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INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Leser:innenhinweis

Playlist

Widmung

Teil I

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

Teil II

27

28

29

30

31

Epilog

Anmerkung der Autorin

Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Emma Scott bei LYX

Impressum

Emma Scott

Someday, Someday

Roman

Ins Deutsche übertragen
von Inka Marter

ZU DIESEM BUCH

Max hat es geschafft, von der Straße wegzukommen, und sich ein ganz neues Leben aufgebaut. Seine Ausbildung als Krankenpfleger hat er durchgezogen und endlich das Gefühl, etwas wert zu sein und er selbst sein zu können. Der Job als Pfleger für Pharma-Mogul Edward Marsh scheint ein Glücksfall zu sein. Doch Max hat nicht mit dem Netz aus Geheimnissen und Lügen gerechnet, das die Familie Marsh umgibt. Und noch weniger mit Silas Marsh – Erbe des Pharma-Imperiums und so kalt wie Eis. Aber Max sieht den Schmerz und den Selbsthass in ihm, sieht, wie Silas sich verzweifelt gegen die Gefühle wehrt, die zwischen ihnen aufkeimen. Nur wenn Silas sein wahres Selbst annimmt und das Trauma überwindet, das ihm zugefügt wurde, hat ihre Liebe eine Chance – aber es steht noch mehr auf dem Spiel als Silas’ und Max’ Glück: Um ein gewaltiges Unrecht wiedergut-zumachen, muss Silas den perfekten Sohn spielen, denn nur so kommt er an sein Erbe und kann es dazu nutzen, den Menschen zu helfen, die durch die Machenschaften seines Vaters ins Unglück gestürzt wurden. Doch kann Max wirklich dabei zusehen, wie Silas sich selbst verleugnet und daran zerbricht?

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.

PLAYLIST

AJR: Weak (Vorspann)

flora cash: Missing Home

Soundgarden: Fell on Black Days

Lady Gaga: Born This Way

Queen: Bohemian Rhapsody

Sam Smith: Stay with Me

NF: Time

LP: When I’m Over You

Lewis Capaldi: Someone You Loved

P!nk: Courage (Abspann)

Die Stücke, die Silas auf dem Klavier spielt:

Wolfgang Amadeus Mozart: Rondo alla Turca

Maurice Ravel: Pavane Pour Une Infante Défunte

Sergei Wassiljewitsch Rachmaninow: Klavierkonzert Nr. 2

Ludwig van Beethoven: Mondscheinsonate

Dieses Buch ist all jenen gewidmet, die immer noch für das grundlegende Menschenrecht kämpfen, ohne Vorurteile, Zensur oder Quälerei zu lieben, wen man lieben will. Dies ist mein kleiner Beitrag zu der bleibenden und unstrittigen Wahrheit, dass Liebe Liebe ist.

TEIL I

»Alles Große und Wertvolle ist mit Einsamkeit verknüpft.«

John Steinbeck, Jenseits von Eden

PROLOG

Max

San Francisco vor sieben Jahren

»Hey, Mann.«

Joey ließ mich kurz ein kleines Tütchen mit weißem Pulver sehen. Vorsichtig, damit es keiner der anderen Typen bemerkte, die an der Ecke unter der Straßenlaterne herumstanden.

Ich zögerte. Nicht weil ich nicht high sein wollte – das wollte ich unbedingt. Vor allem in dieser Nacht. Aber Joeys Dope war meistens mit irgendwelchem Scheiß gestreckt. Vor zwei Nächten hatte Mel eine Überdosis gehabt, nachdem er sich Zeug von Joeys Dealer gespritzt hatte. Wir hatten ihn vor der Notaufnahme ablegen und wegrennen müssen. Nur ich war noch kurz vor dem Krankenhaus stehen geblieben, mit Mels Kotze an den Händen, Herzrasen von dem Koks und einer Riesenangst. Ich wäre so gern in das warme, gelbe Licht gegangen. Draußen war es kalt und schwarz und dreckig.

Ich fragte mich, wie es wohl wäre, hektisch und verzweifelt jemandem das Leben retten zu wollen, statt immer hektisch und verzweifelt zu leben.

»Ich will weniger nehmen«, sagte ich zu Joey und zwang mich zu einem Lächeln.

Joey lächelte nicht zurück. »Nicht heute.«

Er hatte recht. Meine Nerven lagen blank, und mein Magen war so verkrampft, dass es wehtat. Ich konnte kaum gerade stehen – jeder Muskel war so angespannt, dass ich die Schultern vorgeschoben hatte, die Hände in die Taschen meiner gebraucht gekauften Lederjacke geschoben und zu Fäusten geballt.

Joey deutete mit dem Kopf in die Dunkelheit jenseits der Laterne, Richtung Straße. »Du musst locker sein beim ersten Mal. Denk nicht zu viel drüber nach. Lass es einfach passieren, nimm dein Geld. Zack. Fertig.«

Ich nickte und schnupfte das kleine Häufchen Pulver von Joeys Handfläche. Wie ein Tier, das seinem Herrn aus der Hand frisst.

