Buch

Meg und Mitch leben und arbeiten in dem Skiort Banff in den Rocky Mountains. Bis zu ihrer Hochzeit sind es nur noch wenige Wochen, und ihr Glück könnte nicht größer sein. Doch dann zieht ein Schneesturm auf. Als Mitch erfährt, dass zwei Wanderer in den Bergen vermisst werden, macht er sich auf, um ihnen zu helfen. Eine waghalsige Mission, die in einer Tragödie endet. Denn Mitch kehrt nicht zurück. Meg, die währenddessen alleine in einer Hütte zurückbleibt, versucht verzweifelt, über Funk die Bergrettung zu alarmieren. Doch ihr Hilferuf landet versehentlich bei Jonas, einem Fremden. Dieser ist tief bewegt von Megs Verzweiflung und meldet sich tags darauf bei ihr. Ein regelmäßiger Kontakt entsteht, und aus einer Zufallsbekanntschaft entwickelt sich eine tiefe Freundschaft. Und langsam beginnt Meg sich zu fragen, ob sie mehr für Jonas empfindet. Doch kann man sich in jemanden verlieben, den man noch nie getroffen hat?

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Karen Swan

Sternenwinternacht

Roman

Aus dem Englischen

von Gertrud Wittich

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Die englische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel
„Christmas Under the Stars“ bei Pan Books,
an imprint of Pan Macmillan, London.
Copyright © der Originalausgabe 2016 by Karen Swan
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: borchee / getty images
FinePic®, München
em · Herstellung: kw
Satz: omnisatz GmbH, Berlin
ISBN: 978-3-641-21089-2
V002
www.goldmann-verlag.de
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Für Rebecca MacLeod

Geliebt und unvergessen.

Wir vermissen dich.

Prolog

Samstag, 25. März 2017

Lucy zog die Bettdecke glatt und schüttelte die Kissen auf. Die Wärmflaschen hatte sie bereits unter die Decken geschoben, wo sie die Matratzen anwärmten. Außerdem hatte sie ein heißes Bad eingelassen, dessen Dampf in dünnen Schwaden durch die angelehnte Tür ins Zimmer zog und sich auf den Spiegel der Schminkkommode legte. Die Gäste waren sicher völlig durchgefroren, wenn sie eintrafen.

Draußen brauste der Wind und rüttelte an den Fensterscheiben. Das Unwetter nahm wieder zu, nachdem es tagsüber eine Atempause eingelegt hatte. Schneeflocken fegten und torkelten am Fenster vorbei, tanzten in alle Richtungen, als wäre die Welt eine Schneekugel, die von einer Riesenhand geschüttelt wurde.

Lucy durchquerte das Zimmer, um die Vorhänge zuzuziehen, und spähte kurz nach draußen zu ihrem kleinen Bungalow auf der gegenüberliegenden Seite des Hinterhofs. Aus dieser Viersterne-Perspektive sah er heruntergekommen und schäbig aus, selbst wenn man die großen Mülltonnen übersah, die aufgereiht an einer Wand standen. Im Vergleich zu den frischen Schneemassen wirkte der weiße Anstrich grau, schwarzgrüne Schimmelspuren krochen am Fundament hoch; das Küchenfenster hatte in einer Ecke einen Sprung (ein geworfener Schuh, wenn sie sich recht erinnerte), und die Hortensien, die sie im letzten Sommer gepflanzt hatte und die in zwei großen Töpfen die Haustür flankierten, waren eingegangen. Nur ein paar kahle Zweige schauten aus dem Schnee hervor. Grimmig wandte sie sich ab. Sie würde Tuck Beine machen, sobald der Schnee geschmolzen war, er konnte auch mal was tun. Alles, was es brauchte, war ein bisschen weiße Farbe, um den Anstrich aufzufrischen, ein paar neue Pflanzen aus der Gärtnerei und schon sähe ihr kleines Häuschen wieder aus wie neu. Würde sich wieder wie neu anfühlen.

Hier dagegen war alles sauber und perfekt, wie es in einem Hotel sein sollte (das war schließlich ihr Sinn und Zweck, oder?). Lucy sah sich noch einmal prüfend um, dann trat sie in den Gang hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Aus einem anderen Zimmer kam gerade ein japanisches Pärchen – Zimmer 28, wenn Lucy sich nicht irrte; war dort nicht die beheizte Handtuchstange ausgefallen? Lucy lächelte freundlich.

»Haben Sie alles, was Sie brauchen? Oder benötigen Sie noch etwas? Frische Handtücher? Mineralwasser …?«, erkundigte sie sich im Vorbeigehen. Das Pärchen verneinte lächelnd, was wahrscheinlich auch daran lag, dass beide kaum Englisch sprachen.

Mit leisen, entschlossenen Schritten ging Lucy den Gang entlang und nahm die Dienstbotentreppe hinunter in die Küche, wo ihre Mutter bereits am Herd stand und in einem großen Suppentopf rührte. Das soeben eintreffende Personal nahm es mit Verblüffung zur Kenntnis. So erstaunt, wie die Mitarbeiter waren, hätte man meinen können, ihre Mutter stünde in Unterwäsche und Strapsen am Herd und nicht in einer Küchenschürze, mit aufgekrempelten Ärmeln. Barbara blickte bei Lucys Eintreten auf, ihre Wangen glühten, und auf ihrem Gesicht lag ein gehetzter Ausdruck, doch ihre wasserstoffblonden Locken waren perfekt frisiert wie immer – jedes Härchen an seinem Platz. Ob Sturm oder Regen: Hauptsache, die Frisur saß. Lucys Mutter legte großen Wert auf eine gepflegte Erscheinung.

