Liebe Leserin, lieber Leser,

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Unsere Bücher suchen wir mit sehr viel Liebe, Leidenschaft und Begeisterung aus und hoffen, dass sie Ihnen ein Lächeln ins Gesicht zaubern und Freude im Herzen bringen.

Wir wünschen viel Vergnügen.

Ihr »more – Immer mit Liebe« –Team

Über das Buch

Lord Nathaniel Harte, Duke of Beswick, verbringt seine Tage damit, Porzellan zu zerschlagen, seine Diener zu schikanieren und jeden zu beleidigen, der ihm zu nahekommt. Zurückgezogen und allein lebt er auf seinem Anwesen, immer bemüht, sein verunstaltetes Gesicht vor der Außenwelt zu verbergen. Niemanden lässt er an sich heran, schon gar nicht die unzähligen Mitgiftjägerinnen, die es auf sein Vermögen abgesehen haben. Denn wer könnte ein Monster wie ihn schon wahrhaftig lieben?

Lady Astrid Everleigh ist fest entschlossen, sich weder durch Gerüchten noch durch Gerede von ihrem Plan abbringen zu lassen. Um ihre jüngere Schwester vor der Heirat mit einem gewalttätigen Mann zu bewahren, würde sie alles tun. Auch, wenn das bedeutet, dass sie sich Lord Nathaniel Harte, genannt »Das Biest von Beswick«, auf dem Silbertablett anbieten muss. Als seine Braut …

Für alles Fans von »Bridgerton«! Jetzt für kurze Zeit zum Einführungspreis.

Über Amalie Howard

Amalie Howard ist USA Today- und Publishers Weekly Bestsellerautorin. Ihre Wurzeln liegen in Westindien und ihre Artikel über multikulturelle Belletristik sind in The Portland Book Review und auf Diversity in YA erschienen. Derzeit lebt sie mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Colorado.

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Amalie Howard

Das Biest von Beswick

Übersetzt von Christina Kagerer aus dem amerikanischen Englisch

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Kapitel Neunzehn

Kapitel Zwanzig

Kapitel Einundzwanzig

Kapitel Zweiundzwanzig

Kapitel Dreiundzwanzig

Kapitel Vierundzwanzig

Kapitel Fünfundzwanzig

Kapitel Sechsundzwanzig

Kapitel Siebenundzwanzig

Epilog

Anmerkungen

Impressum

Kapitel Eins

England, 1819

Mit hämmerndem Puls stürmte Lady Astrid Everleigh durch die Eingangstüren des Herrenhauses ihres Onkels in Southend. Die protzige Kutsche in der Einfahrt war genauso unverkennbar wie ihr Besitzer – der arrogante und zutiefst aufdringliche Graf von Beaumont. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihr breit, als sie ihre Blicke durch die Eingangshalle schweifen ließ. Niemand sah sie an, nicht der Butler, nicht die Dienstboten, nicht einmal ihr Onkel Reginald, dessen blasse Wangenknochen eine hässliche rote Farbe angenommen hatten.

»Du s-solltest doch auf dem Markt sein«, stammelte er überrascht.

»Was hast du getan, Onkel?«, fragte sie ihn und zog an ihrem Umhang. »Hast du das ohne mein Wissen oder meine Einwilligung arrangiert?«

Das Gesicht ihres Onkels wurde noch roter. »Jetzt hör mir einmal zu«, legte er los. »Es ist höchste Zeit, dass deine Schwester heiratet, und das weißt du auch …«

Aber nicht ihn. Auf gar keinen Fall.

Das üble Gefühl in Astrids Magen wurde noch schlimmer bei dem Gedanken daran, dass die süße, unschuldige Isobel in die Klauen eines solchen Mannes geriet. Der Graf von Beaumont hatte die letzten Möglichkeiten ausgeschöpft, was Astrid betraf, auch wenn er nun ein Ebenbürtiger war.

Die grässlichen Erinnerungen hinunterschluckend, die alleine sein Name bei Astrid auslöste, drehte sie sich von ihrem Onkel weg und ihrer Dienstmagd zu, die erschienen war, als sie ihre Stimme gehört hatte. »Wo sind sie, Agatha?«

»Im Frühstückssalon, Mylady. Mit der Viscountess.«

Beim Anblick der geschlossenen Türen rutschte Astrid das Herz in die Hose. Tante Mildreds Begleitung war zumindest fragwürdig. »Wie lange sind sie schon dort drin?«

»Keine fünf Minuten, Mylady.«

Das war nur ein Augenblick, aber doch genug Zeit, um ihrer lieben Schwester zu schaden. Isobel war knapp sechzehn Jahre alt. Sie war für ihre Eltern eine sehr willkommene Überraschung gewesen, und Astrid hatte sie stets beschützt. Für sie war Isobel immer noch ein Kind, egal, ob ihr Onkel behauptete, es sei an der Zeit für sie zu heiraten. Sie hatte noch nicht einmal eine Bräutigamschau gehabt, und trotzdem wollte er sie an den Höchstbietenden verheiraten.

An einen Lügner und Lustmolch noch dazu.

Edmund Cain hatte den Titel des Grafen vor ein paar Jahren von seinem Onkel geerbt. Obwohl ihn ein Titel für die meisten Frauen heiratswürdig machte, war er nach wie vor ein herzloser Bastard, der ohne Skrupel Astrids Ruf zerstörte, als sie während ihrer ersten – und einzigen – Bräutigamschau die Dreistigkeit besessen hatte, ihn abzuweisen. Er hatte sich mit einer schrecklichen Lüge über ihre mangelnde Tugend an ihr gerächt und somit ihre gesamte Zukunft zerstört.

Als ihre Eltern ein Jahr später von einer Krankheit dahingerafft wurden, mussten sie und Isobel sich in die Obhut ihrer einzig lebenden Verwandten in England begeben. Nach dem Trauerjahr hatte Astrid beschlossen, dass alles Geld, das sie übrig hatte, besser für Isobels Zukunft aufgespart werden sollte. Sie war die Tochter eines Viscounts, und wenn es an der Zeit war, sollte Isobel das bekommen, was ihr rechtmäßig zustand.

Doch das war, bevor ihr Onkel ihr Erbe in die Hände bekam. Das meiste davon war weg, außer bestimmte, noch nicht freigegebene Fonds, die sie erst erhalten sollten, wenn sie heirateten oder im Alter von sechsundzwanzig Jahren. Astrid war noch ein paar Monate davon entfernt, Isobel ein Jahrzehnt – es sei denn, eine Heirat käme zuerst, was hier ganz offensichtlich das Ziel war. Aber jetzt, acht Jahre nach dem Tod ihrer Eltern, waren die Mädchen fast mittellos. Zumindest behauptete das ihr Onkel.

Mittellos genug, um eine Verbindung mit einem völlig ungeeigneten Grafen einzugehen? Wenn es um Geld ging, war das für Onkel Reginald keine Frage. Er würde seine eigene Seele verkaufen, wenn er dafür einen Farthing bekäme.

