Martina Wildner, geboren 1968 im Allgäu. Nach einigen Semestern Islamwissenschaften studierte sie an der Fachhochschule Nürnberg Grafikdesign. Sie lebt als freie Autorin mit ihrer Familie in Berlin. Bei Beltz & Gelberg erschienen von ihr unter anderem die Romane Jede Menge Sternschnuppen (Peter-Härtling-Preis), Das schaurige Haus (nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis), Königin des Sprungturms (Deutscher Jugendliteraturpreis) und Finsterer Sommer.
Grundsätzlich war unsere Aussicht vom Balkon beinahe phänomenal. An schönen Tagen konnte man bis zum Erzgebirge sehen, doch heute ließ eine fahle Nebelsuppe gerade noch das Nachbarhochhaus und den leeren Acker daneben erkennen.
Am Türrahmen zwischen Wohnzimmer und Flur lehnend, sah ich meinen kleinen Bruder Eddi bäuchlings auf dem Balkon liegen. Konzentriert spähte er durch den Spalt, den der Balkonboden und die metallene Balkonbrüstung bildeten. Ab und zu schlug er mit dem linken Fuß an die Brüstung, was ein leicht hallendes Dröhnen erzeugte. Kurz nach dem Dröhnen flog ein schwarzer Vogel über das Nachbarhochhaus hinweg in den grauen Himmel.
Was dieses Dröhnen mit dem Auffliegen eines Vogels zu tun hatte, war mir nicht ganz klar, doch jetzt schlug Eddi ganz oft mit dem Fuß an die Brüstung und daraufhin flogen viele schwarze Vögel über den Himmel. Fast der ganze Schwarm, der sich auf dem leeren Acker niedergelassen hatte, erhob sich.
Ich wusste nicht, ob es sich dabei um Krähen oder Raben handelte; den Unterschied kannte ich da noch nicht. Auch wusste ich nicht, dass es verschiedene Krähenarten gab, Aaskrähen und Saatkrähen zum Beispiel. Gar nichts wusste ich über diese Tiere. Ich wusste nur eines: Es war nicht gut, wenn sich Eddi allzu intensiv mit einer Tierart beschäftigte, wie zum Beispiel vor einem Dreivierteljahr, als er plötzlich mit Nacktschnecken kommunizieren konnte.
»Was macht Eddi da eigentlich?«, rief Mama aus der Küche. Sie bestückte gerade das neue Gewürzgläschenregal, das die Einrichtung unserer Küche, ja unserer ganzen Wohnung, komplettieren sollte. Von meinem Standort konnte ich auch sie sehen.
»Er haut mit dem Fuß an die Brüstung vom Balkon«, antwortete ich.
»Und warum tut er das?« Mama stellte ein weiteres Gewürzgläschen ins Regal und ging an mir vorbei ins Wohnzimmer, um nach Eddi zu sehen. Ich folgte ihr.
»Oje, oje«, rief Mama. »Er hat ja nur den dünnen Pulli an. Bei der Kälte! Und die Nachbarn werden sich beschweren!«
»Den Pulli sehen die Nachbarn doch gar nicht«, sagte ich.
»Ich meine nicht den Pulli, sondern den Lärm!« Mama runzelte die Stirn, als wollte sie noch etwas sagen, vielleicht über die Kälte, vielleicht über das Dröhnen, aber das tat sie nicht, sondern sie sagte: »Ida hat übrigens geschrieben.«
»Wie?«, fragte ich verwirrt.
Mama antwortete ebenso verwirrt: »Mit der Hand. Einen Brief.« Sie hielt mir einen blassgelben Umschlag hin. Blümchen waren daraufgemalt.
Mit dem Wort »Ida« war die Welt auf einen Schlag anders und mir fiel alles wieder ein. Unser Umzug in dieses kleine Dorf im Allgäu, das Haus, das wir bewohnt hatten, der schreckliche Spuk, in den wir dadurch auf einmal verwickelt waren, Ida, die uns bei der Aufklärung der gruseligen Geschichte geholfen hatte, und der Rückzug nach nicht mal einem ganzen Jahr hierher, nach C., also nach Chemnitz.
