Bekenntnisse eines unsichtbaren Mädchens

Thalita Rebouças

Bekenntnisse eines
unsichtbaren Mädchens

Aus dem brasilianischen Portugiesisch
von Petra Bös

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Deutsche Erstausgabe

© 2016 Thalita Rebouças

© 2022 für die deutschsprachige Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Confissões de um garota excluída, mal-amada e (um pouco) dramática«
bei Arqueiro, São Paulo.

Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Petra Bös

Lektorat: Sabine Giersberg

Covergestaltung: Geviert GbR, Grafik & Typografie

Covermotiv: © Netflix 2021. Used with permission.

kk · Herstellung: ik

Satz und E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-29192-1
V001

www.cbj-verlag.de

Für den besten Großvater der Welt, José, o Nininho,
der mich unermesslich liebte,
durch den ich Gefallen am Lesen gefunden habe
und der mit Sicherheit
der tollste Engel da oben ist.

Herzlichen Dank an alle Leserinnen,

die mir vertrauensvoll ihre persönlichen
Mobbing-Geschichten erzählt haben.

1

Eines schönen, sonnigen Morgens wachte ich auf. Durchgedreht. Verrückt. Völlig irre. Nicht, dass ich das wirklich glaubte. Das kam von meiner Mutter. Sie hatte mir beim Frühstück schonend beigebracht, dass sie am Nachmittag einen Termin beim Psychotherapeuten für mich vereinbart hatte.

Ich war mir jedoch sicher, dass nicht ich einen Psychiater brauchte, sondern der Rest der Familie. Ich bezweifelte, dass irgendein Arzt ihnen geistige Gesundheit attestieren würde.

»Mama, warum glaubst du, dass ich einen Therapeuten brauche?«, fragte ich so geduldig, wie ich nur konnte. Es fiel mir schwer, sie ernst zu nehmen.

»Weil du nicht normal bist, Tetê!«, erklärte meine Mutter überaus einfühlsam.

»Wie, nicht normal? Glaubst du etwa, dass ich verrückt bin?« Ich verdrehte die Augen.

»Glauben? Ich weiß es, Tetê! Schon immer!«, warf meine entzückende Großmutter Djanira lachend ein. (Genau, lachend! Sogar laut lachend.) Das muss man sich mal vorstellen.

»Verrät mir vielleicht mal einer, warum ihr mich für verrückt haltet? Wie kommt ihr auf diese geniale Idee?«

»Tetê, sieh mal: Du lachst kaum, bist immer so verschlossen, dir fehlt die Lebensfreude, du hast keine Freunde, bist eine Außenseiterin, hörst nur traurige Musik, schaust dir traurige Filme an und liest nur traurige Bücher«, zählte meine Mutter auf. Sie unterbrach ihren Redeschwall für einen Moment, um Atem zu holen, und fuhr fort: »Du machst keinen Sport, gehst nie aus, tanzt nicht, du legst dich nie in die Sonne, isst keine Gummibärchen, magst kein Nutella, lackierst dir nicht die Nägel und enthaarst dir nicht die Oberlippe. Du bist nur in der Küche glücklich. Wo gibt’s denn so was? Findest du das normal?«

Meinetwegen. Dann bin ich eben nicht normal. Offiziell als verrückt abgestempelt. Mit Oberlippenflaum.

Zumindest war das die Diagnose meiner Familie, die sie vom Arzt bestätigt haben wollte.

Aber in einem Punkt hatte sie recht: Ich liebe es, zu kochen. Ich denke mir gerne Rezepte aus, und ohne falsche Bescheidenheit kann ich sagen, dass mir an Herd und Backofen keiner so schnell etwas vormacht. Ich bin quasi ein Troisgros im Kleid. (Obwohl ich nicht einmal unter Androhung von Folter ein Kleid anziehen würde. Ich schäme mich entsetzlich für meine Beine.) Kochen ist meine Leidenschaft. Ich kann dabei alleine sein, ohne dass mir jemand sagt, was ich tun oder lassen soll. Es hat außerdem den Vorteil, dass man das Ergebnis am Ende essen kann.

Als mein Vater an den Frühstückstisch kam, überfiel ich ihn sofort:

»Paps, denkst du etwa auch, dass ich verrückt bin?«

»Verrückt? Wie kommst du denn darauf, Tetê?«

»Ah, danke!«, sagte ich erleichtert. Wenigstens einer, der mir beistand.

Zumindest hatte eine vernünftige Person in diesem Haus erkannt, dass ich normal war! Ich bin einfach ein Teenager, verdammt! Mein Atem wurde ruhiger. Doch dann sprach er weiter.

»Du bist nur so traurig, weil du keinen Freund hast, mein Kind.«

Pah, das glaube ich jetzt nicht …

»Meine Rede!«, mischte sich meine Mutter ein.

»Andere Mädchen in deinem Alter haben einen Freund, gehen aus, haben Spaß …«

»Das ist überhaupt nicht schlimm, Tetê. Sollen die anderen doch einen Freund haben. Du musst niemanden küssen, um glücklich zu sein.«

Oho, wie viel gesunder Menschenverstand! Natürlich musste ich irgendwann einmal jemanden küssen. Etwas, das ich in meinem ganzen Leben noch nie getan hatte. Ging es nicht darum? Ich meine, ging es nicht einzig und allein darum?

»Ich weiß, dass Alleinsein traurig macht. Aber glaub mir, eines Tages kommt der Richtige, einer, dem du gefallen wirst, einer, der dich nicht zurückweist.«

Ach, jetzt wurde ich auch noch zurückgewiesen? Mensch, Paps … wirklich nett von dir, das zu sagen. Nicht!

»Paps, ich habe keinen Freund, weil ich bis jetzt noch niemanden kennengelernt habe, der mich interessiert hat«, erwiderte ich leicht gereizt.

»Und was ist mit diesem Joaquim von nebenan?«, fragte meine Mutter.

