Über das Buch

Wie erkennen wir unsere Privilegien? Wie können Weiße die Realität von Schwarzen sehen? Männliche Muslime die von weißen Frauen? Und weiße Frauen die von männlichen Muslimen? Die Aktivistin und Politologin Emilia Roig zeigt – auch anhand der Geschichte ihrer eigenen Familie, in der wie unter einem Brennglas Rassismus und Black Pride, Antisemitismus und Ausschwitz, Homophobie und Queerness, Patriarchat und Feminismus aufeinanderprallen –, wie sich Rassismus im Alltag mit anderen Arten der Diskriminierung überschneidet. Ob auf der Straße, an der Uni oder im Gerichtssaal: Roig schafft ein neues Bewusstsein dafür, wie Zustände, die wir für »normal« halten – die Bevorzugung der Ehe, des männlichen Körpers in der Medizin oder den Kanon klassischer Kultur – historisch gewachsen sind. Und dass unsere Welt eine ganz andere sein könnte.

»Emilia Roig deckt die Muster der Unterdrückung auf und leitet zu radikaler Solidarität an. Sie zeigt – auch anhand der Geschichte ihrer eigenen Familie –, wie Rassismus und Black Pride, Antisemitismus und Ausschwitz, Homofeindlichkeit und Queerness, Patriarchat und Feminismus aufeinanderprallen.

»Radikal und behutsam zugleich. Dieses Buch ist ein heilsames, inspirierendes Geschenk.« Kübra Gümüşay

»Die Antwort auf viele Fragen unserer unsicheren Zeit heißt: Gleichberechtigung aller. Und dieses großartige Buch ist ein Schritt auf dem Weg dahin.« Sibylle Berg

»Dieses Buch wird verändern, wie Sie die Welt wahrnehmen und Sie verstehen lassen, was Gerechtigkeit wirklich bedeutet.« Teresa Bücker

Über Emilia Zenzile Roig

Emilia Zenzile Roig (*1983) ist Gründerin und Direktorin des Center for Intersectional Justice (CIJ) in Berlin. Sie promovierte an der Humboldt-Universität zu Berlin und an der Science Po Lyon. Emilia Roig lehrte in Deutschland, Frankreich und den USA Intersektionalität, Critical Race Theory und Postkoloniale Studien sowie Völkerrecht und Europarecht. Sie hält europaweit Keynotes und Vorträge zu den Themen Intersektionalität, Feminismus, Rassismus, Diskriminierung, Vielfalt und Inklusion und ist Autorin zahlreicher Publikationen auf Deutsch, Englisch und Französisch. Sie ist Interviewpartnerin in Sibylle Bergs Bestseller »Nerds retten die Welt« und war Mitglied der Jury des Deutschen Sachbuchpreises 2020.

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Emilia Roig

Why We Matter

Das Ende der Unterdrückung

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Newsletter

1. Prolog– Nina

2. Unterdrückung sichtbar machen

3. Zu Hause

»Ich, als Schwarze Frau …« – Rassismus in der Familie

Das Nest des Patriarchats

(Mein) Queer Awakening

4. In der Schule und an der Universität

Wie strukturelle Diskriminierung funktioniert

Was ist Wissen?

5. In den Medien

Die Empathielücke

Wie über Unterdrückung berichtet wird

Überlegenheit auf dem Bildschirm

Schönheit ist politisch

6. Im Gerichtssaal

Was ist »kriminell«?

Die Neutralität der Justiz

Könnten wir Polizei und Gefängnisse abschaffen?

7. Bei der Arbeit

Über die »Arbeit der Liebe«

Sexarbeit

Das Ende der Arbeit – eine Utopie?

8. Im Krankenhaus

Die Norm »Gesund«

Wie Unterdrückung krank macht

Die Folgen fehlender Empathie

9. Auf der Straße

Immer auf der Hut!

»Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann?«

Feminismus ohne Rassismus

10. Im Körper der Frauen

Wessen Leben ist schützenswert?

Die Angst vor dem Aussterben

Von Rechten für einige zur Gerechtigkeit für alle

11. Das Ende der Unterdrückung

Wie Hierarchien aufgebrochen werden

Vergiss alles, was du weißt

Veränderung erlauben – Tod akzeptieren

Ist eine Einheit der Menschen möglich?

Mit Schuld umgehen lernen

Der Weg der Heilung

Epilog

Vom ganzen Herzen, vielen Dank an:

Nachweise und Anmerkungen

Fußnoten

Impressum

Für Lena.

Do not lose heart. We were made for these times.

Clarissa Pinkola Estes1

1. Prolog– Nina

An einem kühlen herbstlichen Tag saß ich eingewickelt in eine Tagesdecke an meinem Schreibtisch, als eine dicke, blau glänzende Fliege um mich herum flog und ab und zu auf meinem Bildschirm pausierte. Ich war genervt und auch ein bisschen angeekelt von ihr, dachte mir aber, dass sie wohl die allerletzte Fliege des Jahres in meiner Wohnung sein, und dass ihr kurzes Fliegenleben bei solchen Temperaturen bald enden würde. Ich entschied mich also, sie zu akzeptieren. Nach einem Tag störte sie mich gar nicht mehr. Nach zwei Tagen bekam sie einen Namen: Nina – wie ein kleines Haustier. Am dritten Tag war ich leicht besorgt, als sie eine Weile verschwand – war sie schon tot? Insgesamt lebte sie fast drei Wochen bei mir. Ab dem Moment, in dem ich entschied, sie zu akzeptieren, schaltete mein Bewusstsein sozusagen um: Von einer nervigen, ekligen, unbedeutenden Fliege, deren Tod und Leben absolut unwichtig waren, wurde sie zu einem Lebewesen, zu dem ich eine Verbindung herstellen konnte. Der neue Blick auf diese Fliege erlaubte mir, sie als lebenswert zu sehen – genauso wertvoll wie ich. In diesem Augenblick gab es keine Hierarchie mehr zwischen ihr und mir, kein Konzept von Tier und Mensch, von »überlegen« und »unterlegen«, von »lebenswert« und »wertlos« – die Dichotomien, die Menschen seit Jahrhunderten trennen und kategorisieren. Alles ist eine Frage der Perspektive. Ein kollektiver Bewusstseinswandel ist möglich, hin zu mehr Verbindung, mehr Einheit, mehr Empathie und schließlich mehr Liebe.