Ich hatte wirklich viel Mühe darauf verwendet, Ida einigermaßen zu vergessen, und ich glaube, sie umgekehrt auch. Nur ab und zu hatte sie mir übers Handy Neuigkeiten aus der Schule zukommen lassen, Tratsch aus der Klasse oder alberne Filmchen, doch Persönliches hatte sie nie geschrieben. Ich hatte dann bloß kurz geantwortet, aber selten etwas aus der Schule – Ida hätte ohnehin keinen gekannt. Es gab auch kaum Erzählenswertes. Meine alten Freunde waren schlimm im Stimmbruch, und ihr Wortschatz bestand aus allenfalls noch drei Wörtern, nämlich »Ey!«, »Digga!« und »Fail!«.
Dabei hatten sich meine Eltern wirklich um eine gute Wiederankunft bemüht und dafür gesorgt, dass ich wieder in dieselbe Schule kam, ja sogar in dieselbe Klasse. Dennoch hatten mich alle hier vergessen. Natürlich wussten sie, wie ich heiße, sogar meinen Geburtstag hatten die meisten noch im Kopf. Doch sie konnten nichts mehr mit mir anfangen. Was ich nicht wahrhaben wollte, war, dass auch ich nichts mehr mit ihnen anfangen konnte.
Aber auch die Lehrer machten komische Bemerkungen. Sie nannten mich »weit gereist« oder »Heimkehrer« oder wollten wissen, ob ich jetzt Schuhplattln könne. Keiner glaubte mir, dass man in Bayern ganz normal in Jeans und Kapuzenpulli in die Schule ging und nicht in der Lederhose. Innerhalb weniger Tage war ich »der Sepp«.
»Das ist doch süß von Ida, oder? Ein echter Papierbrief!«, sagte Mama und riss mich aus meinen Gedanken. »Ihr seid doch immer so gut ausgekommen!«
Ich sagte lieber nichts.
Mama saß den ganzen Vormittag über in der Wohnung, um die Antworten auf ihre Bewerbungsschreiben zu lesen und zu sortieren. Oft hatte sie schlechte Laune und steckte ihre Nase in Dinge, die sie nichts angingen. Der Briefumschlag, fiel mir auf, hatte eine ähnliche Farbe wie Idas Haar.
Doch dann zögerte Mama. »Hm«, machte sie und betrachtete noch mal kurz den Umschlag. »Aber sie schreibt gar nicht dir, sondern Eddi.«
»Wieso Eddi?«, fragte ich. Eddi ging gerade mal in die erste Klasse. Er hatte blitzschnell lesen gelernt, aber musste man ihm deswegen gleich einen Brief schreiben?
»Das weiß ich auch nicht«, sagte Mama, schüttelte kurz den Kopf und verschwand dann wieder in der Küche, um sich ihren Gewürzgläschen zu widmen.
Ich schaute hinaus. Der Tag war auf einmal noch grauer geworden, und mich ärgerte, wie Eddi da lag. Mich ärgerte, wie er mit dem Bein an die Brüstung schlug, mich ärgerte das Geräusch, das er dadurch erzeugte, mich ärgerte sogar der Vogel, der da aufflog. Aber am meisten ärgerte mich, dass Eddi einen Brief von Ida bekommen hatte.
Jetzt lag er auf einmal ganz still. Ich ging zur Balkontür, öffnete sie und sagte: »He, Eddi, Ida hat dir geschrieben!«
Eddi rührte sich nicht. Ich wollte schon wiederholen, was ich gesagt hatte, als er mit dem rechten Fuß dreimal hintereinander an die Balkonbrüstung klopfte.
»Hä?«, fragte er und hob seinen Kopf. Sein Gesicht sah ganz verschoben aus. Drei Vögel flogen nach rechts davon.
»Du hast einen Brief bekommen.«
»Echt jetzt?«
Ich fletschte die Zähne. Das hatte er sich von Monique abgeguckt, ein Mädchen aus dem Nachbarhochhaus, das mit ihm in die Klasse ging: bei jeder Gelegenheit »Echt jetzt?« zu sagen und dabei so zu klingen, als hielte man das, was der andere sagte, für eine Mischung aus wenig überraschend, lästig und sinnlos, wenn nicht gar für völlig bekloppt.
»Na, dann les ich halt Idas Brief«, sagte ich.
»Ida hat geschrieben? Warum sagst du das denn nicht gleich?«
»Das habe ich gleich zu Anfang gesagt«, erklärte ich.