»Was ist das?«, fragte ich, aber erst, als ich das Brennen in der Nase spürte und mir die Augen tränten.

Dann durchflutete die entspannte Ruhe meine Adern, und mir war egal, was ich gerade eingeatmet hatte. Für ein paar kurze, herrliche Sekunden war alles egal. Die Nacht verwandelte sich, das bedrohliche Schwarz wurde weich und unscharf. Die Angst vor dem, was ich tun würde, legte sich, und bis auf das hier war mir alles scheißegal. Das hier. Dieses Gefühl. Es sollte nie aufhören. Und sobald ich diese Sache heute gemacht hätte, würde ich mehr Geld haben, um mir mehr davon zu kaufen.

Joey klopfte mir auf den Rücken. »Geht’s dir besser? Bist du bereit?«

Ich lächelte träge. »Bist du jetzt mein Zuhälter?«

»Ich pass nur auf dich auf«, sagte er und führte mich zurück zu der Straßenecke mit der Laterne. »Und die Miete ist bald fällig.«

Miete. Ich lachte benommen. Wir pennten in einem verlassenen Gebäude im Tenderloin District. »Miete« nannten wir die Kohle, die wir den Typen zahlten, die vor uns da gewesen waren. So wie die uns ausnahmen, und durch unser wachsendes Bedürfnis, high zu werden, waren wir immer knapp bei Kasse.

An der Straßenecke beäugten mich ein paar andere Typen von oben bis unten, nicht gerade freundlich.

»Die sind nur neidisch«, sagte Joey, nahm mein Gesicht in die Hand und schüttelte es. »Guck dir diese Fresse an. Supersweet und dazu ein heißer Arsch. Du bist hierfür geboren.«

Ich war hierfür geboren.

Meine Euphorie kippte, und mein Herz, das dumpf hinter meinen Rippen dröhnte, schlug schneller. Mein Rausch war jetzt mit Furcht und Ekel gestreckt. Ich wusste nicht länger, wofür ich eigentlich geboren war. Ich war eine Million Kilometer von meinem wahren Ich entfernt und erkannte mich kaum wieder.

Der fahle Lichtkegel leuchtete mich an wie ein Scheinwerfer. Ich legte die Hand an den Laternenpfahl, suchte nach Halt. Er fühlte sich rau an. Er war real. Er war das Einzige, das real war, denn die Drogen in meinen Adern kämpften mit der Stimme in meinem Kopf, dass das alles hier falsch war.

»Joey …«

Aber er war weg – mit der Nacht verschmolzen wie die anderen Typen an der Ecke. Sie hatten sich in böse Geister verwandelt, die auf der anderen Seite des Lichtkegels lauerten. Meine Finger klammerten sich an den Laternenpfahl, bis es wehtat. Aber der Pfahl war zu dick. Er passte nicht in meine Hand. Ich konnte mich nicht richtig daran festhalten.

Schweiß lief mir zwischen den Schulterblättern hinunter, und jenseits dieser Straßenecke, dieses Lichts, pulsierte die Nacht über der Stadt.

Ein Wagen hielt an. Das Beifahrerfenster fuhr nach unten. Ich nahm undeutlich wahr, wie die Typen, die noch um mich herum standen, sofort ihre Aufmerksamkeit auf den Fahrer richteten. Er war nur eine diffuse Gestalt hinterm Lenkrad. Man sah die orangene Glut der Zigarette in seiner Hand, die er auf die Lehne des Beifahrersitzes gelegt hatte. Die anderen Typen riefen ihm Anzüglichkeiten zu, drehten sich um und wackelten mit den Ärschen vor seiner Nase. Über ihren Stimmen und dem Rauschen in meinen Ohren hörte ich den Fahrer etwas sagen.

»Du.«

Ich.

Die Zigarettenglut bewegte sich in der schummrigen Dunkelheit auf den Mund des Mannes zu. Sie leuchtete auf, als er zog, zeigte einen Teil seines Gesichts. Mittleres Alter. Schlaffe Wangen. Dunkle Brauen über den schwarzen Augen, die mich fixierten.

»Tu so, als würde es dir gefallen«, hatte Joey mir in unserem dreckigen Winkel in dem verlassenen Gebäude gesagt. »Tu so, als würden sie dir gefallen. Es ist alles nur Show. Du tust so als ob und wirst dafür bezahlt. Nichts leichter als das.«

Das Licht über mir war wie ein Verfolger auf einer Bühne. Der Mann im Wagen war mein Publikum und wartete nur auf mich. Die anderen Typen fluchten und zogen sich in die Dunkelheit zurück. Ich klammerte mich fester an den Laternenpfahl, der sich kratzig und rau anfühlte. Wenn ich losließ und in dieses Auto stieg, würde ich nie wieder derselbe sein.

