Nach dem Tod seines Bruders hat Jan Grall, Profiler beim LKA, der Heimat den Rücken gekehrt. Doch dann führt ihn ein brisanter Fall zurück in den Westerwald: In einem Wisentgehege wurde eine blutverschmierte Leiche gefunden. Kurz darauf stoßen Jan Grall und seine Assistentin Rabea Wyler auf zwei weitere Opfer, beide aufs Grausamste verstümmelt. Die einzige Verbindung zwischen den Toten: Der Mörder hat ihnen Buchstaben unter die Haut tätowiert – ein A, ein B, ein C. Der Druck auf die Ermittler wächst, als sie einen blutverkrusteten Hautfetzen mit einem weiteren Buchstaben erhalten. Ist das Opfer am Leben? Als Gralls Hotelzimmer dann auch noch mit einem Z markiert wird, beginnt endgültig ein Wettlauf gegen die Zeit …
Ullstein
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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage Juni 2018
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
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Alle Rechte vorbehalten. ISBN 978-3-548-28930-4
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Für meinen Vater
»A, der edelste, ursprünglichste aller laute, aus brust und kehle voll erschallend, den das kind zuerst und am leichtesten hervor bringen lernt, den mit recht die alphabete der meisten sprachen an ihre spitze stellen.«
Grimmsches Wörterbuch
2. Dezember, Morgen
Surren.
Ein brennender Schmerz lief über Tugbas Rücken.
Sie kannte dieses Stechen. Vor zwei Jahren hatte sie sich ihre Lebensphilosophie auf den linken Oberarm tätowieren lassen: Etwas nicht zu wissen, ist keine Schande, etwas nicht zu lernen, ist eine.
Auf Türkisch. Als Erinnerung an ihren Vater.
Aber der Mann im Studio war ausgebildet gewesen.
Er hatte gewusst, was er tat.
Anders als ihr Peiniger.
Wieder rutschte er mit dem Tätowiergerät ab. Die Nadel schrammte über ihre Haut. Das Surren verklang, und etwas Warmes lief ihre Rippen hinab.
Sie zerrte an dem Kabelbinder, mit dem sie an das Heizungsrohr gefesselt war. Zwecklos. Das Nylon schnitt nur noch tiefer in ihre Handgelenke.
Der Mann in ihrem Rücken schnaubte und versetzte ihr einen Tritt in die Nieren. Sie schrie in ihren Knebel hinein; ihr eigener Slip, den er ihr in den Mund gestopft hatte. Verschluckte sich. Hustete. Würgte.
Unvermittelt rammte er direkt vor ihren Augen ein Jagdmesser in den Fußboden.
Er würde es zu Ende bringen.
Mit dieser Gewissheit flohen ihre Gedanken in die Vergangenheit zu ihrem Vater.
Nicht zu dem abgemagerten Gespenst, in das ihn der Krebs zuletzt verwandelt hatte. Sondern zu dem Mann, den sie immer vergöttert hatte.
Er hatte sie damals dazu überredet, Lehrerin zu werden.
Wie stolz er gewesen wäre, wenn er noch erlebt hätte, wie sie ihr Examen mit Bestnote abgeschlossen und eine Stelle in Montabaur bekommen hatte.
Sie reckte sich und legte den Kopf in den Nacken, um aus dem Fenster über der Heizung zu spähen. Das erste Morgenlicht fiel durch die Jalousien ihrer Wohnung. Wie viele Stunden hielt er sie schon fest?
Wieder das Surren.
Tugba schloss die Augen. Der Freitagabend hatte friedlich begonnen. Sie hatte die Korrektur der Klassenarbeiten auf den nächsten Tag verschoben, Nudeln gekocht und es sich vor dem Fernseher gemütlich gemacht. Die Romanze Wie ein einziger Tag lag jetzt gerade mal einen Meter von ihr entfernt auf dem Wohnzimmertisch. In der Luft hing noch immer der Geruch nach Spaghetti Bolognese. Unschuldige Erinnerungen an die Normalität, aus der sie der Unbekannte so jäh gerissen hatte.
Das Surren erstarb. Ihr Rücken brannte. Übelkeit stieg in ihr auf. Mit aller Willenskraft hielt sie an sich. Wenn sie jetzt in ihren geknebelten Mund erbrach, würde sie wahrscheinlich ersticken.
Warum war sie nicht vorsichtiger gewesen? Warum hatte sie die Tür geöffnet?
Die ganze Nacht lang stellte sie sich schon diese Fragen. Während er ihr die Kleider vom Körper riss. Während er sie wieder und wieder schlug. Während er das Tätowiergerät über ihren Rücken führte.
Ihre Haut kribbelte, als würde der Schmerz wie Schweiß aus jeder Pore dringen. Sie biss auf ihren Knebel, der sich längst mit Speichel vollgesogen hatte.
Ihr Peiniger zog das Jagdmesser mit einem Ruck aus dem Laminat. Riss ihren Kopf so heftig an den Haaren zurück, als wolle er sie skalpieren.
Tugbas Atem ging stoßweise. Sie erwartete den Kehlenschnitt. Den Schmerz. Die Dunkelheit.
Doch nichts dergleichen.
Er führte das Messer nicht an ihren bloßliegenden Hals, sondern zwischen ihre Hände. Zerschnitt den Kabelbinder.
Was hatte er vor?
Sie wollte den Kopf drehen, um ihn anzuschauen. Ihm ins Gesicht sehen. Aber er bohrte seine Finger in ihren Nacken, presste sie auf den Boden.
Er kam mit dem Mund an ihr Ohr. Sein schwerer Atem roch nach Pfefferminzkaugummi und noch nach etwas anderem. Etwas kaum Wahrnehmbaren. Es ließ sie an Friedhöfe denken. An Verwesung.
»Das Alphabet ist noch nicht bei dir angekommen.«
Seine raue Stimme. Zitternd vor Erregung.
Was für ein Alphabet?
Sie schrie in ihren Knebel. Brachte nur unartikulierte Laute hervor. Krümmte sich.
Etwas Hartes traf sie am Hinterkopf. Der Schmerz fraß sich in ihre Hirnwindungen.
»A!«
Der nächste Hieb.
»B!«
Er klang wie ein besessener Prediger. Die Buchstaben wie sein Gebet. Zusammen mit dem Schmerz hallten sie noch für Sekunden in Tugbas Kopf nach.
»C!«
Dumpfes Pochen umhüllte ihre Gedanken.