»Echt jetzt?«
»Also, was ist?«, presste ich hervor. Allein sein Tonfall machte mich wahnsinnig. »Komm her oder ich mach ihn auf.«
»Du hast hier überhaupt nicht zu bestimmen, wann ich meine Briefe lese«, entgegnete Eddi sehr sachlich.
Ich sagte nichts. Eddi hatte recht. Immer hatte er recht. Und er hatte nicht nur immer recht, er hatte auch noch geerbt. Was ich sehr ungerecht fand. Genauso gut hätte auch ich das Haus im Allgäu geerbt haben können, denn ich hatte genauso viel dazu beigetragen, hinter das Rätsel dieses eigenartigen Spukhauses zu kommen. Gut dreißig Jahre zuvor waren dort zwei Brüder in unserem Alter ums Leben gekommen. Wir hatten herausgefunden, dass ihre Mutter, die seit damals alle verdächtigt hatten, in Wirklichkeit nicht am Tod ihrer Kinder schuld war. Zum Dank hatte sie Eddi das Haus vererbt.
Eddi kam jetzt herein. »Wo ist der Brief?«
»Hier«, sagte ich und gab ihm den Umschlag. Es waren Blumen draufgemalt. Ich war wirklich wütend. Eddi hatte den Brief überhaupt nicht verdient.
Er nahm den Umschlag und zog sich damit hocherhobenen Hauptes in sein Zimmer zurück. Ich ging in meines und setzte mich an den Schreibtisch, um Hausaufgaben zu machen.
Kaum hatte ich mein Mathebuch herausgeholt und mein Heft aufgeschlagen, klopfte es an der Tür. Eddi trat mit dem Brief in der Hand ein.
»Ich kann das nicht lesen«, sagte er verzweifelt.
Ehrlich gesagt hatte ich das gehofft. Ich nahm den Brief, warf einen Blick drauf und sagte: »Na ja, auch die Lehrer können Idas Schrift oft nicht entziffern.«
»Aber du doch?«, fragte Eddi.
»Natürlich«, sagte ich so gleichgültig wie möglich und wandte mich wieder meinem Mathebuch zu.
Eddi wedelte mit dem Briefbogen. »Kannst du ihn mir vielleicht vorlesen?«
»Vielleicht. Später.«
»Ach bitte. Jetzt.«
»Na gut.« Ich seufzte schwer, nahm gnädig den Brief entgegen und las ihn vor.
Lieber Eddi!
Ich hoffe, es geht dir gut. Mir schon, das heißt, so halb, denn ich habe ein Problem. Es ist da eine eigenartige Sache, die so eigenartig ist, dass ich dir, Eddi, schreibe, weil du ja sozusagen der Spezialist für eigenartige Sachen bist.
Lass dir den Brief am besten von Hendrik vorlesen, wenn du meine Sauklaue nicht entziffern kannst. Jetzt an dich, Hendrik: Sei nicht böse! Es ist einfach besser, direkt an ein Medium zu schreiben, um die Botschaft möglichst unverfälscht und ungefiltert bei Eddi ankommen zu lassen, falls du verstehst, was ich meine. Doch nun zu dem Fall.
Es geht um meine Oma, eine Krähe und um einen See. Meine Oma ist die Mutter meiner Mutter. Sie war immer lustig und gesellig. Aber seit einiger Zeit ist sie das nicht mehr. Und jetzt kommt der See ins Spiel. Meine Oma wohnt in einem kleinen Dorf direkt am Forggensee. Dieser See ist sehr schön und im Sommer baden wir da oft. Meine Oma ist nie mitgegangen und sagte immer nur: »Ich bin eine alte Frau.« Aber sooo alt ist sie nun auch wieder nicht und auch alte Frauen können schwimmen gehen.