»Ihr spinnt doch! Der ist gerade mal zwölf! Ich bin fünfzehn, habt ihr das vergessen?« Ich war einem Nervenzusammenbruch nahe.

»Du liebe Güte, ich hätte schwören können, dass er älter ist!«, sagte meine Mutter.

»Meinst du diesen dürren, schlaksigen Sohn von Jurema?«, fragte meine Großmutter.

»Genau, den!«

»Ach, das ist doch eine gute Partie, Tetê! Was soll dieses Gerede über das Alter? Er ist groß, Dummchen! Er könnte locker als fünfzehn durchgehen! Und er mag dich, hast du das nicht bemerkt?«, trumpfte meine Großmutter auf.

»Leute, lasst das Mädchen in Ruhe!«, verteidigte mich Großvater José, wie er es immer tat.

Meine Großmutter redete einfach weiter:

»Was heißt hier ›in Ruhe lassen‹? Nix da! Das ist Liebe! Mein Schatz, die Eltern von Joaquim stehen finanziell gut da. Hier lohnt es sich, zu investieren. Wir sollten alle zu seiner nächsten Geburtstagsfeier gehen!«

Wortlos stand ich vom Tisch auf und rannte in mein Zimmer. Ich war schockiert darüber, was meine durchgeknallte Familie alles von sich gab. Ich kam erst für den Besuch beim Psychotherapeuten wieder heraus. Wer weiß, vielleicht würde er mir wenigstens helfen, mich zu beruhigen, und mir sagen, wie ich mit all dem Wahnsinn um mich herum fertigwerden konnte. Wenn er ein Spezialist für Verrückte war, sollte er damit Erfahrung haben.

2

Natürlich begleitete mich meine Mutter zu dem Termin. Ich verstand schnell, dass ein Psychotherapeut niemand ist, der sich um Verrückte oder verwirrte Menschen kümmert, sondern dass er die Leute dazu bringt nachzudenken, sich selbst besser kennenzulernen und anzunehmen.

Doktor Romildo, ein sympathischer, grauhaariger Herr mit einer witzigen Brille, öffnete die Tür zum Wartezimmer.

»Du bist die Nächste«, sagte er und winkte mich herein.

»Soll ich nicht besser mitkommen?«, wollte meine Mutter wissen. Sie war schon aufgestanden.

»Nein, Sie können hier warten. Oder Sie kommen in 50 Minuten wieder, wenn Sie etwas zu erledigen haben«, sagte er seelenruhig.

»Nein, ich werde hierbleiben. Sieh zu, dass du ihm alles sagst, Tetê. Öffne dein Herz, Kleines. Falls irgendetwas ist, du weißt, deine Mama ist hier.«

›Kleines‹ genannt zu werden hat niemand verdient …

»Ist gut …«, sagte ich resigniert.

»Mama hat dich lieb! Mama hat dich lieb, Kleines!«, rief sie noch, bevor sich die Tür des Therapiezimmers schloss.

Doktor Romildo lachte.

»Ist sie immer so?«

»Meistens«, antwortete ich ehrlich. Ich schaute mich im Zimmer um und wusste nicht, was ich tun sollte. Schließlich sagte ich: »Ich war noch nie beim Psychotherapeuten. Was soll ich tun? Soll ich hier stehen bleiben, mich hinsetzen oder hinlegen, die Schuhe ausziehen?«

Doktor Romildo lachte wieder.

»Mach einfach, was du willst, womit du dich am wohlsten fühlst. Wenn du magst, kannst du dich hierhin setzen. Atme, entspann dich. Und dann erzählst du mir einfach, was dir durch den Kopf geht, Teanira.«

Moment mal!

Ja, genau! Ihr habt richtig gelesen! Es ist das weltgrößte Übel, mehr noch, der weltgrößte Horror. Ich heiße tatsächlich Teanira. TE-A-NI-RA. Wie soll man mit so einem Namen glücklich werden? Ist das überhaupt möglich?

Nein, ist es nicht. Danke.

»Gut, wenn wir schon dabei sind, fangen wir doch mit meinem Namen an. Ich glaube, ein Teil meiner Traurigkeit hat damit zu tun«, begann ich. »Es ist die Kombination von Tércio und Djanira, den Namen meines Großvaters väterlicherseits und meiner Großmutter mütterlicherseits. Es ist als nette Würdigung gedacht, aber eigentlich ist es eine Riesengemeinheit, finden Sie nicht, Herr Doktor?«

»Du kannst mich einfach Romildo nennen.«

»Ah, danke, Romildo. Also … Gott sei Dank, nennen mich alle schon immer Tetê, weil Teanira unmöglich ist! Absolut unmöglich!«, beklagte ich mich und stellte fest, dass alles nicht so schräg war, wie ich es mir vorgestellt hatte. »Aber es ist nicht nur der ungewöhnliche Name, der mich bedrückt. Ich weiß, dass ich vom gängigen Schönheitsideal Welten entfernt bin: Ich trage eine Brille, um meine 5,5 Dioptrien Kurzsichtigkeit zu korrigieren, und eine Zahnspange, die meine schiefen Zähne richten soll. Ich habe Pickel auf der Stirn und werde nie zu Partys oder anderen Events eingeladen. Und ich gebe meiner Mutter recht: Lächeln ist nicht mein Ding.«

»Und warum lächelst du nicht, Tetê?«

»Was weiß ich. Ich halte nichts davon, mein Lächeln sinnlos zu vergeuden, verstehen Sie?«

Keine Reaktion. Er hob nicht einmal die Augenbrauen oder wiegte den Kopf. Mit der Hand gab er mir ein Zeichen fortzufahren.