»Ist alles fertig?«, erkundigte sie sich.

Lucy nickte. »Alles vorbereitet.«

»Gut.« Barbara warf einen Blick auf ihre Uhr und rieb sich nervös die Hände. »Sie müssten jeden Moment hier sein.«

Lucys Handy klingelte. Sie schmunzelte, als sie die Nummer sah, wandte sich ab und trat an die Hintertür, um das Gespräch anzunehmen. Als sie diesmal auf den Hinterhof hinaussah, war die Schäbigkeit des Bungalows vergessen.

»Luce, ich bin’s!« Tucks Stimme wurde durch ein Rauschen verzerrt. Lucy hörte ein Brausen und Knallen, das klang, als würde jemand Bettlaken ausklopfen. Offenbar befand er sich draußen, irgendwo im Freien.

»Wo bist du?«, rief sie. Ob er sie bei dem Wind überhaupt hören konnte?

»Auf dem Heimweg vom Bill’s.«

Lucy biss sich auf die Lippe. Er kam aus der Kneipe, ja klar, wie hätte es auch anders sein können. Es verging kaum ein Tag, an dem er nicht noch auf ein oder vier Bier ins örtliche Pub einkehrte. Wahrscheinlich mehr als vier, wenn er bei diesem Wetter zu Fuß heimging – der Wirt musste ihm den Autoschlüssel abgenommen haben. Man kannte ihn.

»He, hör zu«, brüllte er, »hast du schon mit Mitch oder Meg geredet?« Er schien außer Atem zu sein, als würde er laufen oder sehr schnell gehen.

»Seit heute früh nicht mehr.«

»Shit«, murmelte er.

»Wieso?«

»Ich kriege Mitch nicht ans Handy, und ich weiß nicht, wo er ist. Wollten sie während der kurzen Flaute heute Nachmittag nicht ins Tal runterkommen?«

»Ich hab sie nicht gesehen; sie müssen noch oben auf dem Berg sein.« Lucy runzelte die Stirn. »Wieso? Was ist los? Stimmt was nicht?«

»Hast du’s nicht gehört? Zwei Wanderer werden vermisst, in Wilson’s Gully, aber die Bergrettung will nicht ausrücken, zu gefährlich, behaupten sie. Kaum Sicht, Lawinengefahr zu groß. Schlappschwänze! Hier machen sich alle die größten Sorgen. Da ist ein Kind dabei, Mann! Ein zwölfjähriger Junge!«

Lucy verzog das Gesicht. So wie er sich anhörte, hatte er definitiv mehr als vier Bier intus. »Aber Tuck …«

»Hör zu, ich muss Schluss machen. Ich muss unbedingt Mitch erreichen! Er ist nur ne Meile weg von da.«

Lucy zögerte. »Du meinst, du willst ihn auf die Suche schicken? Bei dem Sturm?«

»Das muss er selbst entscheiden. Aber er sollte es erfahren. Ich an seiner Stelle würde es jedenfalls wissen wollen.«

Lucy rauschte das Blut in den Ohren. Ihr Blick fiel auf einen Waschbären, der um die Mülltonnen herumschnüffelte. Ein Windstoß fuhr in sein schwarz-weißes Fell und stellte die Härchen senkrecht auf. Lucy sah, wie er ängstlich davonstob und im Unterholz verschwand.

»Luce? Hörst du mich?«

»Äh, ja … ja, klar.«

»Ich brauche noch ein bisschen, okay? Wenn du von ihnen hörst, sag mir Bescheid. Oder sag Mitch Bescheid, dass ich versuche, ihn zu erreichen, okay?«

»Ja … äh, ja k-klar.«

»Bye, Babe.«

»Bye«, wisperte sie. Er legte auf. Lucy klopfte das Herz bis zum Hals, das Telefon lag in ihrer Hand wie ein Stück glühende Kohle.

Erster Teil

VORHER

1. Kapitel

Samstag, 18. Februar 2017

Sie standen am Rand der steil abfallenden Rinne, ihre Snowboards ragten über die Kante. Die Schlucht zog sich in Windungen hinunter ins Tal.

»Also ich weiß nicht, Mann«, beschwerte sich Tuck. »Sieh dir mal diese Felszacken an, das ist wie ein Hobel, das reißt uns die Base auf, wenn wir da rüberfahren.«

»Stimmt.«

Tuck wandte verblüfft den Kopf und starrte Mitch an, der eine orange verspiegelte Gletscherbrille trug, in der sich sein, Tucks, Gesicht spiegelte. »Echt jetzt?«

Mitch nickte. »Deshalb sollten wir die Zacken besser vermeiden.«

Tuck schluckte. Er hätte es besser wissen sollen. Mitch erklärte seinem Freund mit ausgestrecktem Arm, welchen Weg sie nehmen würden. »Für das Steilstück halten wir uns an diese Seite da, im Schatten, okay? Dann links an der Felsnadel vorbei, nicht rechts, da ist es ganz vereist, siehst du?« Er deutete auf eine sechs Meter hohe Felsnadel, die im Couloir aus dem Schnee ragte. »Diesen ganz leichten Schimmer da? Das ist arschglatt, wenn man an der Stelle ausrutscht und die Kontrolle verliert, knallt man mit 120 Sachen gegen die Felswand.« Mitch schüttelte mit einem missbilligenden Schnalzen den Kopf. »Also, wie gesagt, links halten. Wird knapp.« Er musterte die Abfahrt mit schmalen Augen, als wolle er Neigungswinkel und Kurvenverläufe ausrechnen, dann schaute er Tuck an und nickte grinsend. Tuck konnte Mitchs Augen hinter der Brille zwar nicht erkennen, aber das war auch nicht nötig. Er kannte seinen Freund viel zu gut. »Es ist machbar.«

Tuck musterte die Schlucht und wünschte, er wäre ebenso zuversichtlich. »Ist da nicht ein Riss?« Er schlug mit dem Handrücken gegen Mitchs Brust und zeigte nach oben, zur Felswand über ihnen.

