Meine Geschichte des Loslassens

Ich glaube fest daran, dass jede Erfahrung im Leben – möge sie auch noch so schmerzhaft sein – zu unserer persönlichen Entwicklung beiträgt. Vor etwa zwanzig Jahren legte mir das Leben einen Fels in den Weg, von dem ich glaubte, er sei unüberwindbar. Heute bin ich davon überzeugt, dass ich dank dieses Brockens mein Glück im Loslassen gefunden habe.

UND DANN WURDE ALLES SCHWARZ

»Das ist nicht wahr! Ich glaube euch kein Wort! Das muss ein Irrtum sein!« – Das waren die ersten Gedanken, die mir durch den Kopf rauschten, als ich die Mitteilung erhielt, die mein Leben für immer verändern sollte.

Der 26. April 2002 begann wie ein ganz normaler Freitag. Wie so oft verließ ich das Haus viel zu spät und hastete ohne Frühstück zur ersten Stunde. Vierzehn war ein hartes Alter. Die Frage nach der BH-Größe war gefühlt genauso wichtig wie die nach dem Sinn des Lebens. Die Schule war anstrengend und machte mir schon lange keinen Spaß mehr. Und auch sonst war alles eher so lala.

Ich saß in der Physikstunde und dachte an die Party, die am Abend stattfinden sollte, als plötzlich das Handy der Lehrerin klingelte. Sichtlich überrascht nahm sie ihr Telefon auf. »Das ist komisch. Meine Tochter ruft an. Das scheint wichtig zu sein.« Sie nahm den Anruf an und verließ den Raum mit einem besorgten Blick. In diesem Moment überkam mich ein Gefühl, das ich bis heute nur sehr schwer beschreiben kann. Es war eine Mischung aus Übelkeit und böser Vorahnung. Wie in einem Horrorfilm, wenn das Kind allein die dunkle Kellertreppe hinabgeht. Man spürt, dass etwas passieren wird, weiß nur nicht, was und wann.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kam die Lehrerin zurück in den Raum. »Am Gutenberg-Gymnasium wird geschossen.« In diesem Moment fiel mein Magen in sich zusammen. Das merkwürdige Gefühl wandelte sich zur absoluten Gewissheit. Ich sah meine Banknachbarin an und sprach den Satz aus, den eine unbekannte Stimme in mir schrie: »Mein Papa ist tot. Er ist Lehrer da.«

Es war ein Moment absoluter Klarheit. In der Psychologie wird das als Intuition bezeichnet. Es war das erste Mal, dass ich dies so stark spürte. Das ist auch einer der Gründe, warum ich mich bis heute so genau daran erinnern kann.

Wie ich nach Hause kam, weiß ich hingegen nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass ich dort mit meiner Mutter – die direkt zum Ort des Geschehens gefahren war – und meiner besten Freundin telefonierte. Ich versuchte auch meinen Vater zu erreichen. Sein Handy klingelte, doch niemand nahm ab. Hektisch schaltete ich den Fernseher ein und durchsuchte die Programme nach Informationen. »Schießerei am Gutenberg-Gymnasium«, »Schüsse auf dem Schulhof« – die Nachrichten überschlugen sich.

Was wir zu diesem Zeitpunkt wussten, war nicht viel. Es hatte Schüsse gegeben und die Erfurter Polizei sperrte das Gelände weiträumig ab. Ich versuchte mir einzureden, dass das alles nur ein Missverständnis sei. Vielleicht ein perfider Abistreich, der aus dem Ruder gelaufen war. Doch dann kam es: das erste Bild eines Opfers. Ein Körper, der regungslos auf dem Boden lag. Das Gesicht konnte man nicht erkennen. Die TV-Kamera zoomte jedoch auf die braunen Lederschuhe der Person. Ich wurde von Minute zu Minute unruhiger. Aus Minuten wurden Stunden. Und aus einem Opfer drei. Dann fünf. Dann sechzehn. Die Bilder schienen so unwirklich und fern. Besorgte Eltern, die um das Leben ihrer Kinder bangten, schwarz gekleidete SEK-Beamte, die das Gebäude umstellten, und völlig aufgelöste Schulkinder, die sich in den Armen hielten und weinten.

Ich weiß nicht, wie spät es war, als sich die Tür öffnete und meine Mutter in Begleitung eines dunkel gekleideten Mannes das Wohnzimmer betrat. Alles, woran ich mich erinnern kann, ist ihr erster Satz: »Anika, dein Papa ist tot.« Mein Magen riss in tausend Stücke. »Das ist nicht wahr! Ich glaube dir kein Wort! Das muss ein Irrtum sein!« Und dann wurde alles schwarz.