Kurz blitzten noch die Worte ihres Vaters auf: Etwas nicht zu wissen, ist keine Schande, etwas nicht zu lernen, ist eine.
3. Dezember, Morgen
»Die Wisente drehen durch!« Der Ranger rannte zum Seitenfenster von Enno Bucks Jeep, bevor der überhaupt den Motor abstellen konnte.
»Beruhig dich erst mal, Mirco.« Buck schlürfte den letzten Schluck schwarzen Tee aus seinem Thermobecher.
Als er ausstieg, versanken seine Gummistiefel bis zu den Knöcheln im Neuschnee. Der eisige Wind trieb ihm dicke Flocken ins Gesicht, die auf seinen Wangen schmolzen.
Bei so einer Witterung kam er nie pünktlich in den Wildpark. Arbeitsbeginn war sieben Uhr dreißig. Zu dieser Zeit hatte der Winterdienst gerade mal einen Bruchteil der Westerwälder Straßen geräumt.
Er nahm seinen breitkrempigen Lederhut vom Armaturenbrett und zog ihn tief in die Stirn. Ein Andenken aus seinem Jahr in Canberra. Das einzige Modestück, aus dem er sich wirklich etwas machte.
»Na, dann wollen wir uns die Sache mal ansehen. Ist dir irgendetwas aufgefallen?«
Der junge Ranger schüttelte den Kopf.
Sie schalteten ihre Taschenlampen ein und stapften in Richtung des Wisentgeheges, das gleich in der Nähe des Parkplatzes lag. Die Dunkelheit wich nur langsam zurück, schleppte sich durch die Wälder wie ein verendendes Tier.
Schon von Weitem drang das Knören und Trampeln der Wisente an sie heran. Die Lichtkegel der Taschenlampen huschten über fahlbraunes Fell, ließen die kleinen Augen der Tiere funkeln. Der Großteil der Herde scharte sich um eine Stelle im hinteren Bereich des Geheges.
Bucks Herzschlag beschleunigte sich. Trotz der Minusgrade begann er zu schwitzen. Die bis zu einer Tonne schweren, mannshohen Wisente, Verwandte des amerikanischen Bisons, flößten ihm jedes Mal wieder Respekt ein. Keine Angst, Respekt. Da machte er einen klaren Unterschied.
»Kannst du irgendetwas erkennen?«, fragte Mirco.
»Nein.« Buck lehnte sich gegen einen der Zaunpfeiler. »Schließ auf, wir gehen zusammen rein. Ich zuerst.«
»Sollten wir nicht warten, bis sie sich beruhigt haben?«
Buck fuhr sich mit beiden Händen durch seinen Vollbart, der von Jahr zu Jahr grauer wurde. »Keine Zeit. Ich will jetzt auf der Stelle wissen, was da drin los ist.«
Seinen Beruf als Wildhüter nahm er wörtlich. Seine Aufgabe bestand darin, die Tiere zu behüten. Vor Krankheit und Witterung. Vor Profitgier. Vor Besuchern. Manchmal sogar vor einander.
Und auch vor dem, was gerade in diesem Gehege geschah.
Mirco klemmte sich die Taschenlampe zwischen die Zähne und schloss das Gatter auf. Es quietschte, als er es einen Spaltbreit öffnete.
»Dann mal nach dir, Chef!«
Buck klopfte ihm auf die Schulter und betrat das Gehege. Bei jedem Schritt knirschte der Schnee unter seinen Absätzen.
Er streckte die Arme so weit aus, wie er konnte. Die Taschenlampe hielt er starr auf die Gruppe der Wisente gerichtet.
»Groß machen! Keine hektischen Bewegungen!«, rief er Mirco hinter sich zu.
Einer der Wisentbüffel trabte in ihre Richtung und baute sich vor der Herde auf. Er verströmte einen starken Moschusgeruch und stank nach Dung. Mehrmals stampfte er mit den Hufen auf. Senkte den Kopf. Schnaubte. Dicke Atemwolken stoben aus seinen Nüstern.
»Ruuuhig!«
Besänftigend hob Buck die Hände und umrundete den Büffel ganz langsam, wie in Zeitlupe.
»Chef, dahinten!«
Mit der Taschenlampe strahlte Mirco den Zaun links von ihnen an. Buck spähte hinüber.
»Verdammte Scheiße!«
Ein hüfthohes, halbkreisförmiges Loch. Wahrscheinlich das Werk eines Bolzenschneiders. Jemand war hier drin gewesen. War vielleicht sogar immer noch hier.
Der Büffel behielt sie weiter im Auge, ließ sie aber an sich vorbeiziehen. Als sie sich der Herde näherten, liefen die Tiere auseinander. Flohen in die Ecken des Geheges.
Etwas lag inmitten der zertrampelten Stelle, um die sich die europäischen Bisons geschart hatten. Ihre Taschenlampen tauchten es in weißes Licht.
»Ist das eine Fehlgeburt?«, stammelte Mirco.
Das Bündel aus blut- und dreckbesprenkelten Hautfetzen, offenliegendem Fleisch und Organen rief in Buck den gleichen Gedanken hervor.
Bis er genauer hinsah.
Bis der metallische, leicht süßliche Geruch nach frischem Blut selbst den Moschusgestank der Wisente überlagerte.
Sein Magen rumorte. Der schwarze Tee von vorhin schoss seine Speiseröhre hoch. Würgend schluckte er ihn wieder herunter. Er war Wildhüter; er kannte die Wechselspiele von Leben und Tod. Die stinkende, blutige Realität der Existenz. Aber so etwas hatte er noch nicht gesehen.
Das, was da lag, war einmal ein Mensch gewesen.
3. Dezember, Nachmittag
»Wo bist du?«, drang Miriams Stimme aus dem Handy. »Ich warte schon eine halbe Stunde vor deiner Haustür!«
»Sitze im Auto.« Jan seufzte. »Die Arbeit ruft.«
»An einem Sonntag?«
Er antwortete nicht gleich, sondern konzentrierte sich darauf, auf die linke Spur zu wechseln. In einer halben Stunde erwartete ihn der Hauptkommissar der Polizeidirektion Montabaur am Leichenfundort. Zum Glück war die A3 heute so leer.
»Bitte vielmals um Verzeihung, dass ich mich nicht bei dir abgemeldet habe«, sagte er ironisch. »Ich hatte mir den heutigen Tag eigentlich auch anderes vorgestellt.«
»Geht es um einen Mord?« So euphorisch klang die Sechzehnjährige nicht oft.
