Die Autorin

NELE NEUHAUS, geboren in Münster / Westfalen, lebt seit ihrer Kindheit im Taunus. Sie ist die erfolgreichste Krimiautorin Deutschlands, ihre Bücher erscheinen außerdem in über 30 Ländern. Neben den Taunuskrimis schreibt die passionierte Reiterin auch Pferde-Jugendbücher und Unterhaltungsliteratur, die sie zunächst unter ihrem Mädchennamen Nele Löwenberg veröffentlichte. Ihre Saga um die junge Sheridan Grant stürmte auf Anhieb die Bestsellerlisten.

Das Buch

Der dritte Teil der Sheridan-Grant-Serie

Im idyllischen Neuengland-Städtchen Rockbridge hat Sheridan Grant in Paul Sutton endlich einen Menschen gefunden, dem sie rückhaltlos vertrauen kann und der sie liebt. Sheridan ist fest entschlossen, all ihre schrecklichen Erlebnisse hinter sich zu lassen und ein neues Leben zu beginnen. Nur ihr Herz wehrt sich mit aller Kraft dagegen.

Kurz vor ihrer Hochzeit wird Sheridan auf brutale Weise von ihrer Vergangenheit, von der Paul nichts ahnt, eingeholt. Sie erkennt, dass sie ausgerechnet die Menschen verleugnet hat, die immer zu ihr gehalten haben: ihre Familie und ihre engsten Freunde auf der Willow Creek Farm. Und dass sie ihren Lebenstraum, Sängerin zu werden, nicht einfach aufgeben will. Sie fährt nach Nebraska zurück, ohne zu ahnen, dass ihre Heimkehr erst der Beginn ihrer größten Reise sein wird: erst zu ihren Wurzeln, dann zum Gipfel des Ruhms und schließlich zu sich selbst.

Nele Neuhaus

Zeiten des Sturms

Roman

Ullstein

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www.ullstein.de

Dieses Buch ist ein Roman. Die Geschichte ist fiktiv, alle Figuren und die Handlung sind von mir frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind zufällig und nicht von mir beabsichtigt. Das betrifft insbesondere Auswirkungen zeitgeschichtlicher Ereignisse, die ich in meinem Roman erwähnt habe.

Originalausgabe im Ullstein Paperback
1. Auflage August 2020
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020
Umschlaggestaltung: www.zero-media.net
Titelabbildung: © FinePic, München; © gettyimages / Pete Ryan; © mauritius images / Panther Media GmbH / Alamy und © mauritius images / Jason Rambo / Alamy
Autorenfoto: © Gaby Gerster
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ISBN 978-3-8437-2293-3

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Widmung

Ich widme dieses Buch allen
Buchhändlerinnen und Buchhändlern,
die in der Corona-Krise im Frühjahr 2020
tapfer durchgehalten und mit tollen Ideen
und großem persönlichen Einsatz
dafür gesorgt haben, dass die Menschen
weiterhin Bücher lesen konnten.
Danke!

Massachusetts

Now those memories come back to haunt me
they haunt me like a curse.


Bruce Springsteen, The River

Rockbridge

Es war einer jener düsteren Januartage, an denen es nicht einmal mittags richtig hell wurde. Am frühen Morgen hatte es angefangen zu schneien, dicke weiße Flocken rieselten aus tief hängenden Wolken und verwandelten das kleine Neuengland-Städtchen Rockbridge in eine Winteridylle wie aus dem Bilderbuch. Im Mittleren Westen, dort, wo ich aufgewachsen war, war der Schnee nie leise und friedlich über das Land gekommen, sondern mit heftigen Blizzards, die von Westen her über die Great Plains heranbrausten und alles unter sich begruben. Temperaturen von mehr als zwanzig Grad unter null waren keine Seltenheit, die Schneestürme rüttelten an Fenstern und Türen und heulten wie ein ausgehungertes Rudel Wölfe. Oft waren wir für Tage von der Außenwelt abgeschnitten gewesen, und zu meinen frühesten Erinnerungen an den Winter gehörte das stete Brummen der Dieselgeneratoren, wenn Sturm und Schnee die Überlandleitungen beschädigt hatten und der Strom ausgefallen war.