Der Tod meines Vaters riss mir den Boden unter den Füßen weg. Wie ein Tsunami verschluckte er mich und zog mich in den dunklen Abgrund. Von einem Tag auf den anderen war nichts mehr so, wie es war. Mein Vertrauen in die Welt wurde gemeinsam mit ihm beerdigt. Die Angst wurde zu meinem ständigen Begleiter. Ich hatte Angst um meine Mutter und davor, auch sie zu verlieren. Fast jede Nacht hatte ich Albträume. Und dann war da noch die stetig wachsende Angst davor, meinen Vater zu vergessen. Allein der Gedanke daran, sich nicht mehr an seine Stimme und seinen Geruch zu erinnern, machte mich kaputt. Ich wollte meinen Papa auf keinen Fall loslassen. Und deshalb sammelte ich alles, was ich mit ihm in Verbindung bringen konnte und was mich an ihn erinnerte. Nach ein paar Wochen hatte ich einen riesigen Berg Zeitungsartikel über den Amoklauf angehäuft.

Wenn ich auf diese Zeit zurückblicke, kann ich heute sagen, dass mein Verhalten ganz normal war. Doch damals fühlte ich mich alles andere als normal. So viele Menschen hatten kein Verständnis für meine Art und Weise zu trauern. Ich erinnere mich noch an Sätze wie: »Ist es nicht langsam mal gut mit dem Geheule? Das mit deinem Vater ist jetzt schon ein halbes Jahr her. Irgendwann muss man doch wieder nach vorne schauen.«

Vielleicht liest einer von euch dieses Buch und versteht, dass man Trauern und Loslassen nicht timen kann.

OHNE REGEN KEIN REGENBOGEN

Zwei Jahre nach dem 26. April 2002 beschloss ich, die Themen Tod und Trauer in Kisten zu packen und in meinem Seelenkeller zu verstauen. Nach der zehnten Klasse hatte ich die Möglichkeit, für ein Schuljahr ins Ausland zu gehen, und das kam wie gerufen.

Ich wollte möglichst weit weg von Erfurt, irgendwohin, wo mich niemand kannte und keiner etwas über den Amoklauf wusste. Meine Wahl fiel auf Neuseeland.

Im August 2004 packte ich meine Koffer und machte mich auf die Reise in ein Abenteuer, das mein Leben endlich wieder zum Guten verändern sollte. Ich ließ die traurige Anika am Frankfurter Flughafen zurück und betrat den neuseeländischen Boden, bereit für alles, was kommen würde. Ich fand ein wunderbares Zuhause in Auckland, die neue Umgebung und die unbekannten Menschen halfen mir dabei, die Vergangenheit auszublenden. Es fühlte sich an wie ein Neustart. Niemand urteilte über mich und meine Entscheidungen. Ich war frei wie ein Vogel und zum ersten Mal nach langer Zeit ging es mir besser. Ich besuchte die Schule, erkundete in meiner Freizeit das Land und lernte viele herzliche, inspirierende Menschen kennen. Doch auch wenn ich an der Oberfläche glücklich war – die Trauerkisten, die ich in die hinterste Ecke meines Seelenkellers geschoben hatte, waren immer bei mir.

Nach meiner Rückkehr versuchte ich die vermeintlich neue Anika am Leben zu halten. Ich packte alle Fotos, Erinnerungsstücke und Zeitungsartikel, die ich noch in meinem Zimmer aufbewahrt hatte, in einen Umzugskarton und räumte sie weg.

Die Jahre vergingen und ich verdrängte mehr oder weniger erfolgreich meine Trauer und alles, was passiert war. Ich ging weder zum Grab meines Vaters, noch sprach ich über ihn. Direkt nach dem Abi zog ich zum Studium nach Berlin. Trotz der großen, anonymen Stadt und meines neuen Umfelds holte mich die Vergangenheit immer wieder ein. Mal war es ein lautes Geräusch, das mich aufschrecken ließ. Mal war es eine Filmszene, die an den Amoklauf erinnerte. Die Kisten in meinem Seelenkeller waren mittlerweile so voll, dass sie bei dem Versuch, weitere Gefühle hineinzustopfen, regelrecht explodierten. Diese Momente rissen mich immer wieder aus meinem Alltag und machten es mir unmöglich, zu funktionieren. Ich wähle bewusst das Wort »funktionieren«. Denn rückblickend befand ich mich damals in einer Art Überlebensmodus. Krampfhaft versuchte ich immer das Richtige zu tun, nicht negativ aufzufallen und es stets allen recht zu machen. Irgendwann kam ich an meinem Tiefpunkt an, der glücklicherweise zu meinem persönlichen Wendepunkt wurde.

DAS ENDE VOR DEM ANFANG

Wieder einmal war ich geflohen. Dieses Mal war es Australien. Ganz spontan hatte ich mich für ein Praktikumssemester in Sydney entschieden. Mein chaotisches Leben in Berlin überforderte mich derart, dass ich beschloss, alles hinter mir zu lassen. »Fight or flight«, sagt man in der Psychologie – eine instinktive Entscheidung in Gefahrensituationen. Kämpfen war für mich zu diesem Zeitpunkt noch keine Option, weshalb ich mich für die Flucht entschied.