»Lord Beaumont ist nun ein Ebenbürtiger«, sagte ihr Onkel und zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. »Er ist nicht mehr der Mann, den du kanntest.«

»Ein Leopard kann seine Flecken nicht verändern.«

»Hör zu, Astrid«, sagte er und versperrte ihr den Weg. »Es ist beschlossene Sache. Lord Beaumont hat versprochen …«

»Komm mir nicht näher, Onkel. Mir ist es völlig egal, was er versprochen hat. Er wird niemals …« Astrid hielt inne und sprach die leere Drohung, die gar keine war, nicht aus.

Die Wahrheit war, da Astrid selbst keinen Ehemann hatte, konnte ihr Onkel Isobel an einen von Syphilis befallenen Bettler verheiraten, wenn er das wollte. Und keine von beiden konnte etwas dagegen tun. Das war der Stand der Frauen in ihrer Welt.

Astrid änderte ihre Taktik und wendete sich mit sanfterer Stimme an ihn. »Onkel Reggie, sei doch vernünftig. Isobel hatte noch nicht einmal die Chance, sich nach einem heiratswürdigen Mann umzusehen. Vielleicht kann sie einen viel besseren Fang machen und bekommt einen Mann, der viel wohlhabender ist.« Sie ließ den Vorschlag in der Luft hängen, denn sie wusste, dass das Versprechen von mehr Geld ihren Onkel zum Nachdenken bringen würde.

Der Viscount sagte schmallippig: »Besser heute ein Ei als morgen eine Henne.«

»Sagte der Hahn, der nichts zu verlieren hat«, murmelte Astrid vor sich hin, und ihr Magen verkrampfte sich. Hatte er mit Beaumont bereits alles besiegelt?

Eine vernünftige Diskussion brachte sie hier anscheinend nicht weiter.

Sie warf ihrem Onkel noch einen angewiderten Blick zu, drehte sich zu den Salontüren um und riss sie auf, um nach ihrer Schwester zu suchen.

Isobels Gesichtsausdruck war verkniffen und ihre Haltung steif. Ob aus Angst oder Schock konnte Astrid nicht sagen. Zum Glück saß ihre Schwester mit im Schoß verschränkten Händen auf dem Sofa, während Beaumont in kurzer Entfernung vor ihr stand. Nicht weit genug weg, was Astrid betraf. Sonst war niemand im Raum. Um Gottes willen, wo war ihre Tante?

»Ich dachte, ich hätte Ihnen gesagt, dass ich wünsche, alleine zu sein, Everleigh«, schimpfte Beaumont mit verärgertem Blick über seine Schulter hinweg, bevor ihm bewusst wurde, dass es nicht ihr Onkel war, der ins Zimmer gestürmt war. »Ah, es ist die alte Jungfer. Sind Sie gekommen, um uns zu gratulieren?«, sagte er gedehnt, und in seinem trügerisch schönen Gesicht konnte man Befriedigung erkennen. »Ich nehme an, Ihnen ist zu Ohren gekommen, dass ich Ihrer Schwester den Hof machen will?«

Sie stieß laut die Luft aus, aber bevor sie eine Antwort formulieren konnte, tauchte ihre Tante aus der hinteren Ecke des Raumes auf und machte ein verärgertes Gesicht. Astrid runzelte die Stirn. Grundgütiger, Tante Mildreds Absichten waren so offensichtlich. Obwohl sie nicht in London waren, kannte ihre Tante die Regeln der Aristokratie nur allzu gut … vor allem in Bezug auf die Gesellschaft unverheirateter junger Damen.

Astrid schluckte ihre Wut hinunter, als sie daran dachte, wie leicht Isobel etwas hätte geschehen können. Sie kniff die Augen zusammen.

War es das, was ihre geldgierigen Verwandten vorgehabt hatten?

Astrids Frustration wurde größer, als ihr Blick auf dem selbstzufriedenen Gesicht des Grafen von Beaumont landete. Sie biss sich auf die Unterlippe, presste ihre Finger in die Hüften, und ihr Magen drohte, der Übelkeit nachzugeben. Wenn sie ihre Marktliste heute nicht vergessen hätte, wäre sie nie rechtzeitig wieder hier gewesen … und wer weiß, was dann passiert wäre. Jetzt war Isobel sicher, und das war alles, was zählte. Sie war doch sicher, oder? Sie versuchte, ihre Furcht zu verbergen, und warf ihrer Schwester einen besorgten Blick zu.

»Isobel, geht es dir gut?«, fragte sie.

Ihre Schwester nickte, obwohl ihre sonst so rosige Haut ganz blass war. »Ja, aber ich habe das Gefühl, es ist eine Migräne im Anzug.«

»Vielleicht solltest du dich hinlegen.«

Mit dankbarem Blick stand Isobel nickend auf, machte einen flüchtigen Knicks in die Richtung des Grafen und floh mit Tante Mildred auf den Fersen aus dem Raum.

Beaumont winkte lässig ab, als sie weg war. »Wir werden uns bald wiedersehen, Liebste.«

»Das werden Sie nicht«, sagte Astrid.

Er begutachtete sie von Kopf bis Fuß und gab ihr das Gefühl, weitaus weniger anzuhaben als das robuste graue Wollkleid mit passendem Umhang, das bis obenhin zugeknöpft war. »Sagen Sie mir, Lady Astrid, wie wollen Sie mich denn davon abhalten?«

»Sie ist sechzehn«, entgegnete sie.

Er nickte. »Dann ist sie im heiratsfähigen Alter.«

Astrid schluckte ihre aufsteigende Wut hinunter. Im selben Alter, in dem sie selbst gewesen war, als er zum ersten Mal in London einen Blick auf sie geworfen hatte. Sein Interesse, seine Absichten und sein Timing waren kein Zufall. Der frisch gebackene Graf war zurück, um eine offene Rechnung zu begleichen.

»Isobel wird in London eine Bräutigamschau haben«, sagte Astrid.

»Nicht, wenn Ihr Onkel schon vorher ein Angebot akzeptiert. Sie wird eine reizende Gräfin abgeben – finden Sie nicht auch?«

Astrid warf ihm einen bösen Blick zu und sagte mit klopfendem Herzen: »Warum fassen Sie ausgerechnet sie als Ehefrau ins Auge? Sie kennen sie doch gar nicht.«

»Vielleicht, weil ich vor neun Jahren abgewiesen wurde.«

Und da war es – laut und deutlich ausgesprochen. Es ging hier einzig und allein um Rache.

Beaumont näherte sich ihr mit berechnendem Blick, doch sie blieb steif und mit einer Mischung aus Angst und Wut stehen. Bei seinem siegreichen Lächeln gefror Astrid das Blut in den Adern. Er hatte schon ihre Zukunft zerstört. Sie konnte nicht … würde nicht zulassen, dass er auch noch die ihrer Schwester bedrohte.