Jan erwiderte nichts.
»Stimmt also«, stellte Miriam fest. »Aber was wollen die von dir?«
»Das, liebe Chaotin, wüsste ich selber gern.«
»Hör auf, mich Chaotin zu nennen.«
»Dann hör du damit auf, dich immer wie eine zu verhalten.«
Er verengte die Augen. Es schien ihm, als könne er am Horizont schon die Silhouetten des Montabaurer Schlosses ausmachen. Die Ausfahrt war nicht mehr weit.
»Was bringt mir eigentlich die Ehre deines erfolglosen Besuchs ein?«, fragte er.
»Ich hab Ärger«, sagte sie, für ihre Verhältnisse äußerst kleinlaut.
»Im Grunde habe ich nichts anderes erwartet.«
Miriam war eine Ausreißerin, die sich seit zwei Jahren auf den Straßen von Mainz durchschlug. Er hatte sie damals als Zeugin in einem Vermisstenfall vernommen. In seiner Laufbahn als operativer Fallanalytiker – oder Profiler, wie die meisten Leute seine Tätigkeit nannten – wurde er bislang nur zu wenigen Mordermittlungen hinzugezogen. Zumindest bis heute.
Erst wollte er dafür sorgen, dass Miriam zu ihren Eltern zurückkehrte. Aber sie hatte ihm sehr plausible Gründe dafür genannt, dass das – vor allem wegen ihres Vaters – unmöglich war. Gegen ein Jugendheim oder eine Pflegefamilie sträubte sie sich noch heute.
Immerhin hatte Jan damals ihr Vertrauen gewonnen. Seitdem kam sie ab und an bei ihm vorbei, um auf seiner Couch zu schlafen, sich in seiner Filmsammlung vorzuarbeiten, den Kühlschrank zu leeren und sich dabei über seine vegane Ernährung zu beklagen.
Er war kein Vaterersatz, das wollte er auch gar nicht sein. Er war einfach nur ein Freund, der auf sie achtgab.
Beim Telefonieren nahm er den Fuß leicht vom Gas; keine gute Idee auf der linken Spur. Ein Audi-Fahrer hing in seinem Nacken und gab ihm per Lichthupe zu verstehen, dass er für sein Verständnis zu langsam fuhr.
Jan verdrehte die Augen und zog wieder nach rechts. Bei der nächsten Ausfahrt musste er ohnehin raus.
»Was ist diesmal passiert?«, fragte er.
»Da sind diese zwei Typen, denen ich Geld schulde«, sagte sie und hielt inne. Anscheinend wartete sie seinen bösen Kommentar ab.
Schweigen allein reichte schon aus. Sie wusste gut genug, was er davon hielt.
»Ich kann’s nächsten Monat zurückzahlen, nur halt noch nicht jetzt. Ich hab’s auch für was Anständiges ausgegeben …«
»Ich will nicht wissen, wofür du es ausgegeben hast, okay?«
Vor einem Jahr hatte er ein Tütchen Magic Mushrooms in ihrer Lederjacke gefunden. Er war noch nie so wütend auf sie gewesen wie in jenem Moment. So wütend und so enttäuscht. Dabei hatte er nicht einmal sagen können, ob er mehr von ihr oder von seinen Fähigkeiten als Psychologe enttäuscht gewesen war.
»Auf jeden Fall sind die hinter mir her«, fuhr Miriam fort. »Die wissen nicht, dass ich bei dir unterkomme. Ich muss einfach ein paar Tage bei dir bleiben. Bitte!«
Er kurvte durch den Kreisverkehr am Bahnhof. Als er das letzte Mal hier gewesen ist, hat es den noch nicht gegeben. Er wollte gar nicht wissen, wie viel sich auch im restlichen Westerwald getan hatte.
Immer dachte man, die Heimat würde sich nie verändern. Würde so bleiben wie in der Erinnerung. Dabei veränderte sie sich manchmal mehr als man selbst.
»Also, wie sieht’s aus?«, holte Miriam ihn aus seinen Gedanken zurück.
Jan zuckte zusammen und verriss dabei beinahe das Lenkrad. Autofahren machte ihn immer müde. Kaffee besorgen!, setzte er ganz oben auf seine gedankliche To-do-Liste. »Klar doch«, sagte er. »Der Schlüssel klebt unter einem der großen weißen Steine rechts vom Weg.«
»Einbruchsicher ist auch was anderes«, entgegnete Miriam. Im Hintergrund klackerten Steine aneinander. »Ah, hab ihn!«
»Beschwer dich nicht, ohne ihn könntest du nicht rein.« Er hatte ohnehin vorgehabt, sie über Weihnachten einzuladen – mit wem sollte er die Festtage auch sonst verbringen? Er mochte es, wenn sie bei ihm war. Sie vertrieb die Stille. »Aber lad niemanden ein. Lass nachts die Rollladen runter. Und dreh nicht wieder die Stereoanlage so auf! Die Nachbarn …«
»Oh, die Verbindung wird schlecht«, wimmelte sie ihn ab. »Melde mich später wieder. Tschüüüss!«
»Miri…«
Nur das Freizeichen war zu hören. Aufgelegt. Er lächelte und zog das Handy zwischen Schulter und Ohr hervor. »Du kleines Biest …«
Als er wieder beide Hände ums Lenkrad geschlossen hatte, steuerte er den Parkplatz des Bahnhofs an. Von der Größe her konnte dieser auch problemlos zum Stadion eines Zweitliga-Fußballvereins gehören. Unter der Woche sammelten sich auf ihm die Wagen der Pendler, die von hier aus mit dem ICE nach Frankfurt oder Mainz zur Arbeit fuhren. Jetzt herrschte gähnende Leere.
Seufzend sah Jan auf die Radio-Uhr. Fünfzehn Uhr sechsundzwanzig.
Rabea musste schon vor zwölf Minuten mit dem ICE aus Basel angekommen sein.
Wenn er bedachte, wie schlecht gelaunt sie sein musste, waren das definitiv zwölf Minuten Wartezeit zu viel.
Verspätung. Natürlich.
Gopferdammi, was hatte sie auch anderes erwartet?
Seit einer halben Stunde stand der ICE jetzt schon im Tunnel.
Rabea blies die Luft aus ihren Wangen und fläzte sich tiefer in ihren Sitz. Zum wiederholten Mal blätterte sie ihre FAZ durch, so gelangweilt, dass sie jetzt sogar die Börsenmeldungen las.