»Ich soll noch mehr von mir erzählen, stimmt’s? Also … ich bin so emotional, dass ich bei der letzten Episode einer Telenovela weine, auch wenn ich sie gar nicht verfolgt habe. Ich rasiere mir nicht gerne die Achselhaare, ich halte das für einen Zwang einer machistisch geprägten Kultur. Außerdem habe ich nicht die geringste Lust, mir heißes Wachs auf die Oberlippe zu schmieren. Eigentlich sind die Härchen kaum zu sehen, ehrlich, aber seit dem Rumgemäkele meiner Mutter heute Morgen, werde ich es mir noch mal überlegen.«

»Aha …«

Aha? Das ist alles? Ich spreche über ein so ernstes Thema wie meinen Oberlippenflaum und er sagt Aha? Ein armseliges Aha? Die Chemie zwischen mir und dem Psychotherapeuten stimmte nicht. Das war ja von vornherein klar.

»Aha?«, machte ich, um ihm zu zeigen, dass man nicht Aha sagt, wenn ein Mädchen über intime Dinge spricht.

»Und deine Freunde?«

Verstehe. Er wollte, dass ich lieber über solche Dinge sprach. Tiefgehende Dinge eben. Und wichtige. Und Freunde sind nun mal wichtiger als Oberlippenflaum und Achselhaare, das ist Fakt.

Das Problem war nur …

»Ich habe keine Freunde.«

»Nein?«

Nein. Am liebsten hätte ich ihm entgegengeschleudert, dass es, wenn ich sage, dass ich keine Freunde habe, daran liegt, dass ich keine habe. Inzwischen wollte ich nur noch weg. Schweißbäche rannen über meinen großen Hintern (ja, stellt euch vor, ich schwitze überall). Ich weiß nicht, ob es aus Widerwillen oder aus Nervosität war.

Nervosität, denke ich mal.

Romildo wollte unbedingt, dass ich das Thema weiter ausführte. Aber genau das wollte ich nicht.

»Keine«, antwortete ich knapp.

»Warum hast du keine Freunde?«

Shit! Wo sollte ich anfangen, über Freundschaft zu sprechen?

»Was weiß ich. Jade war die einzige Freundin, die ich je hatte. Sie mochte mich und wurde zum Tier, wenn es darum ging, mich zu verteidigen. Richtig gut. Aber nach drei Jahren ist sie nach Mato Grosso gezogen und ich fühlte mich wieder einsam und verloren.«

»Einsam und verloren? Hmmm … Interessante Wortwahl …«

»Ja und?«, begehrte ich auf. Was bedeutete nun wieder interessante Wortwahl? Ich glaubte, mich erklären zu müssen: »Ich fühle mich einsam, weil ich mich nicht gerne unterhalte, weil Schüchternheit mein zweiter Vorname ist, weil ich keine Freunde habe, und ich fühle mich verloren, weil ich bei manchen Songs weine. Ich liebe traurige Musik. Manchmal höre ich Adele in Dauerschleife, »I’m with you« von Avril Lavigne oder irgendeinen anderen Song, der mich zum Weinen bringt.«

»Weinst du viel?«

»Ich habe schon mal mehr geweint. Manchmal glaube ich, dass ich der traurigste Mensch auf der Welt bin. Ich habe keine Ahnung, ob es einen Grund dafür gibt oder nicht, oder vielleicht sogar mehrere. Verstehen Sie? Manchmal gibt es einen Grund, irgendwas Idiotisches, wie zum Beispiel der Geschmack eines Kaugummis.«

»Der Geschmack eines Kaugummis?«

»Genau! Alle in meiner Familie wissen, dass ich Zimt absolut nicht ausstehen kann. Und was glauben Sie, welchen Kaugummi sie kaufen? Den mit Zimtgeschmack! Dann teilen sie das Päckchen untereinander auf und für mich gibt es keinen einzigen Streifen. Und zu allem Überfluss behaupten sie noch, sie wollen nicht, dass ich mich ausgeschlossen fühle …«

»Hmmm …«

Hmmm? Schon wieder. Ich knallte ihm direkt einen wirkungsvollen Satz hin, damit er nicht weiter so idiotisch auf meine Gefühle reagierte:

»Ich finde, dass das Leben eine himmelschreiende Ungerechtigkeit ist.«

Er antwortete mit einer unfassbar blöden Frage:

»Wegen des Zimtkaugummis?«

»Nein. Natürlich nicht!«

»Ich mache nur Spaß.«

Oh Mann, Sie wissen nicht, wie Spaß machen geht …, wollte ich ihn zurechtweisen.

»Erzähl weiter«, bat er mich.

»Ich habe schon daran gedacht, mich umzubringen. Aber das weiß niemand. Es ist mir peinlich, darüber zu reden.«

»Es muss dir nichts peinlich sein, Tetê. Nichts von dem, was wir besprechen, verlässt diesen Raum.«

Uff … Wenigstens was …

»Es ist mir peinlich, weil … Na ja, das Gefühl hielt nicht lange an, aber als ich die Wahrheit über Gustavo Sampaio herausfand, war da dieser Drang.«

Schon als ich mich diesen Namen sagen hörte, durchlief mich ein unkontrolliertes Zittern.

»Ich mochte Gustavo Sampaio, und ich dachte, dass Gustavo Sampaio mich auch mochte. Aber ich kam zu dem Schluss, dass es nicht zur mir passte, mich wegen eines Jungen umzubringen. Also traf ich eine intelligentere Entscheidung: Ich wollte mich nie wieder verlieben.«

Und es stimmte! Ich hatte nicht für den Doktor übertrieben! Ich hatte mich entschieden und war mir nie sicherer. Wenn lieben leiden bedeutete, litt ich lieber für andere Dinge. Und es sind nicht wenige Dinge, die mich leiden lassen. Gustavo Sampaio war die größte Enttäuschung meines Lebens. In meiner alten Schule, in Barra, wo wir bis Ende letzten Jahres wohnten, war er der Einzige, der irgendwann mit mir sprach.