»Nein, das werde ich nicht zulassen«, sagte sie. »Ich bin ihr Vormund.«

»Ah, aber der Viscount ist Ihr Vormund, habe ich recht? Außerdem hat er bereits sein Einverständnis gegeben – oder wird es zumindest tun, wenn wir über die Bedingungen sprechen. Sie, meine Liebste, haben in dieser Sache nichts zu sagen. Und sosehr Sie auch denken, mich beeinflussen zu können, werden Sie feststellen müssen, dass Ihre Wünsche nebensächlich sind. Sie hatten Ihre Chance, wie man so schön sagt.« Er grinste sie spöttisch an. »Ich habe Ihnen gesagt, Sie würden es bereuen.«

Sie verzichtete darauf, zu entgegnen, dass sie es überhaupt nicht bereute, ihn abgewiesen zu haben, und holte tief Luft. »Isobel ist kaum aus der Schule heraus. Sie sind vierunddreißig, Edmund. Mit Sicherheit können Sie eine Frau finden, die vom Alter her besser zu Ihnen passt.«

Er kniff die Augen zusammen, als sie ihn beim Vornamen nannte. »Für Sie ab jetzt Lord Beaumont. Wollen Sie sich als Ersatz anbieten? Obwohl für eine Frau in Ihrer Situation die Ehe natürlich außer Frage stünde.« Er bedachte ihren Körper mit einem lüsternen Blick, der sie wünschen ließ, sich zu verhüllen. »Wie auch immer, ich könnte versucht sein, mit dem richtigen Anreiz meine Entscheidung nochmals zu überdenken.«

»Ich würde lieber von einem tollwütigen Hund gebissen werden.«

»Ach, da ist sie ja wieder, Ihre spitze Zunge«, entgegnete der Graf. »Sie sind wie ein gut gealterter Whisky mit etwas Schärfe, die mit der Zeit noch stärker wurde. Lady Isobel macht einen viel wohlerzogeneren Eindruck. Aber es wird mir ein großes Vergnügen sein, wenn wir erst mal verheiratet sind, herauszufinden, ob sie auch so eine sture Ader in sich hat wie Sie.«

Astrid versteifte sich. »Sie werden meine Schwester nie und nimmer heiraten, Graf Beaumont. Darauf können Sie sich verlassen.« Mit größter Mühe schaffte sie es, ihre hochkochende Wut herunterzuschlucken, und stürmte aus dem Zimmer.

Zitternd vor Wut versuchte Astrid auf dem Gang, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Obwohl Beaumont gut aussah, einen Titel hatte und vermögend war, würde sie so einen herzlosen Mann nicht einmal ihrem schlimmsten Feind wünschen – geschweige denn ihrer lieben, unschuldigen Schwester. Wenn man ihr eine anständige Bräutigamschau gewähren würde, könnte ein Schatz wie Isobel ihre Auswahl aus jeder Menge Männer treffen.

Ihr Onkel und Beaumont wussten das genau.

Als der Graf endlich gegangen war, suchte sie ihren Onkel auf, der sich in seinem Arbeitszimmer zurückgezogen hatte, und ließ ihrem Unmut freien Lauf. »Wie konntest du? Sie ist erst sechzehn, um Gottes willen.« Sie drehte sich zu ihrer Tante um, die ruhig neben dem Schreibtisch stand. »Tante Mildred, hast du gar nichts zu sagen? Was ist mit Isobels Gefühlen?«

Ihre Tante antwortete schmallippig: »Ihr zukünftiger Ehemann wird ihr sagen, was sie zu denken hat.«

»So etwas hat noch nie eine Frau gesagt, die wenigstens etwas Rückgrat hat.«

»Wäre es dir lieber, sie endete so wie du?«, fragte ihr Onkel. »Unverheiratet, ruiniert und eine verdammte Last für deine Tante und mich?«

Sie zog scharf die Luft ein. Ihr Vater, der vorherige Viscount, hatte klargemacht, dass seine Töchter ein komfortables Leben führen sollten – in der Hoffnung, sein Bruder würde seine Pflichten in Bezug auf seine Nichten erfüllen. Ihre Schwester und sie hatten früh erkennen müssen, dass das nicht der Fall werden würde. Der alte Familienanwalt ihres Vaters, Mr Jenkins, der einmal im Jahr nach dem Rechten gesehen hatte, hatte die Wünsche ihres Vaters verwaltet – darunter auch eine anständige Bräutigamschau für Isobel, sobald sie in das Alter käme. Aber Mr Jenkins war vor einem Jahr verstorben. Seine Firma beaufsichtigte zwar das Anwesen, doch es war niemand übrig, der die habgierigen Everleighs im Zaum halten konnte.

»Papa hat klargemacht, dass wir das nicht sind«, sagte Astrid und rang um Beherrschung. »Wir sind nicht ohne Vermögen zu dir gekommen.«

»Das ist alles weg.«

Völlig aufgebracht warf sie alle Vorsicht über Bord. »Wohin, Onkel? Wo ist all das Geld geblieben? Papa hat uns genug Geld vermacht, um ein sorgloses Leben führen zu können.«

Mit bebenden Nasenflügeln und weit aufgerissenen Augen erhob er sich hinter seinem Schreibtisch. »Wie kannst du es wagen, du unverschämte Göre! So dankst du es deiner Tante und mir, dass wir dich hier aufgenommen haben? Mit Misstrauen und Argwohn? Das verdammte Geld ist in Kleider, Schuhe, Essen und eure Schulbildung geflossen.« Er schnaubte. »Diese Bücher für dich. Die Tanz- und Klavierlehrer deiner Schwester. Denkst du, es kostet nichts, zwei Mädchen großzuziehen? Und was ist mit deinen Pferden?«

Die Pferde, von denen er sprach, waren seine Vollblüter, die er vom Geld seines toten Bruders gekauft hatte, aber Astrid sagte nichts dazu. Sie presste die Lippen aufeinander und unterdrückte ihren Zorn. Wenn Onkel Reginald beschloss, sie rauszuwerfen, wäre sie mittel- und obdachlos. Sie würde nicht an ihren eigenen Anteil herankommen, an ihrem sechsundzwanzigsten Geburtstag in ein paar Monaten. Bis dahin musste sie den Mund halten. Ohne sie wäre Isobel auf sich allein gestellt und hilflos gewesen.

»Und was ist mit dir?«, machte er weiter und sah sie mit großen Augen an. »Du solltest eigentlich eine vorteilhafte Ehe eingehen. Stattdessen hast du den Namen Everleigh in den Dreck gezogen.« Er starrte sie mit eiskaltem Blick an. »Was? Dachtest du, deine Sünden würden nicht auf deine arme Schwester zurückfallen?«

Ein schmerzvoller Laut entfuhr Astrids Lippen. Ihre Sünden? Sie hatte nichts Falsches getan, und trotzdem war sie bestraft worden. Verurteilt und kurzerhand ausgegrenzt durch die falsche Darstellung eines verachteten Lügners.