»Wo?«

Tuck deutete auf einen Schneeüberhang, etwa zehn Meter die Schlucht hinunter, direkt neben der Felsnadel, in dem sich ein Haarriss abzeichnete. »Mann, das kann jeden Moment runterkommen, und dann sind wir erledigt.«

Mitch grinste. »Nur wenn du kreischst wie ein Mädchen.«

Tuck ließ die Schultern hängen. Innerlich wahrscheinlich schon …

Beruhigend klopfte ihm Mitch auf den Rücken. »Mann, uns bleibt sowieso nichts anderes übrig – es ist der einzige Weg nach unten. Entweder wir setzen uns hier hin und warten, bis das Ding runterkommt, oder wir wagen es und zischen durch. Das ist der letzte schöne Tag, morgen soll es sich zuziehen. Eine andere Gelegenheit kriegen wir nicht. Du weißt ja, dass ich Meg versprechen musste, vor der Hochzeit nichts mehr zu riskieren; sie will mich nicht im Gips vorm Altar stehen sehen. Nein, Mann, das ist die letzte Gelegenheit, um die Aufnahme in den Kasten zu kriegen.«

Tuck war flau im Magen, aber er nickte. Er konnte es auf dem Board mit jedem aufnehmen, außer mit seinem besten Freund und ältesten Konkurrenten: Mitch war ihm schon immer eine Nasenlänge voraus gewesen.

Badger winselte – nicht etwa aus Angst, sondern vor Ungeduld. Eine Mischung aus Bernhardiner und Schäferhund, groß, aber schmal, war er geradezu dazu prädestiniert, seinem Herrchen durch den Tiefschnee zu folgen. Die Ohren gespitzt, den Schwanz wie eine Klobürste aufgestellt und mit heraushängender rosa Zunge, die aus dem Weiß der Umgebung hervorstach, folgte er ihm mit beeindruckender Ausdauer jeden Abhang hinunter, egal wie steil oder wie hoch er war. Mitch hatte ihn gut abgerichtet. Selbst wenn das Schlimmste passieren und sie von einer Lawine verschüttet werden sollten (und die Transmitter in ihren Rucksäcken ausfielen) – der treue Badger würde sie ausgraben. Er war ein guter Kamerad und der beste Beistand, den sich ein Mann wünschen konnte.

»Kannst es kaum abwarten, was, Badger?« Tuck kraulte den Hund mit einem dicken Handschuhfinger hinter den Ohren. »Na gut, bringen wir’s hinter uns!« Er zog den Handschuh aus, griff nach oben und schaltete seine Helmkamera ein. »Alles klar?«

»Klarer als klar! Ich werd’s dir zeigen!« Mitch schlug seinem Kumpel lachend auf den Rücken. Dann verging ihm das Grinsen. »He, Moment mal, was ist denn das?« Mitch deutete auf Tucks entblößtes Handgelenk.

»Was?« Tuck warf einen Blick auf seinen Arm und bemerkte die tiefen Kratzer an seinem Handgelenk. »Ach nichts, hab mich beim Holzhacken an ein paar Zweigen verletzt.« Er zupfte am Ärmel und streifte den Handschuh über – mit dem schneidigen Wind waren es minus fünfundzwanzig Grad.

»Das sind aber ein paar fiese Kratzer, Mann.«

Tuck zuckte grinsend mit den Schultern. »Waren auch fiese Holzscheite.«

Mitch starrte Tuck wortlos an.

»Was denn?«, lachte der andere.

»Na gut, dann los«, seufzte Mitch. »Wir sehen uns unten, ja?«

Und schon stürzte er sich den steilen Abhang hinab in die Schlucht. Mit atemberaubender Geschwindigkeit sauste er durch die tiefe Rinne, sich wie besprochen links im Schatten haltend. Kurz vor der Felsnadel machte er eine scharfe Kurve, stob links an der Nadel vorbei und verschwand. Badger, der wusste, wie es lief, folgte seinem Herrchen in geringem Abstand. Unerschrocken und nimmermüde sprang er durch den tiefen Pulverschnee, verschwand zuerst mit Schnauze und Vorderbeinen im kalten Weiß und schnellte mit den Hinterbeinen wieder heraus, eine schaukelnde Bewegung, wie eine Wippe.

Tuck, der jetzt ganz allein dastand, murmelte fluchend: »Shit, verdammter Mistkerl, immer muss er …« Für Mitch war alles ein Spiel. Angst schien ihm fremd zu sein. Tuck ging in die Knie, beugte sich vor und ließ sich, ehe er es sich anders überlegen konnte, den Abhang runterfallen. Den Blick fest auf die Spur seines Freundes geheftet, folgte er ihm so genau wie möglich. Tiefe Löcher im Pulverschnee rechts von ihm verwiesen auf Badgers Route.

Er näherte sich der Felsnadel – die engste Stelle der Schlucht –, ohne einen Blick zum Schneeüberhang nach oben zu riskieren. Es hätte ohnehin nichts genützt – wenn sich die Lawine löste, würde sie ihn verschütten, ob er nun hinsah oder nicht.