Rauch wehte aus dem offenen Autofenster. Die Stadt atmete wie ein Monster im Dunkeln. Was auch immer ich geschnupft hatte, war zu schwach gewesen. Die Euphorie, die diese Sache angeblich so einfach machte, war schon verflogen.

Lass nicht los. Halt dich fest, und dir kann nichts passieren. Lass los, und du wirst nie wieder derselbe sein.

Eine andere Stimme hielt dagegen: Derselbe wie wer?

Max Kaufman, Sohn von Lou und Barbara Kaufman, kleiner Bruder von Rachel und Morris Kaufman. Er existierte nicht mehr. Dieser Junge war bereits aus seinem Leben gerissen und in dieses hier geworfen worden, zur Strafe für das Verbrechen, heimlich jemanden auf sein Zimmer mitgenommen zu haben. Nicht irgendjemanden. Einen anderen Jungen. Einen Mann, ganze neunzehn Jahre alt. Es zählte nicht, dass der Junge ein guter Mensch war. Es zählte nicht, dass wir uns nur geküsst hatten. Es zählte nicht, dass ich ihn mochte und er mich mochte. Oder dass ich mich mit ihm mehr wie ich selbst gefühlt hatte als in den sechzehn Jahren meines Lebens davor.

Von diesem Ich war nichts mehr übrig, abgesehen von der Bedürftigkeit. Dem endlosen, verzweifelten Bedürfnis, mich zu erinnern, wie es sich angefühlt hatte, geliebt zu werden – und dem noch viel stärkeren Bedürfnis zu vergessen, wie es sich angefühlt hatte, abgewiesen zu werden. Ich musste diese Leere mit Pillen füllen, mit X, mit Koks … mit allem, was es gab. Das verzehrte jede wache Minute, bis ich nicht mehr in der Lage war, einen Job zu machen, Zeiten einzuhalten. Denn diese Gier hatte ihre eigene Zeit, und zwar immer.

Der Mann, der im Auto auf mich wartete, war die einzige Möglichkeit, die Gier zu befriedigen. Und was machte es schon, wenn ich mich verkaufte? Meine Eltern glaubten sowieso, dass ich so war. Joey auch. Wenn ich es oft genug täte, würde ich es selbst glauben. Vielleicht würde ich mich dran gewöhnen. Ich hatte meinen Körper schon besudelt. Warum sollten nicht auch Fremde mal dürfen?

Ich war hierfür geboren.

Nichts leichter als das.

Ich ließ los.

1

Max

»Ich ließ los.«

Ich blinzelte die Erinnerung weg und kam wieder in die Gegenwart, in einen Raum im Community College in der Innenstadt von Seattle im Bundesstaat Washington. Ich war nicht mehr an jener Straßenecke in San Francisco. Nicht mehr in dem Auto, das nach Rauch roch. Steckte nicht mehr in einem Körper, der nach diesem Mann roch, als wir fertig waren. Ich war wieder ich selbst, und das würde ich auch bleiben.

Etwa zwanzig Augenpaare blickten mich an. Manche der Leute nickten.

»Da war ich am Tiefpunkt«, sagte ich und beugte mich zu dem Mikro auf dem Stehpult. »Oder kurz davor. Es hat viel harte Arbeit und die Güte eines völlig fremden Menschen gebraucht, um da wieder rauszukommen und meinen eigenen Wert zu erkennen.«

Ich sah in die Gesichter der Leute vor mir, die gespannt darauf warteten, den Rest zu hören. Mein Happy End. Aber ich hatte keins und hatte für den Abend genug geredet. Wenn ich meine Geschichte erzählte – mich wieder an diese Straßenecke begab –, fühlte ich mich jedes Mal wieder nackt und verwundbar. Ich hatte einfach nicht die Kraft für mehr.

»Aber ich will nicht mehr von eurer Zeit vergeuden. Ich erzähle beim nächsten Meeting weiter.«

Ein paar aus der Gruppe klatschten, dann kam Diane, die Gruppenleiterin von Narcotics Anonymous, nach vorn.

»Danke, Max, für deinen so persönlichen und ehrlichen Beitrag. Und willkommen in unserer Gruppe. Wir freuen uns sehr, dass du bei uns bist.« Sie wandte sich an die anderen. »Max war Sponsor in San Francisco, bevor er hergezogen ist … und das ist erst ein paar Wochen her, stimmt’s? Er hat angedeutet, dass er auch hier jemandem als Sponsor beistehen würde. Bitte lasst es mich oder Max wissen, wenn ihr Interesse habt.«

Wieder applaudierten ein paar Leute, andere nickten müde. Ich kannte die Müdigkeit derer, die sich hier versammelt hatten. Diese tiefe Müdigkeit, die mit dem Kampf gegen die Sucht kam. Die Sucht schüttelte dich wie ein Hund das Kaninchen, das er im Maul hielt; manchmal hörte sie auf, aber sie ließ dich nie los.