Ich holte einen Handfeger aus dem Kofferraum meines Chevy Caprice und kehrte den Schnee von der Windschutzscheibe und den Fenstern. Dann öffnete ich die Tür, setzte mich ins Auto und atmete ein paarmal tief durch. Hinter mir lagen zwei anstrengende Stunden. Monique Sutton, meine zukünftige Schwiegermutter, hatte mich zum Lunch in ihr Haus eingeladen, und ich hatte keine passende Ausrede gefunden, um dieser Einladung zu entgehen. Schon bei unserer ersten Begegnung hatte ich gewusst, dass Monique und ich nicht miteinander klarkommen würden. Alles an dieser Frau reizte mich zum Widerspruch: ihr affektierter Upperclass-Akzent, ihre Arroganz und die besitzergreifende Art, mit der sie Paul behandelte. Wahrscheinlich war sie deshalb so herablassend zu mir, weil sie den Gedanken, eine andere Frau könnte mehr Einfluss auf ihren Sohn haben als sie selbst, unerträglich fand. Sie hielt es für ihr gutes Recht, sich ungebeten in das Leben ihrer fünf erwachsenen Kinder einzumischen, und niemand wagte es, ihr zu widersprechen, denn sie hielt die Zügel in der Familie fest in ihren altersfleckigen Händen. Ihre Vorbehalte mir gegenüber konnte ich teilweise sogar nachvollziehen. Nur acht Wochen nachdem ich in Rockbridge aufgetaucht war, hatte Paul mir, einer mittel- und arbeitslosen Einundzwanzigjährigen aus dem Mittleren Westen, einen Heiratsantrag gemacht, und wäre es damals nach mir gegangen, hätten wir auf der Stelle geheiratet. Doch gegen dieses Vorhaben hatte Monique Sutton vehement und erfolgreich ihr Veto eingelegt. Sie wolle nicht, dass es so aussehe, als ob ihr Sohn mich heiraten müsste, hatte sie mir mitgeteilt. Sie war so erzkatholisch, wie meine Adoptivmutter Rachel Grant methodistisch gewesen war, und deshalb war mein Übertritt zum katholischen Glauben eine Bedingung, die sie gestellt hatte. Paul hatte sich ihr angeschlossen, was mich ein wenig befremdet hatte. Weil es mir aber völlig egal war, ob wir in einer methodistischen oder einer katholischen Kirche oder in einem buddhistischen Tempel heiraten würden, hatte ich ziemlich leichtfertig zugestimmt.

Womit ich jedoch nicht gerechnet hatte, war, dass ich Katechismusunterricht bei einem katholischen Seelsorger nehmen und meinen Taufschein vorlegen musste, ebenso wie meine Geburtsurkunde. Beide Dokumente steckten sicherlich in irgendeinem verstaubten Aktenordner in einem Schrank auf der Willow Creek Farm, und ich hatte keine Ahnung, wie ich an sie gelangen sollte, denn ich hatte vor einiger Zeit den Kontakt zu meiner Familie abgebrochen.

Seufzend ließ ich den Motor an und fuhr los. Um halb vier hatte ich einen Termin im Schneideratelier von Eunice Rodin an der Main Street, um zum ersten Mal mein Brautkleid anzuprobieren. Auf nichts hatte ich nach dem Lunch bei Pauls Mutter weniger Lust, und ich überlegte kurz, die Anprobe zu schwänzen und mich zu Hause in die Badewanne zu legen. Aber dann beschloss ich, es hinter mich zu bringen, denn schließlich wollten Paul und ich uns in knapp acht Wochen das Jawort geben. In einer Nebenstraße fand ich einen Parkplatz und lief mit eingezogenem Genick durch das Schneegestöber an den kleinen Geschäften vorbei Richtung Main Street. Die Türglocke bimmelte, als ich die Glastür des Ateliers öffnete und in die Wärme trat. Ich war die einzige Kundin an diesem Nachmittag, das hatte mir die Schneiderin versprochen, denn mein Hochzeitskleid war Gesprächsthema in ganz Rockbridge, und natürlich sollte es vor dem großen Tag niemand außer mir sehen. Im oberen Stock, in den eine Wendeltreppe führte, ratterte eine Nähmaschine.