Er hielt den Atem an und schaffte es durch den Engpass an der Nadel vorbei. Jetzt hatte er wieder freie Sicht auf Mitch, der in diesem Moment mit halsbrecherischer Geschwindigkeit in einer schnurgeraden Linie zwischen den spitz aus dem Schnee ragenden Steinen hindurchsauste. »Was für ein Spinner …«, murmelte Tuck. Nicht zu fassen, dass er sich von Mitch zu diesem Himmelfahrtskommando hatte überreden lassen, auch wenn sie seit der Kindheit von dieser Abfahrt durch die enge Rinne träumten. Erst jetzt verfügten sie über das nötige Können, die Erfahrung und die richtige Ausrüstung, insbesondere die richtigen Bretter – um genau zu sein: ihre selbst designten Bretter –, um ein solches Unternehmen zu wagen.

Von den felsigen Schluchtwänden, an denen er mit Lichtgeschwindigkeit vorbeizischte, hingen messerscharfe Eiszapfen herab, die aquamarinblau in der Sonne funkelten. Eine dicke glatte Eisschicht hatte sich über die Felsen gelegt und verzerrte und vergrößerte sie wie in einem Spiegelkabinett. Aber Tuck hatte keine Zeit, hinzusehen oder Angst zu haben. Alles war Instinkt, es gab nur diesen Moment und sonst nichts.

Mitch hatte es bereits hindurch geschafft und befand sich außerhalb, wo die Sonne glitzerte. Hier betrug das Gefälle nur mehr fünfundsechzig Grad. Er warf beide Arme in die Luft und stieß einen lauten Jubelschrei aus. Mit lässigen Schwüngen, leicht in den Knien, wedelte er den Abhang hinunter. Das Schlimmste war vorbei, die Mühe wurde mit der Ausschüttung von Endorphinen belohnt, Glückshormone, die durch seinen Körper rauschten. Badger holte auf und sprang mit begeistertem Gebell neben seinem Herrchen her.

Tuck hatte es auch fast geschafft – die Schlucht öffnete sich und gab den Blick frei auf weite, schneebedeckte Weiden, der Berg wurde wieder zum Freund. In diesem Moment – Mitchs Jubelschreie waren noch nicht ganz verklungen – hörte er das Geräusch, das er am meisten fürchtete: ein tiefes Poltern und Krachen, wie der Husten eines alten Mannes.

Tuck konnte sich nicht umdrehen, solange er sich noch in der Schlucht befand, aber das brauchte er gar nicht, er wusste auch so, dass sich eine gewaltige Schneelawine gelöst hatte und nun durch die Felsspalte auf ihn zuraste. Mitch hörte es ebenfalls, er fuhr herum und erstarrte: Er konnte sehen, was Tuck nur hören konnte.

»Shit, Tuck! Bloß weg hier!«, brüllte er, warf sein Brett herum und sauste in gerader Linie den Abhang hinunter.

Tuck, der nur seinen eigenen keuchenden Atem hörte und das Brausen und Poltern der Lawine, fuhr seinem Freund nach, folgte seiner Spur. Sie hielten sich links und fuhren auf direktem Weg nach unten, eine viel steilere Linie als geplant, aber ihnen blieb nichts anderes übrig, denn dort waren die Bäume näher. Der Wald würde die Lawine zwar nicht ganz aufhalten, aber zumindest ein wenig bremsen können. Wenn sie es schafften, rechtzeitig tief genug reinzukommen …

Hinter ihm wurde das Getöse immer lauter, die Lawine nahm an Umfang und Geschwindigkeit zu. Ihre Abfahrt war halsbrecherisch, sie machten waghalsige Sprünge, ohne zu wissen, wo sie landen würden, selbst Mitch wäre normalerweise ein solches Risiko nicht eingegangen. Nur wenn sie bis an die Grenzen ihres Könnens gingen (und darüber hinaus), würden sie vielleicht überleben … Badger sprang laut bellend neben Mitch her. Hier, wo die Schneefläche offen den Winden ausgesetzt war, lag der Belag kompakter, und er kam leichter vorwärts, tauchte nicht jedes Mal bis zum Bauch im Schnee unter.

Auf einmal verdüsterte sich der Tag, und da wusste Tuck, dass ihn die Ausläufer der Lawine beinahe eingeholt hatten. Mächtige Schneewolken ballten sich hinter und über ihm zusammen und stiegen in den Himmel auf, und der abrutschende Schnee schnappte nach seinen Fersen. Er drehte sich ein wenig und fuhr schnurstracks nach unten, konnte aber kaum noch etwas sehen, weil der aufgewirbelte Schnee sich vor die Sonne legte und nun alles flach und monochrom aussah, zweidimensional. Er konnte weder Entfernungen noch Umrisse genau erkennen. Und er befand sich auf unbekanntem Terrain. Er war viel zu schnell, wenn jetzt ein Felsen vor ihm auftauchte, wäre es aus mit ihm …

Weder Mitch noch den Hund konnte er mehr sehen, alles ging im Gewirbel unter, wie in den Aschewolken eines aktiven Vulkans; der pulverige Schnee geriet ihm in Nase, Mund und Kehle, die ersten eisigen Schneebrocken prasselten wie Pistolenkugeln auf seinen Helm. Er spürte, wie die vorderste Schneewelle gegen sein Brett drückte, ihn vorwärtsschob. Er drohte, das Gleichgewicht zu verlieren, und verlagerte sein Gewicht aufs Vorderbein. Plötzlich tauchte vor ihm die Baumlinie auf – Stämme so dick wie die Beine eines freundlichen Riesen, der Schutz bot. So nahe.

Zu nahe.

Tuck bremste scharf, er war zu schnell für die Schwünge, die notwendig waren, um zwischen den Bäumen hindurchzuwedeln. Es machte keinen Unterschied, ob er mit einem Baumstamm oder mit einem Felsen zusammenprallte (oder unter 500 Tonnen Schnee begraben wurde) – bei dieser Geschwindigkeit wäre er so oder so ein Omelette.

