Über dieses Buch

1944/45 hatte er als umjubelter GI Europa befreit; als er Jahre später wiederkommt, um sich in Paris als Schriftsteller niederzulassen, will man ihm nicht mal ein Zimmer vermieten. 1953 lässt er sich in Bern nieder, wo er als Schriftsteller und Englischlehrer arbeitet. Verlässt er das Haus, ist er jederzeit auf die ihm verhasste Frage gefasst: Warum bist du nach Bern gekommen?

Und so macht sich Carter in seinem Buch auf, diese Frage, die an seinen «Grundfesten rüttelt», zu bewältigen. In immer neuen Anläufen erzählt er, warum er nicht in Paris, Amsterdam oder München geblieben ist, erzählt Kindheitserinnerungen aus Kansas City und vor allem von Begegnungen in Bern, wo ihn alle anstarren – Männer, Frauen, Kinder, Hunde, Katzen … –, von Geldsorgen, Liebesgeschichten, Reisen, Wohnungssuche. Mit so unzerstörbarem Humor wie hartnäckigem Engagement und voller Ambivalenz geht er dem Rassismus auf den Grund, der Verschiedenheit der Menschen, dem Fremdsein des Individuums in der Gesellschaft. Und ganz nebenbei zeichnet er ein scharf beobachtetes Porträt seiner Zeit, seiner Gesellschaft und seiner Stadt.

1 Vincent O. Carter: The Bern Book, New York: The John Day ­Company, 1970/73. Hier zitiert nach der Neuausgabe 2020, McLean IL / Dublin: Dalkey ­Archive Press.

2 Michel Fabre: La rive noire: de ­Harlem à la Seine, Paris: Lieu ­Commun, 1985.

3 James Baldwin: «Stranger in the village», in: (ders.): Notes of a ­native Son, Boston: Beacon Press 1955, S. 159–175, deutsch: Fremder im Dorf. Ein schwarzer New Yorker in Leukerbad. ­Zürich: édition ­sacré, 2011, S. 5. ­(«Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, hatte vor mir kein schwarzer Mann dieses kleine Schweizer Dorf jemals ­betreten.»)

4 Vgl. Rolf Hermann, Michael Stauffer: Wie ein Schaf in der Wüste: Als James Baldwin die Schweiz besuchte. Ein Hörspiel. Luzern: Der gesunde Menschenversand, 2012.

5 Walo von Greyerz: Feierndes Bern. Zur Erinnerung an das ­Jubiläum «Bern 600 Jahre im ewigen Bund der Eidgenossen», Bern: Paul Haupt, 1953.

6 Carter: The Bern Book, S. 83 (in einem «alten Buch – der Geschichte Europas – herausgerissenen Kapitel», S. 108).

7 Ich folge in der Frage der Groß- oder Kleinschreibung des Wortes «schwarz / Schwarz» ­Carters eigener Schreibweise.

8 Vgl. Veronika Minder, Efa Mühle­thaler: Bob, le Flaneur. Website, 2015: bobleflaneur.com 29.7.2021.

9 Vgl. Franz Biffiger: «Lederer, Norma Jean», in: Bruno Spoerri (Hg.): Schweizer Jazzbiografien, Website, 2006: fonoteca.ch/cgi-bin/oecgi3.exe/ inet_jazzbionamedetail?NAME_ID=77771.011&LNG_ID=ENU 29.7.2021.

10 Vgl. «Problem solver for corporate giants», in: Ebony, Vol. 21, Nr. 12, October 1966, S. 62–70.

11 Vgl. Rea Brändle: Wildfremd, hautnah. Zürcher Völkerschauen und ihre Schauplätze 1835–1964, Zürich: Rotpunktverlag, 2013.

12 Intelligenzblatt der Stadt Bern, 19. November 1920, S. 3.

13 Intelligenzblatt der Stadt Bern, 28. Februar 1922, S. 5.

14 Vgl. Beat Jung (Hg): Die Nati. Die Geschichte der Schweizer Fuss­­ball Nationalmannschaft, Göttingen: Die Werkstatt, 2006, S. 348.

15 Carter: The Bern Book, S. 153 («Da ich aber der erste Amerikaner war, den die meisten von ihnen je gesehen, geschweige denn gesprochen hatten, überraschte es mich, dass sie über die ‹tiefsten Empfindungen› von Schwarzen so genau Bescheid wussten.» S. 195)

16 Herbert R. Lottman: «The Invisible Writer», in: Carter: The Bern Book (1973), S. vi. («Donquichottisch lebt Vincent Carter in Bern, der von anderen Amerikanern selten besuchten Hauptstadt der Schweiz. Er ist dort ziemlich allein, ein Schwarzer in ­einer Stadt, weißer als jede ameri­ka­nische Stadt, die ich kenne, und ­arbeitet ohne Verbindung zu ­anderen Schriftstellern seiner Sprache.»)

17 Carter: The Bern Book, S. 14, («und hatte mich in das Land ­verliebt.» S. 19).

18 Laurence Sterne: A Sentimental Journey Through France and Italy, And, Continuation Of The Bramine’s Journal : With Related Texts / edited, with introduction and notes, by ­Melvyn New and W.G. Day. ­Indianapolis: Hackett Pub. Company, 2006. Vgl. Jesse McCarthy: «Strangers in the Village»: James Baldwin and Vincent O. Carter, ­American Literature in the World Graduate Conference Yale Univer­sity, Vortrag, 10. April 2015.

19 Carter: The Bern Book, S. 3, in diesem Buch S. 8.

20 Lottmann: «Writer», in: Carter: The Bern Book (1973), S. vii. Vgl. ­Robert ­Burton: The Anatomy of Melan­choly edited and with an introduction by Holbrook Jackson; and with a new introduction by William H. Gass. New York: New York ­Review of Books, 2001.

21 Vincent O. Carter: «Silas und ­Stacy», in: annabelle, Dezember 1955, S. 73, 74, 187 & 189.

22 Baldwin: Fremder im Dorf, 2011, S. 11. («Die Menschen sind in der ­Geschichte gefangen und die Geschichte in ihnen.»)

23 Darryl Pinckney: Out There. ­Mavericks of Black Literature, New York: Basic Civitas Books, 2002, S. 61.

24 Carter: The Bern Book, S. xv («als bloßer Gedanke von mir selbst», S. 6).

25 Vgl. Carter: The Bern Book, S. 334, in diesem Buch S. 400.

26 Kunstmuseum Bern: Bildende Künstler als Dichter / Dichter als bildende Künstler, Einladungskarte, Juni 1975, Archiv Kunstmuseum Bern.

