Eidesbruch
Ärzte, Geschäftemacher und die verlorene Würde des Patienten
Campus Verlag
Frankfurt/New York
Über das Buch
Wo Ärzte sich vor Managern und Aktionären verantworten müssen, sind Behandlungsfehler ebenso wenig Zufall wie der jüngste Transplantationsskandal. Sie sind Folgen eines Systems, in dem die Nöte der Patienten als Störung des reibungslosen Betriebsablaufs gesehen werden. Der Chirurg Michael Imhof sieht als gefragter Gutachter täglich, wie Patienten abgefertigt und alleingelassen werden. Anhand erschütternder Beispiele schildert er, was geschieht, wenn die Medizin nur noch einem wirtschaftlichen Auftrag verpflichtet ist. Ein kenntnisreiches, aufwühlendes Plädoyer für die Menschenwürde.
Über den Autor
Dr. med. habil. Michael Imhof war viele Jahre an der Chirurgischen Universitätsklinik Würzburg tätig, wo er auf Tumorchirurgie spezialisiert war. Inzwischen ist er selbstständiger Gutachter für Behandlungsfehler.
Vorwort
Einleitung: Nachtfahrt ins Ungewisse
Teil 1
It from bit: Innenansichten der modernen Medizin
1. Moderne Onkologie und die Wiederkehr des Sisyphos-Mythos
2. Antikörpertherapie als moderne Waffe gegen den Krebs
3. Über die Sprachlosigkeit der modernen Medizin
4. Wem die Stunde schlägt: Ein persönlicher Zwischenruf
5. Ecce homo: Der Mensch im neuen Weltbild der Medizin
6. Wovon die Menschen leben: Die Geschichte des Herrn K.
Teil 2
Die sieben Todsünden der modernen Medizin
1. Die Kommerzialisierung von Krankheit und Leiden
Das Krankenhaus als Profit Center
Wie Universitätskliniken im Wirtschaftsmonopoly zerstört werden
Hygieneskandale als Folge von Budgetierungszwängen
2. Geldgier
Goldgräberstimmung in der Krebsmedizin
Beutezüge der Pharmaindustrie
Totschlag aus zweiter Hand: Silikonskandal und andere
3. Habsucht
Anwendungsbeobachtungen – eine zusätzliche Geldquelle
IGeL-Leistungen als lukrative Paramedizin
Maßlosigkeit in den Vorstandsetagen
4. Korruption
Gelenkte Patientenströme: Darf es ein wenig mehr sein?
Anrüchige Geschäfte mit dem Rezeptblock
5. Ethische Dammbrüche
Gefälschte Studien
Betrugsfälle
Organspendeskandale
Überflüssige Operationen
Vertuschte Behandlungsfehler
6. Mitleidlosigkeit
Gnadenlose Therapie bis zum Sterbebett
Würdeloses Sterben im Alter: Eine ethische Bankrotterklärung
7. Hochmut und Machbarkeitswahn
Erfundene Krankheiten und die Optimierung der Gesundheit
Forever young: Gesundheitsreligion als neue Weltreligion
Teil 3
Die moderne Medizin – ein Abgesang und ein Aufruf
1. Der epochale Wertewandel
2. Die Krise als Chance
Anmerkungen
Literatur
Abkürzungen und Glossar
Register
Gestern telefonierte ich wieder einmal mit einem sehr guten Bekannten, einem Studienfreund, der vor knapp zwei Jahren eine neue Leber erhalten hatte. Er fühlt sich blendend und kam gerade von einem Segelurlaub an der Nordsee zurück, wie er mir begeistert erzählte. Er ist unendlich dankbar für sein neues Leben, das ihm von der modernen Medizin geschenkt wurde.
Gestern bearbeitete ich als Gutachter auch den Fall einer jungen Patientin, die Monate zuvor mit starken Schmerzen im gesamten Unterbauch die Ambulanz eines Krankenhauses aufgesucht hatte. Dort wurde sie nach einer oberflächlichen und weitgehend wortlosen Untersuchung wieder nach Hause entlassen, wobei ihr der sichtlich überlastete Arzt knapp und im Vorbeigehen seine Vermutung einer Magenverstimmung mit auf den Weg gab. Am Nachmittag des folgenden Tages wurde die Patientin in einem anderen Krankenhaus notfallmäßig unter der Diagnose eines durchgebrochenen Blinddarms mit schwerster diffuser Bauchfellentzündung operiert.
Wäre diese junge Patientin im erstbehandelnden Krankenhaus wirklich eingehend und nicht nur hektisch-oberflächlich untersucht worden, hätte man ihren Beschwerden und der Schilderung ihrer Symptome aufmerksam zugehört, so hätte schon zu diesem Zeitpunkt die Verdachtsdiagnose einer akuten Blinddarmentzündung dringend naheliegen müssen. Die Patientin wäre dann nicht wortlos, aber mit einer Handvoll Schmerztabletten nach Hause geschickt, sondern gleich an Ort und Stelle operiert worden. Ihr wäre dann vieles erspart geblieben: die bleibenden seelischen und schweren körperlichen Beeinträchtigungen durch den lang dauernden Intensivaufenthalt mit zahlreichen operativen Eingriffen. Diese Patientin wäre nicht berufsunfähig geworden, und möglicherweise hätte sie auch ihren damaligen Lebenspartner nicht verloren.
Beide Fälle repräsentieren die moderne Medizin: ein Höchstmaß an wissenschaftlich-technischer Präzision auf der einen Seite, eine Präzision, die Leben schenkt – und auf der anderen Seite ein anonymisiertes Getriebe, in welchem die Sprache, das Verständnis für die Sprache der Patienten, über weite Strecken abhanden gekommen ist.
Von dieser Sprachlosigkeit soll dieses Buch handeln.
Wir leben in einer Welt der großen Siegeszüge der modernen Medizin: Die schweren und früher tödlichen Infektionskrankheiten wurden erfolgreich bekämpft, Herzinfarkte, ja selbst Schlaganfälle können in vielen Fällen erfolgreich und ohne bleibende Funktionsausfälle behandelt werden. Verstopfte Herzkranzgefäße werden wieder geöffnet oder mit Bypässen überbrückt. Maschinen übernehmen die Funktion von ausgefallenen Organen. Chronisch schmerzende und arthrotisch versteifte Gelenke werden problemlos durch Kunstgelenke ersetzt, sodass ältere und häufig auch betagte Patienten wieder schmerzfrei laufen können. Die Wissenschaft hat uns immer tiefer reichende Einblicke in die inneren Strukturen von Organen und Zellen und in die komplexen Netzwerke von miteinander kommunizierenden Genen und Abermillionen von Proteinen geliefert. Diese Wissenschaft hat es möglich gemacht, die Signale, die Morsezeichen von Genen und Proteinen immer weiter zu entschlüsseln und fehlerhafte Codierungen auf dieser Ebene als Ursachen von vielen Krankheiten zu erkennen. Je mehr diese Medizin es gelernt hat, die Grammatik, die Textsequenzen auf den fundamentalsten Ebenen des Lebens zu entziffern, umso mehr verliert sie jedoch ihr Gefühl für die Bedeutung dieser Sprache für den Patienten selbst, Die moderne und technisch hochgerüstete Medizin steht in Gefahr, nur noch technische Algorithmen zu verstehen. Ihr droht das Verständnis für die Sprache des Lebens und dafür abhanden zu kommen, was aus den Krankheiten zu ihr spricht. Insofern ist dieses Buch ein Buch über die Sprache von Krankheiten, über den Verlust von Bedeutung und Empathie in der modernen Medizin.