An diesem Adventswochenende hatte sie zum ersten Mal seit einem halben Jahr ihre Familie in der Schweiz wiedergesehen.
Als wolle irgendeine höhere Macht ihr einen Streich spielen, hatte das LKA Rheinland-Pfalz Jan und sie ausgerechnet jetzt in den Westerwald beordert.
Dementsprechend zerknirscht hatte Jan geklungen, als er sie diesen Morgen aus dem Bett geklingelt hatte. »Ich würde das ja alleine machen«, hatte er gemurmelt, »aber auf deine Beobachtungsgabe kann ich einfach nicht verzichten. Du bist die beste Assistentin, die es gibt.«
Seine Schmeicheleien hatten sie trotzdem nicht daran gehindert, ihr Handy erst mal in die nächste Ecke zu feuern.
Vielleicht hätte sie Jan und dem LKA den Vogel zeigen und ihr verlängertes Wochenende im Emmental bis zum Ende durchziehen sollen. Aber etwas an diesem Fall weckte ihre Aufmerksamkeit. Etwas, das sie nicht einmal ihrer Mutter erklären konnte, als sie fluchtartig aus ihrem Elternhaus stürmte.
Ein Ruck. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung. In ihrem Zweite-Klasse-Abteil kam erstauntes Gemurmel auf. Der kahlköpfige Mann im Nadelstreifenanzug, der seit Freiburg schlief und aus dessen Mundwinkel ein Speichelfaden hing, gab ein entrüstetes Schnarchen von sich.
»Das wurde auch langsam Zeit«, murmelte Rabea und legte die Zeitung beiseite.
Sie brauchte endlich ein eigenes Auto.
Rabea zog sich aus ihrem Sitz hoch, mit dem sie nach der langen Fahrt schon halb verwachsen war. Auf den Zehenspitzen balancierend, griff sie nach ihrem Trolley in der Ablage.
Ein drahtiger Kerl, Marke Möchtegern-Alphatier, kam ihr zuvor und stellte ihn vor ihr ab. »Eine so hübsche Frau wie Sie muss das doch nicht allein machen«, krähte er.
Rabea bedankte sich, zog den Griff des Trolley aus und floh in Richtung Ausgang.
Seit Anfang des Jahres machte sie Diät – was bei ihr hauptsächlich bedeutete, dass sie ihren Schokoladenkonsum drastisch reduziert hatte. In letzter Zeit geschah es immer öfter, dass Männer sie ansprachen. Auch wenn sie auf solche wie ihn, der locker zwanzig Jahre älter war als sie, gut hätte verzichten können.
Mit quietschenden Bremsen fuhr der ICE in den Bahnhof ein.
Montabaur. Vor diesem Fall hatte Rabea den Ort nur von Autobahnschildern gekannt.
Der Wind peitschte ihr Schneeflocken ins Gesicht, als sie auf den vereisten Bahnsteig trat. Nur wenige stiegen hier ein und aus. Sie brauchte den Blick nur kurz schweifen lassen, um Jan Grall auszumachen. Er lehnte sichtlich frierend an einer Anzeigentafel, die Hände in die Taschen seines schwarzen Kurzmantels gesteckt und das halbe Gesicht im Kragen verborgen.
Als sie auf ihn zulief, fiel ihr wieder mal auf, wie groß er war. Deutlich über zwei Meter, vielleicht sogar der größte Mann, den sie kannte. Gleichzeitig so hager, dass sein Körperbau an eine Stabheuschrecke erinnerte. Mit seinen achtunddreißig war er sieben Jahre älter als sie, vom Aussehen her hätten es aber auch Jahrzehnte sein können. Auf seinem scharf geschnittenen Gesicht lag die übliche Blässe, die ihn stets etwas kränklich wirken ließ.
»Freut mich, dass du gekommen bist«, sagte er zur Begrüßung. »Das ist alles andere als selbstverständlich.«
»Das will ich doch hoffen. Erst mal brauche ich einen Kaffee.«
»Der wartet im Wagen auf dich. Ich habe vorgesorgt.« Er lächelte vorsichtig.
Sie schüttelten sich die Hand. Zu mehr hatten sie sich nie durchringen können.
»Du kannst deinen Urlaub nachholen, sobald wir hier fertig sind. Ich werde das abklären.« Ohne zu fragen, nahm er ihren Trolley und trug ihn die Treppe zur Bahnhofshalle hinab.
In Rabeas Gedächtnis rührte sich etwas. Die Erinnerung an eine flüchtige Bemerkung, die er mal gemacht hatte. »Der Westerwald. Du stammst aus der Gegend, oder?«
»Jep.« Sein Blick machte unmissverständlich klar, dass er nicht darüber sprechen wollte.
So leicht ließ sie sich nicht abwimmeln. »Ist das der Grund, warum sie ausgerechnet uns hier haben wollen?«
Jan schwieg. Ihre Schritte hallten durch das Bahnhofsgewölbe, das mit seiner modernen Architektur nicht so recht in die schroffe Landschaft passen wollte.
»Eine Sache habe ich in der Schweiz übrigens nicht vermisst«, sagte Rabea. Sie nahm ihm den Trolley ab und zerrte den Rollkoffer mit mehr Heftigkeit als nötig hinter sich her.
. »Dass man dir jede Information aus der Nase ziehen muss.«
»Also gut«, seufzte Jan. Kurz vor den Schwingtüren zum Parkplatz blieb er stehen. »Ein Mann ist auf sadistische Weise umgebracht worden. Es gibt eine Anomalie. Deshalb braucht die Polizei ein Team für operative Fallanalyse.«
»Das ›A‹ auf der Brust«, sagte Rabea tonlos.
Jan nickte. »Und das Team sind wir. Das sind die Fakten. Mehr ist da nicht, glaub mir.«
Er rauschte zur Tür.
Rabea schüttelte den Kopf und lächelte müde. Jan war zwar ein Menschenkenner, aber schon immer ein schlechter Lügner gewesen.
Sie folgte ihm hinaus in die Kälte. Wenige Meter weiter war er stehen geblieben. Auf den Trolley gestützt, hing er an seinem vorsintflutlichen Handy.
»Ja, verstehe. Wir sind gleich da.« Er legte auf und wandte sich zu Rabea. Jeglicher Glanz war aus seinen dunklen Augen gewichen.
»Das war Kriminalhauptkommissar Stüter«, sagte er. »Es gibt eine zweite Leiche, das ›B‹.«
Wenn Jan Grall sagen müsste, was er am Westerwald am meisten vermisste, wäre das die Weite. Mainz bot dem Auge zwar viel, aber nicht diese kilometerweite Sicht auf nebelverhangene Hügelketten.