27 Statistisches Amt der Stadt Bern: Jahresrückblick 1953, Bern 1953, S. 47.

28 Statistisches Amt der Stadt Bern: Statistisches Jahrbuch 1973, Bern 1974, S. 30.

29 Rolf Eichenberger: Berner Altstadt-Keller, Bern: Fritz Pochont-Jent, 1973, S. 84.

30 Vincent O. Carter: Such Sweet Thunder, South Royalton: Steerforth Press, 2003.

31 Whitney Terrell: «At the Crossroads», in: New York Times, 20. April 2003.

32 Vgl. Anna Iatsenko: African American Author in Switzerland: the Case of Vincent O. Carter’s The Bern Book, unveröffentlicht. Und: Anna ­Iatsenko: «Boom»: Kansas City Jazz in Vincent O. Carter’s Such Sweet Thunder. Vortrag, Graz 2015.

33 Carter: The Bern Book, S. 331 («In Bern habe ich eine Stille gefunden, die so intensiv ist wie das Dröhnen des Verkehrs in New York. Dort konnte ich wegen des Lärms nichts hören, und hier in Bern wegen der Stille.» S. 397).

34 Markus Jakob: Café du Commerce. Eine Berner Kulturgeschichte, Bern: Gachnang & Springer 2004, S. 21.

35 Lottmann: «The invisible Writer», in: Carter: The Bern Book (1973), S. ix. («Damals hielt ich schwarze Romane einfach für eine Form von Journalismus. Die beste schwarze Literatur dieser Zeit waren Protestschriften und nicht ­Romane. Für einen Schriftsteller protestierte ­Carter aber einfach zu wenig.»).

36 «Nicht schwarz genug.» Ebenda.

37 Toni Morrison: The Bluest Eye, New York: Holt, Rinehart and Winston, 1970.

38 Baldwin: Fremder im Dorf, 2011, S. 31. («Eine Welt die nicht mehr weiß ist und es nie wieder sein wird.»)

Foto Staatsarchiv des Kantons Bern, FN Baumann 229

Vincent O. Carter (1924–1983) wuchs in bescheidenen Verhältnissen in Kansas City auf. 1944 wurde er in die US-Armee einge­zogen und war in Frankreich stationiert. Zurück in den USA, studierte er mit Un­terbrüchen, in denen er als Koch bei der Union Pacific Railroad und in Detroit in einer Automobilfabrik arbeite­te. Danach kehrte er nach Europa zurück und liess sich nach Aufenthalten in Paris, Amsterdam und München 1953 in Bern nieder, wo er Radiosendungen schrieb und moderierte, Englisch unterrichtete, malte und meditierte.

Pociao studierte Anglistik und Germanistik, Aufenthalte in London und New York, gründete einen eigenen Verlag. Sie übersetzte u. a. Paul und Jane Bowles, Gore Vidal, Zelda Fitzgerald, Patti Smith und Evelyn Waugh. 2017 gewann sie den DeLillo-Übersetzungswettbewerb.

Roberto de Hollanda wuchs in Südamerika und Europa auf, studierte Politikwissenschaften und Soziologie, schreibt Drehbücher, macht Dokumentar­filme, übersetzte u. a. Gonzalo Torrente Ballester, Rodrigo Rey Rosa und Kent Haruf.

Black Bern

Martin Bieri

Es gibt viele Bücher über Bern, doch 1973 wurde in New York eines der merkwürdigsten unter ihnen veröffentlicht: The Bern Book von Vincent O. Carter.1 Eine historische Koinzidenz will es, dass dieses Buch in einem Augenblick seinen An­fang nimmt, in dem sich die Bernerinnen und Berner fragen, wer sie sind, zu wem sie gehören und was aus ihnen wird. Und das ist nicht einmal die einzige seltsame Gleichzeitigkeit. Denn die Geschichte beginnt zwanzig Jahre vorher, im Jahre 1953.

Im Oktober 1953 erschien in Harper’s Magazine der Essay Stranger in the village von James Baldwin. Der amerikanische Schriftsteller hatte ihn während seiner Aufenthalte in Leukerbad geschrieben. Auf Anraten seines Freundes Lucien Happersberger, dessen Familie im Ort ein Chalet besaß, kam Baldwin zwischen 1951 und 1953 wiederholt in das Dorf in den Walliser Bergen, um an seinem Roman Go tell it on the mountain zu arbeiten. Baldwin lebte in Paris, hielt sich dort aber eher fern vom «rive noire»2 um Richard Wright und suchte seine eigene Ästhetik und seine eigene Biografie. Er machte sich zum Außenseiter eines ohnehin schon exklusiven Kreises emigrierter amerikanischer Schriftsteller, und die Reisen in die Schweiz entsprachen diesem Willen vollkommen. Zehn Jahre lang hatte er sich mit seinem Roman herumgeschlagen, hatte im Café de Flore oder im Hotel Verneuil im siebten Arrondissement gesessen und nicht weitergewusst. Im winterlichen Leukerbad beendete er das Buch in wenigen Wochen, dabei unablässig Bessie Smith hörend. Es gab nichts, was ihn vom Schreiben abgehalten hätte – und niemanden. Umgekehrt hatte es in Leukerbad noch nie jemanden wie ihn gegeben: «From all available evidence no black man had ever set foot in this tiny Swiss village before I came.»3 Was ihm in Leukerbad zustieß und was seine Anwesenheit in dem schneeweißen Dorf historisch bedeutete, beschreibt Baldwin in Stranger in the village.4

Vier Monate bevor Baldwins Text in den USA erstmals er­schien, erreichte Vincent O. Carter Bern, und zwar just in dem Moment, als die Stadt ihre sechshundertjährige Zugehö­rig­keit zur Eidgenossenschaft feierte. 150 000 Menschen begingen mit einem historischen Umzug einen «Tag stolzer Erinnerung, aus der der Wille emporwächst, dieser Gemeinschaft opferfreudig Treue zu halten»5, schrieb der damalige Großrat Walo von Greyerz. Carter schien in einer märchenhaften Vergangenheit angekommen zu sein, in einem «chapter torn from an old book, which is the history of Europe.»6 Er kam aus einer anderen Welt. Carter war der Fremde in der feiernden Stadt.

«A city whiter than any American city I know of»

Noch heute erinnern sich manche an Carter als Berns «ersten» Schwarzen7. Doch abgesehen davon, dass in der Bundesstadt Botschaftspersonal aus fast allen Ländern der Erde wohnte oder arbeitete, gab es bei oder kurz nach der Ankunft Carters durchaus Afroamerikaner in Bern, wenngleich nicht viele. Um 1960 lebte der amerikanische Tänzer Felix Mendelssohn White mit seinem Freund, dem Dekorateur Bob Steffen in der Stadt.8 Bereits ab 1956 gab es im direkten Umfeld Carters mindestens eine weitere Amerikanerin dunkler Hautfarbe, nämlich die Jazzsängerin Norma Lederer.9 Über Lederer, die ihres in Bern studierenden und Geschäfte machenden Mannes wegen in die Schweiz gekommen war, hätte Carter die Be­kanntschaft mit Baldwin machen können. Lederer war in Zürich mit dem Werber und ehemaligen Journalisten William A. Rutherford befreundet, der seit gemeinsamen Pariser Tagen mit Baldwin verkehrte.10 Allerdings gibt es keinen einzigen Hinweis darauf, dass sich Carter und Baldwin je begeg­net wären, so ähnlich ihre Situation auch war: Sie suchten beide nicht ihresgleichen, sie suchten in der Fremde einen Zustand zwischen Abgeschiedenheit und Exposition, um in ihrem Werk zu sich selbst zu finden.