2. Unterdrückung sichtbar machen

»To choose to write is to reject silence.«

Chimamanda Ngozi Adichie1

Nicht gesehen zu werden, nicht gehört zu werden, ist unerträglich. Weil es unsere Menschlichkeit infrage stellt. Menschen, die weder gesehen noch gehört werden, denen nicht geglaubt wird, sind vielen Formen von Gewalt ausgesetzt – bis hin zum Mord. Sie sind Opfer einer Unterdrückung, die die Mehrheit der Menschen auf dieser Erde über Jahrhunderte hinweg entmenschlicht, sie unsichtbar, stimmlos und entbehrlich macht. Diese Unterdrückung geschieht, kurz gesagt, erstens, indem »naturgegebene« Differenzen konstruiert und behauptet werden; zweitens, indem diese Differenzen dann in eine Hierarchie eingeordnet werden, die den Wert des Lebens definiert, den Zugang zu Rechten einräumt und das Niveau der Empathie beeinflusst; und drittens durch das machtvolle Narrativ, dass wir alle unseren Platz in dieser Hierarchie verdienen. Je niedriger die Stufe in der Hierarchie, desto weniger Sichtbarkeit, Gehör und Empathie werden gewährt. Das Ende der Unterdrückung, so utopisch es klingen mag, ist nichts anderes als ein Bewusstseinswandel: hin dazu, dass wir alle gesehen, gehört und geachtet werden – nicht nur einige wenige.

Unterdrückungssysteme beruhen auf sozialen Kategorien, die die Menschheit in verschiedene Gruppen unterteilen – und zwar entlang rigider, jedoch oft unsichtbarer Hierarchien. Fast alle diese Kategorien wurden in der Moderne als biologische Kategorien konstruiert und behandelt, als intrinsisch und unveränderlich. Aussagen, die Konsens waren und es heute häufig noch sind, lauten zum Beispiel: Männer und Frauen*1 werden als solche geboren, die Unterschiede zwischen beiden Geschlechtern sind genetisch vorprogrammiert; Schwarze*2 Menschen weisen eine Vielzahl an Eigenschaften auf, die in ihren Genen verwurzelt sind; behinderte Menschen sind nicht gesund und weniger fähig als nicht-behinderte Menschen. Diese scheinbar biologischen, naturgegebenen Merkmale sind jedoch in Wahrheit zum Großteil konstruiert. Sie wurden definiert, organisiert und verhandelt – und zwar so, dass sie Ungleichheiten in unseren Gesellschaften rechtfertigen.

Seit meiner Kindheit haben mich Armut und soziale Ungleichheit beschäftigt. Ich war als Kind – bis zur Trennung meiner Eltern mit 14 – ziemlich privilegiert: Wir lebten in einem Haus mit Garten in einem Pariser Vorort, ich lernte Cellospielen und Skifahren. Die Kindheit meiner Mutter in Martinique hatte anders ausgesehen. Im frühkindlichen Alter litten sie und ihre Geschwister unter Nahrungsmittelmangel und Krankheiten wie Rachitis und Wachstumsverzögerung. Bei der Ankunft in Frankreich erlebte die gesamte Familie extrem viel Rassismus, sei es durch Mitschüler*innen oder Lehrer*innen, auf der Straße, beim Arzt bzw. bei der Ärztin oder in Geschäften. Verglichen damit war der Rassismus, der mir widerfuhr, kaum erwähnenswert. Als ich die Erzählungen meiner Mutter hörte, empfand ich tiefe Schuldgefühle. Aus welchem Grund ging es mir im gleichen Alter so grundlegend anders? Warum hatte ich so viel Glück im Vergleich zu ihr? Diese Frage begleitet mich bis heute. Ich wollte verstehen, woran es lag, dass manche von uns mehr haben als andere. Mir war bewusst, dass es nicht die eine Antwort gab, sondern dass soziale Ungleichheiten sich durch eine Vielzahl von Faktoren erklären lassen. Die individuellen Faktoren kennen wir gut: Motivation, Willen, Kompetenzen, Intelligenz, Veranlagung. Diese Erklärung überzeugte mich nicht. Ich suchte also die fehlenden Puzzleteile.

Durch meine Eltern, deren Eltern und ihre so unterschiedlichen Lebenswege und Erfahrungen wurde mir früh klar, dass das Leben vollkommen anders aussieht, je nachdem, aus welcher Perspektive es betrachtet wird: z. B. aus der einer Schwarzen Krankenschwester oder eines weißen Arztes. Sehr früh lernte ich, dass das, was uns über unsere komplexe Persönlichkeit hinaus ausmacht, zu großen Teilen durch Zuschreibungen von außen geprägt ist. Ich merkte zum Beispiel, dass Menschen mit hellerer Haut generell besser angesehen werden. Das galt auch für mich gegenüber meinen Verwandten und Freund*innen, die eine dunklere Hautfarbe hatten als ich. Ich merkte zudem, dass mein Vater ernster genommen und mehr geachtet wurde als meine Mutter: aufgrund seines Geschlechts, seiner Hautfarbe und seines sozialen Status. Ich lernte, dass der Wert der Menschen von vielen willkürlichen Faktoren bestimmt wird: Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht, Aussehen, Vermögen, Bildungsstand.

Die Zeiten ändern sich. Wir sind bereit, Dinge zu sehen, die wir vor einiger Zeit noch nicht sehen wollten. Doch die Ungerechtigkeit wirkt manchmal überwältigend. Es gibt so viele Systeme der Unterdrückung. Wie sollen sie alle zugleich bekämpft werden? Sollten wir soziale Ungerechtigkeit nicht lieber Schritt für Schritt oder nach Priorität angehen? Erst der Klimawandel, dann Gewalt gegen Frauen, dann Rassismus, dann Ausgrenzung von behinderten Menschen?*3 Bisher war dieser Ansatz nicht sonderlich erfolgreich. Warum? Weil sich alle Formen von Diskiminierung und Ungleichheit gegenseitig verstärken. Das heißt, dass neben Sexismus auch Rassismus, Homo-, Trans- und Behindertendiskriminierung bekämpft werden müssen – gleichermaßen und gegenseitig. Dieser Ansatz hat einen Namen: Intersektionalität. Er bedeutet im Grunde: Diskriminierung innerhalb von Diskriminierung bekämpfen, Ungleichheiten innerhalb von Ungleichheiten sichtbar machen, und Minderheiten innerhalb von Minderheiten empowern. In anderen Worten: Leave no one behind.

Strukturelle Ungleichheiten nehmen zu, Rechte und Existenzen von Minderheiten und indigenen Völkern stehen weltweit unter Druck, die globale wirtschaftliche Lage ist wackelig, es wird auf der Erde immer heißer, und noch dazu müssen wir eine globale Pandemie bekämpfen. Es darf wohl gesagt werden, dass die Lage der Welt chaotisch ist. Chaos jedoch geht häufig einem Paradigmenwechsel voraus, einer großen, globalen Veränderung. Und vielleicht sogar zum Positiven, auch wenn das angesichts der jetzigen Lage kontraintuitiv erscheint. Ich will zwar die historische Gegenwart nicht als positiv bewerten – anders als etwa Steven Pinker in »Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit« –, aber ich lese die Konfrontation zwischen denjenigen, die sich aus der Unterdrückung befreien möchten – etwa im Rahmen der Black-Lives-Matter-Bewegung –, und denjenigen, die Angst vor dieser Befreiung haben, als ein Zeichen für eine Transformation. Die reaktionären Bewegungen, die sich überall auf der Welt gegen soziale Fortschritte stemmen, sind Ausdruck eines angstgetriebenen Widerstands. AfD, Fidesz, Le Pen, Erdogan, Bolsonaro, Duterte und Trump sind in dieser Lesart Zeichen dafür, dass die Welt vor einer Veränderung hin zu mehr Gerechtigkeit, Gleichheit und Frieden steht – und dass sich manche dagen wehren. Den gesamten Prozess dieser Veränderung werden wir wahrscheinlich nicht miterleben können, aber das transformative Potenzial des gegenwärtigen Chaos können wir jetzt schon ausschöpfen und konstruktiv nutzen.