»Hallo, Miss Cooper! Ich komme sofort!«, rief jemand von oben.

»Ich habe Zeit. Keine Eile, Mrs. Rodin.« Ich zog Mütze und Handschuhe aus und hängte meinen Mantel an einen leeren Kleiderständer neben der Ladentür.

»Es dauert nur noch ein paar Minuten!«, tönte es wieder von oben. »Ach, Sie werden Augen machen!«

»Ich bin schon gespannt!« Ich setzte mich auf einen der bequemen Stühle im Showroom, nahm mir eine der vielen Modezeitschriften vom Beistelltisch und blätterte sie ohne großes Interesse durch.

Als ich vor fünf Monaten in Rockbridge gestrandet war, war mir Paul Sutton wie der Prinz auf dem weißen Pferd erschienen. Ich hatte weder Geld noch Job gehabt, dafür aber einen rachsüchtigen Zuhälter auf den Fersen und einen Namen, der in ganz Amerika eher berüchtigt als berühmt war. Nach all den Enttäuschungen, dem Hass und der Verachtung, die ich erfahren hatte, war meine Sehnsucht, gemocht und beschützt zu werden, übermächtig geworden, und Paul Sutton eignete sich ausgesprochen gut als Beschützer. Er war fürsorglich, berechenbar und gradlinig, und er sah die Welt am liebsten ohne Schatten. Als mir bewusst geworden war, dass er sich Hals über Kopf in mich verliebt hatte, hatte ich ihm bedenkenlos mein Herz in die Hände gedrückt, ohne darüber nachzudenken, ob wir überhaupt zueinanderpassten: er, der wohlsituierte Chirurg mit eigener Klinik, sechzehn Jahre älter als ich, fest verwurzelt in Rockbridge, und ich, die Heimat- und Mittellose, die von einer Laune des Schicksals in diese Kleinstadt in den Berkshire Hills geweht worden war. Die altmodische Weise, wie er mir vor den neugierigen Augen von ganz Rockbridge den Hof gemacht hatte, hatte mir geschmeichelt und das Gefühl gegeben, etwas ganz Besonderes zu sein. Nach den Jahren des ziellosen Umherziehens, der Einsamkeit und der Entbehrungen hatte ich diese Wochen wie einen einzigen aufregenden Rausch empfunden, aber schon bald hatte ich gemerkt, wie sich der Reiz des Neuen zu verflüchtigen begann und der Glanz der Rüstung meines Ritters im Alltag zusehends stumpfer wurde. Bisher war ich nicht bereit gewesen mir einzugestehen, dass ich auf dem falschen Weg war, doch heute Mittag hatte ich eine deutliche Antwort auf die skeptischen Fragen meiner inneren Stimme erhalten. Nein, es würde mich nicht erfüllen und glücklich machen, als Krankenschwester in Pauls Klinik zu arbeiten, mich für seine sozialen Projekte zu engagieren, ihm Kinder zu gebären, jeden Sonntag in die Kirche zu gehen und danach bei seiner Mutter zu Mittag zu essen!

Es war naiv gewesen zu glauben, ich könnte ein neues Leben anfangen, unbelastet von meiner Vergangenheit, indem ich einfach meine E-Mail-Adresse löschte, den Kontakt zu meiner Familie abbrach und meine Träume verleugnete. Unvermittelt kam mir eine Stelle aus Vom Winde verweht, einem meiner Lieblingsbücher, in den Sinn. Keine Geldsorgen mehr, Tara in Sicherheit, eine sorgenlose Zukunft. Ich erschrak, als mir klar wurde, dass ich genau wie Scarlett bereit war, einen Mann zu heiraten, den ich kaum kannte und nicht liebte! War meine Not wirklich so groß? Dabei mochte ich Paul. Ganz sicher würde er mich nie enttäuschen oder verletzen, wie Horatio Burnett, den ich für die Liebe meines Lebens gehalten hatte. Und dennoch verursachte mir der Gedanke an eine Hochzeit inzwischen Beklemmungen. Doch woher kam dieses Unbehagen? Und warum träumte ich jede Nacht von Horatio? Wenn ich morgens aufwachte, weinte meine Seele vor Sehnsucht nach einem anderen Mann, und ich litt für den Rest des Tages unter einem schlechten Gewissen, als ob ich Paul betrogen hätte. Je dringender ich zu vergessen versuchte, umso hartnäckiger schienen mich die Geister der Vergangenheit zu verfolgen.