Dabei sind die Erfolge der Medizin im Kampf gegen Krankheiten, die bislang als unheilbar gelten, unleugbar. Am Beispiel der modernen Krebsbehandlung versuchte ich aufzuzeigen, mit welchen ungeheuer großen Herausforderungen sich die Wissenschaft konfrontiert sieht und dass es geradezu an ein Wunder grenzt, dass die Diagnose »Krebs« bei immer mehr Patienten kein Todesurteil mehr bedeutet. Vor den Leistungen dieser Medizin ist allergrößte Hochachtung angezeigt. Umso mehr muss aber verwundern, dass sich immer mehr Patienten von dieser Medizin abwenden, weil es ihnen nicht mehr möglich scheint, sich darin als kranker Mensch wiederzufinden.
Die technisch hochgerüstete, aber sprachlose Medizin hat das Gefühl für eine grundlegende gemeinsame Wirklichkeit von Arzt und Patient, von Krankheit und Heilung innerhalb der auf weite Strecken von Technik und Ökonomie dominierten Abläufe verloren. Eine verheerende Folge besteht darin, dass die Patienten zu Objekten degradiert wurden. Die Medizin steht in Gefahr, ihre angestammte Bedeutung dort zu verlieren, wo sie zur Industrialisierung von Gesundheitsprodukten verkommt. Hier verliert sie ihre Seele und gleichermaßen auch die Seelen ihrer Patienten. Unter der zunehmenden ökonomischen und kommerziellen Dominanz wird die Ethik in ein Nischendasein verbannt. Durch die Bindungsverluste an ihre ursprünglichen ethischen Grundsätze und Prinzipien begeht und erleidet die technisch hochgerüstete Medizin einen epochalen Sündenfall. Es sind vor allem sieben Todsünden, die ich in diesem Buch programmatisch und exemplarisch darstelle. An die Stelle einer Heilkunde, die auf dem Vertrauen der Patienten basiert und die Hoffnung spendet, tritt mehr und mehr eine Medizin, welche sich an der eigenen Bereicherung und am Profitdenken orientiert. Dieser Medizin begegnen deshalb immer mehr Patienten mit wachsendem Misstrauen, was die ansteigende Anzahl von Behandlungsfehlervorwürfen belegt. Als chirurgischer Gutachter auf dem Gebiet des Arzthaftungsrechtes erlebe ich täglich die Brüche und die ethischen Erosionen dieser Medizin. Oft bleibt es mir nur noch übrig, die Scherben von verlorenem Vertrauen aufgrund eines Systemversagens dieser Medizin wegräumen zu müssen.
Ich möchte aber nicht einstimmen in den vielfältigen Chor von einseitigen und oft marktschreierischen Skandalisierungen dieser Medizin, deren Beweggründe mir recht durchsichtig zu sein scheinen. Zwar müssen das ethische Versagen der Medizin und die aktuellen Skandale unserer Tage angesprochen und angeprangert, zugleich aber muss auch die Größe und Wirkmächtigkeit dieser Medizin respektiert werden, die meine berufliche Heimat ist und in der meine ärztliche Identität nach wie vor verankert bleibt. Wir leben heute in einer Zeit der chaotischen Umbrüche, in deren Zentrum die moderne Medizin, quasi als Spiegel oder Brennglas, zu verorten ist. Die Medizin war immer schon und ist auch heute ein Spiegel ihrer Zeit, ihrer sozialen und kulturellen Umbrüche und Verwerfungen. Wer unsere Gegenwart verstehen will, muss die modernen Krankenhäuser oder die großen Ambulanzen aufsuchen und sich dort umsehen. In diesem Sinne verweist die ethische Krise der modernen Medizin in einen übergeordneten Raum hinein, nämlich in die ethische und geistige Krise unserer Zeit selbst.
Die Sanitäter in der Rettungsleitstelle hatten gerade ihre Pizza gegessen und schauten sich nun die 250. Wiederholung des Films Armageddon an, als sie der Notruf aus einem außerhalb der Stadt gelegenen Pflegeheim erreichte: ein 89-jähriger Patient, der bewusstlos vor seinem Bett aufgefunden worden war. Ca. zwanzig Minuten später trafen sie im Pflegeheim ein und fanden einen alten Mann vor, der stöhnend und verkrümmt vor seinem Bett in einer Lache von Erbrochenem lag. Der sichtlich abgemagerte Patient war nicht ansprechbar, er stammelte undeutlich vor sich hin. Obwohl er sichtlich abgemagert war, war die einzige Schwester auf der Station nicht in der Lage gewesen, ihn ins Bett zu hieven. Bei der ersten orientierenden Untersuchung zeigten sich Prellmarken an der Stirn und im Bereich der rechten Hüfte, die offensichtlich von dem Sturz herrührten. Sein Blutdruck war mit 100/70 mmHg deutlich erniedrigt, die Zunge war trocken und mit übelriechenden, weißlich-gelblichen Borken belegt, die Haut war rissig und zeigte stehende Falten, die auf einen Flüssigkeitsmangel hinwiesen. Die Beine des Patienten waren durch Ödeme monströs angeschwollen. Ja, er hätte in der letzten Zeit wenig getrunken, so die Nachtschwester, obwohl man im Heim immer auf eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr achten würde. In den letzten Wochen sei die Personaldecke aber sehr dünn gewesen, eine Schwester sei im Urlaub und eine weitere Pflegekraft akut erkrankt. Im Übrigen sei das Pflegeheim bis auf den letzten Platz überfüllt und man hätte sich nach der dünnen Personaldecke strecken müssen.
Ein kurzer, orientierender Blick auf die Pflegeunterlagen offenbarte eine lange Litanei von Vorerkrankungen des Patienten, gefühlt länger als die Fahrplanauskunft des örtlichen Bahnhofs. Fast alle Diagnosen waren vorhanden, die das Arsenal der modernen Medizin aufbieten kann: Diabetes mellitus, Zustand nach Apoplex mit rezidivierenden Verwirrtheitszuständen, Zustand nach Herzinfarkt, Zustand nach bestrahltem Prostatakarzinom, chronische Herz- und Niereninsuffizienz, Zustand nach Herzschrittmacherimplantation. Beide Hüftgelenke und das rechte Kniegelenk waren künstlich ersetzt worden. Seit 15 Jahren wurde ein Morbus Parkinson behandelt, und seit ca. zwei bis drei Jahren war eine rasch voranschreitende Demenz bekannt. Jetzt stand ein erneuter Schlaganfall im Raum, sturzbedingte Frakturen mussten zunächst ausgeschlossen werden.