Rabea riss ihn aus der Betrachtung des Tals. »Kannst du mal aufhören, immer aus dem Seitenfenster zu starren, während du am Steuer sitzt!?«
»Keine Sorge, ich bin hier schon tausend Mal lang gefahren«, sagte Jan. Er leistete ihrer Aufforderung aber Folge und richtete seinen Blick wieder auf die Landstraße Richtung Marienberg.
»Auch schon bei dieser Eisesglätte?« Rabea Wyler war stets darauf bedacht, ihren berndeutschen Akzent zu unterdrücken. Wenn sie jedoch so aufgeregt wie in diesem Moment war, konnte Jan ihn deutlich heraushören.
»Gerade bei dieser Eisesglätte«, entgegnete er und setzte ein Grinsen auf. »Das hat immer den meisten Spaß gemacht … Aber lass uns doch noch mal kurz sammeln, was wir bisher wissen. Vielleicht ergibt das Ganze mehr Sinn, wenn wir drüber sprechen.«
Dabei war das nicht der eigentliche Grund. Er musste sich nur ablenken.
»Das sind nur die wenigen Informationen vom K11 in Koblenz, die ich sowieso schon im Zug durchgewälzt habe.«
»Egal.« Er schaltete das Radio aus. Lief ohnehin nur irgendein Plastik-Pop von Lady Gaga.
Rabea nahm ihre Umhängetasche vom Rücksitz, kramte darin herum und zog ihr iPad hervor. »Das ›A‹«, sagte sie. »Es scheint eintätowiert zu sein. Bisher ist noch nicht klar, ob das post mortem passiert ist. Und jetzt gibt es auch noch einen Toten mit einem ›B‹. Ein Serientäter?«
»Es kann sich auch um einen Doppelmord mit zwei verschiedenen Ablageplätzen handeln«, wandte Jan ein.
Trotzdem hatte er sich genau dieselbe Frage gestellt. Zusammen mit vielen anderen: Warum musste das hier geschehen? Warum ausgerechnet in seiner Heimat, in die er nie wieder hatte zurückkehren wollen?
Während er nachdachte, fand er sich blindlings zurecht. Obwohl er seit Jahren nicht mehr hier gewesen war, kannte er noch jede Abzweigung und jedes Schlagloch.
Rabea fuhr sich durch ihr blondes, kurz geschnittenes Haar und nahm einen großen Schluck Kaffee. Zufrieden registrierte Jan ihr genüssliches Lächeln. Zwei Stück Zucker und viel zu viel Milch; die Dosierung beherrschte er perfekt.
»Der Leichenfundort ist ungewöhnlich. Ein Wildtiergehege. Warum dieser Aufwand und dieses Risiko? Dann der Buchstabe«, sagte Jan. »Aber schauen wir uns erst mal den Fundort an. Du weißt ja, für uns ist nicht das interessant, was der Täter tun musste …«
»… sondern das, was er nicht hätte tun müssen«, vollendete sie eine seiner Fallanalyse-Weisheiten.
»Bist du nicht froh, endlich mal wieder in der Heimat zu sein?«, brachte Rabea das Gespräch wieder auf ihr neues Lieblingsthema.
Jan brummte. Er kniff die Augen zusammen, damit es so aussah, als würde er sich voll und ganz auf die Fahrt durch Bad Marienberg konzentrieren.
»Willst immer noch nicht drüber reden, was?«
»Stell dir vor.«
Rabea zuckte mit den Schultern und warf sich einen Energie-Riegel ein, die seit einiger Zeit ihre einzige Nahrungsquelle zu sein schienen. Im Gegensatz zu ihr hatte Jan nie besonders auf seine Ernährung achten müssen. Seit er noch dazu Veganer geworden war, sah er fast schon magersüchtig aus.
Über die Langenbacher Straße fuhren sie in das Städtchen. Rechts von ihnen erstreckte sich der Bad Marienberger Friedhof an den Hängen des Schorrbergs. Die Gräber thronten über dem Tal, als wären sie nur dafür geschaffen worden, damit die Toten von dort aus das Tun der Lebenden überblicken konnten.
Jans Hände schlossen sich krampfhaft um das Lenkrad. Er kannte einige der Namen, die dort oben in Grabsteine graviert waren. Namen, die er seit Jahren zu vergessen versuchte.
Über schmale Seitenstraßen fuhren sie aus der Talsenke empor. Je höher sie kamen, desto mehr legte sich der Nebel. Einfamilienhäuser mit gepflegten Vorgärten reihten sich dicht an dicht. Der einzige Mensch, den Jan erspähte, war eine bucklige Alte, die sich willenlos von ihrem Labrador über den Gehweg zerren ließ.
»Ist hier sonst auch immer so viel los?«, fragte Rabea.
»Es ist Sonntag, da tobt in Mainz auch nicht gerade der Bär.«
Auf der Westendstraße warf Jan einen kurzen Blick zurück auf das Tal. Nur die evangelische Pfarrkirche ragte wie ein Leuchtturm aus dem Nebelmeer hervor.
Sie fuhren dem Wildpark entgegen. Schon von Weitem erkannte Jan die Silhouette des Wildpark-Hotels, das wie der Sitz eines Landherrn majestätisch über die umliegenden Wiesen und Waldstücke wachte.
»Ist das nicht der Schuppen, in dem sie uns einquartiert haben?« Rabea drückte sich die Nase an der Scheibe platt.
»Richtig, das erste Haus am Platz.«
»Ich fühle mich geehrt – Moment, hat das da oben sogar ein Panoramarestaurant?«
Wieder stimmte Jan zu. Er wusste jedoch schon jetzt, dass er in dem Restaurant nur widerstrebend Platz nehmen würde. Die idyllische Aussicht würde nur Erinnerungen wecken, die er vor vielen Jahren schlafen geschickt hatte.
Gleich hinter dem Hotelkomplex bogen sie auf die Parkfläche des Wildparks ab. Auf dem Schotterplatz standen bereits mehrere Polizeiwagen und ein Transporter der kriminaltechnischen Untersuchung.
Als Jan noch ein Kind gewesen war, waren seine Eltern oft mit ihm hier gewesen. Beim Aussteigen drang ihm auch gleich der altvertraute Geruch nach nassem Fell und Dung in die Nase, unterlegt vom frischen Duft des nahen Waldes.