»Oh yeah!«, hörte er Mitch nicht weit vorne brüllen. Sehen konnte er ihn allerdings nicht.

»Wo bist du, verdammt?!«, brüllte Tuck. Sich umzusehen wagte er noch immer nicht. Er war vollkommen erledigt, seine Beine begannen zu zittern, es gelang ihm nur mit Mühe, mit dem Board zwischen den Bäumen hindurchzugleiten, Zweige und Äste peitschten ihm ins Gesicht und gegen den Körper.

»Hier bin ich!«

Tuck folgte Mitchs Stimme und dem fröhlichen Gebell des Hundes, das ihm verriet, dass die beiden, wo immer sie sich auch befanden, außer Gefahr waren. Verbissen fuhr Tuck weiter zwischen den Bäumen hindurch, ohne recht zu wissen, wo er selbst sich befand, als er merkte, dass das Getöse hinter ihm nachließ und er allmählich wieder etwas sehen konnte. Er spitzte die Ohren und spähte in den weißen Schneewirbel. Fünfzig Meter weiter vorne drang etwas Limonengrünes durch den weißen Nebel. Mitchs Jacke!

»Sind wir gut, oder was?«, brüllte Tuck und steuerte auf die Jacke zu, wie auf eine Fackel im Sturm. Dicht vor Mitch kam er Schnee aufspritzend zum Stehen.

Die beiden Männer umarmten sich stürmisch.

»Ja, Mann! Wir sind die Besten!«, brüllte Mitch und schlug Tuck heftig auf den Rücken. Tuck wusste jetzt schon, dass er später blaue Flecke haben würde. Ein Ehrenabzeichen.

Sie spähten zurück, zwischen den Bäumen hindurch, wo es noch immer düster war. Die Lawine hatte sich nicht gelegt, noch rollte sie bergab wie ein Schnee-Tsunami – wild und alles verschlingend. Aber das Beste war: Sie hatten alles auf Film!

Sie brüllten und jubelten vor Begeisterung, warfen die Köpfe zurück und heulten wie zwei junge Wölfe, so wie sie es getan hatten, als sie sieben, als sie zwölf, als sie fünfzehn und als sie einundzwanzig gewesen waren …

Badger schloss sich an, als wüsste er ganz genau, was es zu feiern gab – dass sie jung waren. Dass sie frei waren. Dass sie am Leben waren.

2. Kapitel

Samstag, 18. März 2017

Meg konnte sie jenseits des Vorhangs hören, die beiden älteren Frauen, die sich wie immer auf nichts einigen konnten.

»Sollen wir ihnen etwa Lätzchen umbinden?«, spottete Barbara gekränkt.

»Unsinn. Aber Servietten, die wie Schwäne gefaltet sind – das ist lächerlich und übertrieben«, entgegnete Dolores. »Du kennst mein Motto: Weniger ist mehr.«

»Hmpf. Dein Friseur scheint’s jedenfalls kapiert zu haben«, giftete Barbara. »Und was für die Japaner gut genug ist, ist es doch auch für uns, oder?«

Meg schüttelte schmunzelnd den Kopf über das gutmütige Gezänk. Die beiden benahmen sich wie ein altes Ehepaar! Ob es mit ihr und Mitch auch mal so werden würde? Das Schlimmste wäre es nicht. Sie bauschte ihre weiten Röcke auf und bewunderte sich mit zur Seite geneigtem Kopf im Spiegel. Wie ungewohnt sie aussah! Wie eine Prinzessin: bodenlanges Kleid, Krönchen – oder besser gesagt: Tiaaara! Nun, nobel geht die Welt zugrunde.

Sie war beim Friseur gewesen, der ihr langes kastanienbraunes Haar mit einem Lockenstab in dicke Korkenzieherlocken gedreht hatte. Auf dem Hinterkopf zusammengefasst, hing es ihr in Kaskaden über den Rücken, einige zarte kleine Löckchen umrahmten ihre feinen Züge. In den Händen hielt sie einen kleinen Strauß aus cremeweißen Seidenrosen, die der Brautmodenladen zur Verfügung stellte, um den Look zu vervollkommnen. Am eigentlichen Tag würde sie einen Strauß Freesien tragen, die Lieblingsblumen ihrer Mutter. Momentan war nicht die Saison dafür, es wäre daher zu teuer gewesen, nur zur Anprobe einen Strauß zu bestellen. Sie musste sich mit diesem Sträußchen zufriedengeben. Aber abgesehen davon war alles bereit. Das Kleid passte nach einigen kleinen Änderungen perfekt, heute in zwei Wochen würde sie heiraten, und das würde ebenfalls perfekt laufen …

Schwungvoll schob sie den Vorhang beiseite, trat mit angehaltenem Atem hinaus und präsentierte sich den zwei älteren Frauen.

Beide saßen Ellbogen an Ellbogen auf dem Brokatsofa und verstummten, als hätte sie der Schlag getroffen. Barbara, sonst nie um Worte verlegen, schlug die Hand vor den Mund und starrte die ungewohnte Erscheinung fassungslos an. Meg war sonst immer mit Latzhose, Holzfällerhemd oder Fleece-Shirt und derben Schuhen unterwegs.

Dolores’ orangebraune Augen leuchteten auf, ihre hageren, wettergegerbten Züge schmolzen wie Butter in der Sonne.

»Kind Gottes! Wo versteckst du dich nur immer?!«, stieß Barbara fassungslos hervor. Sie erhob sich und schlug die Hände zusammen. »Du bist ja eine richtige Schönheit!«

Meg lächelte scheu. »Dann gefällt euch das Kleid? Ihr findet es nicht zu, zu …?« Sie zupfte an dem schulterfreien Oberteil herum, das ihren schlanken Schwanenhals perfekt zur Geltung brachte.