Der «erste Schwarze Berns» kann noch weniger bedeuten, dass man in Bern überhaupt noch nie Schwarze gesehen hätte. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein hat es in Bern sogenannte «Völkerschauen» gegeben, zwischen 1834 und 1964, als der Zirkus Knie letztmals «Marokkanische Handwerker» zeigte, sind mehr als fünfzig Veranstaltungen, viele davon im Bierhübeli, belegt. Noch heute lebt eine Nachfahrin von Mitgliedern einer zur Schau gestellten afrikanischen Truppe im Kanton Bern.11 Am 19. November 1920 meldete das Intelligenzblatt der Stadt Bern den schwarzen «geschulten Schuhputzer Lewis» als Sehenswürdigkeit. Er werde «in der Schuhhalle Helvetia im Kornhaus Ihnen Ihre Schuhe gratis putzen. Gehen Sie hin! Niemand versäume die Gelegenheit.»12 Nur anderthalb Jahre später allerdings, am 24. Februar 1922, trat am Meeting des Boxing-Clubs Bern im Bierhübeli der schwarze Berufsboxer Sam King gegen einen Neuenburger namens Weber an, ohne für großes Aufsehen zu sorgen.13 Womöglich hatten manche Bernerinnen und Berner während der Internierungen französischer Verbände 1871, 1916 und 1940 auch Kontakte mit nordafri­ka­nischen Soldaten. Unter den amerikanischen Soldaten, die die Schweiz und Bern nach Kriegsende besuchten, waren sicher Schwarze. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang ebenfalls, dass die Schweiz seit 1951 mit Raymond Bardel ihren ersten nichtweißen Fußballnationalspieler hatte.14

Ein Dorf in den Bergen, das war die ehemalige Söldner- und Kolonialmacht und spätere Diplomaten- und Spionagestadt Bern ohnehin nie gewesen, aber die Berner hatten sich, zustimmend oder ablehnend, ein solches Bild von sich gemacht. Vielleicht war Carter nicht der erste Schwarze in Bern, doch er war wohl der erste, der blieb und die Erinnerung an ihn drückt das verhohlene Entsetzen darüber aus, dass das so war. Folglich kamen einige seiner Bewohner durchaus erstmals in die Lage, mit einem Schwarzen zu tun zu haben, was nicht heißt, dass sie nicht schon eine Vorstellung von ihm gehabt hätten: «Now, as I was the first American Negro most of them had ever seen, much less spoken to, I was astounded that they knew so much about the ‹deepest sentiments› of the Negro people.»15 Insofern ist richtig, was der amerikanische Autor Herbert R. Lottmann in seinem Vorwort zum Bern Book über Carter schrieb: «A quixotic black man, he lives in Bern, the seldom visited (by other Americans) capital of Switzerland. Vincent Carter is quite alone there, a Negro in a city whiter than any American city I know of.» Dass Carter ziemlich allein war, lag aber nicht nur an seiner Hautfarbe. Carter arbeitete «out of contact with other writers in his language.»16 Er wollte an zwei Orten nicht dazugehören: Dort wo er hinkam nicht und nicht dort, wo er herkam.

«A mere thought of myself»

Carter wurde 1924 in Kansas City, Missouri, als Kind von Eltern geboren, die selbst noch Kinder waren. Er wuchs in der schwarzen Unterschicht auf und verdiente sein erstes Geld in einer Waffenfabrik. Als 17-Jähriger wurde er in die Armee eingezogen und landete 1944 in der Normandie. Im August zog er mit den amerikanischen Truppen in Paris ein. Nach Kriegsende studierte Carter mit Hilfe des Militärstipendiums am Oriel College in Oxford, an der Lincoln University Oxford, Pennsylvania und an der Wayne State University in Detroit, unterbrochen von Anstellungen als Eisen­bahnkoch und in einer Automobilfabrik. 1953 kehrte er nach Paris zurück, wie er es sich als Soldat vorgenommen hatte, «for I had many intimate feelings about the place»17. Doch Paris und alle anderen europäischen Städte, die er danach besuchte, empfingen ihn nicht mehr als Befreier, sondern als Fremden. Car­ter ließ sich nirgends nieder, bis er nach Bern kam, wo er Freunde besuchen wollte, die auf der amerikanischen Vertretung arbeiteten – und blieb.

Mit der wiederkehrenden, halb eingeschüchterten, halb selbstverliebten Frage der Berner, warum Carter sich ausge­rechnet ihre Stadt ausgesucht habe, beginnt The Bern Book. Von dort aus tritt Carter seine Voyage of the Mind an, wie das Buch im Untertitel heißt, eine Anspielung auf Laurence Sternes A Sentimental Journey Through France and Italy von 176818. In seinem abschweifenden, verspielten Stil verdankte Carter Sterne ohnehin einiges. Die fleißigen Berner fragen Carter natürlich auch nach seinem Beruf, wie er scheinbar müßig «in the Mövenpick or in the Casino»19 sitzt und nicht weiter weiß. Das ganze Bern Book ist seine Antwort auf diese Frage, eine Mischung aus Tagebuch, Essay, Roman und Brief. Es ist eine sanfte Elegie des Zorns und des Zweifels. Mit Verweis auf Robert Burtons Betrachtungen von 1621 erkennt Lottmann in Carters Werk eine zeitgenössische Anatomie der Melancholie.20 Doch noch ist er ein Schriftsteller ohne Werk. Erst als das Magazin Annabelle21 eine Geschichte von ihm druckt und er auf Einladung des späteren NZZ-Korrespondenten Fritz Steck für das Schweizer Radio ein Feature über afroamerikanische Musik schreibt, wird er auf der Straße nicht mehr nach seinem Aussehen, sondern mit «Herr Carter» angesprochen.

Welche Wirkung all die Namen, die man ihm gibt, auf Carter haben, beschreibt er ausführlich. Das Bern Book ist eine Reflexion über Herkunft, Identität und Ausgrenzung und eine in der Literatur der Zeit seltene Innensicht auf den alltäglichen Rassismus in der Schweiz. Carter macht in Bern ähnliche Erfahrungen wie Baldwin im Wallis. Leute starren ihn an, Kinder zeigen auf ihn und laufen ihm nach, wer sich traut, fasst seine Haare an, generell wird er für einen Afrikaner gehalten. Der hoch kultivierte, aber wütende Baldwin sprach den Einwohnern von Leukerbad, von denen manche vor der seinen angeblich noch nie eine Schreibmaschine gesehen hatten, mehr Anteil an der abendländischen Kultur zu, als er je haben würde, einfach, weil sie weiß waren. Der ebenfalls belesene, aber eher melancholische Carter drehte den Spieß um: Er beobachtete «den Berner» mit einem ironisch-ethnografischen Blick als jenes fremde Wesen, für das der ihn, Carter, hielt, und das er, «der Berner», für die ganze restliche Welt war.

