Epub-Version © 2021 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert
Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.
Internet: https://ebooks.kelter.de/
E-mail: info@keltermedia.de
Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74098-056-6
Gertraud Bergen sah Dr. Norden an.
Sie wirkte bedrückt und ratlos. »Sie müssen jetzt unbedingt einmal an sich selbst denken«, sagte Dr. Daniel Norden energisch, wenn auch voller Mitgefühl.
»Wenn das so einfach ginge«, flüsterte Gertraud.
»Es muß gehen«, sagte Daniel Norden bestimmt. »Ihre Schwiegertochter wird es lernen, sich um die Kinder und den Haushalt zu kümmern. Sie kann es nicht immer als selbstverständlich hinnehmen, daß Sie alle Arbeit tun und dabei Ihre Gesundheit ruinieren.«
Er kannte die Verhältnisse bei den Bergens zur Genüge. Dr. Johannes Bergen hatte es seinerzeit gut gemeint, als er seine Mutter in den neuerbauten schönen Bungalow holte. Er wollte ihr, die er sehr liebte und der er viel verdankte, einen geruhsamen Lebensabend im Kreis der Familie verschaffen. Seine kapriziöse Frau Karina sah das anders und machte für sich das Beste daraus. Sie überließ so nach und nach sowohl die Fürsorge der beiden Kinder Corinna und Mark als auch den Haushalt der Schwiegermutter und hatte so viel Zeit, sich ihren Interessen zu widmen.
»Ich könnte ja mal mit Ihrem Sohn reden«, warf Dr. Norden vorsichtig ein.
Gertraud schüttelte den Kopf. »Johannes hat genug um die Ohren und arbeitet von früh bis spät. Er soll wenigstens zu Hause seine Ruhe haben.«
Dr. Johannes Bergen hatte eine Spitzenfunktion in einem Elektronik-Konzern und war entsprechend gefordert.
Nun wurde es Dr. Norden zuviel. »Auch wenn ein Mann beruflich stark engagiert ist, hat er die Pflicht, sich um die Belange seiner Familie zu kümmern. Das geht mir nicht anders.«
»Ich möchte meinem Sohn keine Schwierigkeiten machen.«
»Sie machen ihm keine Schwierigkeiten, wenn Sie endlich an Ihre Gesundheit denken! Und dazu ist es jetzt höchste Zeit, denn die Untersuchungen sind nicht zu meiner Zufriedenheit ausgefallen. Ihr Herz ist nicht in Ordnung, die Nierenfunktion muß gründlich überprüft werden. Sie müssen dringend zu einem Check up in die Klinik gehen. Ich kann Ihnen Dr. Behnisch empfehlen, er ist mein Freund, und ich könnte Sie schon avisieren.«
»Gut«, sagte Gertraud. »Ich rufe Sie an.«
»Aber bald«, mahnte Dr. Norden, befürchtete aber, so schnell nichts von ihr zu hören. Wie kann man dieser Frau nur helfen, fragte er sich. Aber nun konnte er sich nicht mehr weiter mit ihr beschäftigen, denn Wendy brachte den nächsten Patienten herein. Das Wartezimmer war voll.
Am Abend sprach er mit Fee über diesen Fall. Die Kinder schliefen, nachdem sie mit dem Papi gespielt und geschmust hatten. Die Zwillinge Jan und Dèsirée waren außer Rand und Band gewesen, sie entwickelten sich zu den reinsten Temperamentsbündeln mit umwerfendem Charme. Anneka dagegen war das Schmusekätzchen der Familie. Die »Großen«, Danny und Felix, waren schon verständige Jungen.
Daniel war stolz auf seine Kinderschar, die ihm soviel Freude machte. Gewiß – es gab auch Probleme, wo gab es die nicht, aber er und Fee waren verständige Eltern. Die Kinder konnten mit ihnen über alles reden und taten es auch.
Nun aber saß er mit Fee zusammen, und das genossen beide. Sie waren ein harmonisches Ehepaar, wie es selten geworden war. Auch er konnte mit seiner Frau über alles reden, oft suchte er ihren Rat.
Als er über die Familie Bergen sprach, zog Fee die Brauen hoch. »Karina Bergen kenne ich, wie treffen uns gelegentlich beim Friseur. Sie ist ziemlich oberflächlich, wichtig ist ihr nur ihre Freiheit. Die Kinder überläßt sie frohgemut der Omi. Das jüngere der beiden Kinder ist übrigens gehbehindert, es soll mit besonderer Liebe an der alten Dame hängen. Das Kind paßt anscheinend nicht zu Karinas Prestigeempfinden. Ich kann verstehen, daß sich Frau Bergen ungern von der Familie entfernt, sie wird vor allem von den Kindern gebraucht und von der Schwiegertochter so richtig ausgenutzt. Sie müßte sich einmal richtig durchsetzen, aber wie kann man ihr dabei helfen?«
»Uns muß was einfallen, Feelein. Sie ist nicht gesund«, sagte er und nahm seine Frau in die Arme.
Dann dachten sie nur noch an sich.
Die Nordens ahnten nicht, daß sie sich umsonst Sorgen machten.
*
Daniel staunte, als schon zwei Tage später Frau Bergen anrief. Sie sei bereit, in die Klinik zu gehen. Ob Dr. Norden alles veranlassen könne?
Er konnte und tat es nur allzu gern.
Die Sprechstunde war zu Ende, und seine Sprechstundenhilfe Wendy legte ihm zwei Mappen heraus von Patienten, die von Dr. Norden in die Behnisch-Klinik überwiesen worden waren und über die er heute mit Dieter Behnisch sprechen wollte.
»Legen Sie mir bitte die Unterlagen von Frau Bergen heraus. Die nehme ich auch gleich mit.«
Dr. Behnisch runzelte die Stirn, als er später die Befunde von Frau Bergen durchsah. »Da liegt aber einiges im argen.«
Dr. Norden hatte ihm die Situation der Patientin geschildert. Dieter würde sich um sie besonders kümmern, und Daniel war gespannt, aus welchem Anlaß sie sich so plötzlich zu dem Klinikaufenthalt durchgerungen hatte.
»Wie geht es denn deinem Fernsehstar?« fragte Daniel.