»Ach was, überhaupt nicht! Komm, dreh dich mal«, befahl Barbara und rührte zur Verdeutlichung mit dem Finger in der Luft.

Meg tat wie geheißen, ihr weiter Rock blähte sich. Sie strahlte. Mit geschickten Händen sorgte Barbara dafür, dass er noch mehr Fülle bekam. »Ach Meggy, du bist die schönste Braut, die ich je gesehen habe!«, hauchte sie.

»He!«, kam es verärgert aus der anderen Kabine. »Und was ist mit mir?«

»Abgesehen von dir natürlich, Schatz!«, rief Barbara ihrer Tochter beschwichtigend zu. Sie schaute Meg an und verdrehte die Augen. Dann fragte sie in Richtung Kabine: »Was treibst du überhaupt so lange da drinnen, hm? Am Hochzeitstag kannst du nicht so trödeln, es gehört sich nicht, die Braut warten zu lassen.«

»Weiß ich doch, Mom! Aber versuch du mal, all die Knöpfe zuzukriegen.«

»Also ehrlich …« Barbara verschwand grummelnd in Lucys Kabine.

Meg wandte sich mit einem Lächeln an Dolores. Sie biss sich nervös in die Unterlippe. »Und?«

Dolores erhob sich. Mit ihrem stahlgrauen Haar, dem praktischen, jungenhaften Kurzhaarschnitt und ihren Tigeraugen wirkte sie in dem überfemininen, zuckersüßen Ambiente des Brautladens ein wenig fehl am Platz. »Wenn deine Mutter dich so sehen könnte …« Sie nahm Meg bei den Händen.

Meg senkte, von Gefühlen übermannt, den Kopf und blickte blinzelnd zu Boden. Sie hatte beide Eltern verloren – ihre Mutter war, ein Jahr nachdem sie von England nach Kanada gezogen waren, an Brustkrebs gestorben (Meg war damals achtzehn gewesen) und ihr Vater drei Jahre später bei einem Angelunfall. Er war ausgerutscht und ins Wasser gefallen und mit dem Kopf auf einem Felsen aufgeschlagen. Sie konnte es noch immer kaum fassen, dass sie tatsächlich Vollwaise war. Kein Tag verging, an dem ihr das nicht bewusst war. Zwar hatte sie noch Ronnie, ihre achtzehn Monate jüngere Schwester, aber die lebte inzwischen in Toronto. Als Kinder waren sie ein Herz und eine Seele gewesen, Ronnie war der Familienclown, immer zu Scherzen aufgelegt. Wenn ihre Mutter Besuch erwartete, schmuggelte sie Furzkissen unter die Sitzpolster oder deponierte künstlichen Hundekot auf dem Teppich in der Diele. Aber all das änderte sich mit ihrer Übersiedlung nach Kanada. Es gelang Ronnie nie recht, Fuß zu fassen. Meg dagegen lernte gleich am ersten Tag Lucy kennen, die sofort ihre beste Freundin wurde. Ronnie dagegen kam mit ihrer offenen, unverblümten Art und ihrer unbestreitbaren Intelligenz bei den Einheimischen weniger gut an; und der frühe Tod der Mutter verschärfte die zunehmende Isolation noch. Vielleicht wäre es anders gekommen, wenn ihr Vater länger gelebt hätte. Aber es hatte nicht sein sollen, und Ronnie war, sobald sie konnte, zum Medizinstudium nach Toronto gegangen. Und hatte sie, Meg, alleine zurückgelassen – obwohl Ronnie selbst das wahrscheinlich anders sah. Mittlerweile kommunizierten sie nur noch über Likes auf ihren Instagram-Accounts. Eine moderne Geschwisterbeziehung.

Dolores drückte Meg tröstend die Hand. Diese blickte auf.

»Ich bin zwar so alt, dass ich fast hätte ihre Mutter sein können, aber es gab einen Grund, warum wir so gut befreundet waren, Meg – wir teilten dieselben Werte, wir hatten den gleichen Sinn für Humor. Und beide liebten wir Tacos. Und was dich betraf, waren wir uns immer einig. Ich weiß, sie wäre ungeheuer stolz auf dich, wenn sie dich jetzt sehen könnte. Dieses alte Luder da drin in der Kabine hat ausnahmsweise recht: Du bist die allerschönste Braut, die …«

»He!«, protestierten Lucy und ihre Mutter gleichzeitig, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

»Was heißt hier alt!«, schimpfte Barbara. »Du bist ganze zehn Jahre älter als ich!«

Aber Dolores achtete nicht auf sie. Sie interessierte sich nur für Meg. »Aus dir ist eine wunderschöne junge Frau geworden.«

Meg trat einen Schritt vor und umarmte Dolores. »Danke«, flüsterte sie. Dolores war mehr als ihre Chefin und Arbeitgeberin, sie war wie eine Mutter für sie.

»Aber habe ich da nicht was gesehen …?« Dolores machte einen Schritt zurück und hob den Saum von Megs Kleid. Derbe braune Wanderschuhe schauten darunter hervor. »Meg!«

Meg lachte. »Auf der Hochzeit ziehe ich die anderen an, versprochen! Sie sind bloß so schrecklich unbequem.« Sie warf einen missbilligenden Blick auf die Stilettos, die unbeachtet in einer Ecke lagen.

Dolores lachte ebenfalls. »Und keine Thermo-Unterwäsche, hörst du? Das kannst du Mitch nicht antun, jedenfalls nicht an diesem Tag.« Mit gespielter Verzweiflung schüttelte sie den Kopf.