In Sydney angekommen, ließ ich mich zum ersten Mal seit Jahren wieder fallen. Die Sonne, der Strand und tolle neue Freunde – alles schien perfekt. Trotzdem oder vielleicht genau deshalb begann meine Gefühlsfassade zu bröckeln.

Es war auf dem Nachhauseweg von einer Party, als plötzlich alles aus mir herausbrach und mich meine Gefühle wie ein Tsunami überwältigten. Stundenlang weinte ich und erinnerte mich an alles, was ich verdrängt hatte. Das war der Wendepunkt, an dem mir klar wurde, dass es nur zwei Möglichkeiten gab: untergehen oder die Reißleine ziehen. Ich beschloss, mein Leben wieder in die Hand zu nehmen und mich meinen Problemen zu stellen.

Zurück in Deutschland begann ich meine erste Therapie. Am Anfang war es mir sehr unangenehm, mit einem wildfremden Menschen über meine Gefühle und Herausforderungen zu sprechen. Doch von Mal zu Mal wurde es leichter und ich war endlich wieder in der Lage, klare und für mich wichtige Entscheidungen zu treffen. Die Auseinandersetzung mit meiner seelischen Gesundheit bildete den Grundstein für meinen beruflichen Werdegang. Nach meinem Bachelor in Kommunikationsmanagement entschied ich mich für einen Master in Wirtschaftspsychologie mit dem Schwerpunkt Training und Coaching. Ich schloss noch zwei weitere Therapien ab und nahm selbst Coachings wahr, um mehr über positive Psychologie und Persönlichkeitsentwicklung zu lernen. Nach dem Studium fand ich einen Job im Bereich Human Resources und Teambuilding.

Eigentlich lief alles ganz okay. Aber eben nur eigentlich. Und auch nur ganz okay. In mir spürte ich eine wachsende Unzufriedenheit. Mein Leben fühlte sich an, als würde es auf Sparflamme laufen – nichts Halbes und nichts Ganzes.

Kurz vor meinem dreißigsten Geburtstag schenkte mir mein Bruder einen Aufräumratgeber und ich fragte mich, was er mir damit sagen wolle. »Bin ich unordentlich? Oder warum schenkst du mir das?« »Lies es einfach, dann wirst du schon verstehen, warum.« Gesagt, getan. Ich begann zu lesen und blätterte durch die ersten Seiten des Buches. Plötzlich überkam mich ein merkwürdiges Gefühl, eine Mischung aus Kribbeln und Nervosität. Einige würden es als Bauchgefühl bezeichnen, andere als Intuition. Jedenfalls war da eine geheimnisvolle Stimme in mir, die sagte: »Hier ist etwas. Hier passiert gerade etwas, das dein Leben gewaltig auf den Kopf stellen wird.« Um ehrlich zu sein – ich las das Buch nicht einmal zu Ende. Ohne lange zu überlegen, meldete ich mich bei einem Ordnungsseminar in New York an.

NEW YORK – NEW BEGINNING

Etwa neun Monate später saß ich im Flieger nach New York. Ich hatte meine letzten Urlaubstage und all mein Erspartes investiert und war bereit, meinen Traum zu verwirklichen. Ich war krank, hatte hohes Fieber, doch ich war so glücklich wie lange nicht mehr. Intuitiv wusste ich, dass dies der Beginn einer langen, abenteuerlichen Reise war.

Am ersten Tag des Seminars war meine Erkältung wie weggeblasen. Mein Herz hüpfte, als ich in die freundlichen Gesichter der anderen Teilnehmer blickte. Die drei Tage vergingen wie im Flug. Ich machte großartige Bekanntschaften, die später zu Freundschaften wurden. Und noch bevor ich meinen Rückflug antrat, entschied ich mich, eine Ausbildung zur Aufräumexpertin zu machen. Im Jahr 2018 wurde ich offiziell als Beraterin zertifiziert und verließ meine Festanstellung. Seitdem bin ich als selbstständige Lebens- und Aufräumcoachin tätig und unterstütze Menschen dabei, sich von ihrem innerlichen und äußerlichen Ballast zu befreien.

Du fragst dich vielleicht, warum ich das so ausführlich erzähle. Die Antwort darauf ist ganz einfach: Mein Umgang mit der Trauer um meinen Vater hat mich zu der gemacht, die ich heute bin. Es hat seine Zeit gedauert und ich bin einige Umwege gegangen. Doch all dies hat mir letztlich gezeigt, wie wichtig es ist, loszulassen. Erst als ich mich dafür entschieden habe, mich den Kisten in meinem Seelenkeller zu stellen, mich mit ihrem Inhalt zu befassen und sie nach und nach zu entrümpeln, konnte ich erkennen, was meine Berufung ist. Ich möchte Menschen auf ihrem eigenen Weg zum Loslassen begleiten und ihnen dabei helfen, ihr persönliches Glück zu finden.

»DER MENSCH KANN NICHT ZU NEUEN UFERN AUFBRECHEN, WENN ER NICHT DEN MUT AUFBRINGT, DIE ALTEN ZU VERLASSEN.«

André Gide