Die Sanitäter versuchten, den Patienten laut mit seinem Namen anzusprechen, worauf der jedoch nur undeutlich brabbelnde Antworten gab. Der Mensch, den sie schließlich in ihren Rettungswagen luden, soll früher einmal ein sehr geachteter und beliebter Lehrer der örtlichen Grundschule gewesen sein. Alles ging jetzt professionell schnell, es waren kaum 15 Minuten vergangen, und schon war der Rettungswagen unterwegs in das nächste Krankenhaus. Als sie den Patienten in der dortigen Notaufnahme ausladen wollten, kam ihnen schon am Eingang ein wild mit den Armen gestikulierender Ambulanzpfleger entgegen, der ihnen mitteilte, dass die Notaufnahme überfüllt, dass kein Bett mehr frei sei und dass alle Ärzte mit anderen Notfällen beschäftigt seien. Es blieb den Sanitätern also nichts weiter übrig, als ihren Patienten erneut in den Einsatzwagen zurückzuschieben. Die Stadt war mit Krankenhäusern gut versorgt, worauf sich ihre Verantwortlichen, allen voran der Oberbürgermeister, einiges zugute hielten. Also alles kein Problem und auf zur nächsten Klinik.
Vorbei ging es am grellbunt beleuchteten Lichtspieltheater, vor dem Trauben von jungen Besuchern ihre Zigaretten rauchten und ihr Bier tranken, während der Patient hinten im Fond des Rettungswagens würgte und unverdaute Brocken der Abendmahlzeit erbrach. Vorbei ging es – jetzt mit Martinshorn – am städtischen Ringpark, in dem späte Jogger an herumlungernden Besoffenen vorbeihuschten, und schnell näherte man sich dem nächsten Krankenhaus, dessen Fenster noch hell erleuchtet waren und über dessen Eingangstür das einladende Emblem leuchtete: »Dem Menschen verpflichtet«. Hier würde die Fahrt des Patienten, dem es hinten sichtlich immer schlechter ging, endlich ihr Ende finden. Mit Schwung und pulsendem Blaulicht also in das Rondell vor der zentralen Notaufnahme hinein. Schon hatten die Sanitäter den Patienten in den Eingang der Notaufnahme geschoben, als der diensthabende Arzt aus einer Tür herausschaute und von dort aus nach einem ersten kurzen Blick auf den in seinem Erbrochenen liegenden Patienten sagte: »Der ist nichts für uns. Sieht nach Apoplex aus, die Neuro ist voll.« Fürs Erste waren die Sanitäter jedoch schon einmal in den Gang der Notaufnahme vorgedrungen. Weiter ging es aber auch diesmal nicht.
Also zurück in den Wagen, wieder das Blaulicht an und auf zu einer dritten Klinik. Hektische Rückrufe der Leitlinie, die die Notaufnahme der anderen Krankenhäuser abklapperte, mittlerweile war man schon mehr als eine Stunde unterwegs, während draußen das Lichtermeer der nächtlichen Stadt vorbeiflutete und der Rettungswagen sich mit Martinshorn eine Gasse durch den Stadtverkehr bahnte. Durch den Lärm und das Gepolter des über den Asphalt rasenden Wagens wurde der Patient wach, er schrie jetzt unaufhörlich und riss an den Gurten, die ihn auf der Trage fesselten, sein Blutdruck war weiter abgesackt, die Infusionsnadel, über die ihm eine Kochsalzlösung zugeführt werden sollte, war disloziert und die Infusionslösung war para gelaufen. Jetzt wurde es wirklich höchste Zeit.
Nach zwei weiteren vergeblichen Versuchen, den Patienten in irgendeinem anderen Krankenhaus unterzubringen, erklärte sich schließlich die größte Klinik der Stadt einverstanden, den Patienten aufzunehmen. Mittlerweile waren volle zwei Stunden vergangen, in denen der Patient unterwegs war. Die Nacht war weit fortgeschritten. Die zentrale Notaufnahme des großen Krankenhauses war überfüllt, es war Samstagnacht, und in den Behandlungsräumen wurden alle möglichen Unfälle behandelt – Autounfälle, Unfälle nach Schlägereien, Betrunkene, Verängstigte, Verrückte. Alle Abteilungen des Hauses waren bereits mit schwerwiegenden akuten und chronischen Erkrankten belegt. Eine weitere Stunde musste auf der Liege im Gang der Notaufnahme abgewartet werden, bis endlich ein übermüdeter Arzt Zeit fand, den Patienten zu untersuchen. Erst jetzt fiel auf, dass der Patient ja halbseitig gelähmt war und dass er infolge seines langjährigen Diabetes mellitus ein offenes Bein mit einer schmierig belegten Wunde hatte.
Jetzt kam das Regelwerk der diagnostischen Algorithmen in seiner vollen Breite zum Zuge: Einer Blutabnahme für ein umfassendes notfallmäßiges Labor schloss sich eine orientierende Ultraschalluntersuchung des Bauchraums sowie eine ausführliche Röntgendiagnostik der Lunge, des Schädels und der Wirbelsäule an, denn nach dem Sturzereignis aus dem Bett mussten ja knöcherne Verletzungen ausgeschlossen werden. Auch die Halsschlagadern wurden untersucht, wobei sich eine hochgradige Verengung einer der beiden großen Carotiden darstellte. Weil die Laboruntersuchung den Befund einer starken Exsikkose aufgezeigt hatte, wurden in großer Eile ein zentraler Venenkatheter und ein Harnblasenkatheter gelegt. Beim Legen des Harnblasenkatheters kam es zu einer Verletzung der Harnröhre, die durch das ehemals bestrahlte Prostatakarzinom vorbeschädigt war: Dickes Blut quoll jetzt in den Katheterschlauch hinein, während der Patient noch mehr vor Schmerzen schrie. Im Laborprofil waren die Nierenwerte stark erhöht, wahrscheinlich ausgelöst durch die bestehende Exsikkose. In der Ultraschalluntersuchung des Bauchraums waren zudem Gallensteine zur Darstellung gekommen, die Gallenblase war entzündlich verdickt. Bei liegendem Herzschrittmacher war das Herz global vergrößert und im Sinne einer schweren Herzinsuffizienz verbreitert, was die massiven Beinödeme erklärte.