Seitdem bekannt geworden war, dass Paul und ich uns verlobt hatten, war ich quasi über Nacht ins Zentrum des Interesses von ganz Rockbridge geraten. Jeder Schritt, den ich in der Öffentlichkeit tat, wurde mit Argusaugen verfolgt und bewertet. Pauls Familie gehörte halb Rockbridge, beinahe jeder in der Stadt arbeitete direkt oder indirekt für die Suttons. Sie hatten Hilfsprogramme für Jugendliche, Arbeitslose und bedürftige Rentner ins Leben gerufen, Paul behandelte in seiner Klinik sozial schwache Menschen kostenlos. In den Wochen nach unserer Verlobung war ich von Einladungen regelrecht überschwemmt worden. Am liebsten hätte ich sie alle ignoriert, hatte dann aber die Zähne zusammengebissen und endlose, zähe Stunden mit wildfremden Menschen verbracht. Da ich von Natur aus eher eine Einzelgängerin war, hatte ich die überschwängliche Herzlichkeit und indiskrete Fragerei der Leute als distanzlos und unangenehm empfunden.

Ich legte die Zeitschrift zurück auf den Stapel, schloss kurz die Augen und hoffte, dass Eunice bald fertig sein würde. Momente wie dieser waren selten, und ich fürchtete sie, denn sobald ich ein wenig zur Ruhe kam, verselbstständigten sich meine Gedanken.

Ich sprang auf, ging unruhig hin und her. Betrachtete die ausgestellten Kleider, die an langen Kleiderstangen auf beiden Seiten des kleinen Lädchens hingen, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Überlegte kurz, ob ich einfach gehen sollte.

Endlich verstummte die Nähmaschine im oberen Stockwerk. Die Stufen der hölzernen Wendeltreppe knarrten, und kurz darauf erschien Eunice, eine zierliche Mittfünfzigerin mit einer kunstvollen Dolly-Parton-Lockenfrisur und einem Pfund Make-up im Gesicht, in den Armen eine Wolke weißen Satins.

»Jetzt kann’s losgehen, Kindchen!« Sie strahlte voller Vorfreude. »Kommen Sie! Gehen wir rüber ins Anprobenzimmer!«

Ich folgte ihr mit geheuchelter Begeisterung und zog mich in einer Umkleidekabine bis auf die Unterwäsche aus, dann schlüpfte ich mit Eunices Hilfe in das Kleid und stellte mich gehorsam auf einen Hocker. Mühsam zwang ich mich zu einem Lächeln und versuchte, mir den Aufruhr, der in mir tobte, nicht anmerken zu lassen. Eunice pflückte ein paar Stecknadeln aus dem Nadelkissen an ihrem Handgelenk und begann das Kleid an den Stellen, an denen sie es enger nähen musste, mit flinken Fingern abzustecken. Der steife Satin raschelte und fühlte sich so unangenehm an, dass ich eine Gänsehaut bekam.

»Bitte noch nicht in den Spiegel schauen«, brabbelte Eunice immer wieder. »Erst, wenn ich es Ihnen sage!«

Ich nickte stumm und starrte auf den hellgrauen Teppichboden. Von dem Geruch, der in dem kleinen Raum hing, einer Mischung aus Kaffeeduft, süßlichem Raumspray und Schweiß, wurde mir übel.