Dieter Behnisch runzelte erneut die Stirn. »Sie macht mir immer noch Sorgen. Aber sie ist endlich aus dem Koma erwacht, das läßt uns hoffen.«
Cordula Bürgner war nicht die erste prominente Patientin, die die Behnischs betreuten. Ihre Klinik war über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt.
»Es ist eine dramatische Geschichte«, sagte Daniel. Er hatte sie von Anfang an verfolgt.
»Wir sehen uns dann, wenn morgen etwas Besonderes mit Frau Bergen ist…«
»…sage ich dir Bescheid.«
Dieter Behnisch und Dr. Norden verabschiedeten sich. Die Zeit war knapp.
*
Cordula Bürgner nach drei Monaten aus dem Koma erwacht!lautete die Schlagzeile eines Boulevardblattes. Sie war fettgedruckt.
Dr. Jenny Behnisch hatte die Zeitung auf dem Schreibtisch liegen, und als Dr. Dieter Behnisch ihr Zimmer betrat, deutete sie darauf.
Sofort verdüsterte sich seine Miene. »Wer konnte da mal wieder den Mund nicht halten?« fragte er unwillig. »Jetzt werden wir uns vor Reportern nicht retten können. Es darf aber niemand zu der Patientin, auch die Verwandten nicht, bis sie ansprechbar ist und es selbst verlangt.«
»Dr. Marten hat schon angerufen, wann er dich sprechen kann«, sagte Jenny.
»Hast du ihm einen Termin gegeben?«
»Er hat es sehr dringend gemacht. Er kommt um elf Uhr.« Jenny sah ihren Mann fragend an, aber er nickte.
»Er ist schließlich ihr Anwalt und ein Freund des Hauses«, meinte er nur. »Ich gehe jetzt zu ihr.«
Er hatte nicht gelesen, was da gedruckt stand. Niemand wußte seit drei Monaten über Cordula Bürgner besser Bescheid als er. Daß sie überhaupt noch lebte, verdankte die junge Frau ihm.
Vor drei Monaten hatten andere Schlagzeilen über sie und den schweren Unfall berichtet, der das Leben des bekannten Fernsehstars verändern sollte. Sie hatte mit ihrem Mann, dem Fabrikanten Thomas Bürgner, und ihrem dreijährigen Sohn Ulrich einen Skiurlaub in der Schweiz verbracht. In ihrer Privatmaschine, die von Thomas Bürgner selbst geflogen wurde, hatten sie den Rückflug angetreten. Wegen eines Motorschadens, der noch immer Rätselraten verursachte, hatte die Maschine notlanden müssen, aber es war eine Bruchlandung geworden, bei der das Ehepaar schwerste Verletzungen erlitten hatte. Der kleine Ulrich war wie durch ein Wunder mit leichteren Verletzungen davongekommen.
Thomas Bürgner war noch am selben Tag gestorben, Cordulas Leben in der Behnisch-Klinik gerettet worden, aber sie lag seither im Koma. Die Verletzungen, so schwer sie auch waren, heilten, ihr Herz hielt allen Belastungen stand. Sie wurde künstlich ernährt, es wurde alles für sie getan, was ärztliche Kunst und Medikamente vollbringen konnten. Dr. Behnisch gab die Hoffnung nicht auf.
Sein Einsatz sollte belohnt werden!
Vor zwei Tagen hatte Cordula Bürgner die Augen aufgeschlagen. Sie hatte ihn angesehen und wohl auch erkannt, aber es war noch kein Laut über ihre Lippen gekommen, nur ein leises, schmerzvolles Stöhnen. Dr. Behnisch wußte, daß man ganz behutsam vorgehen mußte, denn ein neuer Schock konnte alles bisher Erreichte zunichte machen.
Er war erzürnt, daß die Öffentlichkeit schon informiert worden war, und Schwester Nora sah es ihm an, daß er gereizt war. Natürlich hatte sie die Zeitung auch schon gelesen.
»Wer hat wohl geschwätzt?« fragte Dieter Behnisch streng.
»Ich weiß es nicht, von uns will es niemand gewesen sein. Aber eine unbedachte Äußerung kann Wellen schlagen. Gestern haben wir Frau Lang am Blinddarm operiert. Ihr Mann ist bei der Zeitung.«
»Bei dieser Zeitung nicht, und er wird der Konkurrenz keine Informationen geben«, sagte Dieter Behnisch nachdenklich. »Aber wie ist es mit Lernschwester Ulla? Sie ist doch so eine kleine Wichtigtuerin.«
»Ich werde sie mal ins Gebet nehmen«, erklärte Schwester Nora.
»Jetzt ist nichts mehr zu ändern. Jedenfalls wird niemand zu der Patientin gelassen! Und ich will nicht gestört werden, solange ich bei ihr bin.«
Cordula lag mit geschlossenen Augen im Bett, aber als Dr. Behnisch nach ihrer Hand griff, hoben sich langsam ihre Lider.
»Wir kennen uns, Frau Bürgner«, sagte er. »Sie hatten einen Unfall.«
Sie schloß die Augen und öffnete sie wieder, was wohl ein Nicken, das ihr nicht möglich war, ersetzen sollte.
Ein kläglicher Laut kam über ihre Lippen. Als »Ja« konnte man es nicht deuten, aber es war die Bestätigung, daß sie nicht reden konnte. Es stimmte ihn besorgt. Aber hören konnte sie anscheinend. Er wollte die Bestätigung haben.
»Sie können mich verstehen, Frau Bürgner? Schließen Sie wieder kurz die Augen, und wenn Sie etwas nicht verstehen, tippen Sie auf meine Hand.«
Sie verstand ihn, aber ihrem gequälten Blick entnahm er, daß sie auch Fragen stellen wollte. Erfreulich war, daß ihre Gehirnzellen arbeiteten. Ihr Zeigefinger zeichnete jetzt ein »U« auf die Bettdecke. U für Ulrich… so deutete er es.
»Ihrem Sohn geht es gut. Er befindet sich bei Ihrer Schwester.«
Ihm schien es, als wäre sie erschrocken, und sie wurde auch unruhig. Was das bedeuten sollte, konnte er sich nicht erklären, aber dann kam es ihm in den Sinn, daß sie ja noch gar nicht wußte, daß ihr Mann tot war. Dr. Behnisch befand sich jetzt in einem Zwiespalt.