»Kalt hier«, bibberte Rabea und zog den Reißverschluss ihrer Softshelljacke bis zum Kinn hoch.
Jan nickte nicht einmal, um ihr zuzustimmen, sondern klappte nur den Mantelkragen hoch. Auch das polare Klima hatte er nach all den Jahren nicht vergessen.
Sie machten sich auf den Weg zum Gehege, schweigend, nur begleitet vom Knirschen ihrer Schritte auf dem verschneiten Schotterweg.
Das weitläufige Gelände der Wisente schloss unmittelbar an den Parkplatz an. Hinter dem Drahtzaun stapfte mindestens ein Dutzend Männer der KTU in weißen Overalls durch den Schneematsch. Über einen Bereich im hinteren Teil des Geheges stand ein großes, weißes Kunststoffzelt. Es schützte den Fundort vor Witterungseinflüssen, vor allem aber vor neugierigen Blicken.
Erst jetzt bemerkte Jan die Wisente, die von drei Rangern im Zaum gehalten wurden. Hoffentlich wussten die Männer, was sie taten. Er hatte wenig Lust darauf, Bekanntschaft mit den Hörnern dieser Viecher zu machen.
Vor dem Zaun hatte sich bereits eine Menschentraube gebildet, zum Großteil Rentner mit ihren Hunden und kleine Familien. Das übliche Publikum hier im Park. Einige waren wohl auch Gäste der Steigalm, dem Café gleich gegenüber dem Gehege.
Bei all den Schaulustigen würde es nicht lange dauern, bis die Medien Wind von der Sache bekamen.
Gerade als sie das Gehege erreichten, trat ein beleibter Beamter der Schutzpolizei aus einer kleinen Tür im Zaun.
»Hier gibt’s nichts für Sie zu sehen«, verkündete er den Gaffern und wedelte mit den Armen. »Bitte gehen Sie weiter!«
»Das ist ein freies Land! Ich darf stehen, wo ich will!«, erhielt er prompt die krächzende Antwort eines der Silberhaar-Senioren.
Das Gesicht des Polizisten lief puterrot an. Bevor er jedoch zu einer Erwiderung ansetzen konnte, sah er Jan und Rabea näher kommen. »Sie sind die Profiler, oder!?«, rief er. Seine Miene hellte sich auf. »Jetzt kann bald endlich der Bestatter anrücken. Die Wisente werden schon unruhig.«
Jan schluckte. Das klang ja großartig. Er vergaß dabei sogar, dem Schutzpolizisten zu sagen, dass sie Fallanalytiker und nicht Profiler genannt wurden. Der Begriff weckte falsche Erwartungen in den Leuten.
Sobald sie im Gehege standen, schob der Polizist den Türriegel vor und befestigte wieder das Vorhängeschloss. »Sicher ist sicher«, grunzte er. »Woll’n ja nicht, dass die Journaille hier drin aufkreuzt.«
Sie marschierten in Richtung Fundort. Je näher sie ihm kamen, desto mehr beschlich Jan ein Gefühl der Beklemmung. Die Männer der KTU, die in ihren Overalls wie Geister aussahen, sprachen nur im Flüsterton miteinander.
Der Eingang des Zeltes teilte sich. Ein hochgewachsener Mann trat heraus und kam mit großen Schritten auf sie zu. Als er den Reißverschluss seines Einmal-Overalls aufzog, kam darunter ein maßgeschneiderter, schwarzer Anzug zum Vorschein.
»Da sind also die beiden Psycho-Experten«, sagte der Glatzkopf. Er schüttelte ihnen nacheinander die Hand. »Stüter. Wir haben schon miteinander telefoniert.«
Sein Händedruck war so fest, dass sich Jans Finger danach wie gebrochen anfühlten.
So haarlos sah Stüter fast aus, als wäre er schwer krank. Nicht ein einziges Haar spross aus seinem Schädel. Dazu die runde Kopfform, die Stüter vollends wie eine weiße Billardkugel aussehen ließ.
Jan kannte Polizisten wie Stüter zur Genüge. Erfahrene Beamte jenseits der fünfzig, die neue Ermittlungsmethoden kritisch beäugten. Vor allem Leute wie Jan, die ein psychologisches Profil des Täters erstellten, statt dem nachzugehen, was sie für handfeste Beweise hielten.
»Es war die Idee von Frau Ichigawa vom K11 Koblenz, Sie beide anzuheuern«, erklärte Stüter, als müsste man sich dafür entschuldigen. »Bei dem ganzen Medienrummel, der auf uns zukommt, glaubt sie wohl, wir würden ohne fremde Hilfe einen schlechten Eindruck machen.«
»Ichigawa?« Jans Puls raste. »Anita Ichigawa?«
»Genau die. So viele mit dem Nachnamen haben wir hier nicht. Kennen Sie sich?«, fragte Stüter. »Die Gute ist in Lichtgeschwindigkeit zur Ersten Hauptkommissarin bei den Kapitaldelikten aufgestiegen. Natürlich hat man sie deshalb zur Leiterin der SOKO erklärt.«
»Über gekränktes Ehrgefühl können wir später streiten«, erwiderte Jan. »Wir sind hier, um Sie und Ihre Leute zu beraten und zu unterstützen. Ich habe nicht vor, Ihnen in Ihre Ermittlungen zu pfuschen.«
Stüter hob die grauen Augenbrauen in die Höhe, die einzig verbliebenen Haare auf seinem Kopf. »Sie haben mir nicht darauf geantwortet, ob Sie Frau Ichigawa kennen.«
Auch Rabea warf ihm einen höchst interessierten Seitenblick zu, eine Augenbraue in die Höhe gereckt.
»Wir kennen uns flüchtig. Erzählen Sie mir lieber etwas über die Leiche.« Jan stöhnte. Anita hatte ihm gerade noch gefehlt.
Stüter fuhr sich über den glänzenden Schädel. »Zu unserem ersten Toten gibt es bisher erstaunlich wenig zu sagen. Wir haben keine Ahnung, wer der Kerl ist.«
Der Hauptkommissar wandte sich um und stapfte zum Zelt. Vor dem Eingang reichte er ihnen zwei eingeschweißte Overalls, Handschuhe und Plastikstulpen. »Sie kennen das Prozedere. Erst mal schön einpacken.«
Mit vor der Brust verschränkten Armen sah der Hauptkommissar ihnen dabei zu, wie sie sich umständlich in die weißen Anzüge wanden. Rabea war längst fertig, als sich Jan noch bückte, um seine Stulpen überzuziehen. Dabei knackte seine Wirbelsäule bedenklich.