Doch während Baldwin in einer dialektischen Meisterleistung eine eigentliche Identitätsgeschichte der rassistischen Segregation skizziert – «People are trapped in history and history is trapped in them»22 –, geht Carter in eine andere Richtung, nach innen, in die Subjektivität, in die «selfhood»23. Im Vorwort zum Bern Book fasst er seine Argumentation wie folgt zusammen: Erst habe er geglaubt, anders als die Weißen zu sein. Dann habe er gemerkt, anders als alle anderen zu sein, wie überhaupt jeder Mensch anders als alle anderen sei. Doch auch das sei eine Illusion, denn schließlich sei er nicht mehr als ein bloßer Gedanke, «a mere thought of myself»24, worin er wiederum allen anderen Wesen im Universum gleiche. Dass James Baldwin sich in einen solchen philosophischen Idealismus geflüchtet hätte, kann man nicht sagen. Das Gefühl, ein Fremder zu sein, verlor «Herr Carter» übrigens in dem Moment, als er sich einen Bart wachsen ließ. Das machte ihn zu einem Menschen, der nicht seiner Hautfarbe, sondern seiner Behaarung wegen auffiel, was den Leuten Anlass gab, ihn mit Haile Selassie zu verwechseln, dem letzten Kaiser von Abessinien, der 1954 Bern besuchte.25

In den zwanzig Jahren zwischen seiner Ankunft und dem Erscheinen des Bern Book verfasst Carter mindestens drei Manuskripte, die seine damalige Partnerin Olga Tschumi ins Reine tippt. 1973, als sein erstes Buch endlich gedruckt wird, hat er das Schreiben bereits aufgegeben und sich der Malerei zugewandt. Im Sommer 1975 nimmt er mit Meret Oppenheim, Erica Pedretti, Urs Dickerhof, Rolf Iseli, Otto Tschumi und anderen an der von Guido Haas eingerichteten Ausstellung Bildende Künstler als Dichter / Dichter als bildende Künstler im Kunstmuseum Bern teil.26 Zu einem anerkannten Künstler macht ihn das ebenso wenig wie seine vereinzelten Auftritte auf Berner Theaterbühnen. Doch zu diesem Zeitpunkt scheint Carter das gar nicht mehr zu wollen. Sein Interesse richtet sich nun auf altindische Mystik, Meditation und integrale Theorie, für die es in Bern, ohne dass Carter darauf Bezug nimmt, durch Rudolf Maria Holzapfel oder Jean Gebser eine Tradition gab. Für die einen wird Carter so zum Faktotum, für die anderen zur spirituellen Autorität. Spätestens als er und seine Lebenspartnerin Liselotte Haas 1976 dafür sorgten, dass der Swami Muktananda genannte Krishna Rau, Begründer des Siddha Yogas, auf einer seiner Welttourneen Bern besucht.

Carters spirituelle Wende war keine Neuerfindung seiner selbst, sondern eine Fortführung der subjektivistischen Tendenz seiner Literatur – und entsprach dem gegenkulturellen Geist der Zeit. Die hatte allerdings verschiedene, widersprüchliche Gesichter: Am Ende des Jahres 1953 hatten unter den 153 839 Bewohnern der Stadt Bern noch 8600 Ausländer gelebt.27 Zwanzig Jahre später waren es bei fast gleich großer Bevölkerungszahl 22 597.28 Die Stadt wurde internationaler. 1963 lief mit dem Brasilianer Amilton de Oliveira der erste nichtweiße Spieler für die Young Boys auf. Um 1970 betrieb die Franko-Afrikanerin Helen Martin an der Gerechtigkeitsgasse eine Boutique.29 Die Wirtschaftskraft der Schweiz beruhte damals maßgeblich auf der Leistung der herbeigerufenen Arbeiterinnen und Arbeiter aus dem Ausland. Doch mit dem Wohlstand wuchs die Fremdenfeindlichkeit. Im Juni 1970 lehnte die Stimmbevölkerung die sogenannte Schwarzenbach-Initiative zur Beschränkung des Ausländeranteils auf zehn Prozent zwar ab, im Kanton Bern fand das Anliegen jedoch eine Mehrheit.

Carter verdiente sein Geld als Englischlehrer in Bern. Noch Jahre nach seinem Tod 1983 ist er vielen ehemaligen Eleven als außergewöhnlich sanfter, liebenswürdiger Mensch in Erinnerung. Seine Kindheitserinnerung The Primary Colours, wird noch einmal zwanzig Jahre später unter dem Titel Such Sweet Thunder30 als posthume literarische Entdeckung in den USA erscheinen. Die New York Times reagiert mit einer anerkennenden Kritik auf den Roman.31 Such Sweet Thunder heißen ein Lied und ein Album von Duke Ellington, dessen Verehrer Carter war und ein Echo von dessen Musik sich in Carters Werk wiederfinden lässt.32 Carter selbst hatte ursprünglich daran gedacht, das Buch auch nach Ellington Black Brown and Beige zu nennen. Was Carter in Bern akustisch auffiel, war übrigens vor allem die Abwesenheit von Geräuschen: «In the city of Bern I have encountered a stillness which is as intense as the roar of the traffic of New York. There I could not hear for the noise; and here in Bern I could not hear for the silence.»33 Kein Dorf in den Bergen, doch still wie ein sechshundertjähriges Grab, weshalb Carter beim Schreiben Ellington und Béla Bartók hört.

«The world is white no longer»

The Bern Book wurde sowohl dies- wie jenseits des Atlantiks wenig wahrgenommen. Obwohl es sich an ein amerikanisches Publikum richtete, hätte das Buch eine politische Wirkung als Migrations- und Integrationsbericht vor allem beim Schweizer Publikum entfalten können, das aber entweder nichts davon wusste oder es mit der Begründung nicht las, zu schlecht Englisch zu können. Anderen gefiel es nicht, die Künstlerin Lilly Keller zum Beispiel konnte «nicht viel damit anfangen»34. Dass das Buch zwanzig Jahre brauchte, um überhaupt öffentlich zu werden, lag nicht nur an Carters joycianischem Exil. Die historische Situation in den USA war für seinen verspielten, persönlichen Stil ungünstig. Im Kontext der Bürgerrechtsbewegung war die Rolle schwarzer Autoren von beiden Seiten auf die politisch engagierte Literatur festgeschrieben. Lottmann: «At the time I thought of black fiction as simply a form of journalism. The best black writing of the time was protest and not fiction at all. As a black writer, though, Carter did not seem to protest enough.»35 Ein Vorwurf, der Carter übrigens auch von amerikanischen Besuchern und Schweizern, die sich auf seiner Seite glaubten, wiederholt gemacht wurde: «Not black enough.»36 Dieser identitätspolitische Rahmen öffnete sich in den 1970er-Jahren etwas. Toni Morrison veröffentlichte The Bluest Eye37 und brach mit der heroisch-selbstbewussten Revolutionsrhetorik ihrer männlichen Kollegen. Die Verleger ließen nun ein weiteres Spektrum schwarzer Literatur zu. Trotzdem erschien The Bern Book noch auf dem Höhepunkt des Black Arts Movement, dem künstlerischen Arm der Black Power-Bewegung. Deren Forderungen entsprach Carters Voyage of the Mind nicht. Das so langsam entstandene Buch verschwand rasch wieder.