»Erinnern Sie sich an den Unfall?« fragte er. Sie bewegte leicht verneinend den Kopf, das ging wohl leichter als das Nicken.
»Das Flugzeug mußte notlanden, aber es ging zu Bruch.« Ihre Augen weiteten sich. Ihre Finger preßten sich in seinen Handrücken.
»Ulrich erlitt nur leichtere Verletzungen«, erklärte Dr. Behnisch stockend. »Ihr Mann hat nicht überlebt.«
Sie sah ihn jetzt mit einem Blick an, der Bände sprach, aber nicht von Schmerz und Trauer. Das berührte ihn seltsam.
Er ergriff jetzt ihre beiden Hände, in denen noch nicht viel Leben war, aber sie bebten jetzt.
»Ihr Zustand wird sich durch eine besondere Therapie weiterhin bessern, Frau Bürgner. Sie werden sicher auch bald sprechen können. Sicher wollen Sie Ihren Sohn sehen.«
Sie schloß die Augen, und nun kamen Tränen. Dr. Behnisch tupfte sie behutsam ab.
»Ich werde dafür sorgen, daß er Sie in ein paar Tagen besucht. Er befindet sich jetzt in Garmisch bei Ihren Verwandten.«
Ein trockenes Schluchzen schüttelte sie, und ihm wurde bange.
»Sie dürfen sich jetzt nicht aufregen, Frau Bürgner. Je schneller Sie gesund werden, desto eher werden Sie wieder mit Ihrem Kind zusammen sein. Sie müssen jetzt mithelfen. Sie können es!«
Da nickte sie, als wolle sie beweisen, daß sie nicht resignierte.
*
Schwester Nora setzte sich dann zu Cordula ans Bett, bis diese ruhig schlief. Sie bekam jetzt besondere Injektionen, die ihre Widerstandskraft stärken sollten. Sie zeigten bei ihr eine fantastische Wirkung. Dr. Behnisch rechnete es ihnen zu, daß Cordula aus dem Koma erwacht war. Aber was bedeutete die Angst, die in ihren Augen zu lesen gewesen war? Angst um ihr Kind? Glaubte sie es nicht, daß Ulrich lebte?
Dr. Behnisch war jetzt froh, daß Dr. Marten sich angemeldet hatte. Er beschloß, sich für ihn Zeit zu nehmen. Er nahm an, daß Dr. Marten Cordula besser kannte als sonst jemand. Er hatte sich auch laufend nach ihrem Befinden erkundigt, während Joana Heeren ihre Schwester anscheinend schon abgeschrieben hatte. Bei ihr lebte Ulrich. Sie selbst hatte keine Kinder und war mit einem Gastronom verheiratet.
Bisher hatte sich Dr. Behnisch um die Familienverhältnisse der schönen Schauspielerin keine Gedanken gemacht, aber jetzt ging ihm manches durch den Sinn.
Auf die Nachricht vom Tod ihres Mannes hatte Cordula starr reagiert. Es schien ihr auch nicht zu behagen, daß ihr Sohn jetzt bei ihrer Schwester lebte.
Dr. Behnisch hatte viel Lebenserfahrung, und er war ein guter Psychologe. Er konnte in den Gesichtern seiner Patienten lesen. Das mußte er auch können, denn viele verschlossen Schmerz und Kummer in sich und gefährdeten so ihre Genesung. Er machte jetzt seine Visite und konnte feststellen, daß Lisa Lang sich schon wieder erholt hatte von der Operation und viel unternehmungslustiger war, als sie eigentlich sein sollte.
Sie hatte ein Einzelzimmer. Mit ihr konnte er sich unterhalten. Sie hatte auch etwas auf dem Herzen.
Sie hatte nämlich auch die Schlagzeilen gelesen. »Ich möchte wissen, wie das so schnell publik werden konnte«, sagte sie. »Zu der Zeitung haben Sie gewiß keine Verbindung, Herr Doktor, oder?«
»Ich bin sehr verärgert«, gab er zu, »aber ich weiß nicht, wo die undichte Stelle ist.«
»Frau Frankl vielleicht? Sie liegt noch hier. Mein Mann hat es mir gesagt. Er hat ihren Schwager in der Halle getroffen, und der verkauft alles, was er nur in die Ohren kriegt. Aus zwei Worten macht er gleich eine wilde Story.«
»Danke für den Hinweis, aber jetzt ist es nun mal passiert. Es wird niemand an Frau Bürgner herankommen.«
»Das ist ja auch zu tragisch. Ich habe sie ein paarmal bei Premieren getroffen. Sie ist eine so charmante, geistreiche Frau gewesen, wirklich überhaupt nicht eingebildet! Verstanden hat man es nur nicht, daß sie ausgerechnet Thomas Bürgner geheiratet hat.«
»Warum meinen Sie das?«
»Er war doch nur ein eiskalter Geschäftemacher. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, daß eseine Liebesehe war.«
Lisa Lang war keine Plaudertasche, sie sagte nur, was ihr in den Sinn kam. Sie war eine sehr sympathische Frau, und daß sie ihren Mann liebte und er sie, war offensichtlich. Daran zweifelte niemand. Und Lisa Lang erklärte Dr. Behnisch, daß sie spätestens am Samstag zu Hause sein wollte.
Es war dann bald elf Uhr. Dr. Behnisch hatte gerade Zeit, eine Tasse Kaffee zu trinken und Schwester Nora zu sagen, daß sie Frau Frankl mal ein bißchen auf den Zahn fühlen solle.
»Da fällt mir ein, daß sie mich heute schon aushorchen wollte wegen Frau Bürgner, aber ich sage nichts, das wissen Sie doch.«
»Die anderen haben aber auch gefälligst den Mund zu halten. Frau Bürgner ist für alle tabu. Nichts wird geredet.«
»Ich weiß Bescheid und werde alle anderen Schwestern dementsprechend unterrichten«, versicherte Nora.
Auf Nora konnte er sich verlassen, aber für wen sonst konnte er schon die Hand ins Feuer legen? Cordula Bürgner war nicht nur prominent, sie war auch ein interessanter Fall.