In der anderen Kabine flog der Vorhang auf, und Lucy trat heraus. Den Rock ihres Kleides angehoben, trippelte sie auf Zehenspitzen wie eine echte Prinzessin. »Tadah!«, rief sie und machte schmunzelnd einen Knicks.

»Brava!«, rief ihre Mutter beifällig; ihr blonder Pagenkopf glänzte im künstlichen Licht der Boutique.

»Luce, du siehst fabelhaft aus!«, schwärmte Meg und sah zu, wie ihre Freundin sich anmutig im Kreis drehte, was sie bestimmt vor dem Spiegel geübt hatte. Ihr langes blondes Haar, das ebenfalls mit dem Lockenstab behandelt worden war und besser die Form behielt als Megs schwere Tressen, schwang mit.

»Du aber auch!« Lucy fiel der Freundin spontan um den Hals, die bauschigen Netzröcke rieben raschelnd aneinander.

Die Kleider der Brautjungfern hatten denselben Schnitt wie Megs Kleid: schulterfrei, Dreiviertelärmel, weite Röcke und ein v-förmig zulaufendes Mieder. Der einzige Unterschied war, dass Megs Mieder mit Kunstperlen verziert war und dass die Kleider der anderen pflaumenblau schimmerten und nicht elfenbeinfarben wie das der Braut. Obwohl Meg nichts dagegen gehabt hätte, wenn alle Kleider weiß gewesen wären, denn sie war ein Mensch, der sich lieber im Hintergrund hielt. Auffallen lag ihr nicht.

»Das ist richtig gut geworden«, meinte Meg bewundernd. Dann bemerkte sie, dass Lucy die obersten Knöpfe nicht zubekommen hatte und runzelte die Stirn.

Als Lucy Megs Miene sah, meinte sie defensiv: »Was? Das muss halt noch ein klein bisschen rausgelassen werden, ist doch kein Thema.«

»Natürlich nicht, ich …«

»Ach, kümmere dich nicht um sie«, riet Barbara und machte eine wegwerfende Handbewegung in Richtung ihrer Tochter. »Sie ist bloß neidisch, weil sie die Pfunde zugelegt hat, die du losgeworden bist.« Sie schaute Lucy an. »Musstest du auch gleich die ganze Packung Kekse auffuttern? Ich hatte dich noch gewarnt! Also ehrlich, wer hat je davon gehört, dass das Kleid einer Brautjungfer rausgelassen werden muss, statt eingenommen!«

Meg zuckte innerlich zusammen, als sie Lucys Miene sah. Taktgefühl war nicht gerade Barbaras Stärke. »Du siehst toll aus«, besänftigte sie rasch. »Und die Farbe steht dir fabelhaft.«

»Jetzt setz ihr bloß keine Flausen in den Kopf«, meinte Barbara mit einem missbilligenden Zungenschnalzen. »Die Brautjungfern schaut sowieso keiner an. Lucy hat ihren großen Tag schon gehabt, der hier ist nur für dich. Für dich und Mitch.«

Meg schmunzelte bei der Erwähnung seines Namens und betrachtete sich im Spiegel. »Ja«, flüsterte sie. Würde er sie überhaupt erkennen? Sie sah so anders aus. Sie musste ihm sagen, dass er nach dem Mädchen in Weiß Ausschau halten solle.

»Ich bin wenigstens hier«, maulte Lucy. »Woher sollen wir wissen, ob Ronnie ihr Kleid passt?« Sie setzte sich auf die Sofalehne und sah verdrossen zu, wie Meg sich vor dem Spiegel drehte und wendete und wie dabei immer wieder ihre derben Schuhe unter dem Saum ihres Rocks hervorlugten.

»Ach, Ronnies Gewicht ist ziemlich stabil«, meinte Meg unbekümmert. Es gefiel ihr, wie ihr Haar in sanften Wellen herabhing, nicht mehr so gelockt wie zuvor. Das war natürlicher, es passte besser zu ihr.

»Trotzdem, ist schon eine Schande, dass sie nicht wenigstens zur letzten Anprobe herkommen konnte. Wenn ihr das Kleid nun doch nicht passt, ist’s zu spät, um noch was zu ändern.«

Meg seufzte. Dieser Gedanke war ihr auch schon gekommen. »Stimmt schon, aber du weißt doch, wie wenig Zeit sie hat. Ich bin schon froh, wenn wir die Hochzeit überstehen, ohne dass sie mittendrin angepiepst wird und gehen muss.«

»Oh, keine Sorge, ich setz mich auf sie drauf, wenn’s sein muss – die haut uns nicht ab!«, verkündete Barbara ritterlich. Alle lachten. Die Vorstellung, wie Barbara auf Ronnie saß, um sie zum Bleiben zu zwingen, war einfach zu komisch. »Du wirst nicht ohne Trauzeugin vorm Altar stehen, das garantiere ich dir. Nichts wird diese Hochzeit trüben, und wenn ich mir dafür ein Bein ausreißen muss!«

Meg lächelte dankbar und gab Lucys Mutter einen Kuss auf die Wange. »Danke, Barbara.«

Die Ladeninhaberin, Linda, kam mit einem Armvoll Schleier aus dem Hinterzimmer, einige davon schleiften lang über den Teppich. Sie legte sie ab, eilte hastig zur Braut und begutachtete den Sitz des Hochzeitskleids. Prüfend zupfte sie an Megs Ausschnitt, um sicherzugehen, dass er nicht aufklaffte, wenn sie sich vorbeugte, und betastete fachmännisch die Nähte. »Passt alles? Kneift auch nichts?« Ihr Blick fiel auf Lucys offenstehende Knöpfe und das aufklaffende Kleid. Lucy wurde feuerrot. »Ich neige zu Gewichtsschwankungen«, gestand sie betreten.