»Immer wieder ein entwürdigendes Schauspiel«, sagte Stüter, nachdem sie fertig waren, und hielt die Plane zur Seite. »Nach Ihnen.«
Bisher hatte Jan nur wenige Leichen zu Gesicht bekommen. Er war nicht unglücklich darüber. Egal wie sehr man sich innerlich abschottete, die Konfrontation mit der blutigen Sterblichkeit ging nie spurlos an einem vorbei. Sein letzter Besuch eines Mordschauplatzes war ein Raubmord in einer Tankstelle gewesen. Glatter Brustdurchschuss aus nächster Nähe. Viel Blut, aber keine Schweinerei.
Das hier, das hier war anders.
Der nackte Mann lag auf dem Rücken, Arme und Beine in abstrusem Winkel von sich gestreckt. Getrocknetes Blut und Matsch klebten auf seinem blassen, behaarten Körper, in solchen Mengen, dass Jan das eintätowierte ›A‹ auf dem Brustbein erst nach einigen Momenten erkannte.
»Die Leiche hat vermutlich mehrere Stunden im Gehege gelegen«, sagte Stüter. »So lange, dass die Wisente mehrmals über sie getrampelt sind.«
Rabea unterdrückte lautstark ein Würgen. Auch in Jans Magengrube bildete sich ein flaues Gefühl. Ihm fiel es schwer, in der stickigen, verbrauchten Zeltluft zu atmen.
Blutige Hufabdrücke überzogen den Körper des Mannes, seine Genitalien waren zerquetscht, Dutzende Knochen zertrümmert, der Bauch von einem scharfkantigen Huf oder Gegenstand aufgeschlitzt worden. All die Kopfverletzungen und der Dreck erschwerten es, das Alter zu schätzen.
»Etwa fünfzig«, schloss er. »Vorsichtige Vermutung.«
»Die Todesursache«, sagte Rabea und schluckte, »die Todesursache ist die Wunde am Kopf, oder?«
Stüter, der neben der Leiche im Matsch kniete, pflichtete ihr bei. »Davon gehen wir zumindest im Moment aus. Hundertprozentig werden es erst die Rechtsmediziner sagen können. Ichigawa kümmert sich gerade um eine Sofort-Obduktion.«
Stüter sah zu ihnen empor. Sein Teint glich dem Toten neben ihm. »Stumpfe Gewalteinwirkung. Vielleicht ein Hammer. Jemand hat so lange auf den Kopf eingeschlagen, bis die Schädeldecke gesplittert ist.«
»Das kann nicht ohne Kampf vonstattengegangen sein«, stellte Jan fest. »Haben Sie irgendwas gefunden? Hautpartikel unter den Fingernägeln? Kratzspuren?«
Behutsam hob Stüter die rechte Hand des Toten vor seine Augen. »Das kann ich im Moment noch nicht sagen. Aber es stimmt, die Möglichkeit besteht.« Er wandte sich wieder Jan zu. »Meine Leute überprüfen zurzeit die Vermisstenanzeigen und hören sich im Ort um. Ich denke mal, wir werden schnell wissen, wer das Opfer ist.«
»Definitiv. Hier wissen die Nachbarn noch übereinander Bescheid.« Jan kannte das nur zu gut. Er war sicherlich über Jahre hinweg Thema der geflüsterten Gespräche am Kaffeetisch gewesen.
Stüter nahm das zum Anlass, ihn auf seine Herkunft anzusprechen. »Ihre Art zu sprechen. Sie kommen von hier. Aus welchem Ort stammen Sie?«
Jans Herz verkrampfte sich noch mehr. Das Zelt um ihn herum schien von Minute zu Minute kleiner zu werden. Er hatte seinen Wäller Dialekt so gut verborgen, wie es ihm möglich gewesen war. Wie hatte Stüter das herausgehört?
»Ich komme aus Hardt«, antwortete er.
»Das ist ja gleich in der Nähe!« Die Miene des Hauptkommissars hellte sich zum ersten Mal auf. »Was für ein Zufall, dass Sie hierher beordert worden sind.«
Ja, dachte Jan. Was für ein Zufall. Er ging neben dem Toten in die Hocke. Er bemerkte verblasste, weißliche Leichenflecken an den Knien, dem Unterbauch und den Handgelenken. Das Opfer hatte also nach seinem Tod zunächst auf dem Bauch gelegen. »Er war schon tot, als er ins Gehege gezogen wurde.«
Stüter nickte. »Er ist definitiv bewegt worden. Keine Überraschung. Die Ranger haben ein Loch im Zaun des Geheges entdeckt. Außerdem haben wir Schleifspuren von dort bis zum Fundort gesichert.«
»Auch die Spuren von Schritten?«, fragte Jan.
»Sind verwischt worden, womit auch immer, und wurden wieder von Neuschnee bedeckt. So leicht wollte er es uns nicht machen.«
»Trotzdem, wir müssen alles sehen. Fundort und Tatort stehen im Zentrum unserer Fallanalyse«, ergänzte Rabea. »Alles, was der Täter hier getan hat, jede Handelsentscheidung, sagt etwas über ihn aus. Über seine Impulse. Seine Planung. Ob seine Gewalt funktionell oder bedürfnisorientiert ist.«
»Erklären Sie mir nicht Ihren Job, machen Sie ihn«, grunzte Stüter.
Rabea ignorierte ihn und besah eingehend das eintätowierte A. Jan folgte ihrem Blick. Er hatte noch nie ein Tattoostudio von innen gesehen und auch nie mit dem Gedanken gespielt, sich eines stechen zu lassen. Dementsprechend wenig kannte er sich mit dieser Form der Körperkunst aus. Trotzdem erkannte selbst er, dass das Tattoo dilettantisch gestochen war. Die Linien zittrig und verwackelt, die Tinte an manchen Stellen schon stark verblasst.
»Sieht nach einem Amateur aus«, sagte er.
Rabea schaute auf. »Oder er will es nur so aussehen lassen.«
»Guter Einwand.« Er lächelte ihr zu.
»So eine Tätowierung ist wie tausend kleine Stichverletzungen«, meinte Rabea. »Diese hier ist noch feucht, keinerlei Wundheilung. Warten wir die Obduktion ab, aber das sieht nach post mortem aus.«
»Bei einem Toten ist es auch viel einfacher zu bewerkstelligen«, sagte Jan und überlegte weiter. War das der einzige Grund? Oder war die Tätowierung der finale Akt seines Tötungsprozesses? Eine Art Signatur?