Seine Sekretärin meldete ihm Dr. Marten, und nun hoffte Dr. Behnisch, mehr über Cordula Bürgner und ihren Mann zu erfahren.
Constantin Marten, Rechtsanwalt und Syndikus der Bürgner AG, ungefähr vierzig Jahre und eine recht markante Erscheinung, wirkte sehr ernst.
Dr. Behnisch fand ihn sympathisch, denn es war nicht ihre erste Begegnung. Er war schon öfter hier gewesen und hatte sich eingehend nach Cordulas Befinden erkundigt.
»Stimmt es, was in der Zeitung steht, Dr. Behnisch?« fragte er.
»Ich muß gestehen, daß ich nur die Schlagzeilen gelesen habe. Ja, es stimmt, daß Frau Bürgner aus dem Koma erwacht ist, aber wir rätseln, durch wen diese Tatsache bekannt wurde. Jetzt ist es nicht mehr zu ändern, aber wir schirmen die Patientin ab. Besuch darf sie erst empfangen, wenn sie ihre Zustimmung gibt. Aber vorerst kann sie noch gar nicht sprechen.«
»Weiß sie, daß Thomas tot ist?« fragte Dr. Marten.
»Ich habe es ihr gesagt, und ich habe ihr auch gesagt, daß Ulrich lebt. Auf den Tod ihres Mannes hat sie nicht reagiert, als ich aber sagte, daß Ulrich bei ihrer Schwester sei, begann sie zu zittern. Das finde ich eigenartig.«
»Es ist ihre Halbschwester, und an sich haben die beiden Frauen sich nie besonders gut verstanden.«
»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir mehr erzählen würden. Es kann für die Therapie nützlich sein. Wir wollen nichts falsch machen. Gerade wenn sich ein Patient nicht richtig artikulieren kann, ist es wichtig, wenn man ihm weiterhelfen kann – aber auch nichts Falsches sagt.«
»Nun, ich werde Ihnen sagen, was ich weiß: Cordula und Joana hatten einen Vater, aber zwei verschiedene Mütter. Cordulas Mutter war eine sehr vermögende Frau, und sie hielt den Daumen auf ihr Geld. Sie trennte sich von Cordulas Vater schon nach dreijähriger Ehe und heiratete wieder einen sehr reichen Mann. Irgendwie hatte es der Vater fertiggebracht, das Kind zugesprochen zu bekommen. Cordula hing wohl auch an ihm, soviel ich weiß. Jedenfalls noch bis zu dem Tag, an dem er wieder heiratete. Kurze Zeit später kam Joana zur Welt. Wie sich Cordula verhielt, weiß ich nicht, jedenfalls kam sie zu ihrer Mutter zurück, als sie zwölf war und Helenes Mann gestorben war. Sie lebte dann in sehr großzügigen Verhältnissen. Ihre Mutter hatte auch nichts dagegen, daß sie Ballett- und Schauspielunterricht nehmen wollte. Helene war eine sehr lebenslustige und weltoffene Frau.«
»Sie kannten sie persönlich?«
»Nein, mein Vater war ihr Anwalt. Ich kannte sie schon, aber ich war ja damals noch ein Junge. Cordula kenne ich von Jugend an. Als Cordulas Mutter starb, nahm Hollenstedt wieder engeren Kontakt zu dem Mädchen auf. Er dachte wohl auch, er würde von ihrem Vermögen profitieren, denn sie war ja Helenes Alleinerbin, aber Cordula war sehr distanziert zu seiner zweiten Frau und auch zu Joana, die die Ältere glühend beneidete. Ich muß es so sagen, obgleich sie es dann verstand, sich doch bei Cordula einzuschmeicheln. Cordula war großzügig, auch ihrem Vater gegenüber, der bei seinem Tod nicht viel hinterließ. Das Geld bekam alles Joana, so wollte es Cordula. Joana heiratete schließlich den Hotelier Jochen Heeren. Er scheint ziemlich unter ihrem Pantoffel zu stehen. Sie haben sich gleich bemüht, Ulrich zu sich zu nehmen, und sie wurden auch als einzige Anverwandte anerkannt. Ich hätte den Kleinen auch gern zu mir genommen, aber ich bin nicht verheiratet. Ich möchte nicht laut sagen, daß sie damit wohl auch finanzielle Interessen verbindet, aber aus purer Zuneigung hat sie es sicher nicht getan.«
»Und wie war es um die Ehe der Bürgners bestellt? Können Sie dazu etwas sagen?«
Dr. Marten blickte zu Boden. »Mein größter Fehler war, daß ich die beiden miteinander bekanntgemacht habe. Aber ich habe nicht gedacht, daß es zu einer Heirat kommen würde. Doch Cordula war überglücklich, als Ulrich geboren wurde. Ich hätte auch nie geglaubt, daß sie eine so gute Mutter sein würde. Fortan stand das Kind an erster Stelle.«
»Durch Sie haben sich die beiden also kennengelernt…« Dieter Behnisch sah Dr. Marten fragend an.
»Thomas besaß ein Landhaus, sehr idyllisch gelegen. Durch Zufall war es Cordula einmal aufgefallen, und sie fand es als Drehort für einen Film sehr geeignet. Damals dachte er nicht daran, das Haus zu vermieten. Er hatte es ja auch nicht nötig. Cordula hatte mich um Vermittlung gebeten, aber ich hatte eine Absage bekommen. Da wollte sie es selbst versuchen. Was sie sich mal in den Kopf gesetzt hatte, erreichte sie meistens auch. Ich machte sie also mit Thomas bekannt, und er wurde butterweich. Cordula hatte gerade eine ziemliche Enttäuschung erlebt und war wohl empfänglich für seine Art, um sie zu werben. Es wurde sehr schnell geheiratet – auch das machte Schlagzeilen.«
»Um solche Schlagzeilen habe ich mich nie gekümmert«, sagte Dr. Behnisch.