Bevor ich mich auf meinen Platz in der ersten Reihe setzte, entdeckte ich ganz hinten einen Typen. Er saß krumm auf seinem Stuhl, die langen Beine, die in einer Jeans steckten, vor sich ausgestreckt. Er hatte eine Sonnenbrille auf und die Kapuze des schwarzen Sweatshirts ins Gesicht gezogen. Eine goldblonde Locke war der Kapuze entwischt und hing ihm in die Stirn. Seine vollen Lippen waren zusammengepresst, die Arme fest vor seiner breiten Brust verschränkt. Seine Klamotten wirkten nicht unbedingt teuer, aber die Schuhe und die Sonnenbrille – genau wie die Armbanduhr, die er um das braun gebrannte Handgelenk trug – sahen eindeutig nach Geld aus.

Heißer Unabomber, dachte ich mit einem Lächeln.

»Gibt es neue Mitglieder, die sich gerne vorstellen würden?«, fragte Diane.

Ich bildete mir ein, dass der Fremde mich mit Blicken durchbohrte. Irgendwie wollte ich mich plötzlich umdrehen, um ihn zu sehen. Als niemand antwortete, konnte ich es nicht lassen und riskierte einen Blick über meine Schulter. Der große Typ rutschte unbehaglich auf seinem Platz herum. Er hatte die Arme wie eine Mauer vor sich, sein Gesicht hinter der Sonnenbrille war eine steinerne Maske.

Du starrst ihn an, schimpfte ich mit mir selbst. Lass das. Gott, echt, das ist keine Singleparty.

Ich drehte mich wieder nach vorn, als jemand anders sich bereit erklärte, etwas zu erzählen. Dann quietschte ein Stuhl, und ich drehte mich noch mal um und sah den Typen aufstehen und auf langen Beinen zur Tür hinausgehen.

Ich fand es schade, dass er ging. Vielleicht käme er wieder. Vielleicht nicht. Manchmal starb der Wunsch nach Hilfe einen raschen Tod, durch Scham, Schuldgefühle und weil man sich schon verletzlich fühlte, wenn man überhaupt darum bat.

Eine Frau ging jetzt zum Stehpult, um zu reden. Ich bemühte mich, ihr meine volle Aufmerksamkeit zu schenken, aber der Fremde in Schwarz tauchte immer wieder in meinen Gedanken auf.

In der Pause holte ich mir Kaffee und einen Donut von einem Tisch neben der Tür. Diane stellte sich zu mir.

»Noch einmal danke für dein Angebot«, sagte sie und goss Kaffee in einen gelben Becher mit einer blauen Space Needle darauf. »Wir nehmen das gern an, aber eine neue Stadt? Ein neuer Job? Bist du sicher, dass du dich schon genügend eingelebt hast, um gleich Sponsor zu werden?«

»Noch mehr kann ich mich nicht einleben«, sagte ich. »Und Seattle ist nicht neu für mich. Ich bin hier geboren und aufgewachsen.«

Sie hob die Augenbrauen. »Verstehe. Und deine Eltern?«

»Die mich rausgeworfen haben?« Ich lächelte dünn. »Sie wohnen hier. Unten in Beacon Hill.«

»Hast du sie getroffen, seit du zurückgezogen bist?«

»Noch nicht. Daran arbeite ich noch.«

Diane legte mir leicht die Hand auf den Arm. »Ich werde an das Servicekomitee weitergeben, dass du Sponsor sein willst. Und bei deinen Eltern wünsche ich dir viel Glück. Ich bin für dich da, falls du mal reden willst.«

»Danke«, sagte ich. Ich trank einen Schluck Kaffee, mein Blick wanderte zu der Tür, durch die der Typ in Schwarz verschwunden war. »Scheint eine gute Gruppe zu sein. Hast du sie schon lange?«

»Ja, bis auf den im Kapuzenpulli. Der ist neu. Oder war es.« Sie seufzte. »Ich glaube nicht, dass er wiederkommt. Anscheinend hat er einen Blick riskiert und beschlossen, dass er noch nicht bereit ist.«

»Das hab ich auch gedacht.«

Adios, heißer Unabomber. Viel Glück.

Das NA-Meeting endete um neun, und ich ging direkt ins Virginia Mason Hospital. Ich war erst seit zwei Wochen in der Stadt, pennte bei meinem Freund Daniel auf der Couch und machte Nachtschichten in der Notaufnahme. Ich hatte kaum Zeit gehabt, auszupacken, geschweige denn, mir eine Wohnung zu suchen.

An der Hintertür des Krankenhauses, dem Eingang für Mitarbeiter, blieb ich stehen, bevor ich den Türcode eingab, und wappnete mich innerlich für die kommende Nacht. Drinnen ging ich durch die immer hellen Flure, nickte bekannten Gesichtern zu. Die Luft war steril und kalt, und mir schauderte.

Vielleicht ist es auch dieser Job.