«This world is white no longer, and it will never be white again»38, schrieb Baldwin als letzten Satz in Stranger in the village. Genau an dem Tag, als Bern sein sechshundertjäh­riges Bündnis mit der Eidgenossenschaft symbolisch bekräftigte, als sich diese Stadt ihre Vergangenheit vor Augen führte, um eine Zukunft zu entwerfen, wurde Baldwins Wort für sie wahr. Nicht, weil sie seit jenem Tag einen Schwarzen zu ihren Bürgern zählte, sondern weil dieser Bürger Bern zu einem Ort in der amerikanischen Literaturgeschichte, zu einem Ort der schwarzen Literatur gemacht hat. Die es da aber noch nicht, und zwanzig Jahre später, 1973, nur im Verborgenen geben durfte. Und seit diesem Tag ist auch die Berner Literatur nicht mehr weiß.

Dank an: Veronika Minder, Liselotte Haas,

Olga Tschumi, Franz Biffiger Übersetzerin und

Seit ich in Bern lebe

Egal, ob ich im Mövenpick oder im Casino bei einem Glas Wein die Zeit vertrödele oder mit Freunden zu Abend esse, selten vergeht eine Woche, in der mich nicht jemand, den ich gerade erst kennengelernt habe, mit einem Schwall von Fragen konfrontiert. Mit den meisten komme ich ziemlich gut zurecht. Er fragt: «Ist dir nicht kalt?», wenn es Winter ist und: «Bist du nicht froh, dass die Sonne scheint?» – wenn sie tatsächlich scheint, was leider nur selten vorkommt. Im ersten Fall antworte ich: «Ja», und im zweiten: «Und ob!» Sie fragt: «Seit wann bist du denn schon in der Schweiz?»

«Oh, jetzt sind es ungefähr dreieinhalb Jahre …», sage ich.

«So lange!», ruft sie aus, und ich versuche, so überrascht zu lächeln, wie es für ihren Ausruf gerechtfertigt erscheint.

Bei weniger günstigen Gelegenheiten fragt Es misstrauisch, mit nervös zuckendem Mund oder einem Lächeln, das so etwas wie eine halbwegs schüchterne Entschuldigung sein könnte: «Wie gefällt es dir denn hier?» Ich halte kurz inne, um die Spannung zu steigern, und das Lächeln verstärkt sich. «Oh … ganz gut …», kommt es aus meinem Mund, als würde Er, Sie oder Es die erwartete spöttische Bemerkung abtun, noch ehe ich sie ausgesprochen habe.

Danach plätschert das Gespräch noch eine Weile weiter, doch entgeht mir nicht, dass mein Gesprächspartner unzufrieden ist. Er ist selten oder noch nie einem echten schwarzen Mann begegnet. Er hat jedoch viel gehört und sich viel gewundert. Er kennt Negrospirituals, hat den einen oder anderen gehört und ist ein glühender Jazzfan. Er mustert mich so unauffällig er kann und vergleicht den klaren eindeu­tigen Eindruck vor seinen Augen mit all den Bildern, die er in seinem bisherigen Leben gesehen oder gehört hat. Schließlich riskiert er eine weitere Frage:

«Bist du Musiker?»

«Nein», erwidere ich – frostig.

«Student?», bohrt er weiter und registriert jetzt auch meine uralte Aktentasche, ohne die er mich nur selten gesehen hat.

«Nein, ich bin kein Student», antworte ich leicht gereizt, aber nicht wirklich unfreundlich. Das ist mir schon oft passiert. Ich bin nur gereizt, weil mir langsam die Fantasie ausgeht und ich befürchte, dass ich meine Geschichte nicht interessant genug erzählen kann. Er ist so neugierig, erwartet offensichtlich so viel, so viel mehr, als ich ihm jemals bieten könnte. Das macht mich traurig.

«War bloß so ein Gedanke. Die Stadt ist ja voll von Medi­zin­studenten.»

«Oh, nein … nein …», entgegne ich mit einem unbehaglichen Lächeln, weil ich das Gefühl habe, dass ich ein bisschen schroff war. Dass ich alles nochmal durchmachen und mir den Kopf zerbrechen muss, um einen anderen Weg zu finden, es ihm zu sagen, und da ich keinen finde, leide ich jetzt selbst, weil er nicht einfach direkt danach fragt.

Das Gespräch plätschert weiter vor sich hin. Er hofft, auf Umwegen dahinterzukommen, denke ich, gerührt von seiner Diskretion. Aber ich will auch nicht selbst indiskret werden, indem ich freiwillig Informationen rausrücke, um die er mich nicht gebeten hat.

«Wie gefällt dir Bern?», fragt er, als das Gespräch zu verebben droht. «Oh, ganz gut», antworte ich, ein wenig dankbar, dass wir endlich zur Sache kommen. Mittlerweile hat er mitbekommen, wie ich mich mit einem der jungen Männer, die an unserem Tisch sitzen, für morgen um zwei Uhr verab­redet habe. Bevor er sich verabschiedete, hatte er zehn Uhr vormittags vorgeschlagen, das Treffen dann aber auf zwei Uhr nachmittags verlegt. Er hatte vergessen, dass er um zehn ein Seminar hat. Nachmittags um zwei sind fast alle Leute in Bern bei der Arbeit.

«Du scheinst ja viel Freizeit zu haben», bemerkt mein neuer Bekannter und lächelt nervös. «Hast du ein Glück, dass du nicht ins Büro musst.» Er meint zum Arbeiten.

«Ich kann ja nicht nur schreiben!», sage ich schließlich.

Da leuchtet sein Gesicht plötzlich auf.

Schreiben? Was schreiben?, höre ich ihn für den Bruchteil einer Sekunde denken; dann fragt er: «Bist du Journalist?»

«Nein», sage ich.

«Er schreibt Geschichten!», erklärt der Freund, der ihn mir vorgestellt hat, ein bisschen ungeduldig. An diesem Punkt zünde ich meine Pfeife an und versuche, mir einen Anfang auszudenken, denn gleich wird die Frage kommen, die ich nicht mag, weil sie so schwer zu beantworten ist. Trotzdem bin ich dankbar für die kurze Zeit, die mir die Beantwortung dieser Frage schenken wird, denn die danach wird an meinen Grundfesten rütteln!