»Du weißt, was er getan hat«, flüsterte Astrid mit einer Hand auf der Brust und Tränen in den Augen. »Was er mir angetan hat. Und dennoch billigst du seine Gegenwart. Wie kannst du so gemein sein?«

Ihr feiger Onkel schaffte es nicht, ihrem Blick standzuhalten. »Er ist ein Graf. Vielleicht will er es ja wiedergutmachen.«

Ihr Onkel hatte unrecht. Beaumont wollte es nicht wiedergutmachen. Er wollte sich an Astrid rächen.

»Bitte, Onkel Reggie«, flehte sie jetzt. »Selbst wenn das so ist, siehst du doch sicher, was für ein schlechter Fang er ist. Beaumont ist doppelt so alt wie sie. Er passt nicht zu so einem sanften Wesen wie Isobel. Begreifst du das denn nicht?«

Onkel Reginald kniff die Lippen zusammen und deutete auf die offene Arbeitszimmertür. »Nichtsdestotrotz ist er ein Graf. Ein reicher Graf. Und du vergisst, dass geläuterte Schwerenöter die besten Ehemänner abgeben. Er hat vor, unsere Anwesen zu verbinden und sie wiederzubeleben. Isobel wird eine Gräfin werden, der es an nichts fehlen wird. Jetzt geh und lass mich allein.«

Was er wirklich meinte, war, dass es ihm und Tante Mildred an nichts fehlen würde. Astrid gehorchte niedergeschlagen dem Befehl.

Oben fand sie ihre Schwester in dem Schlafzimmer vor, dass sie sich teilten. Isobels Augen waren rot gerändert, als ob sie geweint hätte, und Astrid ging sofort zu ihr.

»Was sollen wir tun? Ich will ihn nicht heiraten«, schniefte Isobel. »Aber Tante Mildred sagt, ich muss an die Familie denken und meine Pflicht erfüllen.«

Astrid nahm die Hand ihrer Schwester in ihre eigene. »Das wirst du nicht müssen, ich verspreche es.«

»Aber wie?« Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen. »Er ist ein Graf. Und da der Onkel mit der Verbindung einverstanden ist, habe ich keine andere Wahl.«

»Mach dir keine Sorgen, Izzy – das Glück ist mit denen, die am besten vorbereitet sind.« Sie umarmte ihre Schwester fest, und ihre Entschlossenheit wurde größer. »Ich werde einen Weg finden, wie wir das schaffen können.«

Ihre Möglichkeiten waren begrenzt. Es war klar, was ihr Onkel vorhatte – er wollte Isobels Tugend an jemanden verkaufen, der bereit war, für dieses Privileg zu zahlen. In diesem Fall Lord Beaumont. Es war unverschämt und verursachte ihr Übelkeit, doch es gab nichts, was sie dagegen tun konnte. Nicht ohne Hilfe.

Astrid stieß frustriert die Luft aus.

Wenn nur ihr Vater noch am Leben wäre – oder sie einen eigenen Ehemann hätte …

Sie zwinkerte, als ihr eine ungeheuerliche Idee kam.

Das wäre die Lösung für alles. Es war ein entsetzlicher, verzweifelter Plan, allerdings immerhin etwas. Es war eine Chance.

Mit fünfundzwanzig war sie schon ziemlich alt, aber sie war noch nicht tot. Ihr Ruf mochte zwar in den Augen der Gesellschaft ruiniert gewesen sein, doch sie war klug, sie wurde erzogen, um einen aristokratischen Haushalt zu führen, und sie war die Tochter eines Viscounts. Es könnte daher funktionieren.

Sie musste nur eine andere Art von Ungeheuer heiraten als den Grafen, um ihre Schwester zu retten.

Und sie wusste genau, wer dieser Mann war.

Kapitel Zwei

»Sie brauchen eine Ehefrau.«

Eine unbezahlbare Ming-Vase, die etwa aus dem vierzehnten Jahrhundert stammte, krachte gegen die drei Torpfosten, die an der hinteren Wand aufgestellt waren, und zersprang in tausend Scherben. Damit gesellte sie sich zu einem bunten Scherbenhaufen unter einem Gemälde in der Galerie. Lord Thane Harte, der siebte Herzog von Beswick, blickte – mit einem Cricketschläger in der einen Hand – finster drein, als sein Hausdiener den Scherbenhaufen begutachtete.

»Ihr Vater hat viel Arbeit in die Sammlung dieser Vasen gesteckt, Euer Gnaden.«

»Mein Vater ist tot«, knurrte der Herzog. »Das sind Gegenstände, Fletcher, nichts weiter. Und jetzt kommen Sie schon, einer noch, und Sie sind entlassen. Kneifen Sie Ihre voreingenommenen Arschbacken zusammen und durchbrechen Sie mit dem nächsten Ball Grenzen.«

Der Mann verzog das Gesicht, als er widerwillig den Holzschläger hob. »Das sind keine Bälle, Euer Gnaden. Sie sind mehrere tausend Pfund wert.«

»Teuer und hässlich. Weiß der Teufel, warum mein Vater solche absurden Dinge verehrt hat. Und nur fürs Protokoll – ich brauche eine Ehefrau, wie ich eine Schnittwunde am Kopf brauche.« Eine weitere Schnittwunde, fügte er innerlich hinzu.

»Dann brauchen Sie eben einen Erben.«

Thane schnaubte verärgert auf, und die Kampfnarben auf seiner Haut spannten. Welches Kind hätte schon einen Vater mit so einem ruinierten Gesicht verdient, wie er es hatte? Und welche adlige Lady würde sich überhaupt zu ihm ins Bett legen? Er hatte Glück, dass sein Penis nach dem Krieg noch immer intakt war und weiterhin funktionierte.

»Ich würde diese Linie lieber aussterben lassen, als ein Kind so einem Monster auszusetzen.«

»Sie sind kein Monster, Euer Gnaden.«

Thane legte sich mit dramatischer Geste die Hand an die Brust. »Grundgütiger, kennen Sie mich überhaupt?«

»Der äußere Schein trügt«, kam die prompte Antwort.

Thane schnaubte wieder auf und sah ihn irritiert an. »Haben Sie sich das selbst ausgedacht?«

»Nein, das stammt aus einem Gedicht.«

»Ich habe Ihnen immer und immer wieder gesagt, dass Poesie Ihr Gehirn zerstören wird.« Er schaute seinen Diener an. »Außer, es sind unzüchtige Gedichte, natürlich. Die sind erlaubt.«

»Sie haben viel zu bieten, Euer Gnaden. Wenn Sie nur versuchen würden, …«

»Fletcher«, warnte ihn Thane, »ich weiß Ihre Loyalität sehr zu schätzen, aber diese Unterhaltung ermüdet mich.« Der bedrohliche Ton in seiner Stimme ließ den Diener erblassen. »Geben Sie auf? Oder soll ich Ihnen noch eine zuwerfen?«

Mit erzwungen guter Laune nahm er eine weitere Vase in die Hand, die mit winzigen blauen und weißen Blumen bemalt war. Sie war so zerbrechlich, dass sie in seiner Handfläche zerbersten würde, wenn er nur fest genug zudrückte. Thane überkam Ekel, als er das Objekt betrachtete. Sein Vater hatte diese verfluchten Dinger geliebt. Er konnte sich an ein Mal erinnern, als er als Kind in die wertvolle Galerie seines Vaters gegangen war, nur um sich dafür eine Tracht Prügel einzufangen, die sein Hinterteil noch Tage schmerzen ließ. Ein paar Jahre später hatte er aus Versehen eine Vase zerbrochen und die Scherben im Garten vergraben, weil er Angst davor gehabt hatte, was sein Vater ihm antun würde.