Seit einiger Zeit nun geht meine Oma doch zum Baden. Das müsste nicht merkwürdig sein, schließlich kann man ja auch als alte Frau seine Gewohnheiten noch ändern. Es ist jedoch trotzdem merkwürdig, denn sie badet nicht an der normalen Badestelle, sondern fährt zu einer anderen, die ein paar Kilometer entfernt ist. Wir haben sie gefragt, warum sie ausgerechnet dort bade, da sagte sie, das sei wegen der Krähe. Das hat niemand richtig verstanden, aber wir haben nichts gesagt, weil, wie gesagt, zu baden ist ja an sich nicht schlecht, und man kann ja schließlich baden, wo man will. Das mit der Krähe haben wir nicht ernst genommen. Doch meine Oma badet auch jetzt noch, bei 10 °C. Meine Mutter hat mich mal hingeschickt, um nach Oma zu schauen. Da hab ich sie im See schwimmen sehen und über ihr flatterte eine Krähe herum. Die Oma hat immer wieder zu ihr hochgeschaut. Das hab ich dann meiner Mutter erzählt, doch vielleicht hätte ich das nicht tun sollen. Sie hat darauf bloß gesagt: »Jetzt redet sie schon mit Vögeln.« Dann hat sie gemeint, die Baderei sei gar nicht gut und die Oma werde allmählich wunderlich.
Letzte Woche war ich dann bei meiner Oma; sie kam mir überhaupt nicht wunderlich vor, aber sie war eben stiller als sonst, und dann hab ich gesehen, wie sie mit einer Krähe auf dem Schuppendach geredet hat. Davon hab ich lieber niemandem mehr erzählt.
Die Oma hat darauf vor drei Tagen verkündet, sie wolle den Hof verkaufen. Meine Mutter ist total wütend geworden und sagte, die Oma sei verrückt geworden oder habe Alzheimer. Sie will, dass die Oma ab jetzt eine Pflegerin bekommt und jemanden, der sich um den Besitz kümmert. Ich finde das mit der Krähe ja auch komisch, aber verrückt kommt mir Oma nicht vor und ganz bestimmt hat sie keinen Alzheimer. Jedenfalls ist ein Riesenstreit in der Familie ausgebrochen wegen der Oma, der Baderei im See, der Krähe und dem Hof, denn meine Mutter will auf keinen Fall, dass die Oma ihn verkauft.
So ist die Lage. Ich weiß nur, dass mit den Krähen, die da plötzlich auftauchen, irgendetwas nicht in Ordnung ist. Leider habe ich für diese Art von Dingen keinerlei Begabung. Aber du doch, Eddi, oder?
Deine Ida
PS: Antworte bitte – falls du antwortest – nicht per Handy und nicht per Mail!
Ich wunderte mich über Idas letzte Anweisung und legte den Brief beiseite. Seit das Wort »Krähe« gefallen war, hatte Eddi einen etwas glasigen Blick.
»Also mir fällt dazu gar nichts ein«, erklärte er. Seine Stimme klang teigig, so, als wäre seine Zunge zu dick. »Auf dem Feld da unten sind nämlich auch jede Menge andere Vögel: Spatzen, Amseln, Rotkehlchen, Blaumeisen und … Bussarde. Tauben gibt es auch …«
Eddi starrte mit seinem glasigen Blick aus dem Fenster. Da bahnte sich was an, das spürte ich ganz deutlich.
Das Telefon klingelte.
»Ich geh schon ran!«, rief Mama. Sicher wartete sie auf den Anruf eines möglichen Arbeitgebers, doch nachdem sie ihren Namen gesagt hatte, blieb sie ziemlich stumm. Nur ab und zu stotterte sie: »Aber Frau …«, woraufhin sie von der Anruferin sogleich wieder unterbrochen wurde.
Nur zum Schluss des Telefonats brachte sie einen vollständigen Satz zustande, und der lautete: »Ja, dann zeigen Sie uns eben an!«
Damit warf sie das Telefon auf das neue Sofa. Das Telefon hüpfte dreimal, dann rutschte es unter ein Kissen.
»Wer war das denn?«, fragte ich neugierig.
»Das war die Seelos«, flüsterte mir Eddi zu. Er war anscheinend in Hellseherlaune.
Ach je, dachte ich. Die Familie Seelos, unsere Nachbarn im Allgäu.
»So eine selbstgerechte, verlogene Schlange!«, schimpfte Mama.
»Weswegen ruft sie an?«
Mama seufzte und ließ sich auf das neue Sofa fallen. Auch sie federte ein bisschen. Das Telefon kam unter dem Kissen wieder zum Vorschein; sie nahm es und legte es auf den Tisch.