Wohin jetzt mit dem Patienten? In die Innere Medizin zur Behandlung der Herz- und Niereninsuffizienz oder erst in die Neurologie bei angenommenem Apoplex und bei bekanntem Morbus Parkinson und bei bekannter Demenz? Oder gleich in die Chirurgie, da eine akute operationsbedürftige Gallenblasenentzündung im Raume stand? Die im Labor ermittelten massiv erhöhten Entzündungsparameter konnten durchaus für diese Annahme sprechen. Hektische Konsultationen zwischen den diensthabenden Ärzten der verschiedenen Fachdisziplinen. »Nein, eine OP-Indikation bei diesem moribunden Patienten sehen wir nicht. Erst mal Antibiotika und abwarten.« »Nein, auch auf der Neurologischen Station ist kein Platz, bei uns liegen schon zwei Patienten auf dem Gang.«
In den frühen Morgenstunden wird der Patient endlich irgendwo auf irgendeiner Station aufgenommen. Eine übermüdete und späte Nachtschwester misst den Blutdruck, der jetzt wieder eins a ist, und schiebt den Patienten in ein Zimmer hinein. Sie muss aber gleich weiter, da es aus einem anderen Zimmer Alarm läutet. Der Patient liegt im Bett, und er schreit unaufhörlich und unartikuliert weiter. Die ganze Station wird wach. Verschlafene Rufe. Die Schwester kann sich nicht weiterhelfen, sie versucht vergeblich, den diensthabenden Arzt zu erreichen. Schließlich schiebt sie den Patienten in das ganz am Ende der Station liegende Bad und gibt ihm ein Beruhigungsmittel. Bald ist wieder alles ruhig auf der Station. Endlich kann die Nachtschwester eine Zigarette rauchen und ihren Kaffee trinken.
Bei der Übergabe am nächsten Morgen ist der Patient tot. Schon fast kalt. Der diensthabende Arzt füllt die Formalitäten aus und bescheinigt eine natürliche Todesursache.
TEIL I
IT FROM BIT: INNENANSICHTEN DER MODERNEN MEDIZIN
In den folgenden Passagen versuche ich, am Beispiel der modernen Onkologie darzustellen, wie tief die Medizin mittlerweile auf die fundamentalsten Strukturen des Lebens, nämlich auf die Ebene der Gene und Moleküle, vorgedrungen ist. Dort nehmen die meisten Krankheiten, zumal die bösartigen Tumorerkrankungen, ihren Anfang, und dort muss demgemäß auch die Medizin ansetzen, wenn sie erfolgreich sein will. Auf dieser fundamentalen Ebene der Zellen tauschen Millionen von Molekülen Informationen aus. Die Entstehung oder Weitergabe von fehlerhaften Informationen kann zu lebensbedrohlichen und nicht selten sogar zu tödlichen Krankheiten führen. Dies verdeutlicht die Herkulesaufgabe, vor die die moderne Medizin gestellt ist.
Am Beispiel der Antikörpertherapien versuche ich, die gewaltigen Probleme etwas näher und eingehender darzustellen und zu zeigen, dass die Medizin zwar immer wieder vor der Größe dieser Aufgabe kapitulieren muss, dass sie andererseits aber immer erfolgreicher agiert, was fast an ein Wunder grenzt. Viele Menschen, die an einer früher als unheilbar geltenden Tumorkrankheit litten und heute geheilt werden können, geben dafür einen lebendigen Beweis ab. Es ist dabei nicht zu vermeiden, dass ich dem naturwissenschaftlich etwas weniger bewanderten Leser einiges zumuten muss. Die Passagen über die moderne Antikörpertherapie kann der Leser aber überspringen, weil das dem Verständnis dieses Buches keinen Abbruch tut. Ich habe am Ende des nächsten Kapitels die wesentlichen Aussagen noch einmal eher allgemein und, wie ich hoffe, verständlicher zusammengefasst.
Weltweit erkranken jährlich ca. zehn Millionen Menschen an Krebs. Diese Zahl soll bis zum Jahre 2030 auf 26 Millionen ansteigen, die Zahl der krebsbedingten Todesfälle wird für das Jahr 2030 mit ca. 17 Millionen prognostiziert. Bei Neuerkrankungen an Krebs in der Europäischen Union liegt Deutschland sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen über dem Durchschnitt. Die heutigen und noch mehr die zukünftigen Herausforderungen in der Onkologie sind als geradezu titanisch zu bezeichnen: Derzeit liegt die Malignominzidenz bei 560 pro 100 000 Einwohner, d. h., von 100 000 Einwohnern werden 560 im Laufe ihres Lebens mit einer Krebsdiagnose konfrontiert. Bis zum Jahre 2050 ist mit einer Zunahme von ca. 50 Prozent auf ca. 850 pro 100 000 Einwohner zu rechnen. Nach Schätzungen des Robert-Koch-Instituts wird fast jede Minute eine Krebsdiagnose gestellt, d. h. bei ca. 450 000 Menschen jährlich. Am häufigsten trifft es Männer mit einem Prostatakarzinom, bei Frauen steht der Brustkrebs an erster Stelle.1 Immer mehr Patienten überleben ihre Krebserkrankung und müssen danach unter Umständen lebenslang und unter hohem Kostenaufwand nachbetreut und nachbehandelt werden: Eine bisher akut lebensbedrohliche Krebserkrankung entwickelt sich zu einem chronischen Leiden. Die flächendeckende Nachbetreuung von Menschen, die ihre Krebserkrankung überlebt haben, wurde jedoch in der Vergangenheit sträflich vernachlässigt, wie im Februar 2010 auf dem 29. Deutschen Krebskongress in Berlin festgestellt worden ist.
Heute wissen wir, dass der Entwicklung eines bösartigen Tumorwachstums Fehler in der genetischen Programmatik der Zelle zugrunde liegen und dass zum Ausbruch der Krankheit die Akkumulation von mehreren solcher Defekte erforderlich ist. Ein bösartiger Tumor entsteht meistens nicht aus einer einzigen Ursache heraus, sondern aus dem verhängnisvollen Zusammenspiel von mehreren ätiologischen Faktoren. Wir kennen mittlerweile zahlreiche das Tumorwachstum fördernde Gene, sogenannte Proto-Onkogene, und ihre Gegenspieler, d. h. Tumorsuppressor- und Reparaturgene. Diese sind in der Lage, geschädigte Gene wieder zu reparieren. Die Vertreter dieser Genmuster kommen in jeder gesunden Zelle vor, und sie regulieren dort deren Wachstum und Teilung in einem fein aufeinander abgestimmten Zusammenspiel. Gerät diese Balance ins Wanken, so entsteht daraus ein Tumor. In unserem Organismus müssen täglich Abermillionen von neuen Zellen gebildet werden, und die Organe erneuern sich fortwährend. Laufend sterben also Zellen ab und müssen durch neue ersetzt werden: eine ungeheuer komplexe Maschinerie, die das Schwungrad zwischen Absterben und Erneuerung in Gang hält. Jenes fein abgestimmte Gleichgewicht zwischen Zelltod und der Bildung neuer Zellen wird durch Gene kontrolliert. Schon kleinste Irritationen können zur Entstehung bösartiger Tumore beitragen.