Thane ging ein paar Schritte zurück und riss die Arme mit der Vase über den Kopf, bevor er sie Fletcher zuwarf. Er spürte, wie das Narbengewebe an seinem Rücken und an seinen Rippen zog. Zum Glück gab es in der Galerie keine Spiegel, aber es war nichts, was Fletcher oder der Rest seiner Bediensteten nicht schon gesehen hätten. Niemand hatte ihm seitdem je wieder in die Augen geblickt. Niemand, außer sein treuer Butler und langjähriger Hausdiener, der jetzt widerwillig den Schläger hob.

Die Vase flog mit berechneter Präzision auf ihr Ziel zu. Zu Thanes Überraschung schlug Fletcher mit einem gekränkten Gesichtsausdruck zu. Die unschätzbare Vase kollidierte mit der flachen Vorderseite des Schlägers und zerbarst in tausend Scherben. Ein paar der Lakaien wichen den Porzellanstücken aus, die durch den ganzen Raum flogen.

»Sehr guter Schlag, Mann«, sagte Thane. »Ich dachte schon, Sie hätten vor lauter Sentimentalität Ihre Eier verloren.«

»Ihr Vater würde sich im Grab umdrehen, Euer Gnaden.«

Ein verbitterter Laut kam über seine Lippen. »Mein Vater – Gott habe ihn und sein Porzellan selig – hat in seinem Grab hoffentlich bereits einen Schlaganfall erlitten. Das ist ja der Sinn der Sache, Fletcher.«

Der Diener – der eigentlich mehr Familie war und sich deshalb so viel rausnehmen konnte – warf ihm einen tadelnden Blick zu. »Aber wie Sie schon sagten, Euer Gnaden, Ihr Vater ist tot. Welchen Zweck erfüllt also diese Zerstörungswut? Denken Sie doch stattdessen darüber nach, ein paar der Stücke an eine Galerie zu spenden.«

Thane dachte stirnrunzelnd nach. Fletcher konnte einem wirklich den Spaß verderben. »Ich mag Cricket.«

»Die Sammlung Ihres Vaters war ziemlich groß und bekannt. Oder Sie könnten eine Auktion veranstalten. Lord Leopold …«

»Nicht.«

Aber Fletcher fuhr fort. »Lord Leopold«, sagte er noch lauter, »hatte eine große Auktion zu Ehren Ihres Vaters geplant.«

Der schmerzhafte Stich in seiner Brust überraschte ihn. Der Tod seines Bruders war nun bereits vier Jahre her, aber trotzdem konnte er es immer noch spüren. Thane hatte den Titel des Herzogs nie gewollt. Er hatte nicht den Elan dazu. Es war stets Leos Titel – vom Tag seiner Geburt an. Bis der schreckliche Sturz vom Pferd ihm das Rückgrat gebrochen hatte.

Thane wollte den Rest seiner Tage in Einsamkeit verbringen. Stattdessen ist er zur Krone zurückgekehrt. Zur Pflicht. Zu ungewollter Verantwortung.

Zu unzähligen verfluchten Porzellandingen.

»Also gut, dann spenden Sie die Dinger.«

»A-alle?«, stammelte Fletcher. »Wir müssten wenigstens eine Bestandsaufnahme machen.«

»Stellen Sie jemanden dafür ein.« Der Vorschlag bereitete ihm Bauchschmerzen, weil ihm der Gedanke, dass eine neue Person in seinem Haus wäre, nicht behagte. Die meisten seiner Angestellten waren treue Diener, die ihn schon als kleinen Jungen gekannt hatten – bevor er zum böse zugerichteten Kriegshelden geworden war. Er war nicht gut auf Fremde zu sprechen. Oder auf fremde Blicke. Und Letzteres ging unvermeidbar mit Ersterem einher.

»In Southend? Einen glaubhaften Historiker zu finden, der sich mit antikem chinesischem Porzellan auskennt, wäre, wie die Nadel im Heuhaufen zu suchen. Ich müsste nach jemandem in London schicken, und das würde Wochen dauern.«

»Fletcher«, knurrte er, »es ist mir egal. Es war Ihr Vorschlag. Kümmern Sie sich darum.«

Der Butler verbeugte sich. »Natürlich, Euer Gnaden.«

Thane verließ die Galerie und ging in Richtung seines Arbeitszimmers. Heute Morgen hatte er seine Übungen ausfallen lassen, um länger schlafen zu können. Die meisten Nächte litt er an Schlaflosigkeit und immer wiederkehrenden Alpträumen, in denen er in Streifen geschnitten wurde. Manchmal waren die Träume so real, dass er die Klingen in seiner Haut spüren konnte, die ihn wie Pergament zerschnitten. Er hatte vier seiner Männer aus seiner Einheit vor dem Hinterhalt retten können, aber fast dreimal so viele waren gestorben. Alle nur wegen eines Mannes – wegen eines feigen Verräters, der seinen Posten verlassen hatte.

Thane konnte ihre Schreie immer noch hören.

Er hielt an, um seinen Körper zu drehen, und streckte sich langsam. Sein ganzer Oberkörper fühlte sich steif und wund an. Jetzt zahlte er den Preis dafür, dass er seine morgendlichen Übungen nicht gemacht hatte. Das genähte, verätzte Flickwerk seiner Haut auf dem Rücken zog schmerzhaft. Vielleicht sollte er vor dem Abendessen noch eine Runde schwimmen gehen. Er hatte einen der ungenutzten Flügel im Pfarrhaus in eine Art Trainings- und Erholungsraum umbauen lassen, in dem es auch ein beheiztes Schwimmbecken gab, zu dem er sich von den türkischen und römischen Bädern und der außergewöhnlichen Architektur inspirieren hatte lassen, die er während seiner Reisen über den Kontinent gesehen hatte.

Aber zuerst brauchte er einen starken Drink.