»Thomas hatte ihr das Landhaus zur Hochzeit geschenkt, und er überschüttete sie mit Geschenken. Aber er war krankhaft eifersüchtig. Er war fünfzehn Jahre älter als sie. Sie sollte nur noch für ihn und das Kind da sein. Aber Cordula war korrekt; sie hatte Verträge einzuhalten. Es gab bald Spannungen zwischen ihnen. Man kann wahrhaftig nicht sagen, daß es die ideale Ehe war. Cordula war an sich ein freier, kontaktfreudiger Mensch, sehr kollegial, und sie war auch außerordentlich beliebt. Thomas war das Gegenteil. Er war der Boß, er wollte alles bestimmen. Er wurde auch von den Angestellten mehr gefürchtet als respektiert. Es gefiel ihm schon, daß Cordula dem Namen Bürgner Glanz verlieh, aber es gefiel ihm gar nicht, daß sie in ihrem Beruf mit anderen Männern zusammenkam, die sie bewunderten, die sich wohl auch um sie bemühten. Es kam soweit, daß er so oft wie möglich bei den Filmaufnahmen dabei war, und er wollte sogar die Produktionsfirma kaufen, was ihm aber nicht gelang. Es war der erste längere Urlaub, den sie in der Schweiz verbrachten, der dann so schrecklich endete. Mir ist dieser Unfall unerklärlich. Thomas war ein guter Pilot. Ich bin oft mit ihm geflogen, nach Mailand, nach Brüssel, Hamburg und so weiter. Die Maschine war immer bestens gewartet.«
»Es wurde festgestellt, daß Bürgner neben den anderen schweren Verletzungen einen Herzinfarkt erlitten hatte. Ob erst bei der Bruchlandung oder schon früher, weiß man allerdings nicht. Es muß ja auch alles sehr schnell gegangen sein.«
»Aber man hat einen Motorschaden festgestellt«, warf Constantin Marten ein.
»Mag ja sein, daß er sich darüber aufgeregt hat«, sagte Dr. Behnisch ruhig. »Bürgner hatte schon einen Herzinfarkt hinter sich, und er hatte, laut Autopsie, ein Aneurysma. Die Rupturblutung aus der Aorta wäre auch ohne die anderen Verletzungen tödlich gewesen.«
»Das wußte ich bisher nicht«, sagte Constantin leise.
»Es ist gut, daß wir uns jetzt unterhalten… und daß Sie so offen sind, Dr. Marten. Es hilft mir, die Patientin auch in psychischer Hinsicht besser zu erfassen, wenn es zu Gesprächen kommt. Ich hoffe, daß es keine anhaltende Sprachlähmung sein wird.«
»Ich will nur hoffen, daß Cordula wieder soweit gesund wird, daß sie selbst für ihren Sohn sorgen kann. Ich glaube nicht, daß er bei Joana gut aufgehoben ist. Aber da ist meine ganz persönliche Meinung. Andere kann sie bestimmt täuschen.«
Dr. Behnisch betrachtete ihn nachdenklich. »Sie meinen also, daß das Kind nicht liebevoll genug versorgt wird?«
»Soweit kennt ich Joana, daß für sie nur finanzielle Vorteile zählen, daß sie wohl gar damit gerechnet hat, daß Cordula nicht überleben wird. Dann wäre Ulrich Alleinerbe, und er braucht natürlich Pflegeeltern und einen Vormund.«
Dr. Behnisch runzelte die Stirn. »Das sind natürlich auch Argumente, die Beachtung verdienen.«
»Und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie Cordula bald zu einer Entscheidung über den Aufenthalt des Jungen bringen könnten.«
»Sie wird sich noch monatelang nicht um ihn kümmern können«, erklärte der Arzt. »Es sei denn, man könnte sie in absehbarer Zeit gemeinsam mit dem Kleinen in einem Sanatorium unterbringen. Da Sie der Anwalt und wohl auch beste Freund sind, kann ich Ihnen sagen, daß Frau Bürgner wieder schwanger war… etwa im zweiten Monat. Es könnte sein, daß es sie auch seelisch belasten würde, wenn wir ihr sagen müssen, daß sie das Kind verloren hat.«
Constantin war kreidebleich geworden.
»Sie war schwanger? Mein Gott«, sagte er bebend. »Sie ist so sensibel, Dr. Behnisch. Bitte, seien Sie ganz behutsam.«
»Das ist selbstverständlich.«
Constantin erhob sich geistesabwesend. »Ich darf sie doch hoffentlich wenigstens sehen?« sagte er leise.
»Bei Ihnen mache ich eine Ausnahme. Vielleicht können Sie mit zu einer rascheren Genesung beitragen.«
Davon sollte er am Krankenbett von Cordula Bürgner überzeugt werden, denn als Constantin ihre Hände küßte, schlug sie die Augen auf, und der Hauch eines Lächelns glitt über ihr Gesicht und verklärte es.
»Constantin«, sagte sie, und Dr. Behnisch stand starr vor Staunen, denn dieser Name war der erste Laut, der über ihre Lippen kam. Es war so, als hätte sich ein Kloß in ihrem Hals aufgelöst.
»Du mußt gesund werden, Cordula«, sagte Constantin. »Ulrich braucht dich… und ich auch.«
Seine Augen waren feucht, als er sich aufrichtete und Dr. Behnisch ansah, während Cordula gleich wieder eingeschlummert war.
»Sie hat mich erkannt«, murmelte er, »sie hat meinen Namen gesagt! Jetzt bin ich zuversichtlich.«
»Ich auch«, erwiderte Dr. Behnisch. »Es wäre gut, wenn Sie öfter kommen würden.«
»Jeden Tag, wenn es erlaubt ist.«
*
In Garmisch knallte Joana Heeren ihrem Mann die Zeitung mit der Schlagzeile auf den Tisch, als er mittags heimkam. Sie wohnten nahe beim Hotel in einem Einfamilienhaus.
»Ich habe es schon gelesen«, sagte er rauh, »es wird überall darüber gesprochen. Cordula ist schließlich noch nicht vergessen.«
»Und unsere Träume lösen sich in Wohlgefallen auf«, sagte sie gereizt.
»Deine Träume, Joana«, konterte er, »laß mich aus dem Spiel.«
»Profitiert hättest du aber gern«, zischte sie. »Ich bin wenigstens ehrlich. Meinetwegen hätte sie sterben können.«
»Aber der Junge ist dir doch jetzt schon lästig«, sagte er anzüglich.