Wandel existiert. Die Welt sah 1950 anders aus als heute, und heute sieht sie anders aus, als sie 2080 aussehen wird. Die Grenzen der Normalität werden kontinuierlich neu verhandelt und neu definiert. Allerdings bleibt das Fundament der Unterdrückung bisher unverändert. Die Macht verschiebt sich lediglich. Vor dreißig Jahren wäre es undenkbar gewesen, in Berlin ein Plakat zu sehen mit einem schwulen Pärchen, das sich leidenschaftlich auf den Mund küsst (ich rede nicht vom Bruderkuss). Heute haben solche Bilder es geschafft, Teil der Normalität zu werden. Vor 200 Jahren war die Sklaverei in den meisten Teilen der Welt normal, heute nicht mehr. Heute sind biracial kids (Kinder mit zum Beispiel einem weißen und einem Schwarzen Elternteil) keine Kuriosität mehr, ihre Eltern dürfen heiraten und zusammenleben. Im letzten Jahrhundert war dies in vielen Ländern, inklusive Deutschland, keine Selbstverständlichkeit. Auch schwule und lesbische Paare können in immer mehr Ländern heiraten, was vor zwanzig Jahren noch völlig ausgeschlossen war.

Solche Veränderungen sind keine organischen Entwicklungen, die sich einfach mit der Zeit ergeben haben. Sie sind das Ergebnis von langwierigen sozialen Kämpfen. Häufig erscheint in der Geschichtsschreibung sozialer Wandel als Resultat von Entscheidungen mächtiger Männer und Institutionen: »Schoelcher hat die Sklaverei in den französischen Antillen abgeschafft«; »Der Bundestag verabschiedete am 1. Oktober 2017 das Gesetz zur gleichgeschlechtlichen Ehe«; »Frauen wurde das Wahlrecht 1919 eingeräumt«; »2006 wurde das Recht auf gleichberechtigte Bildung von Menschen mit Behinderung durch die UN-Behindertenrechtskonvention eingeräumt«; »Ab 2019 wird Transgeschlechtlichkeit von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nicht mehr als psychische Störung klassifiziert«: Die Bewegungen, die hinter solchen Fortschritten und Gewinnen stehen, werden regelmäßig ausgeblendet. Über die Konfrontation und die Repression wird seltener erzählt. Kaum erinnern wir uns an die Stonewall Riots von 1969 in den USA und die eklatante Polizeigewalt, die gegen die LGBTQI+-Demonstrant*innen angewandt wurde. Kaum bekannt sind die Namen von Marscha P. Johnson und Sylvia Rivera, zwei Trans-Frauen, die in diesen Riots eine bedeutende Rolle gespielt haben. Heutige Schwule und Lesben, die heiraten können, haben dies zumindest teilweise ihnen zu verdanken – nicht dem Bundestag.

Judith Heumann, Kitty Cone und Mary Jane Owen haben eine wichtige Rolle in der Bewegung für die Rechte von behinderten Menschen gespielt, doch wer kennt ihre Namen? Während der sogenannten »504-Proteste« haben behinderte Menschen und Allies, ihre Unterstützer*innen, aus den ganzen USA. Sit-ins und Hungerstreiks durchgeführt, damit die Regierung endlich ihre Rechte gesetzlich anerkennt und die Segregation in Schulen, Arbeit, Politik, Kultur, Ehe und Familie, Gesundheitswesen und anderen gesellschaftlichen Feldern beendet. Diese Aktionen haben sich weit außerhalb der USA ausgewirkt. In Deutschland und Frankreich spielt die Arbeit von Behindertenrechte-Aktivist*innen wie Ed Greve, Laura Gehlhaar, Ninia La Grande, Raul Krauthausen, Elisa Rojas, Marina Ramos und Elena Chamorro eine bedeutende Rolle. Aufzüge, Geländerampen und Integrationsschulen tauchten nicht magisch auf, Menschen mussten darum kämpfen. Häufig wird der Eindruck erweckt, behinderte Menschen müssten dankbar dafür sein, dass ihnen Rechte eingeräumt wurden. Die Behindertenrechte-Aktivistin Judith Heumann sagt zu Recht: »Ich möchte nicht dankbar sein müssen für barrierefreie Toiletten. Wenn ich dankbar dafür sein muss, wann werden wir dann endlich gleichgestellt sein?«2

Gerne werden auch die Äußerungen charismatischer Anführer*innen von Befreiungsbewegungen abgemildert, damit sie nicht mehr an die brutale Unterdrückung erinnern, gegen die sie sich auflehnten. Zum Beispiel wird die Botschaft Martin Luther Kings meist auf Liebe und Frieden reduziert und manchmal sogar herbeizitiert, um heutige antirassistische Bewegungen wie Black Lives Matter zu diskreditieren, der man vorwirft, zu konfrontativ zu sein. Nelson Mandelas Zitate sind dem gleichen Schicksal ausgesetzt. Es wird dabei vergessen, dass beide Männer in ihrer Zeit vom Staat gehasst wurden, bis hin zu jahrelanger Verhaftung und Mord. Es wird vergessen, dass sie sich nicht einfach so für Liebe und Frieden eingesetzt, sondern gegen die brutale Unterdrückung von Schwarzen Menschen durch die weiße Vorherrschaft gekämpft haben. Gandhi, Nelson Mandela, Rosa Parks und Martin Luther King werden vor allem für die Methoden ihres Kampfs für Gerechtigkeit erinnert: die gewaltfreie Rebellion. Dass der Widerstand friedlich war, wird heute gefeiert. Doch es war eine Rebellion gegen unsägliche staatliche, rassistische Gewalt.

Hinter den Phänomenen Rassismus, Sexismus, Behinderten-, Homo- und Transdiskriminierung und anderen Formen der Unterdrückung stehen Mechanismen und Muster, in die wir alle eingebettet sind und die unsere Wahrnehmung der Realität stark beeinflussen. Diese Begriffe sind negativ konnotiert und lösen meistens Unbehagen und Widerstand aus. Mit diesem Buch möchte ich dieses Unbehagen in transformative Kraft umwandeln. Doch bevor diese Transformation stattfinden kann, müssen wir erst mal verstehen, was unsere Wahrnehmung von der Welt beeinflusst. Das Leben ist vielseitig. Je nachdem, aus welchem Blickwinkel wir es anschauen, nimmt die Realität eine andere Form an. Doch wir verharren meist in ein und derselben Perspektive, aus der heraus wir die »Normalität« sehen. Dieses Buch ist eine Einladung, die Tür zur Vielseitigkeit unserer Existenz zu öffnen.