»Wissen Sie, Romildo, niemand mochte mich. Ich wusste nie warum. Dann kam eines Tages Gustavo Sampaio in der Pause zu mir und ich machte meinem Herzen Luft. Ich sagte ihm, dass ich mich wie ein menschliches Insektenspray fühlte, das alle um mich herum auf Abstand hielt. Ich neige manchmal dazu, etwas melodramatisch zu sein, aber ich schwöre, dass diese Worte direkt von Herzen kamen und in das Gehör von Gustavo Sampaio drangen.

Und bis heute erinnere ich mich an seine Reaktion:

»Überhaupt nicht. Die Leute beneiden dich, Tetê. Du bist der Liebling aller Lehrer, hast nur gute Noten.«

»Und das ist ein Grund, mich zu beneiden?«

»Sicher. Du bist intelligent, aber gibst keine Spickzettel weiter, teilst dein Wissen nicht. Außerdem bist du hübsch. Niemand erträgt intelligente, gut aussehende Mädchen.«

»Oh Gott. Gustavo Sampaio hat mich tatsächlich hübsch genannt. Ich bin fast gestorben. Romildo, Sie haben keine Ahnung, was es bedeutet, Komplimente von einem Typen wie Gustavo Sampaio zu bekommen! Er war perfekt. Ein absolut perfekter Junge, verstehen Sie?«

Der Psy ließ mich in der Luft hängen. Ich versuchte, ihm zu erklären, was es für ein tollpatschiges, molliges und ausgeschlossenes Mädchen bedeutete, von einem Gustavo Sampaio ein Kompliment zu bekommen:

»Mann, niemand, absolut niemand männlichen Geschlechts, der nicht zu meiner Familie gehört, hat mich jemals hübsch genannt. Obwohl … Wenn ich darüber nachdenke, waren Komplimente noch nie Teil meines Lebens. Weder mein Vater noch mein Großvater, nicht meine Cousins und auch nicht meine Onkel … Niemand sprach über meine Schönheit oder ihr Nichtvorhandensein. Dann kommt da dieser verdammt attraktive Gustavo Sampaio und woom!«

»Woom?«

»Woom! Er machte mir ein Kompliment und woom!«

Und was glaubt ihr, was Romildo dazu sagt? Nichts! Nicht einmal nachdem ich mich vollkommen geöffnet hatte, nach dieser Fülle an Informationen, zeigte er eine Reaktion. Fiel es ihm so schwer, nett zu sein und einfach zu sagen, dass ich wirklich schön war? Okay, das war vielleicht übertrieben. Aber hübsch wenigstens? Ich weiß, dass das nicht stimmt, aber sind Psychotherapeuten nicht dazu da, dass die Leute sich besser fühlen? Ach, nicht? Alles gut, ich reg mich ja schon ab. Zurück zu meiner Therapiestunde …

»Als mir Gustavo Sampaio das Kompliment machte, strahlte ich übers ganze Gesicht. Wissen Sie, dieses Lächeln von einem Ohr zum anderen? Dieses Zahnpastalächeln. Hm … Sie sehen nicht aus, als wüssten Sie, was ich meine. Fakt ist, dass ich einfach nicht aufhören konnte zu lächeln. Keine Chance! Von dem Tag an schlossen wir Freundschaft und waren unzertrennlich. Er kam zu mir nach Hause und ich buk für ihn meine sensationellen Cupcakes, lernte mit ihm, sah mit ihm fern, schaute mit ihm YouTube-Videos an. Als er mir sagte, dass mich die anderen einfach nur nicht mochten, weil ich eine gute Schülerin war, beschloss ich, absichtlich schlechte Noten zu schreiben, um akzeptiert zu werden. Aber er, der mich immer bestärkte, redete mir das aus.«

»Und was ist dann passiert?«

»Ach, Romildo … Ich wurde natürlich keine schlechte Schülerin, aber dank meiner Hilfe wurden seine Noten besser. In kurzer Zeit war Gustavo Sampaio ein Crack in Portugiesisch, Geschichte, Geografie, Mathematik … So wurde ich an der Seite dieses gut aussehenden Jungen zum Inbegriff der Fröhlichkeit. Wir verbrachten die Pausen miteinander, lachten über dieselben Witze … Ich hatte mich hoffnungslos in ihn verliebt. Gustavo Sampaio war mein sicherer Hafen, mein Freund, meine Liebe. Pickel und überflüssige Pfunde, meine Abermillionen Fehler – all das hatte keine Bedeutung mehr. Er respektierte mich und mochte mich, wie ich war.«

Sensationelle Cupcakes in der Tasse

Schwierigkeitsgrad: erfordert zwei Neuronen

#washineinkommt

½ Tasse Weizenmehl • ½ Tasse Zucker

1 Teelöffel Backpulver • 1⁄3 Tasse Milch

1⁄3 Tasse Öl • 1 Ei • Schokoriegel nach Belieben

#wiemansmacht

1. Das Mehl, den Zucker und das Backpulver in einer Schüssel mischen, dann Milch, Öl und das Ei hinzugeben. 2. Die Schokolade in kleine Stücke schneiden und in den Teig geben. 3. Gut verrühren und in Cupcake-Förmchen aus Papier oder in Tassen füllen (ich mag Tassen lieber). Du darfst die TASSE NUR ZUR HÄLFTE FÜLLEN, schließlich geht der Cupcake noch auf. 4. 2–3 Minuten in die Mikrowelle stellen. 5. Dann abkühlen lassen, nach Belieben verzieren und sich den Bauch vollschlagen.

»Sieh an …«

Sieh an? Bezahlt meine Mutter diesen Typen, damit er solche schwachen Kommentare abgab? Ich sparte mir die Kritik und sprach weiter:

»Bis ich es nach ein paar Monaten doch seltsam fand, dass er mich noch nie geküsst hatte. Ich bin noch KJ, Romildo! Nicht einmal ein schneller Kuss beim Flaschendrehen. Auch weil mich bisher niemand zum Mitspielen aufgefordert hat.«

»KJ«?