»Was fängt man denn schon mit einem Kind an, das geistig zurückgeblieben ist«, sagte sie zornig. »Er redet kaum, er lacht nicht, er starrt mich immer nur so komisch an.«
»Er ist nicht geistig zurückgeblieben. Er hat den Schock noch nicht überwunden, hat Dr. Halmer gesagt.«
»Der redet viel, wenn der Tag lang ist. Er will ja nur mit seiner Therapie verdienen. Als ob ein Kind schon begreift, was autogenes Training und so ein Schmarren ist.«
»Du hast dem Kleinen eingeredet, daß Cordula tot ist. Er kann sich das nicht vorstellen. Das will er wohl auch nicht. Er vermißt auch seinen Vater und die gewohnte Umgebung.«
»Ach was, Kinder vergessen schnell. Er hat einen Gehirnschaden davongetragen, aber die Ärzte wollen davon ja nichts wissen.«
»Und du denkst nur daran, daß er der Erbe ist, wenn Cordula stirbt. Aber sie wird nicht sterben. Sie ist bei den besten Ärzten, und mir ist es so auch lieber.«
»Auf einmal«, sagte sie und drehte ihm den Rücken zu. »Früher hast du auch gesagt, daß ich benachteiligt bin.«
»Da habe ich auch noch nicht alles so genau gewußt. Du hättest mir von Anfang an reinen Wein einschenken müssen, Joana. Ich wußte ja nicht, daß du nur Cordulas Stiefschwester bist… und daß sie ihr Vermögen von ihrer Mutter hat, nicht von eurem Vater.«
»Du hättest mich wohl auch nicht geheiratet, wenn du es gewußt hättest«, stieß sie giftig hervor. »Für mich war Cordula jedenfalls immer meine Schwester.«
»Aber du sähest sie lieber tot«, entgegnete er. »Selber willst du keine Kinder haben, aber von Ulrich willst du profitieren.«
»Ich kann keine Kinder bekommen«, widersprach sie heftig.
»Das willst du mir einreden. Ich werde darauf bestehen, daß du dich untersuchen läßt, und ich kann den Befund verlangen. Jetzt weiß ich ja, worum es dir wirklich geht, da ich sehe, wieviel du für den Jungen übrig hast. Mir kannst du nichts mehr vormachen. Und jetzt…«, er deutete auf die Zeitung, »weiß ich es ganz genau.«
Ihre Augen wurden schmal. »Ich fahre mit Ulrich weg. Er braucht Luftveränderung, vielleicht geht es ihm dann besser. Und du wirst brav sein und deinen Mund halten, sonst könnte es dir plötzlich ganz dreckig gehen, mein Lieber. Ich brauche dich wohl nicht zu erinnern, was ich alles weiß von dir und deinen Grenzgeschäften.«
Und Jochen Heeren verfluchte wieder einmal den Tag, an dem er Joana kennenlernte und sich Hals über Kopf in sie verliebte. Aber natürlich hatte es da auch eine Rolle gespielt, daß sie Cordulas Schwester war, und der Name Cordula Hollenstedt war bekannt.
»Ich fahre mit Ulrich weg«, sagte sie noch einmal.
»Wohin?«
»Ich weiß es noch nicht. Aber ich packe gleich die Sachen.«
Er wagte keinen Widerspruch. Er kannte Joana. Sie würde ihre Drohungen wahrmachen.
»Du solltest alles reiflich überlegen«, sagte er eindringlich. »Man könnte dir daraus einmal einen Strick drehen.«
»Ich weiß, was ich tue«, erwiderte sie zynisch. »Auf deine Ratschläge kann ich verzichten.«
*
Ulrich saß in seinem Zimmer und spielte. Seine Spielsachen waren hergeholt worden, zwar nicht alle, aber doch eine ganze Menge.
Er blickte nicht auf, als Joana eintrat. Er drückte nur seinen Teddy an sich und murmelte etwas vor sich hin.
»Wir fahren weg, Ulrich« sagte Joana.
»Ich will zu Mami«, jammerte der Kleine statt einer Antwort.
»Du kannst nicht zu ihr, das habe ich schon oft gesagt. Wir fahren jetzt irgendwohin, wo es schön ist. Es wird dir gefallen.«
Er schüttelte den Kopf und legte sich auf den Boden, über die Plüschtiere.
»Dann will ich zu Papi«, sagte er.
»Dein Papi ist tot. Du weißt doch, daß ihr mit dem Flugzeug abgestürzt seid.«
Sie hatte es nie verstanden, auf das Kind einzugehen. Sie hatte nicht das geringste Gespür dafür, wie man auf ein Kind eingehen mußte, um Vertrauen zu gewinnen. Sie gab ihm Spielzeug, zu essen, Schokolade und wonach er verlangte, aber mütterliche Zärtlichkeit war ein fremder Begriff für sie.
»Stell dich jetzt nicht so an, wir fahren gleich«, sagte sie.
»Ich will nicht«, stieß Ulrich trotzig hervor.
»Und wenn ich dich zu deiner Mami bringe?«
Er starrte sie an. »Du hast gesagt, sie ist tot«, stieß er hervor.
Es war das erste Mal, daß er so reagierte. »Du hast das falsch verstanden, Ulrich. Der Papi ist tot, aber die Mami liegt immer noch in der Klinik. Sie schläft und kann nicht reden und essen. Das ist fast so wie tot. Sie weiß gar nicht mehr, daß es dich gibt, Ulrich.«
Der Junge preßte die Lippen aufeinander und sagte nichts mehr.
Joana packte zwei Koffer, und die brachte sie gleich zu ihrem Wagen. »Jetzt such dir aus, was du für Spielsachen mitnehmen willst«, sagte sie drängend. »Ich habe doch gesagt, wir fahren zu deiner Mami.«
Das war ein Zauberwort für Ulrich. Er nahm seinen Teddy, das Lämmchen und den Plüschhund und trottete hinter Joana her.
Es war erschütternd, wie entsagungsvoll das Kind gehorchte. Da war kein Trotz, kein Aufbegehren, nur Resignation wie bei einem Menschen, der alles Leid der Welt erlebt hatte.