Ich hatte im Unikrankenhaus in San Francisco in der Notaufnahme gearbeitet, und das war schon hart gewesen, aber die Nachtschicht? Das war eine ganz andere Nummer. Ein während der Nachtschicht eingeliefertes Kind kündete auf hässliche Weise von Gefahr. Es war etwas völlig anderes, wenn dasselbe Kind am helllichten Tag hereinkam. Ein gebrochener Arm um drei Uhr früh war unheilvoller als ein Sturz auf dem Spielplatz um drei Uhr nachmittags.

Das galt auch für Frauen. Verprügelt und blutüberströmt. Nachbarn brachten sie, die die Schreie gehört hatten, oder manchmal der Täter selbst, der uns erzählte, wie sie gestürzt waren. Schon wieder.

Aber am schlimmsten war es, mich um die jungen Typen mit Überdosis zu kümmern. Obdachlos. Verzweifelt. Typen mit entzündeten Armen, die ich reinigte, obwohl ich wusste, sie würden einfach wieder da rausgehen und sich den nächsten Schuss setzen. Ich war genauso gewesen.

Das sollte eigentlich mein Traum sein – auf der anderen Seite des Überlebenskampfes zu stehen. Aber es war, als würde man mir einen Spiegel vorhalten, und statt den Typen zu sehen, der die Ausbildung gemacht hatte, um hier zu sein, sah ich den, der ich damals gewesen war, nachdem Dad mich rausgeworfen hatte. Den Menschen, den hinter mir zu lassen ich geschworen hatte.

Heute war es besonders brutal. Wir verloren jemanden.

Ein Teenager wurde eingeliefert. Er atmete nicht. Wir taten, was wir konnten, aber es war zu spät. Während die Mutter des Jungen die Sozialarbeiterin auf dem Flur anschrie, versammelte Dr. Figueroa, die behandelnde Ärztin, uns um die Trage für »die Pause«, wie sie es nannte. Wenn wir jemanden verloren, bestand sie darauf, dass wir uns fünfundvierzig Sekunden lang an den Händen fassten, die Köpfe senkten und den Menschen ehrten, der in unserem Beisein von uns gegangen war.

Ich senkte den Kopf und kniff die Augen zusammen, um die Schreie der Mutter auszublenden und die Tränen zurückzuhalten. Dr. Figueroa sah, wie ich mir über die Augen wischte, und nahm mich beiseite.

»Hey. Max. Wollen Sie fünf Minuten Pause?«

Ich wollte schon den Kopf schütteln, dann nickte ich doch. »Ja«, sagte ich rau. »Nur ganz kurz.«

Ich lief in den Pausenraum des Pflegepersonals. In einer Notaufnahme war er immer leer. Es gab immer einen Notfall und immer zu wenig Personal, um sich darum zu kümmern. Ich setzte mich in dem leeren Raum auf eine Bank und weinte. Ich weinte auch oft morgens im Bus auf dem Weg zurück zu Daniel. Ich fragte mich, ob ich das Zeug zu diesem Job hatte.

Du bist hier, um zu helfen. Dafür hast du dich entschieden.

Nach ein paar Minuten riss ich mich zusammen, holte tief Luft und ging wieder an die Arbeit.

Um sieben Uhr morgens, nach der Schicht, holte ich meine schwarze Lederjacke aus meinem Spind und wollte gehen. Dr. Figueroa wartete im Flur auf mich. Sie erinnerte mich an Holly Hunter: klein, klug, mit dunklen Augen und braunem, schulterlangem, in einer völlig geraden Linie geschnittenem Haar mit Pony. Ich selbst war 1,85 groß und überragte sie fast um dreißig Zentimeter, aber sie wirkte trotzdem imposant.

»Wollen Sie darüber reden?«, fragte sie. »Wie hart das heute für Sie war?«

»Nicht wirklich«, sagte ich mit einem verzagten Lächeln. »Aller Anfang ist schwer. Ich werde mich schon dran gewöhnen.«

Sie schürzte die Lippen, und wir blieben beide stehen, als ich begriff, was ich gesagt hatte.

»Mich dran gewöhnen, dass Kinder in meinen Armen sterben. Gott.« Ich schüttelte den Kopf und rieb mir über die Augen, in denen erneut die Tränen brannten.

»Kommen Sie«, sagte sie. »Trinken wir einen Kaffee.«

Unten in der Cafeteria setzte die Ärztin sich mir gegenüber, zwei dampfende Tassen standen zwischen uns auf dem Tisch.

»Ich arbeite hier seit siebenundzwanzig Jahren«, sagte sie. »Ich kenne Typen wie Sie.«

»Typen wie mich?«, fragte ich und wollte mich schon aufregen, war aber zu müde, um gekränkt zu sein.