Doch was gilt als »normal«? Manche Standpunkte und Sichtweisen werden als neutral, objektiv und universell betrachtet, und andere als subjektiv, partikular und spezifisch. Obwohl alle Standpunkte nebeneinander existieren, gewinnen einige die Deutungshoheit über andere. In diesem Buch möchte ich vermeintlich universelle Normen, die allgegenwärtige »Normalität«, dekonstruieren: Wie wurde diese Normalität erzeugt? Anhand welcher Hierarchien? Warum gelten die Erfahrungen und Lebensrealitäten von manchen Menschen als spezifisch und andere als universell? Wie sieht die Realität aus der Perspektive einer Person aus, die dieser Norm nur teilweise entspricht?

Gehört man zur Mehrheit, zur Norm, zur dominanten Gruppe, unterdrückt man zwangsweise andere – auch wenn dies meist unbewusst und unbeabsichtigt geschieht. Negative Botschaften über andere Gruppen sind dermaßen verinnerlicht, dass man ein subtiles Überlegenheitsgefühl für ganz normal hält. Ob Männer im öffentlichen Nahverkehr die Beine spreizen und sich in die persönliche Sphäre von Frauen drängen, weiße Menschen einfach mal die Haare von Schwarzen Frauen anfassen, oder nichtbehinderte Menschen den Rollstuhl beiseiteschieben, um Platz zu machen, ohne vorher zu fragen – sie sind sich nicht bewusst, dass sie nicht nur die Privatsphäre verletzen und Grenzen überschreiten, sondern auch noch Teil eines Systems der Unterdrückung sind.

Die vermeintliche Normalität blendet eine Vielzahl an Lebenserfahrungen aus, schafft dadurch eine eindimensionale Realität, die als objektiv und universell gilt. Es ist die Realität, die in den Medien, in Schulbüchern, in der gängigen Literatur im Mittelpunkt steht und vorrangig dargestellt wird. Auch wenn diese eindimensionale Realität unterschiedliche Schattierungen beinhaltet, ist sie von einer gewissen Homogenität gekennzeichnet. Sie entspricht den dominanten medialen, politischen, kulturellen und religiösen Überzeugungen: dass eine Familie aus einem Vater, einer Mutter und leiblichen Kindern besteht, oder dass »Schönheit« hauptsächlich mit heller Hautfarbe, schlanker Figur, glatten Haaren, Jugend, und Geschlechterkonformität*4 verbunden ist.

Wir sind uns der Normalität selten bewusst. Sie ist einfach da für die meisten von uns, wie Wasser für Fische. Sie ist unbemerkbar, wird deshalb nicht infrage gestellt und damit reproduziert. Zum Beispiel wird die Unterdrückung der Frauen im Patriarchat auch von Frauen geschützt. Die gnadenlose Beurteilung von Frauen unter sich – sei es des Aussehens oder der Mutterrolle – zeigt, dass wir gleichzeitig Opfer patriarchaler Strukturen und Verfestigerin sein können.

Diese Ambivalenz lässt sich gut am Neid veranschaulichen, den wir gegenüber Menschen empfinden, die gegen die impliziten Regeln der Gesellschaft immun zu sein scheinen: Eine dicke Frau, die sich wohl und wunderschön fühlt, Selbstbewusstsein und Glück ausstrahlt, wird bestraft. Sie wird hören, sie solle sich lieber schämen, unglücklich sein und sich hässlich fühlen. Menschen, die die Normen und Grenzen schwächen, die wir sonst für unveränderlich und unverletzlich halten, machen Angst, weil sie Teile unserer Seele öffnen könnten, die verschlossen wurden. Die eindimensionale Realität blendet die Vielfalt an Lebensentwürfen aus, die jenseits der mächtigen Normen und Regeln bereits existieren – und entstehen können. Was wäre, wenn wir diese Regeln ignorieren und unser Leben selbst bestimmen würden?

Die »objektive« Realität infrage zu stellen, fordert die Bereitschaft zur Selbstreflexion und die Offenheit, neue Perspektiven zu entdecken, auch wenn diese Schuldgefühle, Scham, Wut, Selbstmitleid und Fragilität auslösen können. Wenn Sie dieses Buch in der Hand halten, nehmen Sie vermutlich die eindimensionale Repräsentation der Realität nicht ganz an oder sind zumindest dazu bereit, sie infrage zu stellen. Diejenigen von uns, deren Lebenserfahrung der eindimensionalen Realität – oder Teilen davon – weithin entspricht, sind oft skeptisch, ob diese Infragestellung überhaupt notwendig ist. Für uns alle geht die Infragestellung der Realität mit einer Infragestellung von Teilen von uns selbst und der eigenen Geschichte einher. Der Weg zur neuen, nuancierten und vielschichtigen Sicht auf die Welt ist kein einfacher. Er lohnt sich aber, denn für uns alle kann dadurch ein Prozess der Befreiung von den bedrückenden sozialen Hierarchien beginnen: für Menschen, die in der sozialen Hierarchie höher positioniert sind, wie auch für diejenigen, die sich weiter unten befinden. Wir alle können davon profitieren. Zum einen, weil Unterdrückung ganze Teile unserer Menschlichkeit hemmt, zum anderen, weil unser Selbstwertgefühl von der Unterdrückung anderer abhängt. Die soziale Hierarchie lässt uns auf die Über- oder Unterlegenheit anderer angewiesen sein, um uns wertvoll oder wertlos zu fühlen. Wie wäre es, wenn wir uns kollektiv davon befreien würden, und jeder Mensch den eigenen Wert erkennen würde, ohne sich auf den Vergleich mit anderen verlassen zu müssen?

Wie können die Prozesse, Regeln und Prinzipien der Unterdrückung sichtbar werden, die der Normalität unterliegen? Wie die bisher unsichtbaren Grenzen, gegen die manche von uns immer wieder stoßen, sich auflösen und porös werden? Der Prozess des politischen Erwachens ist ein langwieriger, der auch viel Wut mit sich bringt. Je privilegierter wir sind, desto schwieriger ist es, Privilegien und Ungleichheit zu erkennen und zu akzeptieren. Vielen Menschen, die nicht privilegiert sind, fällt dies ebenfalls schwer, weil es ihre Wahrnehmung der Welt auf den Kopf stellt. Die resultierende Unbequemlichkeit ist manchmal kaum auszuhalten. Der Psychoanalytiker, Politiker und Theoretiker Frantz Fanon schreibt in Black Skin, White Masks über das unangenehme Gefühl der kognitiven Dissonanz, das ausgelöst wird, wenn ein Kerngedanke, der sehr stark ist, widerlegt wird. Wenn Beweise vorgelegt werden, die gegen diese Überzeugung sprechen, können die Beweise nicht akzeptiert werden. Weil es so wichtig ist, die Kernüberzeugung zu schützen, wird alles, was nicht zur Kernüberzeugung passt, rationalisiert, ignoriert und sogar geleugnet.