Ulrich war noch keine vier Jahre alt. Er konnte noch nicht voll begreifen, was sein Leben veränderte, und dennoch ging in seinem kleinen Kopf schon vieles vor sich. Er war ein ganz besonders hübsches Kind, aber er wirkte jetzt wie eine aufgezogene Puppe. Vielleicht dachte er auch, daß nun doch wieder Abwechslung in sein Leben kommen würde. Aber wer hätte schon ergründen können, was wirklich in ihm vorging?
Joana setzte ihn auf den Rücksitz ihres Wagens und schnallte ihn an. Um sein Leben war sie schon besorgt, das wollte sie nicht riskieren, und jetzt dachte sie auch, daß es noch gar nichts besagte, daß Cordula aus dem Koma erwacht war. Ihr Verstand konnte ja gelitten haben, und sie würde vielleicht ewig ein Pflegefall bleiben, wenn sie trotzdem am Leben blieb.
Von ihr sollte man jedoch den Eindruck haben, daß sie alles für Ulrich tat und um seine Gesundheit sehr besorgt war.
»Wann darf ich zu Mami?« fragte Ulrich, als sie unterwegs waren.
»Das weiß ich noch nicht genau. Ich muß erst fragen, Ulrich. Sie wird dich vielleicht gar nicht mehr erkennen, und du sie auch nicht.«
»Ich kenne meine Mami«, erklärte er trotzig.
Joana konzentrierte sich auf die Straße. Erst, als sie schon über der Grenze war – man hatte sie durchfahren lassen, ohne nach dem Paß zu fragen –, entschied sie sich für Seefeld. Da war wenigstens etwas los, da fiel man nicht auf.
Außerdem gab es ein neues Hotel in der Nähe, sehr komfortabel und ein bißchen abgelegen. Das könnte gerade recht sein. Zu sparen brauchte sie ja nicht. Als Betreuerin von Ulrich hatte sie genug Geld bekommen, und für den Jungen brauchte sie nicht viel. Kleidung für ihn war genug vorhanden gewesen. Sie hatte ja alles holen können. Am liebsten wäre sie ja eingezogen in diese luxuriöse Villa, aber sie mußte ja den Schein wahren und allzu nahe wollte sie der Behnisch-Klinik auch nicht sein.
In der Überzeugung, daß Cordula die schweren Verletzungen nicht überleben würde, hatte sich Joana alles schlau ausgedacht. Unter Skrupeln hatte sie noch nie gelitten.
»Da sind viele Berge«, sagte Ulrich, der jetzt interessiert zum Fenster hinausblickte.
»Wo wir hinfahren, ist es schön«, sagte Joana.
»Und Mami ist auch da?«
»Wir können sie noch nicht gleich besuchen, Ulrich. Du mußt Geduld haben.«
»Was ist Geduld?« fragte er.
»Wenn man warten muß.«
»Ich habe schon lange gewartet.«
Soviel auf einmal hatte er in all den Wochen nicht gesprochen. Und es klang gar nicht so, als hätte er einen Gehirnschaden erlitten. Joana schöpfte Hoffnung, daß er nun zutraulicher werden würde. Jetzt wollte sie sich ja darum bemühen, um nicht alles aufs Spiel zu setzen.
»In Garmisch konnte ich die Berge gar nicht sehen«, sagte Ulrich.
»Du wolltest ja nie spazierengehen.«
»Weil immer so viele Leute da waren. Ich mag nicht reden mit Fremden.«
»Aber mit mir kannst du doch reden, Ulrich.«
»Nur, wenn du mich zur Mami bringst.«
»Ich verspreche es dir«, sagte sie.
*
In der Behnisch-Klinik wurde zu dieser Zeit ein fünfjähriger Junge eingeliefert, der Sohn des bekannten Fernseh-Regisseurs André Riedmann. Akute Blinddarmentzündung lautete die Diagnose.
Riedmann war schrecklich aufgeregt. Er wollte auch in der Klinik bleiben, bis der Junge operiert war. Schwester Nora hatte ihn unter ihre Fittiche genommen. Sie konnte am besten Trost spenden.
Dr. Jenny Behnisch stellte fest, daß der kleine Patient in höchster Gefahr schwebte.
»Wenn meinem Sohn etwas passiert, bringe ich sie um!« stöhnte indessen André Riedmann.
»Aber ich habe Ihnen nichts getan«, sagte Nora erschrocken, »und unsere Ärzte können auch nichts dafür, daß es ein akuter Blinddarm ist.«
»Ich meine auch nicht Sie und die Ärzte, sondern meine Frau«, stieß er zornig hervor. »Sie muß ja auf eine Modenschau gehen, anstatt das Fieber ernst zu nehmen. Und diese blöde Trine kocht ihm auch noch Schokoladenpudding.«
Nora seufzte in sich hinein. Ein akuter Blinddarm konnte schon gefährlich werden, wenn der Patient vorher auch noch gegessen hatte, aber aus André Riedmann war nicht herauszubringen, ob der kleine Benjamin etwas gegessen hatte. Er hatte Angst um seinen Sohn, er liebte ihn sehr, das merkte Schwester Nora.
»Wir werden sofort operieren«, sagte Jenny, »der Kleine ist sowieso fast bewußtlos.«
Das Team stand schon bereit. Der Junge wurde in den OP geschoben. Draußen wischte sich Riedmann kalten Schweiß von der Stirn, und Schwester Nora betrachtete ihn besorgt.
»Bitte, beruhigen Sie sich doch, Herr Riedmann«, sagte sie, »unsere Ärzte haben schon schlimmere Fälle hinbekommen.«
»Dem Jungen darf nichts passieren. Ich liebe ihn. Es ist doch alles, was mir bleibt! Meine Frau schert sich doch einen Dreck um uns. Und die Haushälterin…« Er stöhnte auf und rang nach Luft. Er war einem Kreislaufkollaps nahe, und Schwester Nora rief nach Dr. Werner, weil momentan kein anderer Arzt erreichbar war, da alle im OP waren.