Ca. 5 bis 10 Prozent der Krebserkrankungen beruhen auf genetischen Veranlagungen. Für die Krebsentstehung können viele weitere Faktoren verantwortlich sein, beispielsweise Umweltfaktoren oder die Schädigung des Körpers durch karzinogene Substanzen, die im Zigarettenrauch enthalten sind, oder die Einwirkung von hoch energiereichen Strahlen (etwa Radioaktivität), aber auch mit der Nahrung aufgenommene Schadstoffe (Schimmelpilze, Aflatoxine) und zahlreiche andere Faktoren mehr. Krebs stellt eine Erkrankung des Alters dar, weil mit fortschreitender Lebenszeit die Schäden auf dem Genom akkumulieren und weil dann die zelleigenen Reparaturenzyme nicht mehr in der Lage sind, die Vielzahl dieser Schäden vollständig auszumerzen. Aber auch Viren und Bakterien können Krebs auslösen.
Eine neuere Theorie besagt, dass bösartige Tumore sich aus genetisch veränderten Stammzellen entwickeln würden. Wir wissen mittlerweile, dass adulte (erwachsene) Stammzellen in geringer Anzahl in allen Organen vorhanden sind. Dort übernehmen sie die Aufgabe der Regeneration von geschädigtem Gewebe. Wissenschaftler vermuten, dass diese Stammzellen zu Krebsstammzellen entarten könnten. Sie können auch verantwortlich sein für die Wiederkehr eines Tumors (Rezidiv) nach einer scheinbar erfolgreich durchgeführten Krebsbehandlung. Solche Tumorstammzellen wurden mittlerweile im Gewebe von etlichen bösartigen Tumoren nachgewiesen. Weil Krebs auf molekularer Ebene aus einer gestörten genetischen Programmatik heraus entsteht, so verfolgen moderne wissenschaftliche Visionen das Ziel, gezielt und punktgenau in diese gestörte zelluläre Programmatik einzugreifen (target therapies).
Nach langen Jahren, ja Jahrzehnten eines quälenden Stillstandes in der Krebsbehandlung sind mittlerweile echte Erfolge unverkennbar geworden. Der wissenschaftliche Fortschritt hat sich aufgemacht, den Wendekreis des Krebses zu beschreiten, langsam noch und bedächtig. Ehemalige Visionen sind aber schon zu ersten Wirklichkeiten geronnen. In der Onkologie hat sich – von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet – ein Paradigmenwandel vollzogen, der grundsätzlich neue Perspektiven für die Zukunft eröffnen könnte. Diese Perspektiven sind durch eine molekular-biologische Wissensrevolution eröffnet worden. Heute schon und noch mehr in der Zukunft wird eine hoch differenzierte molekulare Diagnostik der genetischen Muster von verschiedenen Tumorentitäten eine verbesserte individuelle Prognoseabschätzung und eine maßgeschneiderte, d. h. personalisierte Tumortherapie ermöglichen.
Bei einigen Tumorarten, beispielsweise dem Mammakarzinom, können heute schon die Erfolge oder Misserfolge einer spezifischen Krebsbehandlung vorhergesagt werden. Angesichts der Vielschichtigkeit von ca. 300 bekannten Krebsarten wurde die Krebsforschung in Deutschland in verschiedenen Netzwerken organisiert und koordiniert, beispielsweise unter dem Dach des Nationalen Genomforschungsnetzes (NGFN). Die in diesem Netzwerk zusammengefassten Krebsprojekte werden von sogenannten Kompetenznetzwerken der Medizin unterstützt. Je mehr die molekularen Details in der Krebsentstehung verstanden werden, umso zielgerichteter und umso effektiver, aber auch umso patientenschonender werden zukünftig neuartige Krebsmedikamente entwickelt werden. Dennoch wird auch zukünftig die Diagnose »Krebs« für viele Patienten eine persönliche Katastrophe bedeuten und wird auch der uralte Sisyphos-Mythos in Zukunft ein Begleiter der Onkologie bleiben.
So mussten Forscher nach der vollständigen Entschlüsselung der Genome von Lungen- und Hauttumoren feststellen, dass das Spektrum der ermittelten Mutationen weitaus größer ausfiel, als man vorher angenommen hatte. Zwar wird es in absehbarer Zukunft möglich sein, das Tumorgenom von einem Patienten in weniger als einer Stunde vollständig und kostengünstig zu sequenzieren. Jedoch zeichnen sich die bösartigen Geschwülste durch eine hochgradige genetische Instabilität aus und bilden von Teilungszyklus zu Teilungszyklus immer neue und immer bösartigere Mutationen innerhalb ihrer Genmuster aus. Unter dem Mikroskop stellt sich Tumorgewebe auch nicht als Verbund von homogenen, gleichförmigen Zellindividuen dar, vielmehr präsentiert sich das Tumorgewebe in großer Variabilität von unterschiedlich ausdifferenzierten Tumorzellen mit unterschiedlichen Mutationsmustern. Es gibt somit nicht »den« Lungenkrebs oder »das« Mammakarzinom, vielmehr Tausende und Abertausende von unterschiedlichen Mammakarzinomen. Daraus werden die Schwierigkeiten deutlich, die der Entwicklung effektiver und zielgerichteter Therapieformen entgegenstehen. Selbst auf vermeintlich maßgeschneiderte Therapien, die ja auf detaillierten Genomanalysen beruhen, werden viele Patienten nicht ansprechen, weil das Tumorgenom zwischenzeitlich neue Genmuster exprimiert hat. Obwohl inzwischen Defekte in mehr als 350 Genen nachgewiesen wurden, die zur Entstehung, zum Wachstum und zur Metastasierung eines Tumors beitragen, so bleibt die genauere Kenntnis ihrer genetischen Ursachen bei vielen Krebsformen auch in absehbarer Zeit weiterhin lückenhaft.
Nach wie vor gebietet die Macht dieser Krankheit Demut. Dazu gehört auch die Feststellung, dass ein Großteil der Krebspatienten derzeit mit Medikamenten behandelt wird, die bei ihnen gar nicht wirksam sein können. Viele dieser Patienten sind hinterher oft kränker als zuvor. Jede Tumorzelle stellt ein genetisches Katastrophengebiet dar, übersät mit Mutationen, die sich nicht nur von Krebsart zu Krebsart unterscheiden, sondern zu allem Überfluss auch noch von Patient zu Patient. Es ist das unüberschaubare komplexe Zusammenspiel von oft Hunderten von Mutationen, welche die Biodynamik des Tumorwachstums und damit auch sein mögliches Ansprechen auf eine spezifische Therapie bestimmen.
Zur Verdeutlichung der Aufgabe, mit der sich die moderne Onkologie konfrontiert sieht, mag das Zwei-Pendel-Problem aus der klassischen deterministischen Physik dienen: Die Ausschläge von zwei frei in allen Richtungen miteinander gekoppelten Pendeln können mathematisch nicht genau definiert bzw. modelliert werden, weil die Bewegungsmuster dieser frei gekoppelten Pendel chaotischen Gesetzen folgen. In der Medizin, und ganz speziell in der Onkologie, hat man es aber sozusagen mit einem Multi-Pendel-Problem zu tun, d. h. mit einem vieldimensionalen und unvorhersehbaren Zusammenwirken von oft unterschiedlichsten Effektoren, wo Hunderte von Genommutationen in komplexer, nicht-linearer Weise miteinander wechselwirken können. Krebs ist und bleibt also reines Chaos auf allen Stufen des Lebendigen, von den Signalwegen auf molekularer Basis bis zur Ebene der Organstrukturen und von dort aus bis zur somatisch-seelisch-geistigen Einheit des betroffenen Menschen. Es existiert also kein »Hauptschalter« für Krebs, vielmehr beruhen Krebsentstehung und Krebsentwicklung auf einer großen Anzahl von miteinander in Wechselwirkung stehenden zellulären und subzellulären Prozessen.