Vorwort

Ich habe keineswegs die Absicht, aus meinem Material ein Buch zu machen, Fakten und Eindrücke zu verändern, deren Erwerb mich so viel Mühe und Arbeit gekostet hat, um in den heiligen Gefilden der Kunst zu wildern. Ich möchte ledig­lich einige starke Gefühle zum Ausdruck bringen, die mein Leben so sehr verändert haben, dass ich weder verzweifelt noch optimistisch, sondern ganz realistisch sagen kann, dass ich nie mehr derselbe sein werde. Die Veränderungen, von denen ich spreche, begannen natürlich mit dem Leben selbst. Die Spannungen, die sie erforderlich machten, waren der «Zeit» und dem «Ort» meiner Geburt geschuldet. Hätte sich dasselbe Ereignis in China oder, sagen wir, in Schweden ereig­net, wäre meine Lage eine andere. Hätte ich blondes statt schwarzes Haar, wäre eine völlig andere Geschichte entstanden. Selbst wenn ich ein echter Afrikaner wäre, gerade aus Nigeria eingetroffen, wo meine Vorfahren zur Welt kamen, wie ich glaube (denn ich habe Holzschnitzereien und Elfenbeinfiguren von Leuten gesehen, die von dort kamen und große Ähnlichkeit mit mir haben), würde mein Lied in einer anderen Tonart oder ganz sicher in einem anderen Tempo gesungen. Vor hundert Jahren hätte ich dieses «Buch» vermutlich gar nicht erst geschrieben.

Andererseits ist der kleine Aspekt der Wahrheit, den ich aus meinen Erfahrungen mit anderen Menschen in anderen Ländern gewonnen habe, wahrscheinlich ganz ähnlich, wenn nicht sogar identisch mit dem, was ich möglicherweise gefunden hätte (vorausgesetzt, Wahrheit ist Wahrheit), wenn ich ihn aus einem der oben genannten Umstände abgeleitet hätte. Denn es ist mir klar geworden, dass die potenziellen Handlungen meines Lebens – meine Probleme und Illusionen – gleichsam in die Grenzen meiner Zeit eingebettet sind und diese sich von anderen Epochen der Menschheitsgeschichte nur in punkto Dimension unterscheiden, weil Menschen in allen Zeitaltern und unter allen Gegebenheiten grundsätzlich gleich sind.

Zwar habe ich das fast immer behauptet, aber nicht immer geglaubt. Als Folge einer «rein intellektuellen» Berechnung habe ich versucht, mich von der Gültigkeit der soeben gemachten Feststellung zu überzeugen, wohl wissend, dass mein sogenanntes «Verständnis» nichts anderes war als ein Ausdruck des Glaubens an die abstrakte Hoffnung, dass in der Welt eine Art von Gerechtigkeit vorherrscht, die wir euphemistisch als «poetisch» bezeichnen.

Die Veränderungen in der Einstellung, mit denen ich mich in diesem «Buch» hauptsächlich beschäftige, sind also die Folgenden: der Übergang von dem Geisteszustand, in dem ich mich als von Natur aus anders als andere («weiße») Menschen betrachte, zu einem Zustand, in dem dieser Unterschied verschwand, nur um dann peinlicherweise in Form einer neuen und subtileren Illusion wieder aufzutauchen, nämlich der Illusion von mir selbst als ein von allen anderen unterscheidbares Wesen, und der weitere Übergang in eine Verfassung, in der meine neu entdeckte Besonderheit (die ich hegte und pflegte) sich als die größte aller Illusionen erwies und ich mir schließlich (allerdings nur in seltenen visionären Momenten) lediglich als Bewusstseinszustand offenbart wurde, als bloßer Gedanke von mir selbst, ein Umstand, den ich mit allen anderen Wesen im Universum teilte!

Diese Erkenntnis, so glaube ich, wurde durch meine Reisen befeuert. Schauplatz meiner partiellen (und nach wie vor nicht abgeschlossenen) Metamorphose ist die Stadt Bern – das Objekt, auf das ich meine Aufmerksamkeit richtete und dem ich die fragmentarischen Eindrücke verdanke, die ein Licht auf meine Identität werfen. Es ist also im Wesentlichen ein Reisebuch. Doch da ich die Relativität von «Zeit» und «Ort» geltend gemacht und das erlebende «Ich» auf einen Bewusstseinszustand reduziert habe, muss dies vor allem als Aufzeichnung einer Reise des Geistes angesehen werden. Keinesfalls soll der Eindruck erweckt werden, dass ich mit diesem Buch eine sozialwissenschaftliche Studie der Stadt Bern oder der Schweizer Nation erstellen wollte, denn diese gewaltige Aufgabe wurde bereits von anderen durchgeführt, deren Interesse in diese Richtung ging.

VOC

Für meine Mutter und meinen Vater, denen ich viel zu selten geschrieben habe

Vincent O. Carter

Meine weiße Stadt und ich

Das Bernbuch

Aus dem amerikanischen Englisch

von pociao und Roberto de Hollanda

Nachwort Martin Bieri

Limmat Verlag

Zürich

Dieses Buch wurde mit finanzieller Unterstützung durch den Förderverein des Limmat Verlags realisiert.

Die Übersetzung wurde von Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung, und der Oertli Stiftung gefördert. Für einen Druckkostenbeitrag dankt der Verlag der Ernst Göhner ­Stiftung, der Burgergemeinde Bern und Kultur Stadt Bern.

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Der Limmat Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem ­Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

Das Umschlagbild zeigt Vincent O. Carter, fotografiert von Margrit Baumann © Staatsarchiv des Kantons Bern FN Baumann 229.

«Black Bern» von Martin Bieri ist erstmals erschienen in Gabriel Flückiger, Michael Krethlow, Konrad Tobler (Hg.): Bern 70, Bern 2017.

Lektorat: Barbara Traber

Schrift: Merriweather: Courtesy of 2010-2013 Sorkin Type Co (www.sorkintype.com), OFL 1.1.

Titel der Originalausgabe: The Bern Book. A Record of a Voyage of the Mind, John Day Company, New York 1973 © 2021 Nachlass Vincent O. Carter / Liselotte Haas.