Mein familiärer Background, meine Lebenserfahrungen und meine Arbeit haben mich dazu gebracht, das engmaschige Gefüge des kapitalistischen, patriarchalen, auf der weißen Vorherrschaft basierenden Systems zu dekonstruieren; sie haben mir die Kapazität verschafft, ein anderes Narrativ zu artikulieren, das meine Existenz und Sichtweise reflektiert; die Fähigkeit, bestehende Bezugssysteme zu überdenken und neue zu schaffen; und schließlich einer globalen Gemeinschaft von Aktivist*innen, Denker*innen, Künstler*innen und Anhänger*innen anzugehören, die sich für eine Welt einsetzen, die frei von systemischer Unterdrückung ist.

Während meines Promotionsstudiums trat ich in eine Community ein, die wie eine kleine Oase in der Wüste war, in der ich eine Pause vom ständigen Widerstand einlegen konnte, gegen das Gefühl, falsch zu liegen. Es war einer der seltenen Orte, an denen ich Zugehörigkeit empfand. Ein Ort der Solidarität und der impliziten Verständigung. In diesem Prozess wurde mir klar, dass viele meiner persönlichen Erfahrungen Teil eines größeren kollektiven Phänomens waren. Mir fielen viele kleine Steine vom Herzen, als ich Begriffe wie »Mikroaggression«, »internalisierter Rassismus«, »Zwangsheterosexualität« und »Mansplaining« entdeckte. Endlich gab es Worte, um meine Erfahrung zu beschreiben und zu benennen. Und noch wichtiger: Ich war nicht allein. Ohne diese Worte hatten die Erfahrungen keine Wirklichkeit, denn, was nicht genannt werden kann, existiert nicht. Kübra Gümüşay beschreibt in ihrem Buch Sprache und Sein die Effekte einer sprachlichen Leere: »Die Ohnmacht, die eine solche linguistische Lücke hinterlässt, ist immens: Weder sind Betroffene in der Lage, das Geschehene zu problematisieren, noch sind sich die Täter*innen einer Schuld bewusst. So bleiben Menschen sprach- und machtlos angesichts einer Ungerechtigkeit, die noch nicht in Worte gefasst ist, die ausreichend viele Menschen verstehen und begreifen. Und ihre Realität bleibt unsichtbar für die Anderen.«3 Aus diesem Grund war #MeToo so machtvoll. Millionen von Frauen – und Menschen jenseits der binären Geschlechtsordnung – sind aus der Unsichtbarkeit gekommen und haben den kollektiven Aspekt ihrer Erfahrung erkennen können. Sie waren nicht mehr allein.

In den letzten Jahren habe ich zu verstehen versucht, wie Unterdrückung in allen Bereichen des Lebens erlebt wird, und wie die gesellschaftlichen Systeme, in die unsere Erfahrungen eingebettet sind, funktionieren. Dabei stieß ich auf unschätzbare Texte, Bücher, Artikel und Filme, die im Rahmen der klassischen eurozentrischen Universität nicht leicht zugänglich sind, wie etwa die Werke von Audre Lorde, bell hooks, Gayatri Chakravorty Spivak, Angela Davis, Frantz Fanon, Aimé Césaire, Dipesh Chakrabarty, Achille Mbembe, Edward Said, Kimberlé Crenshaw, Chandra Talpade Mohanty, Maya Angelou, Nirmala Erevelles, May Ayim, Katharina Oguntoye, Fatima El-Tayeb, Peggy Piesche, Jin Haritaworn, Grada Kilomba, Françoise Vergès, Elsa Dorlin, Nacira Guénif-Souilamas, Dean Spade und viele mehr – auf die kritische Rassismusforschung, die Intersektionalitätstheorie, den Queer-Feminismus, den Schwarzen Feminismus, auf Disability Studies und Postkoloniale Theorien. Diese Theorien der Befreiung, wie ich sie gerne nenne, halfen mir dabei, die Mechanismen von Unterdrückung Schicht für Schicht freizulegen – um damit den entscheidenden ersten Schritt auf dem Weg zu ihrer Überwindung zu gehen. Ohne diese zahlreichen Lektüren mit ihren ungewohnten Perspektiven auf globale Ungleichheiten hätte sich mein politischer Aufbruch in Grenzen gehalten. Ich wäre wahrscheinlich nicht über Bauchgefühle und Annahmen hinausgekommen. Die Community war auch ein sicherer Ort für die Wut und die große Verzweiflung, die dieser Prozess auslöste. Es gibt nichts Schlimmeres für die Seele als unverarbeitete Wut. Ich habe oft bereut, mich auf diesen Weg begeben zu haben. Manchmal war ich sogar neidisch auf Freund*innen, die diese Reise nicht unternehmen. Bei mir war die innere Unruhe jedoch zu stark. Seit der Kindheit spürte ich, dass irgendwas mit der Welt, die mir vorgezeigt wird, nicht stimmt. Ich konnte auf dem großen Bild einen Riss sehen, der andere Realitäten durchscheinen lässt.

»Ich habe tausend Sklaven befreit, ich hätte tausend weitere befreien können, wenn sie nur gewusst hätten, dass sie Sklaven waren.« Diese Worte werden Harriet Tubman zugeschrieben, der bekannten afroamerikanischen Fluchthelferin, die bis zum Ende des Sezessionskriegs entlaufenen Sklav*innen half, aus den Südstaaten zu fliehen. Aus unserer jetzigen Perspektive ist es kaum denkbar, dass versklavte Menschen sich damals nicht als solche wahrgenommen haben. »Wer sich nicht bewegt, spürt die Fesseln nicht«, soll Rosa Luxemburg gesagt haben. Aktivist*innen sehen Ketten, die für viele unsichtbar sind, und neigen dazu, alle befreien zu wollen. Viele möchten aber nicht befreit werden und reagieren auf solche Versuche bestenfalls skeptisch, schlimmstenfalls mit Wut und Empörung. Anfangs unterstellte ich anderen Menschen, die von Unterdrückung betroffen sind, einen Befreiungsdrang; das würde ich heute nicht mehr tun, denn jeder Prozess ist einzigartig und sehr persönlich: Meine kleine Schwester, die in einem renommierten Krankenhaus in Paris als Kardiologin arbeitet, war beispielsweise irgendwann vom Feldzug genervt, den ich in meiner Familie führte. Sie sagte mir: »Ich kann mir diese Sichtweise über unsere Gesellschaft nicht leisten, wenn ich in dieser Welt weiter funktionieren muss, ohne verbittert und zynisch zu werden.« Wir hatten einen Streit, als ich meinte, sie solle sich von ihrem Chef nicht mehr »meine Kleine« nennen lassen, weil es sexistisch und paternalistisch sei. Sie rastete aus und sagte, es würde sie mehr kosten, sich dagegen zu wehren, als diese Behandlung einfach zu akzeptieren, denn im Gegensatz zu mir sei sie nun mal keine Aktivistin und könne ihre Zeit und Energie solchen Kämpfen nicht widmen. Das kann ich inzwischen gut nachvollziehen. Auch für meine andere Schwester, die als Podologin arbeitet, sind Alltagsrassismus und -sexismus Teil ihres Jobs: »In meinem Job sind Alltagssexismus und -rassismus unvermeidbar, und wenn ich anfange, mich darüber aufzuregen, habe ich schon verloren.« Auf ihre Weise sehen sie die Systeme der Unterdrückung. Sie sind ihren eigenen Weg gegangen, nicht mit meinem vergleichbar, aber auch nicht weniger stichhaltig.