»Davids Meerschweinchen ist tot und wir sind schuld. Das sagt sie, kurz in acht Wörtern zusammengefasst.«
»Aha«, sagte ich.
»Oh, David hat ein Meerschweinchen!«, sagte Eddi.
»Hatte«, korrigierte ich.
»Es wurde zerfleischt«, erläuterte Mama.
»Von uns?«, fragte ich.
Mama winkte ab.
»Haha, vielleicht von unserem Geist?«
Mama sah mich böse an. »Damit macht man keine Späße.«
»Das arme Meerschweinchen«, sagte Eddi. Er hatte schon wieder diesen glasigen Blick. Das verhieß nichts Gutes; es bedeutete, dass etwas Unheimliches im Gange war, etwas, das nur Eddi spüren konnte. Ich gab Eddi einen Schubs, in der Hoffnung, das würde ihn normalisieren.
»Von einem Fuchs vielleicht?«, fragte ich, jetzt zoologischer aufgelegt.
»Nein. Angeblich von einer Krähe.«
Ich zuckte zusammen. Eddis Blick wurde noch glasiger. Zum Glück schien Mama davon nichts zu merken. Ich schubste Eddi noch mal.
»Machen Krähen so etwas?«, fragte ich. »Ich meine, ist ein Meerschweinchen nicht fast so groß wie eine Krähe?«
»Ich glaube, das macht den Krähen nichts aus«, mutmaßte Mama.
»Aber was haben wir damit zu tun?«
»Die Seelos behauptet, es sei unsere Krähe.«
»Das kann nicht sein«, sagte ich schnell, obwohl ich wusste, dass fast alles möglich war, seit das Wort »Krähe« aufgetaucht war und seit Eddi diesen Blick hatte. Bei der Sache mit dem Spuk im Haus hatten die Nacktschnecken, mit denen er sich auf irgendeine Art unterhalten konnte, sogar schreiben können.
»Sie sagt«, erklärte Mama, »die Krähe wohne in unserem Haus. Sie habe außerdem ihre Rosen zerhackt und auf dem Friedhof das Grab von Nicola verschissen.«
»Uuuh«, sagte ich betreten. Nicola war die Tochter von Frau Seelos und einen Tag nach ihrer Geburt gestorben. Es gab noch ihre Zwillingsschwester Yvonne und einen jüngeren Bruder, David, der in etwa so alt war wie Eddi.
»Das ist schlimm«, sagte Eddi, der David nicht besonders mochte. Aber er dachte, was ich dachte, und ich dachte: Da ist was Übles im Busch.
»Ja«, sagte Mama trotzig, die zum Glück keine Ahnung von unseren Gedanken hatte. »Aber das ist nicht unsere Krähe, und wir können überhaupt nichts dafür, wenn irgendein Vogel das Grab von Nicola verkotet.«
»Verkotet?«, fragte ich. Ich fand das Wort komplett abstrus.
Mama lachte ein bisschen böse. »Ha, die Seelos wollte Hochdeutsch reden und hat gesagt: ›Und nachher hat eubere Krähe no den Grabstoin von unsra liabn Nici – Gott hab sie selig – vrkotet.‹«
Mama konnte den von Frau Seelos halb unterdrückten Dialekt ganz gut nachmachen. Eddi kicherte leise, aber er blickte düster drein.
»Und jetzt?«, fragte ich.
»Jetzt will sie uns anzeigen.« Mama sah an die Decke. »Soll sie doch. Sie wird im Irrenhaus landen, denn eine Krähe gibt es bei uns nicht.«
Eddi und ich sahen uns an und ich schüttelte langsam den Kopf. »Nein, nein, sicher nicht. Wie soll es bei uns Krähen geben?«
Dann läutete es zum Glück an der Tür.
Es war Monique, das Mädchen aus dem Nachbarhochhaus.
Sie und Eddi wollen mal heiraten.
Beim Abendessen wurde die Sache mit der Krähe in unserem Haus sehr ernst durchdiskutiert.
Schließlich sagte mein Vater: »Das müssen wir so schnell wie möglich klären. Ich fahre am Wochenende hin. Dann kann ich auch gleich noch mal mit dem Makler sprechen.«
»Nicht mit dem Makler«, sagte Eddi.