»Culbert«, sagte er auf dem Weg zu seinem Ziel zu seinem vorbeieilenden treuen Diener, »beauftragen Sie die Dienstboten damit, im Badezimmer zu heizen. Ich will es schön warm haben. Und ich will nicht gestört werden.«

»Wie Sie wünschen, Euer Gnaden.«

Schließlich kam er in seinem Studierzimmer an. Er liebte die Abgeschiedenheit von Beswick Park, aber die Abtei war wie ein Labyrinth. Nach so vielen Monaten in einer Ein-Zimmer-Baracke hatte er eine Karte gebraucht, um sich die Wege seines Kindheitshauses wieder einzuprägen. Sein Studierzimmer wurde von einem großen Schreibtisch und einigen gemütlichen Sesseln dominiert. Vor den Koppelfenstern hingen schwere Samtvorhänge, und der dicke Teppich verschluckte seine Schritte, als er zu dem Stuhl hinter seinem Schreibtisch ging und sich setzte. Dann schenkte er sich einen guten französischen Brandy ein. Der Alkohol floss wie ein warmer Strom durch seine Muskeln.

Thane beobachtete das kleine Feuer im Kamin. Er zog sich seinen Mantel aus und rollte seinen linken Ärmel nach oben. Schimmerndes, hässliches Narbengewebe überzog den ganzen Arm. Der Großteil seines Körpers sah genauso aus, einschließlich seines Rückens, seiner Beine und drei Viertel seines Gesichts. Er hatte sich die Haare lang wachsen lassen, doch die Länge konnte die genähten Wunden auf seiner Haut kaum verbergen. Ein Bart hätte helfen können, aber nicht, wenn der nur auf der unteren, unversehrten rechten Hälfte seines Gesichts wuchs.

Vor acht Jahren noch waren ihm die Frauen zu Füßen gelegen. Nun könnte er sich glücklich schätzen, eine Frau dafür bezahlen zu können, damit sie ihn überhaupt ansieht. Nicht, dass er auch nur im Geringsten daran interessiert war, sich mit dem anderen Geschlecht einzulassen. Oder eine Ehefrau zu finden. Nein, Fletcher war nicht mehr ganz bei Trost, wenn er dachte, dass das jemals passieren würde.

Thane zog den Stapel an Bestandsbüchern zu sich und warf einen Blick auf die Zahlen seiner Anwesen. Er hatte seine Pächter schon seit Jahren nicht mehr besucht, obwohl Fletcher sagte, das Land würde trotz der paar Bauern, die gegangen waren, Profit abwerfen. Sie waren wahrscheinlich wegen seines schlechten Rufs gegangen. Den Ruf hatte er sich größtenteils verdient. Bereits vor dem Krieg war er ein schroffer Mann gewesen, und jetzt war er hundertmal schlimmer. Übertrieben rücksichtslos. Hart. Eigensinnig. Unerbittlich. Die Liste war noch viel länger.

Gerüchte um das Biest von Beswick gab es zuhauf. Unter anderem das Gerücht, dass er seinen Vater umgebracht hätte. Und vielleicht sogar seinen Bruder. Es stimmte, dass sein kränklicher Vater an einem Herzanfall gestorben war, als er bei seiner Rückkehr das zerstörte Gesicht seines Sohnes hatte sehen müssen. Also hatte er den Mann vielleicht tatsächlich umgebracht. Ein paar unglückliche Monate später war sein Bruder dann bei einem Sturz vom Pferd während einer Fuchsjagd gestorben. Und wieder wurde Thane dafür verantwortlich gemacht, obwohl er nicht einmal in der Nähe gewesen war.

Leo war damals mit einer gemeinsamen Kindheitsfreundin verlobt gewesen, deren Vater daraufhin vorgeschlagen haben soll, dass sie stattdessen den neuen Herzog von Beswick heiraten solle. Aber Lady Sarah Bolton hatte einen Blick auf ihn geworfen und war sofort aus dem Raum gestürmt. Die Verträge wurden für ungültig erklärt, und keine Jungfrau wurde geopfert.

Das war vor vier Jahren gewesen.

Kein Wunder, dass Fletcher es nicht gern sah, dass er noch immer unverheiratet war.

Thane kippte den restlichen Brandy runter, stand auf und ging ins Badezimmer. Wie er befohlen hatte, brannten die großen Kaminfeuer auf beiden Seiten des Raumes. In der Mitte befand sich ein langes, rechteckiges Schwimmbecken, unter dem Metallrohre verlegt waren, die das Wasser und den umliegenden Boden beheizten. Er hatte das Leitungssystem selbst entworfen, und es hatte ihn ein Vermögen gekostet. Aber was sollte er schon sonst mit seinem geerbten Geld anstellen?

Thane vergeudete keine Zeit und zog sich seine Kleidung aus und watete ins warme Wasser, das seine schmerzenden Muskeln beruhigte. Er drehte und streckte sich, bis sein Körper locker wurde, dann ließ er sich einfach nur treiben und starrte auf die hohen Glasfenster in den Wänden. In der Ferne leuchteten Sterne, und der dämmrige Abendhimmel wechselte sich mit dunklen Wolkenbändern ab. Manchmal, wenn der Mond voll und hoch am Himmel stand, war das ein wahrlich spektakulärer Anblick. Dies war auch einer seiner Lieblingsräume in der Abtei.

Ein Geräusch vor den Türen ließ ihn aus seiner Entspannung hochfahren.

»Nein, nein«, schrie Culbert förmlich. »Seine Gnaden empfängt jetzt keine Besucher, Fletcher. Grundgütiger, du Dummkopf, was tust du denn da? Er will nicht gestört werden. Wenn ich es dir doch sage. Er ist … er arbeitet.«

Thane fragte sich, wer das sein könne. Der Marquis von Roth hatte die nervige Angewohnheit entwickelt, hier in Southend aufzutauchen, um seinem mürrischen Vater zu entfliehen. Aber Winter war schon lange nicht mehr zu Besuch gekommen, und Culbert würde sich seinetwegen nicht so aufregen.

»Du bist der Dummkopf, weil sie dir gefolgt ist«, hörte er Fletcher zurückrufen. »Ich habe ihr gesagt, sie soll im Foyer warten.«

Thane blinzelte. Sie?

»Ist der Herzog hier drinnen? Ich brauche nicht lange.« Die ihm unbekannte Stimme war unverkennbar weiblich und sinnlich. Bei dem Klang zog sich etwas in Thanes Unterleib zusammen.

»Mylady, das ist höchst unkorrekt.« Culberts Stimme war eine Oktave höher anlässlich dieses offensichtlichen Bruchs der Etikette. »Seine Gnaden sind beschäftigt.«

»Das kann nicht warten«, sagte sie mit ungeduldigem Tonfall. »Wie ich bereits sagte, es ist ein Notfall, und ich bestehe darauf, den Herzog sofort zu sehen. Bestimmt kann er seine Arbeit für ein paar Minuten ruhen lassen.«

Er hatte Culbert die Anweisung gegeben, nicht gestört werden zu wollen. Und der Mann war ein Pedant, wenn es um seine Anweisungen ging. Thane stieß verärgert die Luft aus, hievte seinen nackten Körper aus dem Wasser und griff nach einem Handtuch, als bereits eine Gestalt durch die Tür stürmte.

