Die Lehre des Herzens: Gedanken über den Pfad der Liebe

Auszüge aus Briefen indischer Geistesschüler

Annie Besant


ISBN: 978-3-96861-287-4
1. eBook-Auflage 2022
© Aquamarin Verlag GmbH

Übersetzt aus dem Englischen von Dr. Norbert Lauppert

Die englische Originalausgabe diese Buches erschien erstmals im Jahre 1889. Der Übersetzung wurde die im Jahre 1947 im Theosophical Publishing House, Adyar, herausgegebene sechste Auflage zugrunde gelegt.

Umschlaggestaltung: Annette Wagner

Aquamarin Verlag GmbH, Voglherd 1, 85567 Grafing, www.aquamarin-verlag.de


Inhalt

 

Lerne, das Falsche vom Wahren, das ständig Fließende vom ewig Dauernden zu unterscheiden. Vor allem aber lerne, äußeres Wissen von Seelenweisheit, die Lehre des Auges von der Lehre des Herzens zu trennen.

 


 

Die Stimme der Stille

 

Vorwort

 

Unter dem Titel »Die Lehre des Herzens« werden in diesem Büchlein eine Reihe von Betrachtungen veröffentlicht, die hauptsächlich Briefen indischer Freunde entnommen wurden. Sie haben keinerlei autoritativen Charakter, aber sie enthalten Gedanken, die für die Empfänger hilfreich waren und darum an andere weitergegeben werden sollten. Sie sind nur für solche Menschen bestimmt, die entschlossen versuchen, das höhere Leben zu leben, und sie richten sich besonders an jene, die wissen, dass dieses Leben zum Eintritt auf einen Pfad der Jüngerschaft führt, unter der Leitung von großen Seelen, die ihn in der Vergangenheit gegangen, aber dennoch auf Erden geblieben sind, um anderen zu helfen, ihn ihrerseits zu beschreiten. Die in diesen Briefen ausgedrückten Gedanken ge­hören keiner bestimmten Religion an, ihre Formulierung aber und der in ihnen gezeigte Gefühlsausdruck sind indisch. Es ist eine Hingebung von jener edlen und intensiven Art, die im Osten unter der Bezeichnung Bhakti bekannt ist – eine Hingebung, die sich ganz und vorbehaltlos Gott und jener gottmenschlichen Gestalt darbringt, durch die sich Gott dem Hingebungsvollen im Fleische offenbart. Dieses Bhakti hat nirgends vollkommeneren Ausdruck gefunden als im Hinduismus, und die Verfasser dieser Briefe sind Hindus, die den überströmenden Reichtum des Sanskrit gewohnt sind und die den herberen Klang der europäischen Sprachen in eine wenigstens annähernde Harmonie mit der poetischen Lieblichkeit ihrer Muttersprache zu bringen versuchen. Entgegen der Kühle und emotionellen Zurückhaltung mancher europäischer Völker, insbesondere der Engländer, quillt das religiöse Empfinden aus dem östlichen Herzen so natürlich empor wie der Gesang einer Lerche. Hier und da finden wir auch im Westen echte Bhaktas, wie z.B. Thomas von Kempen, die heilige Therese, Johannes vom Kreuz, Franziskus von Assisi und die heilige Elisabeth von Ungarn. Aber meistens neigt das religiöse Empfinden im Westen, auch wo es tief und echt ist, mehr zum Schweigen und trachtet danach, sich zu verbergen. Für derartige Menschen, die davor zurückscheuen, religiöse Gefühle auszudrü­cken, werden diese Briefe nicht hilfreich sein – und für sie sind sie nicht geschrieben.

Wenden wir uns nun der Betrachtung eines der bemerkenswertesten Ge­gensätze im höheren Leben zu. Wir sind alle mit der Tatsache vertraut, dass die esoterische Lehre an uns Forderungen von einer Art stellt, die sowohl eine gewisse Isolierung als auch eine strenge Selbstdisziplin notwendig machen. Sowohl von unserer geliebten und verehrten Lehrerin Helena Petrovna Bla­vats­ky als auch aus den uralten Überlieferungen haben wir erfahren, dass Entsagung und strenge Selbstbeherrschung von demjenigen verlangt werden, der durch das Tor des Tempels zu schreiten wünscht. Die Bhagavad Gita betont immer wieder die Lehre von der Gleichgültigkeit gegenüber Schmerz und Freude, die Lehre von jenem vollkommenen Gleichmut in allen Situationen, ohne den kein echter Yoga möglich ist. Es ist dies eine Seite des esoterischen Lebens, die zumindest grund­sätzlich allgemein anerkannt wird, und so mancher folgt ihr auch im prak­ti­schen Leben und strebt danach, sich ihr entsprechend umzuformen.

Mit der anderen Seite des esoterischen Lebens befasst sich die »Stimme der Stille«*. Diese zweite Seite umfasst Mit­gefühl für alle fühlenden Wesen und eine wache Aufmerksamkeit für alle mensch­lichen Nöte. Dieses Mitgefühl hat in jenen Großen, denen wir dienen, vollkommensten Ausdruck gefunden und ihnen den Namen »Meister des Mitleids« gebracht. Auf dieses Mitgefühl in seiner Anwendung im Alltag wollen die folgenden Briefe unsere Gedanken lenken, denn dies ist etwas, was wir in unserem praktischen Leben am leichtesten übersehen, so sehr unser Herz auch von der Schönheit seines vollkommenen Ausdruckes in den Großen ergriffen sein mag. Der echte Esoteriker muss, während er sich selbst der strengste Richter und härteste Kritiker ist, für alle Menschen in seiner Um­gebung der mit­füh­lendste Freund und gütigste Helfer sein. Solches Mitgefühl und solche Güte zu erlangen, muss daher das Ziel eines jeden von uns sein. Dies kann aber nur erlangt werden durch ständige Betätigung von Güte und Mitgefühl gegenüber allen, die um uns sind, ohne Ausnahme. Jeder, der ein Esoteriker werden möchte, muss in seinem Heim und in seinem besonderen Lebenskreis der Mensch sein, an den sich andere am ehesten wenden, wenn sie in Leid oder Sorge, aber auch, wenn sie in Sünde sind, weil sie bei ihm sicher sein können, dass er mit ihnen Mitgefühl haben und ihnen helfen wird. Und auch die am wenigsten anziehenden, törichsten, ja abstoßendsten Menschen sollten fühlen, dass sie wenigstens in ihm einen Freund haben. Jedes geringste Sehnen nach einem edleren Leben, jeder aufkeimende Wunsch nach selbstlosem Dienst, jeder noch halb geformte gute Vorsatz sollte in ihm einen Helfer finden, der bereit ist, jenen zu ermutigen und zu stärken, sodass jeder Keim des Guten unter der wärmenden und inspirierenden Gegenwart seiner liebenden Natur zu wachsen beginnen kann.

 

* Helena Petrovna Blavatsky, »Die Stimme der Stille«, in deutscher Übersetzung erschienen im Aquamarin Verlag, Grafing 2001