eben abgelegt. Die haben Sie heimlich auf den Boden fallen lassen. Bei Gott —« er sprach alle am Tisch an — »hat niemand von Ihnen das gesehen? Das müssen Sie doch gesehen haben!«

Die anderen schüttelten schweigend den Kopf. Lord Ashton zögerte und war hin und her gerissen zwischen seinem Sinn für Gerechtigkeit und seiner Abneigung gegen den Emporkömmling Foveaux. Wenn er jetzt etwas sagen würde, wäre Edmund Tempests Ruin nicht mehr abzuwenden, dessen war er sich voll bewußt. Er war sich nicht ganz sicher, welche Karte tatsächlich zu Boden gefallen war. Nach Foveaux’ Ausruf entschloß er sich, so wie die anderen zu schweigen. »Zum Teufel mit Ihnen, Tempest!« rief der Neusüdwales-Korpsoffizier mit verzerrtem Gesicht aus. »Sie haben versucht, mich zu betrügen!«

Bevor Tempest etwas erwidern konnte, mischte sich der Admiral ein. »Ich verbitte mir, daß Sie in meinem Haus eine für alle Beteiligten unangenehme Szene machen«, warnte er die beiden kalt. »Major Foveaux, ich bitte darum, daß Sie sofort gehen, Sir. Teilen Sie den Pool untereinander auf und ersparen Sie uns diese unangenehmen Anschuldigungen. Das Spiel ist beendet.«

»Wie Sie wünschen, Sir«, zischte Foveaux mit kalter Wut. Er nahm seine Spielmarken, tauschte sie in Geld ein und fügte mit leiser Stimme hinzu: »Sie werden noch von mir hören, Tempest, merken Sie sich das!«

»Meine Sekundanten werden Ihre Vorschläge anhören«, entgegnete Edmund Tempest. »Sie —« Aber der Admiral unterbrach auch ihn. Die Fawcetts verabschiedeten sich. Sir Christopher Tremayne schüttelte die Hand des Gastgebers mit ungewöhnlicher Wärme und folgte ihnen, und Tempest ging hinterher, als Lord Ashton ihn zurückrief. »Er hatte recht, oder, Edmund?« fragte der General mit eiskalter Stimme. Als der jüngere Mann den Versuch machte, ihm Sand in die Augen zu streuen, fügte er hinzu: »Ich sah die Karte, die auf den Boden gefallen ist.«

»Ich schwöre Ihnen ... mein Glück kam gerade zurück, ich hatte die besten Karten ... ich hätte gewonnen, glauben Sie mir —«

»Sie sind in diesem Haus nicht mehr willkommen, Edmund. Und auch nicht in irgendeinem Haus in der Nachbarschaft. Foveaux wird reden, und ganz bestimmt Arnold Fawcett auch.«

»Aber, Sir ... so hören Sie mich doch bitte an.« Tempests hochrotes Gesicht war inzwischen blaß geworden. Er zitterte, und der Admiral konnte ihm ansehen, daß er sich unendlich schämte. »Ich bitte Sie, Sir ... ich spreche die Wahrheit. Ich sah die Karte zwar fallen, und fühlte mich versucht, aber ich —« »Ersparen Sie mir Ihre Entschuldigungen, Edmund«, bat ihn Lord Ashton. Er richtete sich zu seiner vollen, beeindruckenden Größe auf und versuchte nicht einmal, den Abscheu zu verbergen, den er empfand. »Sie planen, nach Neusüdwales auszuwandern, oder? Stimmt es, daß Sie bereits für sich und Ihre beiden Töchter die Überfahrt gebucht haben?«

Tempest nickte. »Ja, auf dem Ostindienfahrer Mysore, der von Plymouth absegelt, aber —«

»Dann ist der beste Rat, den ich Ihnen geben kann, daß Sie sofort an Bord gehen und so schnell wie möglich aus dieser Gegend hier verschwinden. Ich werde mich um Ihren Jungen kümmern. Und, um Gottes willen, Mann«, — der Admiral sprach jetzt leiser und flehender — »machen Sie doch etwas aus Ihrem Leben, wenn Sie in Botany Bay ankommen, damit Ihre zwei kleinen Töchter sich nicht ihres Vaters schämen müssen.«

»Ich ... ich werde tun, was Sie sagen, Sir«, versprach Edmund Tempest. »Aber mein Haus — ich muß es verkaufen, und —«

»Ich werde meine Rechtsanwälte beauftragen, das für Sie abzuwickeln. Wenn Sie vor Kaufabschluß das Land verlassen, werde ich Ihnen die Verkaufsurkunde nachschicken lassen.« Der Admiral drehte sich um und fühlte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. Was war das für eine traurige Geschichte ... Edmund war als junger Offizier der Stolz der Marine gewesen, und er war ihm damals wie ein Sohn gewesen. Aber jetzt ... »Gehen Sie mir aus den Augen«, bat er ihn mit rauher Stimme.

Als er seine Gefühle wieder unter Kontrolle hatte und sich umwandte, war Edmund Tempest verschwunden.