»Sie wollen mir nicht ernsthaft erzählen, dass Sie nicht wissen, was das ist, Romildo!«

»Kakerlakenjunges? Krasser Juckreiz? Katastrophaler Jammerlappen?«

Echt knuffig! Er machte einen Witz (nicht lustig, aber immerhin)! Inzwischen mochte ich Romildão (auch wenn er über seine eigenen, nicht lustigen Witze lachte)!

»Das heißt Kussjungfrau, was so viel wie Keinen-Millimeter-Lippenkontakt bedeutet. Ich habe nicht mal den Spiegel zum Üben geküsst. Ich ekle mich zu sehr vor meiner Spucke. Noch nie hat jemand seinen Mund auf meinen gedrückt, verstehen Sie?«

»Ich weiß, was KJ bedeutet. Ich behandle einige Jugendliche. Ich habe nur Spaß gemacht!«

»Ach so! Das beruhigt mich. Also weiter: Ich ging zu Gustavo Sampaio, um ihm zu sagen, dass wir reden müssen. Quatsch. In einem plötzlichen Anfall von Heldentum bin ich mit geschürzten Lippen über ihn hergefallen, damit er sofort verstand, was ich besprechen wollte.«

»Das war eine mutige Entscheidung. Und dann?«

»Er hat geschrien.«

»Er hat geschrien? Warum?«

»Vor Angst. Er machte das ängstlichste Gesicht, das ich jemals gesehen habe, ernsthaft. Ich weiß, dass ich oft übertreibe, aber diesmal nicht. Ich schwöre.«

»Du musst nicht schwören, ich glaube dir.«

Dann erzählte ich Romildo, dass Gustavo Sampaio, als er sich von dem Schreck erholt hatte, mir erklärte, dass er mich mochte, aber nur als Freundin. Dann beichtete er, dass er sich mir aus Eigennutz genähert hatte, da seine Eltern mit ihm nur nach Disney World fahren wollten, wenn seine Noten besser würden. Ich wollte Gustavo Sampaio umbringen, beschloss aber, es bleiben zu lassen. Der Arme wollte unbedingt nach Disney World und immerhin war er ehrlich gewesen. Wir umarmten uns, und ich gab mich damit zufrieden, einen guten Freund gefunden zu haben, der immer für mich da sein wollte. Das hatte er zumindest versprochen.

»Also ging alles gut aus?«

»Nicht ganz. Er erzählte jedem in der Schule, dass ich verzweifelt einen Freund suchte, dass ich verrückt danach war, irgendetwas zu küssen, das atmete, dass ich unstillbar liebeshungrig war und – das war die allergrößte Katastrophe – dass meine Achselhöhlen nach abgelaufener Tomatensoße stanken. Aber meine Achselhöhlen haben nie gestunken! Niemals! Körperhygiene ist mir wichtig! Zu der Zeit habe ich fast täglich geduscht und immer, wenn ich daran dachte, Deo verwendet. Okay, dieser Satz klang etwas ekelig, aber ich schwöre, ich bin reinlich und stinke nicht.«

»Du brauchst nicht zu schwören, Tetê …«

»Entschuldigung, das ist so eine Angewohnheit. Wie auch immer, nach Gustavo Sampaios Verrat wurde mein Leben zur Hölle. In der Schule wurde ich täglich gemobbt. So sehr, dass ich mir wünschte, die Zeit zurückdrehen zu können, zu den Monaten, in denen sie mich einfach nur ignorierten. Es war elend. Alle kannten mich nun und hielten mich für ›die Verrückte, die nie einen abkriegt‹. Schlimmer noch! Ich wurde zum Ziel von Pseudowitzbolden, die jede Gelegenheit nutzten, über mich, meinen Namen und das, was ich getan hatte, alberne Witze zu reißen. Sie gaben mir skurrile Spitznamen: Depri-Tetê, Solo-Tetê, Maulkorb-Tetê und einer, der zum Hit an der Schule wurde, Stinkmorchel. Stinkmorchel!!! Das hat niemand verdient, Romildo!«

Ich war erleichtert, dass er nicht lachte. Er schaute auch nicht mitleidig, sondern sah mich weiter mit ausdruckslosem Gesicht an.

»Diese ›Scherze‹ waren einfach unerträglich. Ich nahm acht Kilo zu. Zum Frühstück verschlang ich jeden Morgen Frosties mit gezuckerter Kondensmilch. Ich fing an unglaubliche Desserts zuzubereiten. Kuchen, Mousse, Pudims … Ich wurde noch schweigsamer, als ich sowieso schon war, meine Noten sackten ab, und ich wollte nur noch im Bett bleiben, essen und weinen. Es war eine Katastrophe.«

Dann begann ich vor Romildo zu weinen. Wie peinlich … aber ich konnte die Tränen nicht zurückhalten. Das Coole war, dass er mir eine Kleenex-Box anbot, damit ich die Tränen trocknen konnte. Erst da wurde mir bewusst, dass andere Patienten hier sicher auch weinten, was mich irgendwie erleichterte. Ich atmete durch und fuhr fort:

»Obwohl ich mir geschworen hatte, mich nie wieder zu verlieben, verknallte ich mich kurz darauf in Alexandre Bueno aus der Parallelklasse. Er war zwar klein, hatte aber breite Schultern, was mir sehr gut gefiel. Aber insgesamt war er doch eher hässlich, Typ frühgeborenes Wasserschwein, wissen Sie, was ich meine? Nein? Also, ich will damit sagen, dass er für mich perfekt war! Ich dachte, mir als Hässlicher stünde nur ein Hässlicher zu. Bueninhos Atem roch nicht unbedingt nach Rosen, daher kam der nette Spitzname ›Stinkmaul‹, aber er war lustig«, berichtete ich und fühlte mich zunehmend unbefangener dabei, meine Geschichte mit Romildão zu teilen.

In meinen Gedanken waren wir bereits befreundet.