»Empathische Menschen. Die allen helfen wollen, zu ihrem eigenen Schaden.«

»Nein, ich …«

»Sie sind am Montag für Schwester Gabrielle eingesprungen?«

»Sie hatte einen Notfall. Und wir sind unterbesetzt. Das ist nichts Neues.«

»Sie sind diese Woche für sie eingesprungen, letzte Woche für Peter und vor zwei Nächten für Michaela. Wann hatten Sie zuletzt einen freien Tag?«

»Ich weiß es nicht«, sagte ich und versuchte in einem Nebel der Erschöpfung zu denken, während mein Gehirn mich ununterbrochen anschrie, dass ich gefälligst schlafen sollte, wenn die Sonne unterging, nicht andersherum.

Dr. Figueroa sah mich demonstrativ an.

»Nein, Sie haben recht«, sagte ich. »Ich werde mir die freien Tage nehmen. Ich brauche sie. Es ist unverantwortlich, das nicht zu tun.«

»Es ist nicht nur das. Sie sind uns sehr empfohlen worden von der Uniklinik in San Francisco. Sie sind großartig in Ihrem Job. Ich möchte Sie nur ungern verlieren.«

»Mich verlieren?« Das Herz hämmerte mir in der Brust, und auf einmal war ich hellwach. »Sie wollen mich feuern?«

»Nein«, sagte sie. »Aber Sie müssen ehrlich zu mir sein, Max. Sie können der beste Pfleger auf der ganzen Welt sein, aber wenn es zu viel ist, ist es zu viel.« Sie legte mir eine Hand auf den Arm. »Und ich glaube, für jemanden wie Sie ist es zu viel.«

»Es ist nicht …«

»Sie besitzen ein großes Herz. Wahre Güte. Sie bemerken jedes Elend, das Nacht für Nacht durch diese Tür kommt, und vergessen nichts davon. Stimmt das?«

Ich drehte die Kaffeetasse im Kreis herum. »Es ist schwer. Es gibt so viel Schmerz.«

»Ja, das stimmt. Aber der Wunsch, diesen Schmerz zu lindern, sollte Ihnen nicht auch Schmerzen verursachen.«

Ich wollte protestieren, aber dann stellte ich mir ein Jahr in der Notaufnahme vor. Fünf Jahre. Zehn. Gott, ich fürchtete mich schon vor der nächsten Woche.

»Ich wollte es so unbedingt, und jetzt sieht es aus, als würde ich es nicht schaffen.«

»Vielleicht schaffen Sie es doch«, sagte Dr. Figueroa. »Aber ich denke, Sie könnten ein bisschen Zeit brauchen, um darüber nachzudenken.«

»Ich habe keine Zeit. Ich muss arbeiten. Ich muss eine Wohnung finden. Ich muss …«

Meine Eltern bitten, mich wieder als ihren Sohn anzunehmen.

»Das weiß ich«, sagte Dr. Figueroa. »Ein Freund von mir, Dr. Archie Webb, ist Neurologe. Einer seiner Patienten steht im Fokus der Öffentlichkeit, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Sie rieb den Daumen über den Zeige- und Mittelfinger. »Er will private, erstklassige Pflege. Alles streng geheim.«

»Wer ist der Patient?«

»Einer unserer Freunde von Marsh Pharmaceuticals. Vielleicht haben Sie von denen gehört?«

Ich lächelte matt. »Der Name kommt mir bekannt vor.«

Auf jedem Stift und Schreibblock im Krankenhaus stand der Name Marsh, genau wie auf jedem größeren Museum von hier bis Europa. Die Marshs lebten auf einem riesigen Anwesen direkt vor der Stadt, und man betrachtete sie praktisch als Geldadel. Reichtum aus der alten Welt, der rasch zu einem Imperium gewachsen war, als Marsh Pharma grünes Licht von der FDA, der Arzneimittelzulassungsbehörde, bekommen hatte, ihr beliebtestes Produkt, ein opiatbasiertes Schmerzmittel namens OxyPro, herzustellen.

»Der Patient arbeitet für Marsh?«, fragte ich.

»Der Patient ist Marsh.« Dr. Figueroa senkte die Stimme und beugte sich über den Tisch. »Edward Marsh III., Aufsichtsratsvorsitzender und CEO.«

Ich hob die Augenbrauen. »Scheiße. Er ist krank? Etwas Neurologisches?«

»Er hat Multiple Sklerose«, sagte sie. »Primär progrediente MS, um genau zu sein. Kürzlich diagnostiziert. Er hat Archie gebeten, ihm ein Pflegeteam zusammenzustellen. Er weigert sich, mit einer Hospizeinrichtung zu arbeiten oder über einen anderen der üblichen Kanäle zu gehen. Nur das Beste vom Besten. Diskret bis zu wasserdichten Schweigepflichtvereinbarungen, der Drohung, jeden zu verklagen, der trotz Patientendatenschutz auch nur ein einziges Wort verlautbaren lässt, und so weiter und so fort. Kurz gesagt, Marsh will nicht, dass irgendjemand erfährt, dass er krank ist. Vor allem will er nicht, dass seine Gesellschafter erfahren, dass er krank ist.« Sie warf mir einen spitzbübischen Blick zu. »Ihnen darf ich das sagen, da Sie an die Datenschutzregeln des Krankenhauses gebunden sind.«