Aus dem hinteren Teil des Geheges drangen Rufe. Rabea schob die Plane beiseite. Einer der Wisente trabte schnaubend auf einen Ranger zu und bremste erst im letzten Augenblick ab.
Es wurde wirklich Zeit, dass sie hier rauskamen.
Stüter kratzte an seinem krummen Nasenrücken herum, als läge darunter die Lösung des Falls. »Wie gesagt, der Fundort gibt nicht viel her. Bei den Biestern dahinten stehen auch der Wildhüter und der Ranger, die die Leiche gefunden haben. Vielleicht haben wir mit ihnen mehr Glück. Sie sind ja Psychologen, vielleicht können Sie ein paar Ihrer Tricks anwenden. Wenn Sie mir bitte folgen!«
»Solange wir nicht totgetrampelt werden«, murmelte Rabea und warf einen Blick auf die Wisente. Dann flüsterte sie Jan zu: »Was für Tricks meint der? Wir sind keine Zirkusmagier!«
»Einfach ignorieren.«
Mit jedem Schritt, den sie den Tieren näher kamen, wurde der Gestank nach nassem Fell und Dung stärker. Einer der Wisente bemerkte sie, schnaufte und scharrte mit den Hufen.
Die Ranger, die mit den Rücken zu ihnen gewandt standen, breiteten die Arme aus und riefen besänftigende Worte.
Das Herz sackte Jan wie ein Bleigewicht in die Magengrube.
»Enno Buck?«, fragte Stüter.
Der Mann, der ihnen am nächsten war, wandte sich um. Über seinem karierten Hemd trug er eine dreckverkrustete dunkelblaue Latzhose. Jan schätzte ihn auf etwa fünfundfünfzig. Seine Haare durchzogen graue Strähnen, sein wettergegerbtes Gesicht war ein feines Gewirr aus Falten. Die breite Krempe seines Lederhutes warf einen Schatten bis zur Nasenspitze. Aus dem Halbdunkel blitzten intelligente Augen hervor.
»Die Herren, die Dame. Was gibt’s?« Sein Wäller Platt klang eine Spur nasal.
»Stüter, Hauptkommissar. Ein Beamter hatte Sie gebeten, auf mich zu warten. Das hier sind die Kollegen Grall und … und …« Mit den Fingern schnipsend, versuchte er sich an Rabeas Namen zu erinnern.
»Wyler«, half ihm die Schweizerin auf die Sprünge.
»Richtig, Kollegin Wyler – wir wollten Ihnen ein paar Fragen stellen. Herr Grall, wenn Sie mögen?«
Stüter wollte ihn anscheinend auf die Probe stellen. Aber bei so einer Routinebefragung gab es nicht viele Möglichkeiten, die Psychologie sinnvoll einzusetzen. Also orientierte Jan sich am klassischen Gesprächsleitfaden: »Wann haben Sie die Leiche gefunden?«
Buck zuckte mit den Schultern. »Heute Morgen. So um halb acht. Mein Mitarbeiter Mirco hat die Gehege kontrolliert und gemerkt, dass die Wisente sehr unruhig waren. Dazu braucht es bei ihnen schon einiges. Sind eigentlich ruhige Genossen. Deshalb sind wir auch direkt nachschauen gegangen – und sind dann auf die Leiche gestoßen.«
»Ist Ihnen heute Morgen irgendetwas Merkwürdiges aufgefallen? Haben Sie jemanden gesehen? Versuchen Sie sich auch an scheinbar unbedeutende Details zu erinnern.«
»Nein, nein!« Er schüttelte den Kopf. »Alles ist so wie immer gewesen. Eigentlich …« Er hielt inne und legte den Kopf schief. »Moment, ich erinnere mich. Aber das liegt schon zwei, drei Wochen zurück.«
Jan horchte auf.
»Im Gehege der Damhirsche – ein Jungtier, es lag etwas abseits, versteckt unter Ästen und Blättern. Jemand hatte ihm die Kehle durchtrennt. Und einen Kreis auf den Bauch tätowiert.«
Jan wechselte einen Blick mit Rabea. Derselbe Täter. Sie hatten es mit jemandem zu tun, der mit dem Töten nicht vertraut war. Der es erst an Tieren erprobt hatte.
»Wer hat außer den Wildhütern noch Zutritt zu den Gehegen?« Stüter besaß die Eigenheit, immer den rechten Mundwinkel hochzuziehen, nachdem er eine Frage gestellt hatte.
»Im Grunde jeder. In der Nacht wird der Park nur von einem Wärter geschützt. Und der hat nichts mitgekriegt. Außerdem muss man kein besonderer Athlet sein, um über die Zäune zu klettern.«
Das konnte Jan bestätigen. Voller Scham dachte er an die Nacht, in der er mit ein paar Schulfreunden betrunken über die Zäune geklettert war und einen armen Geißbock wie im Rodeo geritten hatte. »Haben Sie die Tierleiche irgendwie dokumentiert?« Stüter zog einen Notizblock aus der Innentasche seines Jacketts. Wenigstens war er noch nicht wie Rabea auf irgendwelche Tablets umgestiegen.
»Wir haben Fotos gemacht. Hätten uns auch bei Ihnen gemeldet, wenn das noch häufiger vorgekommen wäre.«
»Sie wirken überhaupt nicht betroffen«, bemerkte Rabea auf einmal.
Es lag kein Vorwurf in der Stimme der Schweizerin, trotzdem lief Bucks Gesicht rot an. »Was denken Sie eigentlich, was wir hier den ganzen Tag machen? Wir arbeiten hier mit Tieren. Natürlich war ich schockiert … aber Blut und Tod sehe ich nicht zum ersten Mal.«
Rabea nickte und murmelte eine Entschuldigung, stellte aber noch eine Frage: »Damwild ist doch scheu. Wie kann es der Täter überhaupt geschafft haben, so nah an eines der Tiere heranzukommen? Ohne dass sie ihn …«
»… dass sie ihn kennen?«, beendete Buck den Satz für sie. Sein Gesicht leuchtete in tiefstem Dunkelrot. »Sie wollen den Verdacht wirklich auf die Wildhüter richten, was? Da kann ich Ihnen auch noch mal was sagen: Wir finanzieren uns hier zum Großteil mit Futter, das die Besucher in Boxen kaufen können, um die Tiere anzulocken.«
»Es könnte also jeder gewesen sein«, stellte Jan fest.