Bahnbrechende Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der molekularen Onkologie wurde von dem Onkologen Bert Vogelstein vom Johns Hopkins Kimmel Cancer Center (Baltimore/USA) geleistet. Er gilt als der am meisten zitierte Autor der biomedizinischen Wissenschaften und entdeckte beispielsweise, wie sequenzielle Ansammlungen von Genmutationen zu Darmkrebs führen können. Tumoren des Dickdarms eignen sich nämlich besonders gut für wissenschaftliche Analysen, weil sich ihre Entwicklung aus gutartigen Vorstufen zum malignen Tumor durch Darmspiegelungen und durch wiederholte Gewebsentnahmen besonders gut beobachten lässt.
Vogelstein beobachtete, dass der Anfang eines Dickdarmkrebses seinen Ausgang von atypischen Zellen nimmt, die durch die Mutation eines speziellen Tumorsuppressorgens, nämlich des sogenannten APC-Gens, gebildet werden. In den nächsten Schritten der Tumorgenese kommt es zu weiteren genetischen Veränderungen. Die Tumorsuppressorgene werden im Rahmen dieses Prozesses schrittweise deaktiviert, die stimulierenden Tumorwachstumsgene (Onkogene) hingegen aktiviert. Jede neue Stufe von genetischen Veränderungen ist mit einem weiteren Wachstumsschub des Tumors assoziiert. Auf diese Weise können 17 Jahre von der Bildung eines kleinen, anfänglich noch gutartigen Polypen bis zum klinisch manifesten Karzinom ins Land gehen. Diese Beobachtungen von Bert Vogelstein über die sequenzielle Anhäufung verursachender Mutationen haben zu einem vertieften Verständnis der Tumorbildung und des Tumorwachstums beigetragen. Sie stellen eine entscheidende Grundlage für die frühe Diagnose, Prävention und Behandlung des Darmkrebses dar. Es gelang ihm auch, das Genom, d. h. alle Gene einer Tumorzelle, zu analysieren.2
Eine aufregende und sich aus den Forschungsergebnissen von Vogelstein ableitende und zukunftsweisende Methode könnte das Verfahren der liquid biopsy darstellen. Hierzu wird nur eine Blutprobe benötigt, welche eine detaillierte Genomanalyse inklusive der für eine Krebserkrankung verantwortlichen Gene liefert. Eine keineswegs risikolose, d. h. invasive Gewinnung von Gewebeproben durch Punktion eines Tumors könnte zukünftig nicht mehr erforderlich sein. Aus dem zellfreien Anteil des Blutes, dem Plasma, wird das Erbgut isoliert und analysiert. Weil absterbende Tumorzellen ihr Erbgut in die Blutbahn abgeben, können mit speziellen Computeralgorithmen Charakteristika dieses Tumorgenoms rekonstruiert werden. So könnten in Zukunft bösartige Tumore in ihren frühesten, oft nur millimetergroßen Anfangsstadien durch eine einfache Blutentnahme erkannt werden, weit bevor sie durch die modernsten bildgebenden Verfahren, wie mittels Kernspin- oder Positionen-Emissions-Tomographie (PET), nachgewiesen werden können. Die Prognose einer Tumorerkrankung hängt aber nun einmal ganz entscheidend von der Frühzeitigkeit der Diagnose sowie der Größe und Ausdehnung des Tumors bei der Diagnosestellung ab. Lange bevor solche Tumore durch klinische Hinweissymptome auf sich aufmerksam machen, könnten sie zukünftig entdeckt und noch rechtzeitig entfernt werden, bevor sie Metastasen gebildet haben.
Die Suche nach überlebenden Krebszellen, die nach einer scheinbar folgreichen Therapie weiterhin im Körper zirkulieren, stellen Gegenstand eines derzeit laufenden aufwändigen Forschungsvorhabens dar. Unter der Leitung von Klaus Pantel vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) sind in der europaweiten Initiative ERA-Net Zentren in Frankreich, Österreich, Griechenland und Polen vernetzt. Das Ziel dieses Forschungsvorhabens besteht darin, anhand eines einfachen Bluttests feststellen zu können, ob beispielsweise die Behandlung eines Prostatakarzinoms erfolgreich war, ob sich die Zahl der im Blut zirkulierenden Tumorzellen durch die Therapie vermindert hat bzw. ob diese zirkulierenden Krebszellen zur Bildung von Metastasen neigen. Die Medizin war lange Zeit davon ausgegangen, dass Metastasen die gleichen Verhaltensmuster zeigen würden wie die Zellen des ursprünglichen Tumors. Es ist gar nicht so selten, dass in großen Zeiträumen nach einer Tumorbehandlung, d. h. nach Ablauf von zehn Jahren und mehr, Metastasen auftreten können. Sie werden verursacht durch schlafende Tumorzellen, die über viele Jahre, ja Jahrzehnte im Blut zirkulierten. Das Forschungsvorhaben versucht die Frage zu beantworten, welche Ursachen und Mechanismen der Metastasenbildung durch diese zirkulierenden Tumorzellen zugrunde liegen. Mit der Methode der liquid biopsy könnten beispielsweise auch frühzeitig Resistenzen gegen eine laufende Tumortherapie erkannt werden, sodass die Ärzte dann in die Lage versetzt wären, rechtzeitig ihre Therapie umzustellen.
Die von der Arbeitsgruppe um Bert Vogelstein aus Baltimore gewonnenen Erkenntnisse gaben auch den Anstoß für ein internationales Mammutforschungsvorhaben, das sich zum Ziel gesetzt hat, alle Genveränderungen innerhalb der bekannten Tumorarten zu dechiffrieren: The Cancer Genome Atlas (TCGA) wurde 2005 aus der Taufe gehoben. Mittlerweile haben die Wissenschaftler mehr als 400 000 genetische Defekte nachweisen können – eine erschreckend hohe Zahl, die geradezu mutlos machen und alle Hoffnungen auf einen Durchbruch in der Krebsbehandlung ad absurdum führen könnte. Zum Glück weiß man aber, dass das eigentliche Krebsgeschehen »nur« durch ca. 140 mutierte Gene (driver genes) gesteuert wird, die für die Aggressivität eines bösartigen Tumors verantwortlich sind. Aber auch in dieser vergleichsweise geringen Anzahl von wirklich ursächlich beteiligten Genen zeigen sich teilweise extrem stark variierende Mutationsmuster, die in komplexen Wechselwirkungen miteinander stehen. Krebs ist und bleibt somit reines Chaos auf allen Stufen des Lebendigen – von den Signalwegen auf molekularer Basis bis zur Ebene der Organstrukturen und noch weiter zum ganzen betroffenen Menschen.