Der Raum war durch die Kaminfeuer hinter ihm teilweise erleuchtet, also konnte er die Frau deutlich erkennen. Sein erster Eindruck war der, dass sie sehr groß war. Dann blickte er in ihr Gesicht und hielt den Atem an. Ihre Züge waren wie in Stein gemeißelt und symmetrisch. Ein wunderschönes cremefarbenes Oval mit weit auseinanderliegenden Augen, einer eleganten Nase und vollen Lippen, die nicht lächelten. Sie war die Verkörperung der puren Renaissance.

Aber selbst, als Thane sie bewunderte, war es nicht die Art von Schönheit, die einen lockte. Stattdessen warnte sie einen. Vielleicht war es aber auch nur ihre steife Körperhaltung, der mürrisch verzogene Mund und der kalte Blick in ihren Augen. Oder das dunkle Haar, das straff zurückgebunden in ihrem Nacken lag. All diese scharfen Kanten und kalten Ecken würden nicht zögern, einen Mann zu zerstören.

Er fragte sich wirklich, wer sie war.

Als ihr Blick auf seinen traf, formten sich ihre Lippen zu einem überraschten O, und ihre Wangen erröteten, als sie sich schnell beschämt abwendete. Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer Mischung aus Entsetzen und Scham, und Thane unterdrückte den Drang, zusammenzuzucken. Er schlang sich das Handtuch um die Hüften, um wenigstens den Großteil seines nassen, unbekleideten Körpers vor ihren Blicken zu schützen.

»Ich b-bitte um Verzeihung«, stammelte sie. »Ich wusste nicht … ich dachte, das wäre das Arbeitszimmer oder die Bibliothek, nicht Ihr … nicht Ihr … o mein Gott.«

Thane nahm an, dass es wirklich ein Versehen gewesen war – schließlich befanden sie sich in einem umgebauten Ballsaal im Erdgeschoss und nicht in seinen privaten Gemächern. Außerdem hatte Culbert gesagt, dass er arbeitete, wenn auch nicht in dem Kontext, den sie erwartet hätte.

»Nicht Gott«, murmelte er. »Nur ein Herzog. Und ein ziemlich unheiliger noch dazu.«

Als wäre ein Bann gebrochen, stolperte sie zurück und stieß mit dem etwas panischen Culbert zusammen. Sie wedelte heftig mit den Armen in der Luft herum, als sie in die entgegengesetzte Richtung lief, und verlor das Gleichgewicht. Thane rannte zu ihr, um sie zu halten, und hatte plötzlich eine langgliedrige, sich windende Frau in den Armen. Das Einzige, was das dünne Handtuch um seine Hüften hielt, waren ihre zwei aneinandergepressten Körper.

»Ganz langsam«, sagte er nach Luft schnappend, und seine Handfläche glitt ihren schlanken Rücken hinunter. »Ich habe Sie.«

Sie roch wie warme Sommernächte, und der Duft, der von ihrer erhitzten Haut aufstieg, während sie versuchte, sich wieder zu fangen, betörte ihn. Aus der Ferne war sie ihm groß erschienen, aber sie reichte ihm trotzdem kaum bis zum Kinn. Allerdings taten das die meisten Frauen nicht, wenn man bedachte, dass er fast zwei Meter groß war.

Ihre Körper passten perfekt zusammen, ihre weichen Kurven schmiegten sich an seine harten Muskeln. Auch wenn sein Gehirn gerade zu langsam war, um das Geschehene zu verarbeiten, erwachten andere Körperteile sofort zum Leben, als ihre kleinen, jedoch festen Brüste sich an seinen Oberkörper drückten und ihre langen Beine zwischen seinen nackten Oberschenkeln standen.

Er hatte schon ganz vergessen, wie es sich anfühlte, eine Frau zu halten.

»Lassen Sie mich bitte los«, sagte sie in alarmiertem Tonfall.

Thane wurde bewusst, dass er sie noch immer an sich gedrückt hielt, obwohl sie das Gesicht abgewandt und die Augen geschlossen hatte. Wahrscheinlich vor Ekel. Herrgott nochmal, womit hatte er nur gedacht? Ganz offensichtlich nicht mit seinem Gehirn. Er ließ sie so schnell los, dass sie zwei wacklige Schritte zurück machte und ohne einen Blick nach hinten aus dem Raum eilen wollte.

»Ich habe versucht, es Ihnen zu sagen, Mylady«, rief Culbert aus dem Gang. »Wollen Sie vielleicht lieber im Studierzimmer seiner Gnaden warten?«

»Vielleicht komme ich lieber ein andermal wieder.«

Thane überlegte kurz und drehte dann seinen Kopf in Richtung Tür. Überraschenderweise war sein Ärger über Neuankömmlinge völlig verflogen. Er führte es auf Neugierde zurück. Verdammt, eine Frau hatte ihn aufgesucht. Freiwillig. Und nicht irgendeine Frau … eine Frau von Adel.

Was könnte sie nur von ihm wollen?

»Wenn es so dringend ist, kann unser Gast bestimmt dazu überredet werden, zu warten«, rief er Culbert zu. »Ich bin gleich bei ihr.«

Eine Viertelstunde später war Thane wieder bereit, von oben bis unten bekleidet, Gesellschaft zu empfangen. Er holte tief Luft, als er die Tür des Arbeitszimmers aufmachte, und trat ein. Der Raum war wie üblich lediglich durch das Kaminfeuer und eine einzelne Kerze in einer Ecke – weit weg vom Schreibtisch – erleuchtet. Culbert war anwesend und bot der Lady eine Tasse Tee an. Sie saß steif in einem der Sessel, ihr Gesicht war dem Feuer zugewandt. Im Profil bildete ihre Nase einen perfekten Bogen, ihr Kinn war wohlgeformt und bestimmt, und eine hochgezogene Augenbraue war zu einem Runzeln verzogen. Jeder Umriss ihres Körpers war in strenge, unbeugsame Linien gegliedert. Trotz ihrer Schönheit strahlte sie keine Wärme aus – als wäre sie aus Stein anstatt aus Fleisch und Blut.

Er wendete ihr seine unversehrteste Seite zu, was nicht viel war, und ging schnell an ihr vorbei, um sich in den Schatten hinter seinem Schreibtisch zu setzen. Er wusste, dass er einen ungerechten Vorteil hatte, weil der Kerzenschein sie hell erleuchtete, während er im Dunkeln saß.

»Lady Astrid Everleigh, Euer Gnaden«, verkündete Culbert, verbeugte sich und verließ das Zimmer. Thane bemerkte, dass er die Tür einen Spalt weit aufließ. Dieser Pedant eines Butlers musste in seinem früheren Leben eine Gouvernante gewesen sein.