»Meine Lippen sind versiegelt«, sagte ich langsam. »Und ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, nicht interessiert zu sein.«

»Gut. Ich lege bei Archie ein gutes Wort für Sie ein, dann wird er das Vorstellungsgespräch mit Marshs Team vereinbaren.«

»Es gefällt mir nicht, dass Sie dann noch übler unterbesetzt sind, aber … es klingt wirklich gut.«

»Das denke ich auch«, sagte sie. »Es ist nicht meine Gewohnheit, meinen besten Pflegekräften neue Arbeitsplätze zu suchen, aber es macht mich fertig, mit anzusehen, wie dieser Job Sie bei lebendigem Leib auffrisst. Kümmern Sie sich eine Zeit lang um Edward Marsh, und denken Sie nach. Es wird auch nicht leicht. Er ist ein despotischer Tyrann. Aber bei ihm werden Sie trotzdem mehr Ruhe haben als hier. Und wenn Sie wirklich für die Notaufnahme bestimmt sind, dann werden Sie zurückkommen. Okay?«

»Danke. Ich weiß das wirklich zu schätzen.« Ich fühlte mich, als hätte mir jemand eine Last von ein paar Tausend Kilos abgenommen. »Wann werde ich von Dr. Webb hören?«

»Sicher bald, denke ich. Sie agieren schnell, weil die MS noch schneller fortschreitet.« Sie tätschelte meine Hand. »Ich werde Sie vermissen.«

»Zuerst muss ich den Job kriegen.«

»Wie gesagt, ich werde Sie vermissen.«

Draußen hielt ich den Kragen meiner Jacke zusammen. Ende August gab es in Seattle noch warme Nachmittage, aber frühmorgens war es schon merklich kühl. Ich ging ein Stück und nahm den 49er Bus, der nach Capitol Hill hochfuhr, wo Daniel Torres wohnte, ein Kumpel von mir aus der Highschool.

Als ich reinkam, machte er sich gerade für die Arbeit fertig, er war Computergrafiker bei einem Start-up. Daniel war ein kleiner, schlanker Typ mit einem Hauch von Akzent, der seine teils mexikanische Herkunft verriet. Heute trug er einen schwarzen Blazer, schwarze, enge Jeans, ein weißes Hemd und eine Cowboy-Krawatte. Sein Haar war silberblau gefärbt, an seinem linken Ohr glänzte ein Ring und in seiner Augenbraue ein Barbell-Piercing.

»Hey, Mann«, sagte er und beobachtete, wie ich meine Jacke an den Haken neben der Tür hängte. »Du siehst scheiße aus.«

»Dir auch einen guten Morgen«, sagte ich mit einem müden Lachen.

»Ich mein’s ernst«, sagte Daniel und goss mir Kaffee ein, als ich mich an der Küchentheke auf einen Hocker setzte. Seine Wohnung war ein kleines Zweizimmerloft in Industrial Chic – Mauerwerk, sichtbare Kabel, Chromarmaturen. Drucke mit kühnen, wilden Farbstrichen hingen an fast allen Wänden, und eine gelegentliche Zimmerpflanze sorgte für etwas Wärme.

Daniel schüttelte den Kopf und sah mich über die Theke hinweg an. »Ich weiß, du wolltest diesen Job, aber verdammt.«

»Es ist hart«, gab ich zu und rieb mir die Augen. »Härter, als ich gedacht hab.«

»Willst du darüber reden?«

Wahrscheinlich sollte ich darüber reden, wollte aber Daniels Gedanken nicht mit den grausigen Bildern vergiften, die mich verfolgten. Von Blut und Erbrochenem. Schusswunden. Tod.

»Danke, geht schon. Und ich hab vielleicht bald was Neues.«

Ich erzählte ihm von dem Jobangebot als Privatpfleger eines wohlhabenden Patienten. Ich ließ nur Edward Marshs Namen aus.

»Wenn ich den Job kriege, hab ich Zeit, mich nach einer eigenen Wohnung umzusehen, und störe dich nicht länger.«

»Du störst nicht«, sagte Daniel. »Du weißt, du kannst so lange bleiben, wie es nötig ist, also mach dir deswegen keinen Kopf. Wann ist das Vorstellungsgespräch?«

»Keine Ahnung. Ich muss auf den Anruf warten. Aber verdammt, Danny, ich fühl mich wie ein Versager. Jetzt schon aufgeben? Warum bin ich überhaupt nach Seattle gekommen?«

»Um dich mit deiner Familie zu vertragen«, sagte er und trank einen Schluck Kaffee. Er grinste. »Und mit mir abzuhängen, was wir in der Highschool schon hätten tun sollen.«

»Stimmt«, sagte ich, und wir stießen mit unseren Bechern an.