»Es ist immer angenehm, lustige Menschen um sich zu haben, nicht wahr?«

»Auf jeden Fall!«, gab ich begeistert zurück. »Aber dann fingen sie an zu witzeln, von wegen, dass Stinkmorchel und Stinkmaul-Bueninho wie für einander geschaffen waren. So kam es, dass er mir eines Tages entgegenschleuderte: ›Verschwinde! Du bist schlampig und einfach nur widerwärtig.‹ So wurde mein Herz zweimal in einem Jahr gebrochen. Ich schwor mir erneut, mich nie wieder zu verlieben. Nie wieder! Wirklich nie wieder!«

»Will deine Mutter deswegen, dass du eine Therapie machst?«

»Ich glaube schon. Meine Mutter sagt, dass ich nicht normal bin. Aber ich glaube, dass ich nicht normal sein kann, verstehen Sie? Als das alles passiert ist, war die Situation zu Hause unerträglich. Ich musste die ganze Zeit schweigend den Streitereien meiner Eltern zuhören. Sie versuchten nicht einmal, es vor mir zu verbergen. Tagtäglich stritten sie ungeniert in meinem Beisein. Nach einiger Zeit beschlossen sie, sich zu trennen. Ich war erleichtert, weil ich wusste, dass es für beide besser war. Ich fühle mich ein wenig schuldig, dass ich über die Trennung erleichtert war, aber …«

»Du musst dich nicht schuldig fühlen, Tetê. Du bist nicht schuld an den Streitereien deiner Eltern und niemand möchte in solch einem Umfeld leben.«

Mit diesen Worten nahm Romildão ein Gewicht in der Größe eines Klaviers von meinen Schultern. Ich seufzte sogar erleichtert und fuhr fort:

»Während meine Mutter für uns eine Wohnung suchte, verlor mein Vater seine Arbeit in dem internationalen Konzern, in dem er schon seit Jahrzehnten angestellt war. Er war dort sehr angesehen, glaube ich, und verdiente gut … Wir waren nicht reich, aber unser Leben in Barra war gut, es hat uns nie an etwas gefehlt. Aber dann kam die Krise, wie Sie wissen, und das Unternehmen hat viele Leute entlassen, ihn eingeschlossen«.

Als ich meinen Redeschwall unterbrach, bildeten sich zwei riesige Seen in meinen Augen. Ich senkte den Kopf.

»Du kannst so viel weinen, wie du willst, Tetê«, sagte Romildão sanft und reichte mir wieder die Box mit den Papiertüchern.

Ich weinte, aber nur ein bisschen. Es gab noch vieles, was ich dem Psy erzählen musste.

»Das Schlimmste war, als wir herausfanden, dass mein Vater unser letztes Geld auf Pferderennen gesetzt hatte und außerdem verschiedenen Leuten und der Bank Geld schuldete. Letztendlich hatte er während der Zeit seiner Berufstätigkeit nichts zur Seite gelegt. Das Ergebnis: Wir standen ohne Geld da.«

»Wie hat sich das auf dich ausgewirkt?«

»Schlecht, was sonst? Megaschlecht. Wir glauben immer, dass unsere Eltern unfehlbar sind. An dem Tag habe ich erfahren, dass mein Vater alles andere als perfekt war. Nicht einmal sparen konnte er. Sein Eingeständnis hat mich sehr getroffen. Schließlich haben sie beschlossen, ihrer Ehe noch eine Chance zu geben. Aber ich glaube, dass der Entschluss nichts mit Liebe zu tun hatte, sondern mit Geld. Es war für meinen Vater einfacher, verheiratet zu bleiben, statt zwei Wohnungen und all diese Dinge bezahlen zu müssen …«

Es war extrem schmerzhaft, sich an all das zu erinnern, aber darüber zu sprechen – und vor allem mich selbst sprechen zu hören – hatte eine ausgesprochen heilende Wirkung. Eine Last schien von meinen Schultern zu fallen.

»Und wie bist du mit diesen Veränderungen umgegangen?«

»Ich war schockiert! Wir mussten mit Sack und Pack zu meinen Großeltern nach Copacabana in die Rua Siqueira Campos ziehen. Meine Eltern mussten unsere Wohnung im Jardim Oceânico in Barra, in der wir bis dahin gewohnt hatten, verkaufen, um die Schulden zu bezahlen und etwas Geld zum Leben zu haben. Mein Vater war ja immer noch arbeitslos! Und ich, die immer gerne für sich war, musste auf einmal mit Eltern, Großeltern und Urgroßvater, dem Vater meiner Großmutter, unter einem Dach wohnen.«

»Verstehe …«

»Und kommende Woche werde ich in eine neue Schule gehen. Schlimmer noch, ein neuer Lebensabschnitt beginnt, die Oberstufe. Ich komme um vor Angst. Was, wenn sie mich wieder verspotten und mobben? Wenn ich es nicht schaffe, Freunde zu finden? Alle kennen sich bestimmt schon seit der Grundstufe. Aber ich werde die Neue sein und niemanden kennen. Das alles verunsichert mich sehr!«

Ich hatte große Lust, Romildão zu fragen: Gibt es einen Weg, wie ich eine fröhliche, lebhafte Jugendliche werden kann? Gibt es einen? Sag schon! Aber ich selbst würde antworten: Nein. Den gibt es nicht!