Der Blick auf die molekulare Ebene lässt eine erste Ahnung von der Komplexität des Krankheitsgeschehens und der durch sie gestellten Aufgabe aufkommen. Hier und nur hier, auf der Ebene der molekularen Maschinerie, kann eine kausale und damit auch eine wirksame Therapie ansetzen. Der Zeitgeist macht es sich dagegen vielerorts leicht, wenn in immer neuen Büchern – wider alle empirische Erkenntnis und Vernunft – behauptet wird, Krebs sei eine ausschließlich psychische Erkrankung und man müsse nur die Psyche heilen, dann sei auch schon der Krebs besiegt. Wenn es nur so leicht wäre! Nein, Krebs ist Chaos, das aus den fundamentalen Tiefen der Lebensnetzwerke aufbricht und wie die Schockwelle eines Tsunamis über den Organismus hereinbricht, alles in seinen Strudel ziehend, die Organe, den ganzen Körper mitsamt Seele und Geist. Krebs ist das Andere, das schreckliche Zauberwesen, das um sein Höllenfeuer einen rasenden Tanz vollführt und das Schicksal beschwört, dessen Namen niemand kennen darf.
So schrieb die an Brustkrebs verstorbene ehemalige DDR-Schriftstellerin Maxie Wander: »An Krebs zu denken ist, als wäre man mit einem Mörder in einem dunklen Zimmer eingesperrt. Man weiß nie, wo, wie und ob er angreift.«3
Wie ich zu zeigen versuchte, hat sich in der Onkologie ein grundsätzlicher Paradigmenwandel vollzogen, der durchaus als epochal bezeichnet werden kann. Aufgrund eines rasanten Wissenszuwachses in der Molekularbiologie und Genforschung ist es zumindest in ersten Etappen möglich geworden, den Ausgangspunkt des Krebsgeschehens auf seiner grundlegendsten Stufe, nämlich auf den molekularen Ebenen der Genmaschinerie und in den zellulären Informationsnetzen, zu orten und auf der Basis eines so gewonnenen molekularen Imagings erste erfolgversprechende therapeutische Strategien mit zielgerichteten, d. h. patientenspezifischen molekularen Effektoren (targets) zu entwickeln. Die bisherigen konventionellen und strahlentherapeutischen Behandlungskonzepte funktionierten dagegen nach dem Gießkannenprinzip: Sie stellten unpräzise Schüsse ins Dunkle dar und waren oft mit schweren Nebenwirkungen behaftet.
Heute ist es beispielsweise möglich geworden, punktgenaue Strahlendosen auf das Innere eines Tumors zu richten. Mit dieser Strahlentechnik wird hoch selektiv nur das erkrankte Gewebe zerstört, ohne das umliegende gesunde Gewebe zu schädigen. Mit der energiereichen Ionenstrahlentherapie konnten bisher als unzugänglich geltende Tumoren wie zum Beispiel bestimmte hirneigene Geschwülste selektiv erfolgreich behandelt werden. Ein entscheidender Schlüssel für die Erfolge in der Onkologie dürfte auch in einer zunehmenden interdisziplinären Vernetzung liegen. Die moderne Medizin basiert nämlich auf der engen Verzahnung von unterschiedlichen medizinischen und nichtmedizinischen Disziplinen wie z. B. der Biologie, der Physik oder der Informationstechnologie. Innerhalb dieser neuen Konzeptionen könnten individualisierte Therapieansätze mit monoklonalen Antikörpern eine zusätzliche und zukunftsweisende Schlüsselrolle einnehmen: Monoklonale Antikörper als Bestandteile der körpereigenen Immunabwehr können spezifische Strukturen (Antigene) auf der Oberfläche von Tumorzellen erkennen und daran andocken. Das Schloss in das Innere der Zelle ist damit entriegelt. Jetzt können zerstörerische Informationen und Zytostatika in das Zellinnere eingeschleust werden. Die Informationsflüsse innerhalb der Tumorzelle und die in der Zelle gespeicherten Datensätze werden zerstört, und somit wird die gesamte Zellprogrammatik zum Absturz gebracht. Antikörper können auch Oberflächenstrukturen von Tumorzellen markieren und diese für bestimmte Abwehrzellen (Killerzellen) sicht- und angreifbar machen.
Der Einsatz von monoklonalen Antikörpern stellt ein Paradebeispiel für eine antigenspezifische Immuntherapie bei malignen Erkrankungen dar. Der Stellenwert dieser neuen therapeutischen Ansätze wurde beispielsweise nach Einführung der Substanzen Rituximab (1998) bei B-Zell-Lymphomen und Trastuzumab (2000) bei HER2/ERBB2-positiven Mammakarzinomen bestätigt, also bei Brustkrebsarten, welche spezifische Rezeptoren, d. h. Erkennungsmoleküle, auf ihrer Oberfläche tragen.
Die moderne Krebsbehandlung ist durchaus mit einer Art von Informationstechnologie zu vergleichen, welche die Entzifferung von unter Tarnnetzen verborgenen Informationen der Tumorzelle zum Gegenstand hat. Moderne Onkologie heißt deshalb: Lesen in den strategischen Konzepten einer Tumorzelle oder eines Tumorzellverbandes, um daraus Rückschlüsse für das eigene strategische Vorgehen ableiten zu können. Hierzu ist ein Höchstmaß an wissenschaftlicher Kreativität und Einfühlungsvermögen in das kaum abschätzbare Verhalten und die Überlebensstrategie eines fast übermächtigen Gegners erforderlich, um wirksame Gegenmaßnahmen entwickeln zu können.
Wenn beispielsweise Bayern München gegen Barcelona oder Borussia Dortmund gegen Madrid in der Champions League antreten muss, wie es im Frühjahr 2013 der Fall war, so werden schon lange vor diesen entscheidenden Begegnungen Beobachter zu den Spielen der Gegner entsandt, welche dort jeden einzelnen Spieler, dessen Stärken und Schwächen unter die Lupe nehmen und vor allem die taktische Vorgehensweise der gegnerischen Mannschaften in den verschiedensten Spielsituationen analysieren. Die entscheidenden Trainingseinheiten, in denen die abschließende Taktik vor einem entscheidenden Spiel eingeübt wird, finden aber unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Bisweilen mag der Gegner aufgrund der überragenden Klasse seiner Spieler als unbezwingbar erscheinen. Nicht selten entscheidet über den Ausgang eines solchen Spiels aber auch ein zwar geringes, aber letztendlich entscheidendes Mehr an Wissen, das man sich über den Gegner verschafft hat.