»Doch«, sagte mein Vater und – nach einer etwas unangenehmen Pause –: »Du weißt, was ich denke, Edward.«
Um zu wissen, was mein Vater dachte, musste man keine besonderen Fähigkeiten haben. Mein Vater dachte: Wir können uns eigentlich kein geerbtes Haus leisten, das so weit weg ist, das wir nicht bewohnen und das sich offenbar nicht vermieten lässt. Wir müssen es verkaufen.
Seit Wochen schon wollte er Eddi davon überzeugen, dass das die beste Lösung war. Aber Eddi ließ sich nicht überzeugen.
»Ich fahre am Freitag«, sagte mein Vater.
»Dürfen wir dann wenigstens mit?«, fragte ich.
»Ihr habt doch Schule.«
»Wir könnten Magen-Darm haben«, schlug ich vor.
»Das habt ihr nie.«
»Umso besser.«
»Hm«, machte Mama.
»Also mir wär lieber, ich fahre allein«, sagte mein Vater.
»Und mir wär lieber, wir fahren mit«, entgegnete Eddi.
»Hm«, machte Mama und legte ihr Besteck beiseite. »Nimm sie doch mit.«
»Hm«, machte mein Vater und legte ebenfalls sein Besteck beiseite. »Dann nehme ich sie halt mit.«
Wieso sie uns das plötzlich erlaubten, habe ich auch im Nachhinein nicht recht verstanden, und vermutlich wäre vieles anders gelaufen, wenn wir an diesem Wochenende im November nicht ins Allgäu gefahren wären.
Abends im Bett las ich Idas Brief zum 44. Mal.
Ich hatte keine ganz klare Erinnerung an den Forggensee. Man fuhr, das wusste ich, auf dem Weg nach Füssen an ihm vorbei. Er war lang gestreckt, und das Wasser hatte nicht die schwarze Farbe der vielen Moorweiher in der Umgebung, sondern es war von einem leuchtenden Türkisblau. Der See, hatte mein Vater mal erklärt, werde jeden Winter um ein paar Meter abgelassen, Teile des Seegrunds tauchten dann auf, die im Sommer unsichtbar waren. Das fand ich geheimnisvoll, warum genau, weiß ich nicht. Immer jedoch hatte ich mich über den Namen des Sees gewundert, vor allem über das Doppel-g nach dem r.
Idas Doppel-g im Brief war schnörkelig, schnörkeliger als ihre Schrift sonst.
Jetzt fielen mir noch mehr Schnörkel auf. Das H bei Hendrik hatte nämlich ebenfalls einen, was ich höchst aufregend fand. Überhaupt schien mir in diesem Moment Idas Schrift das Aufregendste zu sein, was ich je gesehen hatte, sowohl das kleine k in »Hendrik« als auch das große K in »Krähe« mit seinem exakten 90°-Winkel. Dann schlief ich ein.
Am Morgen fiel mir als Erstes Idas K, danach Idas Brief und dann der Anruf von Frau Seelos ein. Das machte mich wirr. Den ganzen Tag war ich wirr, vor allem in der Schule.
Während ich in Erdkunde für ein Referat Fakten über Indien im Internet suchen sollte, recherchierte ich, um meine Verwirrung zu bändigen, Wissenswertes über Krähen und erfuhr Folgendes:
Krähen leben nicht gerne allein. Krähen mögen keine Berglandschaften, sie mögen keine Wälder und sind an Wasser – außer dass sie es wie alle Lebewesen trinken müssen – uninteressiert. Krähen sind schlau und sollen genauso intelligent sein wie Affen, irgendwo wird sogar behauptet, Krähen seien so schlau wie siebenjährige Kinder. Krähen sind Singvögel. Krähen gelten als Totenvögel, Krähen bringen in Europa den Winter und in Indien – das war nützlich für mein Erdkundereferat! – den Regen. Krähen hassen Uhus.
In Französisch schrieb ich Ida einen Brief, in dem ich ihr so sachlich wie möglich von Eddis glasigem Blick in Bezug auf Krähen berichtete und von seinem neuen Tick, mit dem Fuß ans Balkongeländer zu hauen, wenn eine Krähe vorbeiflog. In Englisch dachte ich darüber nach, ob ich am Ende des Briefes anmerken sollte, sie könne mir ruhig persönlich schreiben, ohne Eddis mediale Kraft dadurch zu schmälern. Ich merkte es nicht an, sondern beendete den Brief mit »Hendrik« ohne »Dein«. In der Mittagspause lief ich zur Post, kaufte eine Briefmarke und warf ihn ein.