»Voilà – fertig!« Eunice richtete sich auf und trat einen Schritt zurück. Sie strahlte stolz und machte eine schwungvolle Geste in Richtung Spiegel. »Und? Wie gefällt es Ihnen? Ist es so, wie Sie sich das vorgestellt haben?«

Ich hob den Kopf. Der Anblick meines Spiegelbilds versetzte mir einen Schock. Natürlich hatte ich geahnt, dass ich abgenommen hatte; seit Wochen hatte ich kaum noch Appetit. Aber dass ich so schlimm aussah, hatte ich nicht gedacht: Meine Schultergelenke und Schlüsselbeine stachen unter der Haut hervor, und meine Oberarme sahen aus wie die einer Zehnjährigen. Ich starrte die abgemagerte Person in dem weißen Kleid im Spiegel wie hypnotisiert an, und plötzlich überwältigte mich die Gewissheit, dass ich dabei war, einen gewaltigen Fehler zu machen. Das Blut rauschte mir in den Ohren, und ich spürte das Prickeln echter Panik im Nacken.

»Oh Gott!«, flüsterte ich und wandte den Kopf. Ich konnte meinen Anblick in dem Kleid keine Sekunde länger mehr ertragen. »Helfen Sie mir aus dem Ding raus! Sofort!«

»Aber ich muss noch …«, begann Eunice.

»Nein! Ich will das nicht!«, schrie ich, sprang vom Hocker herunter und zerrte mir das Kleid vom Leib. »Nein! Nein!
Nein

Die Schneiderin stand mit offenem Mund da und starrte mich fassungslos an, nur mein Keuchen und das Reißen von Stoff waren zu hören. Endlich hatte ich mich befreit. Eunice stand da, in ihren Händen das zerfetzte Fünftausend-Dollar-Kleid wie ein totes weißes Tier. Ich stürzte in die Umkleidekabine, und während ich schluchzend in meine Klamotten schlüpfte, hörte ich sie schon telefonieren. Es war mir egal, wem sie erzählte, dass ich mein Brautkleid zerrissen hatte. Natürlich würde die Geschichte in Lichtgeschwindigkeit die Runde machen und Paul erreichen. Rockbridge war kein bisschen anders als das Kaff, in dem ich aufgewachsen war.

Ich riss meinen Mantel vom Kleiderständer, ergriff meine Tasche und flüchtete aus dem Laden, ohne mich zu verabschieden. Es war dunkel geworden, und es hatte aufgehört zu schneien. Die Straßen waren menschenleer, nur gelegentlich kroch ein Auto die Main Street entlang. Ich kämpfte mit den Tränen. Als ich im Überschwang der Gefühle Pauls Heiratsantrag angenommen hatte, war mir überhaupt nicht klar gewesen, welche Konsequenzen eine Hochzeit mit ihm nach sich ziehen würde. Verzweiflung überrollte mich, als mir klar wurde, dass ich in einen Käfig geraten war, einen goldenen zwar, aber ein Käfig blieb ein Käfig. Wie konnte ich mich aus dieser Lage befreien, ohne Paul, der mir nichts als Wohlwollen entgegengebracht hatte, bis auf die Knochen zu blamieren? Sollte ich mich einfach ins Auto setzen und nach Hause, nach Nebraska, fahren? Tränenblind stolperte ich über die dunkle Straße zu meinem Auto und kramte dabei in meiner Tasche nach dem Autoschlüssel.

Den schwarzen SUV mit verdunkelten Scheiben, der direkt vor meinem Chevy parkte, nahm ich kaum wahr. Autos wie dieses waren hier keine Seltenheit. Viele New Yorker oder Bostoner, die übers Wochenende in die Green Mountains kamen, fuhren dicke Allrad-SUV oder -Vans, besonders im Winter, wenn die Straßen verschneit waren. Ich ärgerte mich nur ein bisschen, weil der Fahrer so rücksichtslos dicht vor meinem Auto geparkt hatte, dass ich Mühe haben würde, den Caprice aus der Parkbucht zu manövrieren. Vielleicht wäre mir das Kennzeichen aus Georgia aufgefallen, wäre ich nicht so aufgewühlt gewesen. Vielleicht hätte ich dann noch eine Chance gehabt, wegzulaufen oder um Hilfe zu rufen. Doch der Angriff kam lautlos aus der Dunkelheit und überraschte mich völlig. Irgendwer stülpte mir von hinten eine Kapuze über den Kopf und zog sie an meinem Hals zu. Vor Schreck blieb mir die Luft weg. Ich ließ Mantel und Tasche in den Schnee fallen und wollte nach meinem Hals greifen, aber da packten kräftige Hände meine Handgelenke und fesselten sie. Ich hörte, wie eine Autotür geöffnet wurde, dann wurde ich unsanft auf die Rückbank eines Autos gestoßen. Jemand nahm neben mir Platz und legte den Sicherheitsgurt um meinen Oberkörper. Die Autotür fiel ins Schloss. Das Auto erbebte leicht, als es angelassen wurde. Ich hörte das Blubbern eines Zwölfzylindermotors, spürte, wie sich das Fahrzeug in Bewegung setzte. Vor Schreck war ich wie gelähmt. Panik rollte über mich hinweg.