In der Highschool war Daniel genauso heimlich schwul gewesen wie ich, auch wenn wir uns gegenseitig im Verdacht gehabt hatten. Und wegen dieses Verdachts hatten wir nie darüber geredet und auch nie was zusammen gemacht. Aus Angst, unser Schwulsein würde für alle anderen sichtbar werden, sobald wir uns anfreundeten, hatten wir einen weiten Bogen umeinander gemacht.

Aber als ich das Jobangebot im Virginia Mason bekam, war er, abgesehen von meinen Eltern, der Einzige, den ich in Seattle kannte. Ich kontaktierte ihn auf Facebook, das führte zu Telefongesprächen, in deren Verlauf ich ihm meine ganze schmutzige Geschichte gestand, und wir fühlten uns sofort – oder wieder – verbunden. Als er mich am Sea-Tac-Airport abholte, war es, als würde ich einen lange verlorenen Bruder wiedertreffen.

Daniel hatte seine Wohnung und seine Freunde mit mir geteilt, und ich nahm das als ein Zeichen, dass es richtig gewesen war, nach Seattle zurückzukehren. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass der Job mich so fertigmachen würde, aber jetzt würde sich auch das zum Besseren ändern.

»Und wie läuft es mit den ehemaligen Erziehungsberechtigten?«, fragte Daniel.

»Schleppend. Mom verschiebt ständig unsere Verabredung zum Abendessen. Und bevor ich das mit Dad angehe, muss ich mit ihr reden.«

Daniel hob gespielt anzüglich die Augenbrauen. »Und wie sieht’s mit dem Sex aus? Irgendwelche heißen Ärzte im Krankenhaus, die dich furchtbar vermissen werden, wenn du den Job wechselst?«

»Nein, ich will diese Sachen erst klarkriegen, bevor ich mich auf jemanden einlasse. Und an reinen Sex-Dates bin ich nicht interessiert«, sagte ich, als Daniel schon den Mund aufmachte.

Er verzog bedauernd das Gesicht. »Wie schade. Es wäre der perfekte Aufhänger. ›Hey, heißer Herr Doktor, ich gehe. Wer weiß, ob wir uns jemals wiedersehen? Oh, schau an! Dieser Röntgenraum ist zufällig gerade leer …‹«

»Röntgenraum?«, fragte ich lachend. Dann ersetzte ich den heißen Arzt im Kopf mit dem heißen Unabomber und verschluckte mich fast an meinem Kaffee.

»Das Wo ist doch egal«, sagte Daniel. »Das Wer ist das, was zählt.«

»Da ist kein wer«, sagte ich. »Ich bin vollauf damit beschäftigt, eine Beziehung zu Mom und Dad aus dem Boden zu stampfen.«

»Falls du es dir anders überlegst, es gäbe da eine Möglichkeit. Charlie findet dich sexy, und er hat nicht unrecht. Du hast diese glühenden, heißen, geheimnisvollen James-Dean-Motorrad-Rocker-Vibes.«

Ich verdrehte die Augen. »Ich besitze kein Motorrad.«

»Nein, aber du wählst deine Accessoires, als hättest du eins.«

Ich lachte und trank einen Schluck Kaffee. »Kommst du nicht zu spät zur Arbeit?«

Er seufzte dramatisch. »Ja. Ich gehe und lasse dich schlafen. Nachtchen. Ich hoffe, sie rufen dich an.«

»Danke. Ich auch.«

Daniel ging, und ich ließ mich auf die Couch fallen. Der Gedanke, für Marsh zu arbeiten, legte sich erneut wie eine warme Decke der Erleichterung um mich, hüllte mich ein und dämpfte das Schuldgefühl, das ich hatte, weil ich die Notaufnahme schon wieder verließ. Mir in die Tasche zu lügen war auch eine alte Gewohnheit, und ich hatte mir geschworen, nie wieder damit anzufangen. Sollte ich in der Notaufnahme bleiben, würde ich unvermeidlich auf einen Burn-out zusteuern. Dann würde ich niemandem mehr guttun, auch nicht mir selbst. Und nach den Jahren auf der Straße war meine oberste Priorität, mich selbst zu schützen.

»Das gilt auch für euch, Mom und Dad«, murmelte ich in der leeren Wohnung.

Ich wollte unbedingt wieder aufbauen, was zwischen uns in die Brüche gegangen war, aber ich hatte die letzten sieben Jahre entweder in einer drogeninduzierten Hölle oder mit dem Versuch, da herauszukommen, verbracht. Ich würde mich auf keinen Fall erneut von ihnen in die lange Abwärtsspirale aus Selbsthass und Scham stoßen lassen.

Meine Erschöpfung war stärker als der ganze Kaffee, den ich an diesem Morgen getrunken hatte, und mir fielen die Augen zu. Eine gefühlte Sekunde später klingelte mein Telefon. Ich blickte verschlafen auf die unbekannte Nummer.

»Hallo, hier Max?«

»Max Kaufman? Hier ist Dr. Archie Webb.«