Dr. Werner kam eilends herbei, und André Riedmann wurde ins Ärztezimmer gebracht. Er war halb ohnmächtig, aber er murmelte noch: »Helfen Sie meinem Jungen.«
Er bekam ein Kreislaufmittel injiziert, und Nora brachte ihm Mineralwasser. Es dauerte aber zehn Minuten, bis die Injektion wirkte, und indessen war die Operation schon im Gange.
Der Junge wirkte winzig auf dem Operationstisch. Für einen Fünfjährigen war er klein und viel zu zart, wie Dr. Jenny Behnisch feststellte. Die Anästhesie war sehr vorsichtig durchgeführt worden, und Jenny ließ keine Zeit verstreichen. Mit meisterhafter Sicherheit führte sie den Schnitt aus. Als sie an den vereiterten Wurmfortsatz herangekommen war, blickte sie kurz auf.
»Blutdruck?«
»Schwach.«
»Infusion und Blutkonserve bereitstellen«, sagte Jenny. Die Blutgruppe AB hatte André Riedmann noch sagen können. Er war ein Vater, der genau über sein Kind Bescheid wußte.
Die Infusion tropfte, Schwester Ingrid reichte die Instrumente fast lautlos an und war völlig konzentriert. Präzise wie ein Uhrwerk lief alles ab, dann war es geschafft.
»Es war höchste Zeit«, sagte Jenny. Sie war blaß. Man spürte, daß sie innerlich beteiligt war. Es war etwas anderes, ein Kind zu operieren, das am Anfang seines Lebens stand, als einen schon fast hoffnungslosen Fall, bei dem man nichts verlieren, aber alles gewinnen konnte. Bei dem kleinen Benjamin Riedmann hätte es so weit nicht kommen müssen, wenn er richtig beobachtet worden wäre.
Riedmann entspannte sich, als Jenny Behnisch ihm sagte, daß die Operation gut verlaufen sei.
»Aber die Gefahr ist noch nicht gebannt«, erklärte sie. »Der Blinddarm war kurz vor dem Durchbruch.«
»Oh, mein Gott! Hoffentlich geht noch alles gut. Sehen Sie, ich war in Wien zu Aufnahmen, und meine Frau hat es der Haushälterin überlassen, sich um das Kind zu kümmern. Sie ist ein gefühlloser Trampel. Benny sei wehleidig, sagte sie mir ins Gesicht, und wo sich meine Frau den ganzen Tag herumtreibt, weiß ich nicht. Aber es wird alles anders werden, ich habe es beim Leben meines Kindes geschworen.«
Er wollte in der Klinik bleiben, und es wurde ihm auch gestattet. Sonst waren es die Mütter, die blieben, diesmal war es der Vater. Er mußte sich nur noch gedulden, bis er Benny sehen durfte. Der Kleine war auf die Intensivstation gebracht worden.
Langsam konnte André Riedmann wieder klar denken. Jenny hatte Puls und Blutdruck gemessen und konnte mit beiden nicht zufrieden sein, aber André schluckte dann auch, wenn auch widerwillig, zwei Kapseln hinunter.
Schwester Nora war wieder bei ihm. Sie versuchte, ihn auf andere Gedanken zu bringen, als er wieder auf seine Frau zu schimpfen begann. Tessa Riedmanns Name wurde öfter in Gesellschaftsnachrichten erwähnt als der ihres Mannes. Sie war vor einigen Jahren ein Filmsternchen gewesen, aber ein Star war sie nicht geworden. Auch sonst hatte sich André wohl mehr von ihr und dieser Ehe versprochen.
Plötzlich fragte André nach Cordula Bürgner. »Stimmt es, daß sie aus dem Koma erwacht ist?« wollte er wissen.
»Ja, es stimmt, aber sie ist noch nicht ansprechbar.« Nora wollte ihn gern auf andere Gedanken bringen, aber nicht unbedingt über Cordula sprechen und ausgefragt werden.
»Sie ist eine großartige Schauspielerin und eine wundervolle Frau«, sagte er. »Ich hoffe, daß sie wieder ganz gesund wird. Unsere Kinder haben manchmal miteinander gespielt, aber sie lebte ja im allgemeinen sehr zurückgezogen.«
»Wir haben sie sehr ins Herz geschlossen«, sagte Nora nun doch.
»Wissen Sie, wie es ihrem Sohn geht? Man hat ja wenig gehört.«
»Er ist wie durch ein Wunder nicht schwer verletzt worden. Er lebt nun bei Frau Bürgners Schwester.«
»Bei Joana?« Seine Miene sprach Bände. »Sie ist auch so ein Typ wie Tessa, nur auf Vergnügen bedacht«, fuhr er vorwurfsvoll fort. »Entschuldigen Sie, wenn ich so kritisch bin, aber ich weiß, wieviel Liebe Kinder brauchen. Man traut es mir wohl nicht zu, aber mein Kind bedeutet mir mehr als alles andere auf der Welt. Ich müßte morgen eigentlich im Atelier stehen, aber ich sage alles ab, bis Benny wieder gesund ist. Ganz gleich, was passiert.«
»Das ist ja gut gemeint, Herr Riedmann, aber hier können Sie nicht viel ausrichten.«
»Aber wenn Benny die Augen aufschlägt, soll er wissen, daß sein Daddy bei ihm ist. Er weiß doch gar nicht, wo er sich befindet.«
»Ihre Frau wird ja wohl auch kommen«, sagte Nora.
»Das soll sie nicht wagen! Es ist aus, ein für allemal.«
Er hatte Temperament, und er war zornig auf seine Frau. Aber gegen sieben Uhr abends kam sie, sehr echauffiert und besorgt.
Aber da konnte man André Riedmann in Hochform erleben. Er sparte nicht mit Kraftausdrücken. Aber dann war er eiskalt.
»Du kannst gehen«, erklärte er kühl. »Laß dich nicht aufhalten, dir ist dein Vergnügen doch wichtiger als das Kind. Wäre ich nicht früher zurückgekommen, wäre Benjamin jetzt tot. Das verzeihe ich dir nie. Du kannst bitten und betteln, soviel du willst… ich will dich nicht mehr sehen.«
»Wir brauchen uns hier nicht so anzukeifen, André. Laß dir doch erklären… Ich konnte nicht ahnen, daß es der Blinddarm war!«