Das derzeit noch unvollständige, jedoch stetig zunehmende Wissen über die Oberflächeneigenschaften einer Tumorzelle, über die spezifischen Muster der Oberflächenrezeptoren, die als Erkennungsmoleküle und sekundäre Türöffner in das Zellinnere dienen, oder das zunehmende Wissen über die komplexen Verschaltungen und Signalübertragungswege im Inneren einer Tumorzelle erlauben es heute schon, im tödlichen Spiel mit dem Tumor eine Raum- oder Manndeckung dort zu platzieren, wo die Stars dieser gegnerischen Mannschaft agieren, und ihnen so die Möglichkeiten zu ihrer Entfaltung zu nehmen. Mittlerweile hat sich eine ganze Reihe von monoklonalen Antikörpern als wirksame Manndecker in dem tödlichen Spiel gegen das Krebsgeschehen bewährt. Einige von ihnen unterbrechen gezielt die durch Proteine bzw. Enzyme vermittelten Informationsflüsse im Zellinneren und blockieren die speziellen Signalgeber für das Teilungsverhalten oder für die Lebenszyklen der Tumorzellen.
Wie schon beschrieben, besteht ein Kennzeichen von bösartigen Tumoren darin, dass die Kontrolle über Zellteilungs- und Wachstumsprozesse aus der Balance geraten ist. Hierbei spielen die Wachstumsfaktoren, spezielle Botenstoffe, eine wichtige Rolle. Denn an den Oberflächen von Krebszellen finden sich besonders viele Rezeptoren, an denen diese Wachstumsfaktoren andocken und so die Tumorzelle zu einem beschleunigten Wachstum anregen können. So lässt sich beispielsweise auf bestimmten Brustkrebszellen eine besonders hohe Anzahl von Wachstumsrezeptoren nachweisen (HER2- oder EGF-Rezeptoren). Die Identifizierung der chemischen Struktur dieser Rezeptoren ermöglichte die Entwicklung von monoklonalen Antikörpern, so zum Beispiel Trastuzumab (bekannt unter dem Handelsnamen Herceptin), welche an diese Wachstumsrezeptoren andocken und so die Signalkette zu einem beschleunigten Zellwachstum blockieren. Ein schnell wachsender bösartiger Tumor benötigt große Mengen an Energie. Um einen ausreichenden Nachschub an Nährstoffen zu gewährleisten, bauen bösartige Tumore ein eigenes dichtes Netzwerk an Blutgefäßen zu ihrer Ernährung auf. Weitere moderne Antikörper verfolgen deswegen das Ziel, die Neubildung von solchen Blutgefäßen (Tumorangiogenese) zu verhindern und so einen bösartigen Tumor vom Nachschub von Nährstoffen abzuschneiden und ihn von innen heraus »verhungern« zu lassen. Dies stellt das Wirkprinzip eines aus vielen Medienberichten heraus bekannten Wirkstoffes, nämlich von Bevacizumab (bekannt als Avastin) dar. Von zunehmendem Interesse könnten auch weitere Wirkstoffe sein, welche in der Lage sein sollen, den programmierten Zelltod (Apoptose) einer Tumorzelle einzuleiten. Andere therapeutische Ansätze verfolgen das Ziel, mit hochwirksamen Zellgiften belastende Bakterien oder Viren in das Innere einer Tumorzelle einzuschleusen.
Eine vorsichtige Zwischenbilanz zeigt auf, dass Etappenerfolge in der modernen Krebsbehandlung mittlerweile unverkennbar geworden sind. Diese Erfolge verdanken sich in erster Linie einem gewaltigen Wissenszuwachs in der Genforschung, in der Molekularbiologie und in den sich daraus ableitenden zielgerichteten bzw. individualisierten therapeutischen Ansätzen. Es kann heute als gesichert gelten, dass die Krebsentstehung durch fehlerhafte Informationen in den genetischen Programmen der Zelle und auf den regulierten Signalwegen der Zelle basiert. Im Rahmen eines fortschreitenden Tumorwachstums werden immer weitere Kaskaden von Fehlprogrammierungen generiert, die schließlich im Stadium der Metastasierung – d. h., wenn die Datensätze der Lebensprogramme abgestürzt sind – zum Tode des Individuums führen. Die Medizin ist somit heute schon und wird noch mehr in Zukunft eine Medizin der Information sein.
Die modernen therapeutischen Ansatzpunkte verfolgen deswegen das Ziel, durch Blockade spezieller Signalwege auf molekularer und zellulärer Basis entweder die fehlerhaften Programme auszulöschen oder eine Weitergabe dieser fehlerhaften Informationen in den entscheidenden Relais der zellulären Schnittstellen zu unterbinden. Unter einem gewaltigen Einsatz von Forschergeist und finanziellen Ressourcen konnten bei einigen dieser bislang als tödlich geltenden Erkrankungen mittlerweile immerhin durchaus beachtliche Etappensiege registriert werden. Dies lässt hoffen für die Zukunft.
Viele Probleme bleiben aber weiterhin ungelöst. Man musste in ersten Ansätzen erkennen, dass beispielsweise Tumorstammzellen die Fähigkeit zur Selbsterneuerung besitzen. Deren Anzahl korreliert aber mit der schlechten Prognose der Patienten, denn sie sind für die Progression eines Tumorleidens verantwortlich. Tumorstammzellen können sogar die aggressivsten bislang bekannten Chemotherapien überleben und auch nach einer anscheinend erfolgreichen Therapie neue und noch resistentere Tumorzellen ausbilden. Die Probleme, die sich in diesem Zusammenhang stellen, sind also nach wie vor gewaltig: Wie könnte man diese Tumorstammzellen besser erkennen? Wie könnte man deren Resistenzfähigkeit durchbrechen? Wie könnte man sie möglicherweise sogar zum Absterben bringen?
Ein weiteres, schier unlösbares Problem erschließt sich aus der fast unübersehbaren Anzahl von Abertausenden von Mutationen, welche die zahllosen variierenden Eigenschaften von Tumorzellen ausprägen. Tumorzellen ändern ihre biologischen und biochemischen Charakteristika mit fortschreitendem Wachstum wie ein Chamäleon. Sie wissen sich aber ungemein wirksam zu tarnen.
Mit einer solchen Herkulesaufgabe sieht sich die moderne Medizin konfrontiert. Man kann es also nur als Wunder bezeichnen, wenn diese Medizin erste, jedoch unverkennbare Erfolge gegen diesen anscheinend übermächtigen Feind für sich verbuchen kann. Die moderne Medizin schenkt Leben durch Wissenserwerb und Wissenszuwachs. Information schenkt Leben. Medizin ist Erwerb von Information und Umsetzung von Information in einem Beziehungsgeflecht, das wir mit gutem Recht als Heilen auf moderner Basis bezeichnen dürfen.
Dies sei vorausgeschickt, bevor wir die andere Seite dieser Medizin betrachten wollen, jene Seite der medizinischen Technokratie, der Shareholder-Gier und der Gesundheitsfabriken, jene eher dunkle Seite der Medizin. Aber beide Seiten gehören nun einmal zusammen und können nicht isoliert voneinander betrachtet und beurteilt werden. Denn an den Erfolgen dieser wissenschaftlichen und oft verächtlich als »Apparatemedizin« apostrophierten Medizin muss sich alles andere, was sich als Heilwesen gefallen will, messen lassen.