»Ach, das macht doch nichts, dafür sind Anproben ja da«, bemerkte Linda diplomatisch. »Das dürften wir bis nächsten Mittwoch hinkriegen. Wenn Sie dann noch mal vorbeikommen würden?«

»Ja, klar, mache ich.«

»Ich hoffe, dieser Mitchell Sullivan weiß, was er an dir hat«, bemerkte Dolores forsch und nahm wieder auf dem Sofa Platz. Ihr Blick hing voller Stolz an ihrem Schützling.

Meg musterte wie gebannt ihr Spiegelbild. Heute in zwei Wochen war es so weit …

»Bist du dir auch ganz sicher, dass du nichts übereilst?«, bemerkte Barbara süffisant. »Schließlich kennt ihr euch ja erst seit zehn Jahren.« Sie spielte mit einem perlenbesetzten Haarkamm, den sie aus einer Schale mit Accessoires gefischt hatte.

Meg verdrehte stöhnend die Augen; die anderen lachten. Es stimmte, sie waren zusammen, seit sie siebzehn waren, und es schien, als warte ganz Banff mit angehaltenem Atem darauf, dass sie endlich den Bund fürs Leben schlossen. Aber Meg und Mitch hatten sich nicht drängen lassen. Zum einen mussten sie erst für die Hochzeit sparen, und Mitch steckte nach wie vor fast seinen gesamten Verdienst in den Aufbau von Titch-Boards, das Geschäft, das er mit seinem Partner und besten Freund Tuck führte. Und das, was Meg besaß – ihr Erbe –, hatte sie in den Bau der Blockhütte und in die Anmietung von Geschäftsräumen und Studio investiert.

»Du sagst das, als ob es ein Witz wäre«, meldete sich Lucy zu Wort. Sie zuckte zusammen, denn Linda steckte gerade ihr Kleid fest und hatte sie mit einer Nadel gepikst. »Aber das ist eine ernste Sache. Bloß weil ihr schon – ja, fast ’ne Eiszeit lang zusammen seid, heißt nicht, dass es auch … na ja, das Richtige ist. Für den Rest des Lebens. Ihr müsst Meg schon Zeit lassen, sich genau zu überlegen, ob es das ist, was sie wirklich will. Ich meine, man hört doch andauernd von Paaren, die bloß heiraten, weil es alle von ihnen erwarten. Oder weil’s einfach der nächste Schritt ist und ihnen sonst nichts mehr einfällt. Dabei würde vielleicht einer gerne die Hand heben und sagen: ›Wisst ihr was? Ich bin mir doch nicht so sicher …‹«

Meg, Barbara, Dolores und Linda schauten Lucy verblüfft an. Dann brachen sie in schallendes Gelächter aus.

»Lucy, das hätte auf dich zugetroffen, aber doch nicht auf Meg«, bemerkte Dolores und prostete Lucy zu.

»He, nein …«, protestierte Lucy.

»Ach, Darling, du bist zu drollig. Meg und Mitch nicht zueinander passen? Was für ein Unsinn! Sie sehen gut zusammen aus, sie klingen gut zusammen …« Barbara schlang ihrer Tochter den Arm um die Taille und drückte sie liebevoll an sich. »Außerdem bist du nicht die Trauzeugin, Missy. Wenn jemand so etwas mit Meg besprechen dürfte, dann ihre Schwester.«

»Wieso?«, entgegnete Lucy hitzig. »Ich kenne Meg besser als sie! Ronnie ist doch nie da. Sie ist bei der ersten sich bietenden Gelegenheit nach Toronto abgehauen. Und siehe da: Sie schafft es nicht zur Anprobe! Nicht mal zum Junggesellinnenabschied konnte sie kommen!«

Meg hob räuspernd ihr Glas, um Lucy zu bremsen. »Also, ich kann euch versichern, dass ich keinerlei Zweifel daran habe, dass Mitch der Mann meines Lebens ist. Und das sage ich nicht aus Gewohnheit oder aus Pflichtgefühl oder weil ich schon so viele Jahre in diese Beziehung investiert habe.« Sie lächelte Lucy zu. Meg wusste, dass ihre Freundin sie nur beschützen wollte. »Ich sage das, weil ihr die wichtigsten Menschen in meinem Leben seid und ich mein Glück mit euch teilen möchte. Ihr seid meine Familie, und ich liebe euch. Es bedeutet mir alles, euch dabeizuhaben, wenn ich den Mann heirate, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen will.«

»Och!« Barbara legte schluchzend die Hand aufs Herz und prostete Meg zu. »Wir lieben dich auch, Lämmchen.« Sie umarmte Meg in einer Wolke aus Chanel und Kaschmir von McCall’s. Dolores trat ebenfalls hinzu und schlang ihre Arme um Barbara und Meg.

Meg ließ sich von ihrer Liebe und Zuneigung einhüllen und schloss die Augen.

Da zuckte Barbaras Kopf hoch, als wäre sie von einem Luftzug gestreift worden. »Und du, Lucy! Jetzt komm schon her, was stehst du da wie eine Salzsäule? Wenn es sogar Dolores schafft, ausnahmsweise Gefühle zu zeigen …«

»Ach, halt die Klappe, Frau«, schimpfte Dolores gutmütig. Meg musste kichern. Nun kam auch Lucy und schloss sich wie die äußeren Blütenblätter einer Blume der Gruppenumarmung an. Meg stand in der Mitte – geschützt und umfangen, bereit für ihr »glücklich bis ans Lebensende«.