›Oh Gott! Ich werde entführt!‹, schoss es mir durch den Kopf. Ich spürte, wie das Auto beschleunigte, als es den Ort hinter sich gelassen und die Landstraße erreicht hatte. Der Fahrer gab so stark Gas, dass die Reifen auf der verschneiten Fahrbahn durchdrehten und der schwere Wagen gefährlich schlingerte. Aber er bekam ihn wieder unter Kontrolle. Niemand sprach. Ein paar Meilen ging es geradeaus, dann wurden wir langsamer und bogen scharf nach rechts ab. Das Auto holperte über ein Stück unbefestigte Straße, fuhr steil bergauf, bis es schließlich stoppte. Der Motor ging aus. Jemand zog mir die Kapuze vom Kopf.

»Hallo, Carol-Lynn. Schön, dich wiederzusehen«, sagte eine wohlbekannte Stimme. »Oder ist es dir lieber, wenn ich dich Sheridan Grant nenne?«

Mein Herzschlag setzte aus. Entsetzt wandte ich meinen Blick nach rechts und schaute direkt in die frostblauen Augen von Ethan Dubois.

San Juan Bautista, Kalifornien

Marcus Goldstein stapfte den menschenleeren Strand entlang, die Hände tief in den Taschen seines Regenmantels vergraben. Er liebte die langen Morgenspaziergänge mit seinen Hunden am Meer, das ihm jetzt, im Januar, viel besser gefiel als im Sommer, wenn es blau und friedlich war. Der Anblick des aufgewühlten grauen Wassers, dieser seit Jahrmillionen ewig gleiche Rhythmus, mit dem die Wellen an den Strand brandeten, sich tosend brachen und wieder zurückfluteten, hatte etwas Kontemplatives. Die Luft war feucht vom Nebel und der Gischt, und ein paar Möwen, deren klagendes Geschrei hin und wieder das Donnern der Brandung übertönte, waren außer ihm und den Hunden die einzigen Lebewesen weit und breit. Marcus blieb stehen und starrte nach Westen, hinaus auf den Pazifik, der nur eine Nuance grauer war als die tief hängenden Wolken.

›Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag‹, dachte er mit einem Anflug von Bitterkeit und schüttelte ungläubig den Kopf. Sechzig Jahre. Nicht zu fassen. Es hatte Zeiten gegeben, in denen er es weder für möglich noch für erstrebenswert gehalten hatte, diesen Tag zu erleben. Er beobachtete seine Hunde, die sich übermütig um ein Stück Treibholz balgten, und rief sich die runden Geburtstage in seinem Leben in Erinnerung. Seinen dreißigsten hatte er in New York gefeiert, wenn man von feiern sprechen konnte. Er war in dem Nachtklub, den sein Arbeitgeber EMI für die Signing-Party irgendeiner Nachwuchsband gemietet hatte, bis in die frühen Morgenstunden versackt und hatte die Party, die Tammy für ihn in ihrer kleinen Wohnung in Hell’s Kitchen liebevoll organisiert hatte, verpasst. Seinen vierzigsten Geburtstag hatte er sechs Wochen nach der Scheidung von seiner dritten Frau Djamila gefeiert, auf einem gecharterten Windjammer irgendwo in der Karibik. Dank der Unmengen von Alkohol, die er an jenem Abend konsumiert hatte, besaß er nur noch nebulöse Erinnerungen an die Party, und das war auch besser so. Zwar hatte zu diesem Zeitpunkt seine Karriere richtig an Fahrt aufgenommen, aber das war auch alles, worauf er stolz sein konnte. Sein Privatleben war ein einziges Desaster gewesen, und immer, wenn er gedacht hatte, es gäbe keine Steigerung für die Misere, dann hatte ihn das Leben das Gegenteil gelehrt. Abgesehen von Tammy hatte er immer ein sicheres Händchen für die falschen Frauen gehabt und erst viel zu spät aus seinen Fehlern gelernt, was ihn unterm Strich eine zweistellige Millionensumme gekostet hatte. Seinen fünfzigsten vor zehn Jahren hatte er in seiner Villa in den Hamptons gefeiert, mit fünfhundert Gästen und ungefähr dreißig Kilo mehr auf den Rippen als heute. Drei Tage später hatte er seinen ersten Herzinfarkt gehabt, zwei Wochen später den nächsten, schwereren. Die Scheidung von Vivian, seiner vierten Frau, lief bereits, und während sie schon eifrig die Rolle der trauernden Millionärswitwe einstudierte, hatte er sich erholt. Kaum genesen, hatte er seine Plattenfirma StoneGoldRecords verkauft und war nach Kalifornien gezogen. Seit acht Jahren lebte er nun allein, entweder in seinem Strandhaus oberhalb des San Gregorio State Beach, vierzig Meilen südlich von San Francisco, in seiner Villa in North Beverly Park in Los Angeles oder in seinem Chalet in Colorado. Er investierte sein Geld in interessante Start-ups im Silicon Valley, war Mehrheitsaktionär eines Filmstudios und Mitinhaber der Goldstein Creative Artists Agency, die einige der wichtigsten Filmstars unter Vertrag hatte. Arbeiten musste er schon lange nicht mehr, aber manchmal war ihm nach einer neuen Herausforderung zumute, deshalb ließ er sich gelegentlich als Troubleshooter und Consultant von Unternehmen aus der Musik- oder Filmbranche engagieren, die in wirtschaftliche Schieflage geraten waren. Im Laufe der Jahre hatte er sich den Ruf eines exzellenten Sanierers erworben, dessen Ehrgeiz es war, Unternehmen zu erhalten, statt sie zu zerstückeln. Genau deshalb hatte er gezögert, als ihn Douglas Hammond, der Vorsitzende des Aufsichtsrats der California Entertainment and Music Corporation, vor zwei Tagen um Hilfe gebeten hatte. Es war kein Geheimnis, dass die CEMC, einst einer der Big Player der Branche, innerhalb weniger Jahre zum Übernahmekandidaten geworden war. Jedermann wartete nur darauf, bis der wankende Koloss endgültig zusammenbrechen und sich gierige Private-Equity-Gesellschaften die Filetstücke des Konzerns schnappen würden.

»Der wievielte Name ist meiner auf deiner Liste?«, hatte Marcus gefragt.

»Der erste, Marcus«, hatte Hammond überraschend ehrlich geantwortet und geseufzt. »Und der einzige.«

Marcus hatte sich vierzehn Tage Bedenkzeit und uneingeschränkten Einblick in die Bilanzen und Geschäftsberichte der letzten zehn Jahre erbeten. Dann hatte er seinen alten Kumpel und Weggefährten Phil McLaughlin, der mittlerweile Finanzvorstand bei Merrill Lynch war, angerufen und gefragt, ob er Lust auf ein Abenteuer in Kalifornien habe. Ab morgen würden sie die Zahlen prüfen und analysieren, ob sie den maroden Plattenkonzern retten konnten oder ob es schlauer war, die Finger davon zu lassen.

Marcus pfiff nach seinen Hunden und stieg die steile Holztreppe hoch zu seinem Haus, einem futuristisch anmutenden Glaswürfel. Weit und breit gab es keine Nachbarn, ein echter Luxus im eng besiedelten Kalifornien, der seinen Preis gehabt hatte. Als er die Terrasse erreicht hatte, konstatierte er zufrieden, dass die 82 Stufen ihn nicht einmal außer Atem gebracht hatten.

»Sechzig«, murmelte er. »Was soll’s. Ist doch nur eine Zahl.«