»Die neue Schule, die Oberstufe … Deine Unsicherheit ist verständlich. Aber sieh es doch positiv, Tetê. Wer weiß, vielleicht machst du eine viel bessere Erfahrung als in deiner alten Schule? Es ist auch eine Chance, Freunde zu finden.«

»Stimmt … So gesehen, ist wenigstens dieser Albtraum von Schule in Barra mit den schrecklichen Spitznamen vorbei, und ich muss nie wieder Gustavo Sampaio begegnen.«

»Ja, genau. Aber zurück zu deiner Familie. Deine Mutter ist berufstätig, nicht wahr?«

»Ja, sie arbeitet in einer großen Rechtsanwaltskanzlei in der Buchhaltung, aber sie hasst ihren Job. Außerdem würde ihr Gehalt nicht reichen, um unser vorheriges Leben weiterführen zu können. Jetzt sagt sie ständig, mein Vater sei ein Schnorrer, und verwendet gerne dieses Wort, wenn sie von ihm spricht. Im Übrigen streiten sich die beiden immer noch. Mein Vater weigert sich vehement, Arbeit zu suchen. Daher durchsucht meine Mutter die Zeitung nach Stellenangeboten. Sie kreist alle möglichen freien Stellen ein, die zu seinem Lebenslauf passen, aber er lehnt alle ab mit der Begründung, dass es unbedeutende Jobs seien und dass er keine Arbeit annehmen würde, die nicht seinen ›beachtlichen intellektuellen Qualitäten‹ entspricht. Ich habe meinen Vater nie für so intelligent gehalten, aber das nennt man wohl übersteigertes Selbstwertgefühl, oder?« Einmal habe ich einen seltsamen Dialog zwischen den beiden mitgehört – ich imitierte meine Eltern für den Psy:

»Zum Teufel mit deiner Intellektualität, Reynaldo Afonso! Arbeit ist Arbeit. Du musst arbeiten, um Geld nach Hause zu bringen. Ich schaffe das nicht alleine!«

»Es wird sich schon was finden, Helena Mara! Immer mit der Ruhe! Dieser ständige Druck von dir tut mir nicht gut.«

Richtig, mein Vater heißt Reynaldo Afonso und meine Mutter Helena Mara. Immer wenn sie streiten, verwenden sie beide Namen, was die Aggression noch verstärkt.

»Es tut auch meinen Eltern nicht gut, dass du ihnen auf der Tasche liegst und sie dich unterstützen müssen, Reynaldo!«

»Verstehe … Wo wir gerade von deinen Großeltern sprechen, wie ist es für dich, bei ihnen zu wohnen?«, wollte Romildão wissen.

»Nichts Besonderes. Wir wohnen dort seit zwei Monaten und zweiundzwanzig Tagen. Oma Djaniras Lieblingszeitvertreib besteht darin, über andere zu tratschen, mich eingeschlossen, sich in mein Leben einzumischen und die Todesanzeigen in der Zeitung zu lesen. Ich weiß nicht, was daran so interessant ist. Sie ist wie besessen vom Thema Tod und hält eine Beerdigung für ein tolles Event. Einmal wollte sie, dass ich mit ihr auf dem Friedhof spazieren gehe, um ›den Zauber der Stille zu genießen‹. Ich hatte mich gerade hingelegt und wollte zum tausendsten Mal Das Schicksal ist ein mieser Verräter lesen, da muss sie mich zu einer ›Runde im Paradies‹ einladen. Und ich soll die sein, die verrückt ist.«

Diesmal huschte tatsächlich ein Lächeln über Romildãos Gesicht.

»Meine Familie unterhält sich schreiend, tausend Dezibel über Normallautstärke.«

»Ach, und du sprichst so leise, so nach innen …«

»Genau. Ich wüsste nur zu gerne, wie es wäre, in einem Haus ohne Geschrei zu leben.«

»Langsam gewöhne ich mich an die Tatsache, mir ein Zimmer mit meinem Urgroßvater zu teilen. Er ist taub, und wenn er schnarcht, klingt es, als hätte er ein ganzes Sinfonieorchester in der Brust, kennen Sie das? Nein, natürlich nicht, wie auch …«

»Doch ich kenne das«, gab er mit einem diskreten Lächeln zurück.

»Gut, leider ist unsere Zeit vorüber.«

Ich dachte: Schon?, sagte aber nichts. Ich wusste nicht, ob ich noch mehr erzählen wollte, ob ich dieses Treffen wiederholen wollte oder ob ich ihn überhaupt wiedersehen wollte.

»Und wie lautet die Diagnose? Bin ich normal? Bin ich verrückt?«, wollte ich wissen, halb tot vor Angst, wie die Antwort ausfallen würde.

»Ich verwende niemals diese Wörter, Tetê. Als Psychotherapeut würde ich sagen, dass du eine typische Jugendliche bist, mit Fragen, die deinem Alter entsprechen. Du befindest dich zweifellos in einer schwierigen Phase mit deiner Familie, und eine Therapie könnte dir helfen, deine Probleme zu überwinden und Freunde zu finden, aber du musst es wollen. Es muss dein Wunsch sein, einmal die Woche zu einer Sitzung zu kommen, nicht der deiner Mutter. Du musst es wollen, verstehst du? Diese Entscheidung triffst du alleine.«

Ich liebte Romildão.

Wir standen auf und gingen in Richtung Wartezimmer. Meine Mutter wartete hyperaufgeregt auf mich und wollte mit Romildão gleich über meine »ernsthaften Probleme« sprechen.

»Haben Sie ihr viele Medikamente verschrieben, Herr Doktor?«, fragte sie sofort.

»Keine Medikamente.«

»Keine Medikamente? Wie darf ich das verstehen?«

»Ganz ruhig, Dona Helena Mara, es gibt keinen Grund zur Beunruhigung. Es ist eine Sache des Alters. Die Entscheidung, eine Therapie zu machen, liegt ganz alleine bei Tetê. Nächste Woche rufe ich Sie an und frage nach, wie sich Tetê entschieden hat. Falls sie weitermachen möchte, werden wir über Termine und das Honorar sprechen. Was Tetê sicherlich helfen würde, ist körperliche Betätigung an der frischen Luft. Endorphine wirken Wunder! Außerdem empfehle ich, dass sie sich in einen Theaterkurs einschreibt, um ihre Schüchternheit zu überwinden und Freunde zu finden.«

Ich nickte zustimmend, doch Sport an der frischen Luft war ein No-Go. Ich verabscheue die Natur. Und Theater, nie im Leben. Ich bin extrem unsicher.