© 2021 by Limmat Verlag, Zürich

ISBN print 978-3-03926-009-6

ISBN epub 978-3-03855-240-6

ISBN mobi 978-3-03855-241-3

Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Seit ich in Bern lebe
Die einleitende Frage
Die Frage, die an ­meinen Grundfesten rüttelt
Persönliche Probleme bei der ­Beantwortung der Frage
Jetzt philosophiere ich ein wenig
Warum ich nicht nach Paris ­gegangen bin
Der ernstere Teil
Ein Kapitel, das dem Leser die Unvoreinge­nom­men­heit des Autors vermitteln soll
Warum ich Amsterdam verlassen habe
Warum ich Deutschland verlassen habe
Woran ich unterwegs dachte
Bern
Auf der Suche nach einem Zimmer
Noch immer auf der Suche nach einem Zimmer und warum
Alle, Männer, Frauen, Kinder, Hunde, ­Katzen und andere Tiere, egal ob Wild- oder Haustiere, starren mich an – die ganze Zeit!
Fortsetzung des kurzen Dialogs, der vom vorigen Kapitel unterbrochen wurde
Einige allgemeine ­Veränderungen in meiner Einstellung als Ergebnis meiner ersten Erfah­rungen mit den Bernern
Was in der Thun­­straße geschah
Kirchenfeld
Ich verlasse die ­Thunstraße
Meine neuen Vermieter
Das öffentliche Leben
Und dieses Thema hat eine weitere ­beun­ruhigende Variante
Herzen und Steine: ­Einleitung
Herzen und Steine, die Fortsetzung oder: Eine Barballade
Das Radio
Wodurch ich auf Ideen kam, die meine empfindsame Sicht der Dinge erschütterten
Und was hatten sie dazu zu sagen?
Was in den folgenden Wochen passierte
Paris zum Zweiten
Warum ich deprimiert war und ins Elend stürzte
Die folgenschwere ­Entscheidung
Wie ich das ­Kirchenfeld verließ
Das neue Zimmer
Warum ich nicht arbeitete
Ein Porträt des Sarkasmus als Teilzeitjob
Das Rendez-vous
Die Mädchen, die in den Tea Rooms arbeiten,
Warum die Herren so empfänglich sind
Warum die hübschen ­jungen Leute nicht heiraten
«Aber warum lernen nicht mehr ­Männer und Frauen, die unter solch ­unglücklichen ­Umständen heiraten, sich zu lieben und sich ­aneinander zu gewöhnen – ­gemeinsam?»
«Diese Erklärung kann unmöglich auf alle Berner zutreffen!»
Jetzt höre ich Sie sagen,
Ein Essay über menschliches Verständnis
Was der Tag bringt
Topografie
Flora und Fauna
Die Stadt
Der Hang, sich übertrieben dick ­anzuziehen, beispielsweise
Die Schweizer ­«Bewegung»
Die wichtigsten ­Wörter des Schweizer ­Vokabulars
Trotzdem kann ich es nicht oft genug wiederholen
Die Schweiz ist neutral
Eine fingierte kleine Geschichte der Schweiz, die vieles auf den Punkt bringt und sich von Skeptikern und ­Pedanten durch die Lektüre einer ­offiziellen­Geschichte der Schweiz ­überprüfen ließe, was ich mit Sicherheit noch nie getan habe und ­wahr­scheinlich auch nie tun werde
Eine interessante Auswirkung, die ­dieser Umstand auf Frauen hat
Eine interessante Auswirkung, die dieser Umstand auf das Konzept der Nächstenliebe hat
So wie ich Willis James meine ­Bonbons ­schenkte, als ich ein ­kleiner Junge war
Eine interessante Auswirkung, die dieser ­Umstand auf die Kunst hat
… die meisten Schweizer Künstler die Schweiz ­verlassen, um berühmt zu werden
Aber warum rege ich mich so darüber auf
… bei dessen Auftritt etwas Merkwürdiges ­geschah
Eine Zehn-Zeilen-Kadenz
«Abenddämmerung …»
Ich blickte erneut auf die Stadt
Warum ich mir beim ­Anblick der Stadt vom Hügel der Schosshalde aus Sorgen machte
Nach dem «negativen» ein «positives» Ereignis:
Und kurz darauf ein ­«posi-negatives» Ereignis:
Dann zupfte die ­goldene Ironie wieder an meinem Ärmel
Das Tram nach Wabern,
Eine Parabel
Eine weitere Parabel
Und dann, ein ­Teils-teils-Erlebnis
Vor meinen Augen verwandelte sich die Stadt ständig in etwas anderes!
Der Plan
Und ich sann über ein paar banalere Alternativen nach
Ich hatte an den Vorschlag gedacht
Eine Botschaft an ­General Guisan
Es ist so leicht wie eins, zwei, drei
Black Bern
Martin Bieri
«A city whiter than any American city I know of»
«A mere thought of myself»
«The world is white no longer»

Der ernstere Teil

«Oh, ich weiß schon, was dir zu Paris einfällt», begann ich. «Die Liebe, der Zauber, Liberté, Fraternité, Égalité! Der Louv­re, Montmartre und all das. Ich war schon überzeugt, bevor ich überhaupt da war. Es heißt, Paris sei der Ort, wo alle gu­­ten Amerikaner nach dem Tod enden. Ich war auf dieses Himmel­reich genauso gespannt wie meine Landsleute. Aber nachdem ich einen ganzen Tag vergeblich versucht hatte, im Quartier Latin ein Hotelzimmer zu bekommen, weil man mich für einen Nordafrikaner hielt, musste ich meine anfängliche Meinung revidieren …»

«In Paris!», riefen meine Freunde aus.

«In Paris!», erwiderte ich triumphierend. «Ich lernte ein paar nordafrikanische Studenten kennen. Die erklärten es mir. Sie lebten schon seit vielen Jahren dort, sie hatten keine Sprachprobleme und waren zumindest auf dem Papier Franzosen, also mussten sie es wissen …»

«Du hast einen Komplex!», riefen meine Freunde wie aus einem Mund.

«Wahrscheinlich», räumte ich ein. «Ich hatte viele Komplexe. Trotzdem verstehe ich nicht, warum ich es so schwer hatte, ein Zimmer zu bekommen. Deshalb machte ich ein Experiment …»

«Was für ein Experiment?», fragte der junge Mann, der diese Unterhaltung angeregt hatte.

«Nun, ich stand am Schalter des American Express, als eine recht hübsche junge weiße Amerikanerin hörte, wie ich Französisch sprach und mir ein Kompliment machte. Ich bedankte mich und verwickelte sie in ein Gespräch.

‹Was machst du hier in Paris?›

‹Ich bin Journalistin. Ich hoffe, dass ich mit meinen Artikeln für die Herold Tribune meinen Urlaub finanzieren kann. Früher habe ich für eine kleine Zeitung in meiner Heimatstadt in Ohio geschrieben. Und du?›

‹Ach, ich würde auch gern eine Weile in Paris verbringen und schreiben. Aber es sieht nicht besonders gut aus; bis jetzt habe ich es nicht geschafft, ein Hotelzimmer im Quartier Latin zu bekommen. Woanders will ich nicht wohnen. Jedes Mal heißt es, man habe keine Zimmer frei. Aber das glaube ich nicht. Bestimmt hat es mit meiner Hautfarbe zu tun und dem, was sie über meine vermeintliche Herkunft aussagt.›

‹Du glaubst wohl, du bist noch immer in Amerika!›, lachte sie. ‹Das hier ist Paris!›

‹So heißt die Stadt, stimmt›, entgegnete ich, ‹aber in Amerika wäre es zu diesem Durcheinander gar nicht gekommen, jedenfalls nicht da, wo ich herkomme, denn dort hätte ich ein weißes Hotel gar nicht erst betreten!›

‹Ich bin ganz sicher, dass du dich irrst, und ich kann es dir beweisen!›

‹Wie denn?›

‹Indem ich in denselben Hotels nachfrage wie du.›

Ich hatte nichts anderes vor, also willigte ich ein und klapperte den ganzen Vormittag mit ihr das Viertel erneut ab. Ich zeigte ihr das jeweilige Hotel und wartete an der Ecke, während sie nach einem Zimmer fragte. Und jedes Mal hätte sie nicht nur ein Zimmer bekommen, sondern sich auch noch eins aussuchen können.