Der Name kam ihm bekannt vor, auch wenn die Gesichter, die ihm in den Sinn kamen, keine Frau in ihrem Alter beinhalteten. »Sind Sie mit Reginald Everleigh, dem Viscount, verwandt?«

»Ja, er ist mein Onkel, Euer Gnaden. Mein Vater war der verstorbene Viscount, Lord Randolph Everleigh«, sagte sie mit klarer Stimme und reckte dabei das Kinn wie eine Schwertspitze nach vorne. »Wir beide sind uns aber schon bekannt«, fuhr sie fort. »Vor vielen Jahren wurden wir während meiner Bräutigamschau in London einander vorgestellt … vor, nun ja.«

Thanes Gedanken rasten. Sie meinte, vor dem Krieg. Bevor er so eine hässliche Fratze und einen noch hässlicheren Charakter bekommen hatte. Sein Humor verschwand damals wie ein Atemzug im Wind. »Ich erkenne Sie nicht«, sagte er unhöflich.

»Das hatte ich auch nicht erwartet, Euer Gnaden. Ich war nicht gerade die Auffälligste.«

»Sie sind auf der Suche nach Komplimenten, wie?«, sagte er trocken. »Die werden Sie bei mir nicht finden, Mylady. Wir sind nicht mehr in der Phase der Schmeicheleien.«

»Natürlich nicht. Wie unhöflich von Ihnen, mir das zu unterstellen.«

Oh, er fing gerade erst an. Thane zog die Augenbrauen nach oben. »Man könnte auch sagen, Mylady – es ist doch Mylady, oder? –, dass es unhöflich ist, seinen Gastgeber als ›unhöflich‹ zu bezeichnen. Vor allem, da Sie diejenige sind, die uneingeladen hier aufgetaucht ist. Oder hat sich das damenhafte Verhalten in den Jahren meiner selbstauferlegten Isolation so drastisch verändert?«

Seine Betonung auf »damenhaft« war ihr nicht entgangen. Sie zog scharf die Luft ein und errötete.

»Dann entschuldige ich mich«, stieß sie hervor, und in ihren Augen blitzte Entrüstung auf, die sie zu kontrollieren versuchte. »Es war ein …«

»Ein Notfall, ja, das habe ich gehört. Dann klären Sie mich doch auf, Lady Anstrengend

Mit gesenkten Lidern und sichtlich frustriert sagte sie: »Ich bitte um Verzeihung, Euer Gnaden, aber mein Name ist Lady Astrid. Vielleicht haben Sie sich verhört.«

»Entschuldigen Sie sich nur, Mylady. Ich sage, was ich will.«

Ihre Augen blitzten auf. »Sie, Euer Gnaden, sind … sind …«

»Abscheulich? Abstoßend? Ätzend?«, bot er ihr an.

»Ich wollte eigentlich sagen unausstehlich, aber anscheinend ist Ihre Intelligenz nur auf den ersten Buchstaben des Alphabets beschränkt.«

Ihm entfuhr ein herzhaftes Lachen. Es war sonnenklar, dass unter der harten Fassade seiner Besucherin ein ziemliches Temperament lag. Das erweckte in ihm umso mehr das Verlangen, sie zu reizen, um diese brodelnde Leidenschaft in ihren Augen zu entfachen und ihre eiserne Selbstbeherrschung zu zerbrechen.

»Also, Lady Ass-trid, Sie sind also hierhergekommen, um das Biest unter die Lupe zu nehmen?«, sagte er gedehnt. Haben Sie vorhin keinen ausreichenden Einblick bekommen? Nackt, wie Gott mich schuf?«

Sie verzog den Mund, als hätte sie an einer Zitrone gelutscht, und er fragte sich kurz – wenn auch völlig unsinnigerweise –, wie diese perfekt geschwungenen rosigen Lippen wohl schmecken würden. Ob ihre Nippel dieselbe Farbe hätten oder dunkler wären.

»Diese Unterhaltung ist unpassend, Sir.«

Wenn sie nur gerade seine schmutzigen Gedanken lesen könnte.

»Das ist eine Untertreibung.« Thane lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Sollen wir uns den ganzen Abend Beleidigungen an den Kopf werfen, oder wollen Sie mir eventuell verraten, warum Sie hergekommen sind?«

Die Lady schluckte etwas herunter, was aussah, als hätte es eine bissige Antwort werden können, und presste die Lippen aufeinander. Sie lehnte sich nach vorne, um mit trügerischer Ruhe einen mit grünen Blumen bemalten Teller vom Kaminsims zu nehmen. »Der ist wunderschön«, sagte sie. »China, fünfzehntes Jahrhundert?«

Er runzelte die Stirn. »Ja. Mein Vater sammelte diese dummen Dinger.«

»Wohl kaum dumm, Euer Gnaden.«

Sie untersuchte den Teller mit ihren feinen, langgliedrigen Fingern. Thane war kurzzeitig fasziniert. Diese feinen Hände standen im Gegensatz zum Rest ihrer scharfen Kanten und dem bissigen Tonfall. Einen Moment lang wünschte er sich, dieser Teller zu sein und von ihren Fingern liebkost zu werden. Er stellte sich vor, wie sich diese langen, eleganten Finger um seinen harten Penis anfühlen würden, und sein ganzer Körper wurde plötzlich von einer Woge der Lust überschwemmt. Verlangen stieg in ihm auf.

Du lieber Gott.

Thane legte seine Handflächen auf die Knopfleiste seiner Hose, die unter dem Tisch versteckt war, um seine Erektion verschwinden zu lassen. Sein Blick haftete auf der Frau, die auf der anderen Seite seines Mahagoni-Schreibtisches immer noch das antike Porzellan begutachtete. Mit der schlichten Kleidung und der unauffälligen Frisur erinnerte sie ihn an eine Gouvernante. Thane erwartete fast ein Lineal in ihren Händen, mit dem sie ihm wegen unzüchtigen Betragens auf die Knöchel hauen würde. Sie war nicht die Art Frau, die sein Blut in Wallung brachte … und trotzdem rauschte es ihm gerade durch die Adern.

Nachdenklich legte sie den Teller vorsichtig zurück auf seinen Platz und ließ ihre Hände in den Schoß sinken. Zum Glück waren sie damit außer Sichtweite für ihn. Dann sah sie ihn an.

Ihre Augen waren hell, aber die genaue Farbe konnte er nicht ausmachen. Hellgrau oder grün, vielleicht. Er konnte sich nicht daran erinnern, ihr schon einmal begegnet zu sein. Vor dem Krieg war er allerdings immer von Dutzenden hübscher junger Frauen umgeben gewesen, die er alle hatte meiden wollen. Doch sie hätte er bestimmt nicht vergessen. Sie war entzückend … bis sie ihren Mund öffnete. Eine wunderschöne Rose bewaffnet mit blutrünstigen Dornen.

»Was wollen Sie, Lady Astrid?« Abgelenkt durch das Feuer in seinen Adern klang seine Stimme schroffer, als er gewollt hatte. »Lassen Sie mich nicht in Ungewissheit. Spucken Sie es aus.«

Sie runzelte die Stirn, aber dann räusperte sie sich und schien sich um Ruhe zu bemühen.

Thane spürte, wie ein Lächeln um seine Mundwinkel spielte. »Ich habe ein Angebot für Sie, Euer Gnaden.«

»Ein Angebot?«