Erleichtert verließ ich die Praxis.

»Siehst du, Mama? Ich bin weder anormal noch verrückt!«, sagte ich triumphierend.

»Das sagst du! Dieser Arzt ist unfähig. Einfach unfähig. Ich werde bei der Arbeit fragen, ob jemand einen guten Arzt kennt. Ich will eine zweite Meinung. Nie wieder vertraue ich den Empfehlungen von diesem Moacyr. Wie konnte ich ausgerechnet einen Freund deines Vaters um Rat bitten.«

3

Seit meiner Sitzung beim Psychotherapeuten war eine Woche vergangen und der unheilvolle Sonntag vor dem ersten Schultag war gekommen. Ich verbrachte den Tag damit, meine Sachen vorzubereiten und schon mal im Voraus zu leiden. Es ist unerklärlich, warum für ein schüchternes Mädchen, das in der alten Schule immer ignoriert und viele Male mit irrsinnig komischen Spitznamen (nicht!) und unglaublich verletzenden Witzen verspottet wurde, ein Schulwechsel so ein Horror sein sollte. Aber Veränderungen sind für mich, der es an jeglichem Selbstwertgefühl mangelt, schlimmer als jeder Albtraum, aus dem man irgendwann erwacht: Sie sind tragische Realität.

Anstatt es als Chance zu sehen, neue Freunde zu finden, dachte ich nur daran, wie ich mit meinen zukünftigen Hatern zurechtkommen würde.

Ich sprach es beim Abendessen an, um Unterstützung von den Menschen zu bekommen, die mich am meisten lieben: meiner Familie.

»Jetzt lass es doch mal auf dich zukommen, niemand hat es auf dich abgesehen, mein Liebes!« Mein Urgroßvater war einfach süß.

»Genau, du siehst toll aus, seit du die Haare etwas kürzer trägst. Es war höchste Zeit, die kaputten, leblosen Zotteln abzuschneiden«, fügte meine Mutter hinzu.

»Das finde ich auch, du hast sogar ein wenig abgenommen, seit ihr hergezogen seid«, fügte meine Oma hinzu. »Nur ein kleines bisschen, aber es ist schon mal ein Anfang.«

»Nicht nur ein kleines bisschen, du hast deutlich abgenommen, Liebes«, verteidigte mich Großvater José.

»Du machst das mit der neuen Schule mit links«, ermutigte mich mein Vater.

»Würdest du jetzt noch den Oberlippenflaum entfernen, würdest du richtig abräumen! Du würdest einschlagen wie ein Feuerwerk!« Meine Mutter konnte es nicht lassen.

»Denk nicht einmal daran, Mama. Und was bitte soll ›einschlagen wie ein Feuerwerk‹ bedeuten?«

»Na, das sagt ihr Jugendlichen doch so«, meinte meine Mutter, die sich einbildete, bei diesen Themen mitreden zu können.

»Nein, natürlich nicht!«

»Doch! So redet ihr: einschlagen, rocken, gönnen, chillen, krass!«

»Mama, bei welchen Jugendlichen beziehst du deine Informationen? Du musst dir dringend bessere Quellen suchen.«

Hat irgendjemand eine respektlosere Familie als ich? Im Laufe meiner fünfzehn Lebensjahre habe ich mich mehr als einmal gefragt, ob es so was wie Mobbing in der Familie gibt. Aber vielleicht haben sie ja die besten Absichten und sind einfach nur naiv.

»Ah. Und jetzt, wo du jeden Tag Deo verwendest, gehört Stinkmorchel der Vergangenheit an«, tönte meine Großmutter.

»Mama! Ich kann nicht glauben, dass du es ihr erzählt hast«, fuhr ich auf.

»Mir und allen, die auf der Hausbewohnerversammlung waren«, gab meine Großmutter zurück.

»Du hast auf der Hausbewohnerversammlung darüber gesprochen?! Warum?«, fragte ich fassungslos.

»Moment, es ging nicht um den Spitznamen! Ich habe lediglich die Tatsache hervorgehoben, dass du gut riechst, täglich Deodorant verwendest und nicht länger Stinkmorchel bist. Doch nur, weil ich will, dass die Jugendlichen im Haus dich annehmen, mein Kind. Dass sie dich wie die Prinzessin behandeln, die du bist, auch wenn du es nicht wahrhaben willst. Sie sollen dich nicht länger meiden, wenn du runter zum Spielplatz oder in den Fitnessraum gehst. Ihr seid schon fast drei Monate hier und du hast noch niemanden kennengelernt. Schimpf nicht mit deiner Mama. Es war nur zu deinem Besten.«

»Ach ja, zu meinem Besten? Bist du sicher? Willst du, dass sie aus Mitleid mit mir reden? Und das soll zu meinem Besten sein?« Ich war entsetzt.

»Sicher! Das ist doch ein guter Anfang«, warf meine Großmutter ein. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Unterhaltung eine Lautstärke erreicht, dass sogar mein Urgroßvater es hörte und sich einmischte:

»So ist es. Mit Mitleid wird alles gut, die Leute lächeln, sind hilfsbereit und sie spielen mit dir«, vervollständigte er.

»Spielen? Ich spiele nicht mehr, Uropa. Ich bin fünfzehn!«

»Schon? Wie schnell doch die Zeit vergeht … Aber für uns wirst du immer unsere Kleine bleiben!«, sagte er lächelnd.

Meine Familie ist unglaublich!

»In dieser Schule wirst du dich nicht ausgeschlossen fühlen, Liebes.« Es war mein lieber Großvater, der die Welt wieder in Ordnung brachte. »Es ist eine der besten Schulen hier in der Südzone mit ausgezeichneten Lehrern und guten Schülern. Oma und Opa haben nicht gespart. Deine Ausbildung ist uns eine Investition wert. Du bist ein sehr intelligentes Mädchen, Tetê.«