‹Ich verstehe das nicht›, sagte sie. ‹Trotzdem darfst du deswegen nicht allzu skeptisch oder verbittert sein.›

‹Ach wo, ganz bestimmt nicht›, sagte ich. Und dann äußer­ten wir beide die Hoffnung, dass am Ende alles gut würde, sie die Artikel für den Herold Tribune schreiben könne und ich ein Zimmer finden und meine Karriere als Schriftsteller beginnen würde. Anschließend tranken wir noch einen Kaffee zusammen und verabschiedeten uns.»

Das beschäftigte meine Freunde für eine Weile, dann konnte ich mit meiner Geschichte fortfahren, ohne dass sie mich unterbrachen.

«Am Ende fand ich tatsächlich ein Zimmer, in der rue Monsieur le Prince, im Quartier Latin. Es war ein winziges Loch, das auf einen dunklen Alkoven mit Oberlicht hinausging. Durch die fadenscheinigen, schmutzig-grauen Gardinen fiel kaum Licht in den Raum. Der Boden des Alkovens bildete das Glasdach des Foyers und war mit Abfällen, vergilbten feuchten Zeitungen, schmuddeligen Lumpen und Pfützen verdächtig aussehender Flüssigkeiten bedeckt. Der ganze Flur stank nach Pissoir. In meinem Zimmer gab es ein Bett, einen kleinen Tisch mit einer billigen Holzlampe statt einer Flasche mit Kerze und einen Stuhl. Es hatte weder einen halb zerfallenen Kamin noch eine dekadente Geliebte, die mich hätte trösten können. Die Atmosphäre war muffig und deprimierend. Die Laken auf dem Bett waren klamm. Als ich mich reinlegte, hatte ich das Gefühl von Pilzen an einem Baum. Es gab weder ein Kopfkissen noch eine Bettdecke, und es war zwar April, aber kalt genug für ein Holzfeuer. Das winzige Licht, eine nackte gelbe Glühbirne an der Decke, war so schwach, dass ich nicht mal das einzige Buch, das ich dabeihatte, lesen konnte, Homers Odyssee. (Die Holzlampe funktionierte nicht).

Ich beschloss, ein Bad zu nehmen und erfuhr, dass das erst am folgenden Abend möglich war und ich in Zukunft dieses Privileg im Voraus anmelden musste. Ein Bad kostete hundertfünfzig Francs extra, Seife nicht inbegriffen. Als es dann so weit war, ging ich vor Kälte zitternd zum Badezimmer im obersten Stock des Gebäudes und musste zu meinem Kummer feststellen, dass die Wanne nur halb so groß war wie eine normale Badewanne. Ich würde aufrecht sitzen und mich so waschen müssen. Ich würde mich nicht der Länge nach ausstrecken und lange und genüsslich im heißen Wasser aalen können. Und jetzt frage ich euch, liebe Hedonisten, für die ein heißes Bad gleich nach der beglückenden Umarmung eurer Liebsten kommt, was in aller Welt könnte schlimmer sein als das? Abgesehen von dem, was mich als Nächstes erwartete: Das Wasser war nur lauwarm! Das schlug dem Fass den Boden aus. Nach dem Baden beschwerte ich mich beim Hotelmanager, der meine Empörung mit einem kühlen, zynischen Lächeln quittierte. Dann äußerte er etwas, was ich nicht verstand, das sich aber so anhörte, als bäte er den lieben Gott um Geduld, um die Prüfungen seines unglückseligen Lebens meistern zu können.

Zitternd kehrte ich in mein Zimmer zurück. Ich hatte Hunger. Aber dann dachte ich, wie grässlich es wäre, wenn ich mich jetzt anziehen und durch eine Straße nach der anderen laufen müsste, bis ich ein preiswertes Restaurant fand, um mir dann den Kopf über eine Karte zu zerbrechen, die ich nicht einmal lesen konnte, und da verging mir der Appetit. Und weil ich im Halbdunkel meines Zimmers auch nicht lesen konnte, beschloss ich, mich hinzulegen. Ein bisschen Schlaf würde mir guttun, sagte ich mir. Schließlich war ich ja nur ein bisschen müde. Nach einem erquickenden Schlaf würde ich am nächsten Morgen frisch und fröhlich aufwachen. Also packte ich alles, was ich im Zimmer finden konnte, um mich warm zu halten, auf das Bett und kroch unter die feuchten Laken. Aber die Kühle drang trotzdem herein. Und die Matratze hing durch. Ich bekam Kopfschmerzen. Als sich endlich der erste verlockende Anflug von Wärme einstellte, merkte ich, dass ich auf die Toilette musste. Ich zog ein oder zwei Muskeln zusam­men und beschloss, zu warten, bis es vorbeiging.

Ich war fast eingeschlafen.

Da brach unten auf der Straße plötzlich Gelächter aus: ein Mädchen und ein Junge, oder zwei Mädchen und ein Junge oder vielleicht zwei Jungen und ein Mädchen. Ich hörte Schritte auf dem Flur. Sie kamen an meinem Zimmer vorbei und blieben kurz stehen. Sie küssten sich. Dann gingen sie weiter. Das Licht aus dem Zimmer über mir fiel in den Alkoven, und ich sah ihre Schatten an der Wand hin und her tanzen. Dann erlosch das Licht.

Jetzt werde ich schlafen, dachte ich. Und dann hörte ich ein neues Geräusch, das in Wirklichkeit nicht neu war, sondern ziemlich alt. Die Sprungfedern im Bett über mir began­nen zu quietschen, begleitet von Stöhnen, unterdrücktem Gelächter und unverständlichem Murmeln, auf das eine gera­dezu quälende Stille folgte. Nach einer Weile wurde diese Stille vom Geräusch zweier nackter Füße über mir unterbro­chen: Patsch, patsch, patsch, vom Bett zur Tür, den Gang entlang, bis irgendwo in der Dunkelheit ein Scharnier quietschte. Es folgte ein leises, pieselndes Plätschern, das Gurgeln der Kette und das Rauschen der Spülung. Dann patsch, patsch, patsch, ging es den Gang zurück, von der Tür zum Bett. Und zu den quietschenden Sprungfedern.

Jetzt werde ich schlafen, dachte ich. Ich drehte mich mit dem Gesicht zur Wand und zog mir das Laken über die Ohren. Erneut ächzte das Bettgestell. Und wieder patsch, patsch, patsch hörte ich nackte Füße über mir, aber leiser, weicher, vom Bett zur Tür und den Gang entlang. Dann das Plätschern von Wasser, ein schneller dünner Strahl, das Gurgeln des Abzugs, das Rauschen der Spülung und dann: Patsch, patsch, patsch, zurück über den Gang, leise, weich, von der Tür zum Bett. Das Ächzen des Bettes, wieder und wieder, unter der Last des endlosen Hin und Hers. Das Licht erlosch. Endlich wurde es still.