Wenn man dann sozusagen aus dem bestehenden System heraustritt, sich den gesellschaftlichen Normen so weit wie möglich entzieht, ist es, als würde man von einem grellen Licht geblendet. Die meisten Menschen können das Licht nicht ertragen und wollen zurück in die bequeme Dunkelheit. In seiner Allegorie der Höhle drückte es Plato sehr gut aus: Die meisten Gefangenen wollen nicht befreit werden, und denjenigen, die die Welt aus einer anderen Perspektive betrachten könnten, wird weder geglaubt noch werden sie verstanden, sondern sie werden verbannt und verfolgt.

Lasses Sie uns mutig sein, und die bequeme Höhle verlassen.

3. Zu Hause

»Du hast erst dann eine Heimat, wenn du sie verläßt, und hast du sie einmal verlassen, so kannst du nie mehr zurückkehren.«

James Baldwin1

Ich bin ein Produkt des französischen Kolonialismus. Meine Mutter ist in Martinique geboren, einer der letzten und ewigen französischen Kolonien in der Karibik, politisch korrekt als Übersee-Département bezeichnet. Ihre afrikanischen Wurzeln vermischen sich vermutlich mit einer indischen Abstammung aus Tamil, so genau weiß es niemand, denn ihre Familiengeschichte ist von Ungewissheit, Verdrängung und Schweigen geprägt. Ganze Teile der Genealogie fehlen oder sind nur eingeschränkt nachvollziehbar. Das hängt mit der Geschichte der Sklaverei zusammen: Nach der Zwangsentführung vom afrikanischen Kontinent wurden Herkunft, Name, Geburtsdatum und Abstammung der Menschen ausradiert. Meine Mutter trägt noch den Nachnamen des Sklavenhalters ihrer Vorfahren, Griffit. 1957, als sie drei Jahre alt war, verließen sie und ihre drei Geschwister mit meiner Großmutter Martinique. Sie landeten nach einer langen Reise mit Boot und Flugzeug in Madagaskar, wo ihr Vater in der französischen Armee diente. Drei Jahren später brachte diese die mittlerweile siebenköpfige Familie mit einem Schiff an die Küste der Normandie. Später lebte meine Mutter mit ihrer Familie in den französischen Kleinstädten Caen und Limoges.

Mein Vater wiederum ist der Sohn einer jüdischen Mutter mit sephardischen und aschkenasischen Eltern; sein Vater ist ein katalanischer Pied-noir, Algerienspanier, der aber in Algerien geboren wurde, wo auch mein Vater zur Welt kam. Nach dem Unabhängigkeitskrieg 1962 musste die Familie, wie alle Pied-noirs, Algerien verlassen; sie gingen nach Marseille. In der Metropole fühlte sich mein Großvater unwohl, befand er sich doch plötzlich in der Position des »Flüchtlings« und konfrontiert mit der Feindseligkeit der einheimischen Bevölkerung. Nach wenigen Monaten wanderte die Familie in die Zentralafrikanische Republik und später in die Elfenbeinküste aus, wo sie den kolonialen Lebensstil wiederherstellen konnte. 1972 verließ mein Vater Afrika, um in Marseille Medizin zu studieren. Im gleichen Jahr wurde seine erste Tochter, meine Halbschwester Victorine, in einem kleinen Dorf in der Nähe von Abidjan von einer sehr jungen Mutter geboren. Mein Vater lebte die folgenden sieben Jahre in La Réunion und später in Französisch-Guyana. Meine Mutter machte in dieser Zeit ihre Ausbildung zur Krankenschwester in Paris und ging im Anschluss nach Brasilien und später nach Französisch-Guyana, wo sich meine Eltern 1977 kennenlernten. Sie blieben noch drei Jahre in Cacao, einem kleinen Ort mitten in Amazonien, dann ließen sie sich in der Nähe von Paris nieder. Dorthin kam auch Victorine, die mit sechs Jahren von ihrer Mutter und ihrem bisherigen Leben in der Elfenbeinküste getrennt wurde. 1983 bin ich geboren, ein Jahr nach meiner Schwester Anaïs und vier Jahre vor meiner Schwester Clémence.

Zu Hause, in der Familie, werden Liebe, Zuneigung, Wertschätzung, Selbstwert und Sicherheit, aber auch Hierarchien und Macht erlernt. Zu Hause wird unsere Identität geformt und ausgehandelt. Alle unsere Beziehungen sind in Machtdynamiken eingebettet. Die Macht wird aber nicht unbedingt von der scheinbar mächtigsten Person ausgeübt. Wer regelmäßig Zeit mit Kindern und Jugendlichen verbringt, weiß das. Gesellschaftliche Machtstrukturen schleichen sich bis in unsere intimsten Beziehungen ein, zumeist völlig unbewusst. Paare, die sich für progressiv und egalitär halten, verfallen etwa dennoch häufig in patriarchische Muster, in denen die Frau die Mehrheit der Hausarbeit und Kindererziehung übernimmt. Beziehungen zwischen Eltern und Kindern und zwischen Geschwistern sind definitiv nicht frei von Rassismus, Homodiskriminierung oder Sexismus.

Doch was ist mit sogenannten transracial-Familien wie der meinigen, mit mehr als einer Ethnizität oder Hautfarbe? Sind sie nicht der Beweis dafür, dass Rassismus überwunden werden kann? Sind sie kein Symbol für Toleranz, Offenheit und sozialen Fortschritt? Nein, leider sind gerade diese Familien für Rassismus besonders anfällig.

»Ich, als Schwarze Frau …« – Rassismus in der Familie

Sehr früh musste ich lernen, dass Hautfarbe kein neutrales Merkmal ist. Meine Mutter ist Schwarz und mein Vater ist weiß, ich bin eine métisse, wie der französischsprachige Begriff für biracial lautet. Ein Wort, das meine Identität als Kind und im späteren Leben sehr prägte. Métisse wird mit Schönheit, exotischen Inseln und Weiblichkeit verbunden. Obwohl ich heute weiß, dass solche Konnotationen, auch wenn sie positiv zu sein scheinen, sowohl rassistische als auch sexistische Untertöne haben, nahm ich die Zuschreibung eher positiv wahr. Wenn mir Kinder in der Schule sagten: »Du bist Schwarz!« antwortete ich: »Nein! Ich bin métisse!«. Dass métisse besser ist als Schwarz, schien für mich eine Selbstverständlichkeit zu sein. Und das war tatsächlich so: Gesehen durch die Augen einer Vierjährigen – und der gesamten Gesellschaft – war métisse besser als Schwarz, und weiß besser als métisse. Als eine Erzieherin hörte, wie ein Kind einem anderen »Du bist Schwarz« zurief, entgegnete sie: »So was sagt man nicht, es ist nicht nett.« Ihre Absicht war gut, doch durch ihre Aussage gab sie beiden Kindern zu verstehen, dass »Schwarz« ein Schimpfwort ist, und dementsprechend an sich eine negative Eigenschaft. Beide Kinder sehen doch, dass sie eine unterschiedliche Hautfarbe haben. Die Erzieherin hätte einfach sagen können: »Ja, er ist schwarz, und du bist weiß. Ihr seid verschieden, und beide schön.« Das wäre ihr aber nicht in den Sinn gekommen, weil in ihrem – und dem kollektiven – Unterbewusstsein »Schwarz« negativ konnotiert ist. Ob in Büchern, Liedern, Filmen, in der Werbung oder bei Spielzeug: Unserem kollektiven Unterbewusstsein wurden und werden permanent Bilder von unterlegenen Schwarzen geliefert. Existierende Unterschiede zwischen Menschen sind nicht das Problem, sondern die Wertung, die damit verbunden ist. Ersetzen wir in der oben erzählten Interaktion »Schwarz« mit »dick« oder »behindert«, haben wir das gleiche Ergebnis: eine negative Bewertung von Identitäten, die eigentlich neutral bewertet werden sollten. Den meisten von uns wird es schwerfallen, »Er ist dick/behindert«, zu sagen, ohne dabei das Gefühl zu haben, dass wir den Menschen irgendwie beleidigen.

Wenn Hautfarbe keine Rolle spielt

In transracial-Familien werden Unterschiede oft geleugnet. Weil es einfach bequemer ist, sich nicht mit Differenz und Hierarchie zu beschäftigen. Weiße Eltern von Schwarzen, asiatischen und biracial Kindern tendieren dazu, die Hautfarbe ihrer Kinder auszublenden. Das wäre eine gute Sache, wenn ihre Realität und die Erfahrungen, die sie aufgrund ihrer Hautbarbe machen, nicht ebenfalls ausgeblendet würden. Eltern wollen sich in ihren Kindern wiederfinden und suchen Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten. Die Hautfarbe ist zwar nur eines der Identitätsmerkmale, wie Augen- und Haarfarbe, Sommersprossen, Figur und Charaktereigenschaften, sie ist aber nicht neutral und enthält eine besondere Erfahrung, die von weißen Menschen nicht geteilt werden kann. Weiße Menschen werden nie wissen, wie es sich anfühlt, die Welt als Person of Color innerhalb einer weißen Mehrheit zu erleben. Eltern wollen ihre Kinder nicht nur beschützen, sondern auch verstehen und sich in ihre Haut hineinversetzen. Die Erkenntnis, dass die eigenen Kinder die Welt anders erfahren und unter etwas leiden können, gegen das man selbst abgeschirmt ist, kann deshalb schmerzhaft und frustrierend sein. Empathie jedoch verlangt nicht unbedingt, dass man über die dieselben Erfahrungen verfügt.

Ich bin in einer rassistischen Familie groß geworden. Mein Großvater väterlicherseits war sein ganzes Leben ein Anhänger von Le Pen und sehr aktiv im Front National – der rechtsextremistischen Partei Frankreichs. In Zeiten von Wahlkampagnen waren in Nordfrankreich auf sämtlichen Straßen Plakate mit seinem Bild zu sehen. Er hat mich sogar mit ins Hauptquartier des Front National in der Nähe von Paris genommen, als ich sechs Jahre alt war. Ich kann mich erinnern, dass jemand meinen Kopf streichelte und mich anlächelte. Vielleicht war es sogar Le Pen in Person. Meine ganze Kindheit über habe ich aus seinem Mund Beleidigungen über Schwarze, Araber*innen, Muslim*innen und ab und zu Juden*Jüdinnen gehört. Gleichzeitig war er ein sehr lieber Opa und hat mich und meine Schwestern wie seine anderen Enkelkinder behandelt, die weiß sind. Meine Großmutter väterlicherseits verbirgt ihre jüdische Identität seit dem Zweiten Weltkrieg, in dem viele ihrer Familienmitglieder ermordet wurden. Sie ließ sogar ihre vier Söhne taufen, damit sie bei Bedarf das Zertifikat zeigen können. Nach meinem Großvater hat sie zwei weitere Männer geheiratet, die ebenfalls offenkundig rassistisch und antisemitisch waren. Vielleicht war es für sie ein Schutzmechanismus, dem Feinde nah zu sein. Wie dem auch sei, wir Kinder mussten uns auch ihre rassistischen Aussagen über Schwarze und arabische Menschen anhören. Beide Großeltern väterlicherseits sagten vor uns, ihren métisse-Enkelkindern und ihrer Schwarzen Schwiegertochter, herabwürdigende Dinge über Schwarze Menschen an sich, ohne sich dabei schlecht zu fühlen – und ohne, dass mein Vater jemals dagegen aufbegehrte. Wie kann es sein, dass sie eine solch klare Trennung vollziehen konnten, zwischen uns und den anderen Schwarzen? Und warum hat uns mein Vater nicht verteidigt? Sie konnten das, weil sie uns nicht gesehen haben. Sie haben unsere Hautfarbe ausgeblendet, damit sie uns akzeptieren und lieben können, ohne dass es bei ihnen innere Konflikte auslöst. Menschen, die gegenüber bestimmten minorisierten Gruppen negative Vorurteile haben, können trotzdem enge Beziehungen mit Mitgliedern dieser Gruppen entwickeln. Als sie schwanger mit ihrem ersten métisse-Kind war, sagte mir eine weiße Bekannte: »Ich hoffe, dass sie nicht zu krasse afrikanische Gesichtszüge haben wird. Und hoffentlich auch keine krausen Haare. Hoffentlich wird sie wie du aussehen.« Es klang wie eine Bedingung für die Liebe, die sie ihrem Kind geben würde. Wie würde sie mit ihrer Tochter umgehen, falls sie ihr zu Schwarz sein würde? Als ich mit meiner Anwort: »Ich als Schwarze Frau …« einsetzte, unterbrach mich eine andere Freundin: »Emilia, für mich bist du aber nicht Schwarz. Ich sehe dich nicht als Schwarz«. Ich musste damals kurz überlegen: Sieht sie mich wirklich als weiß? Würde sie einer braunäugigen Freundin sagen: »Für mich hast du keine braunen Augen«? Hatte es mit der Tatsache zu tun, dass ich métisse bin? Doch auch meiner Schwarzen Mutter wurde dieser Satz sehr oft von ihren weißen Freundinnen oder Bekannten gesagt. Außerdem kam die Freundin aus den USA, wo ich eindeutig als Schwarz gelte. Ihre Aussage war Ausdruck der kognitiven Dissonanz, die bei so vielen Menschen ausgelöst wird: »Schwarz ist negativ. Ich mag diese Person. Deshalb ist sie nicht Schwarz.«

Genauso wie die Spitzenkandidatin der AfD Alice Weidel mit einer Frau aus Sri Lanka verheiratet sein kann, kann mein Großvater sowohl rassistisch als auch liebevoll gegenüber seinen Schwarzen Enkeln sein. Das wurde mir noch einmal eindrucksvoll bestätigt, als ich im Rahmen einer Arte-Dokumentation über das Thema Gerechtigkeit meinen Großvater väterlicherseits interviewt habe. Er freute sich sehr, mich zu sehen, umarmte und küsste mich. Nach dem Kamera- und Soundcheck stellte ich meine erste Frage: »Opa, was ist für dich das größte Problem, mit dem unsere Gesellschaft konfrontiert ist?« Mir stand nach seiner Antwort ein paar Sekunden vor Staunen der Mund offen: »Die Rassenmischung ist das größte Problem unserer Zeit.« Trotz meines Erstaunens wusste ich, dass er sich der Absurdität der Situation nicht bewusst war. Daran, dass eine solche Aussage mich zutiefst verletzen könnte, hatte er offensichtlich nicht gedacht. Meine Schwester erlebte eine ähnliche Situation: Unsere Großmutter sagte ihr, dass unser Vater aufhören solle, Beziehungen zu Schwarzen und »exotischen« Frauen zu haben, weil sie geldgierig und betrügerisch seien – ohne zu »bemerken«, dass ihre Enkelinnen genau solche Frauen sind. In beiden Interaktionen haben unsere Großeltern unsere Hautfarbe – einen Teil unserer Identität – ausgeblendet. Das ist ein Zeichen von fehlender Empathie, aber auch von ungleich verteilter Macht: Unsere Gefühle und Verletzlichkeit sind weniger wichtig als die Freiheit meiner Großeltern, ihre Meinung auszudrücken.

Diese Machtausübung wurde von meinem Vater verstärkt, indem er solche Aussagen nicht als rassistisch verurteilte. Ganz im Gegenteil wurden beide Großeltern als »überhaupt nicht rassistisch« und »liebevoll« bezeichnet und geschützt. Mein Vater saß beim Interview für die Arte-Dokumentation im Hintergrund und konnte alles hören. Am Ende des Drehs, der mehrere Stunden dauerte, war ich emotional erschöpft und gleichzeitig erleichtert, dass der Rassismus meines Großvaters nicht mehr verleugnet werden konnte: Ich habe alles nicht geträumt, er hat es tatsächlich vor der Kamera gesagt. Auf dem Rückweg im Auto nahm mein Vater eine vorwurfsvolle Haltung mir gegenüber ein, pochte darauf, dass mein Opa nicht rassistisch sei. Er brachte mich in die Position, mich vor ihm für die Dokumentation rechtfertigen zu müssen. Was ich von ihm gebraucht hätte, wäre Empathie gewesen, und eine Entschuldigung dafür, dass er uns nie verteidigt hatte.

Die Beweislast fällt immer denen zu, die Rassismus erfahren. Weiße Menschen genießen eine unantastbare Unschuldsvermutung. Solange eine Tat nicht erwiesen rassistisch ist, ist sie es sicher nicht. Und bei diesem Prozess sind selbst klarste Beweise nicht gut genug. Menschen, die behaupten, keine Hautfarbe zu sehen, sehen auch keinen Rassismus, fragen vielmehr beständig, woher man wisse, dass die Aussagen wirklich rassistisch gemeint waren. Sie verstehen nicht, dass es bei rassistischen Aussagen nicht darumgeht, wie es gemeint war, sondern, wie es ankommt. Schwarze Menschen und People of Color werden daher oft in eine Position gebracht, sich fragen zu müssen, ob die unhöfliche Person im Laden nicht vielleicht nur schlecht gelaunt war – und ihre Agressionen gar nichts mit ihrer Hautfarbe, ihrem Hijab oder ihrem Akzent zu tun hatten. Sich diese Frage immer wieder stellen zu müssen, ist eine große psychische Belastung. Man hat sich permanent in die Köpfe anderer hineinzuversetzen – und zweifelt zunehmend an seiner Intuition. Das Gleiche passiert im Übrigen, wenn Frauen sich fragen, ob ein Mann nicht eigentlich nur nett ist und aufmerksam, wenn er aufdringlich ist und sie in eine unsichere Situation bringt.

Wie menschliche Differenzen zu »Rassen« gemacht werden

Doch existieren menschliche »Rassen« überhaupt? Im biologischen Sinne nicht, wie sich heute fast alle einig sind. Beim Begriff »Rasse« handelt es sich vielmehr um ein historisches, soziales und politisches Konstrukt. Auch wenn es phänotypische Unterschiede zwischen Menschen gibt, wie verschiedene Hautfarben, Haartexturen, Nasen- und Augenformen, wurden die vermeintlichen Rassen anhand willkürlicher Kriterien und Merkmale definiert. Es wäre zum Beispiel durchaus möglich gewesen, dies auch anhand der Augenfarbe, der Körpergröße oder der Fußlänge zu tun. Mehrere wissenschaftliche Studien belegen, dass es größere genetische Unterschiede innerhalb einer vermeintlichen Rasse gibt, also zwischen z. B. einer weißen Person aus Russland und einer weißen Person aus Brasilien, als zwischen zwei verschiedenen vermeintlichen Rassen, also etwa einer Schwarzen und einer weißen Person, die beide aus Kanada stammen. Im Jahr 2003 schlossen US-Amerikanische Wissenschaftler*innen das Human Genome Project ab, das es deutlich vereinfachte, die menschliche Abstammung mithilfe der Genetik zu untersuchen. Die Begeisterung für die Humangenetik steckte die breite Öffentlichkeit an: Abstammungs-Testkits, die eine genetische Analyse der ethnischen Abstammung liefern, wurden von Online-Unternehmen angeboten. Reality Shows entstanden in den USA, die sich um die Abstammungs-Tests von Celebrities drehten.