Als ich nach Hause kam, hing am Haken im Flur Moniques dunkler Steppanorak. Ich hörte ihre Stimme aus dem Wohnzimmer und öffnete die Tür.
»Hallo, Monique«, sagte ich.
Monique thronte im Schneidersitz vor der Balkontür und schaute nicht her. Sie hielt ein Notizheft und einen Kugelschreiber, schrieb jedoch nicht, sondern war vertieft in das Muster des Teppichs.
»Wo ist Eddi?«, fragte ich, aber da sah ich ihn schon. Er lag wieder bloß im dünnen Pulli draußen auf dem Balkon. Jetzt schlug er mit dem Bein gegen die Brüstung. Monique schaute müde auf. Dann malte sie einen Strich in das Heft, gähnte, bohrte in der Nase und wischte den Popel auf den Teppich.
»Hi«, sagte sie jetzt erst.
Monique war ein eigenartiges Kind. Meistens trug sie Schwarz wie ihre Mutter, war ein bisschen rundlich, hatte aber wunderbar glattes, dunkles Haar, das sie meist zu einem dicken Zopf geflochten trug. Ihr Pony war wie mit dem Lineal gezogen und endete knapp über ihren Augenbrauen, die sehr dunkel waren, was ihre wässrig blauen Augen noch heller wirken ließ. Ihre Lider waren stets leicht gerötet, so als hätte sie eben geweint. Mit einem Mal stand sie auf und öffnete die Balkontür
»Echt jetzt!«, rief sie. »Das ist voll langweilig. Ich geh.«
Eddi wandte sich verdutzt um. »He, warte!«, rief er ihr nach.
Doch Monique war schon aus dem Wohnzimmer geschlurft und nahm den Anorak vom Haken. Grußlos verließ sie unsere Wohnung.
Eddi kam vom Balkon herein und hob das Notizheft auf, das Monique auf dem Teppich liegen gelassen hatte.
»Sie schreibt Krähe ohne h«, stellte er fest. »Und außerdem hat sie sich ziemlich verzählt. Es waren 32 und nicht 17.«
»Wozu lässt du sie zählen, wenn du selber zählst?«, fragte ich.
»Irgendwas muss sie ja tun!«
Ich entgegnete nichts, war mir aber nicht sicher, ob seine Herangehensweise eine Basis für eine dauerhafte Beziehung war.
»Was ist mit den Krähen?«, fragte ich.
»Nichts«, sagte er.
»Weißt du, warum du sie neuerdings beobachtest?«, fragte ich und bemerkte, dass es mich Mühe kostete, die Frage zu stellen.
»Na ja«, sagte er so, als komme danach noch etwas. Doch es kam nichts. Auch ihm fiel es offenbar schwer, darüber zu sprechen. Ich beschloss, lieber über Monique zu reden. »Du solltest vorsichtig sein mit Monique und den Krähen«, erklärte ich ihm, weil ich nicht wollte, dass Monique in die Sache mit hineingezogen wurde. Ich hoffte, Eddi würde das verstehen.
Aber er verstand es nicht. »Wieso denn?«
Ich seufzte. Wenn er nicht kapierte, was ich wollte, brauchte ich es auch nicht zu erklären. Also sagte ich: »Mädchen interessieren sich für so was nicht.«
»Pfff«, machte er. »Was weißt denn du?«
Ich freute mich auf unsere kleine Allgäu-Reise, auch wenn mir ein wenig graute. Ich würde Ida wiedersehen – und das viel schneller als erwartet, denn ich hatte frühestens in den Weihnachtsferien mit einer Fahrt dorthin gerechnet. Wir wollten Weihnachten dort verbringen und dann Ski fahren.
Um eines hier klarzustellen: Ich war natürlich nicht verliebt. Auch Ida war nicht verliebt. Aber wir hatten uns geküsst, drei Tage vor unserem Wegzug. Und dieser Kuss bei der TSV-Grillfeier war nicht nur ein Bussi auf die Backe gewesen.
Ida hatte von ihrer Mutter gebackenen Zwiebelkuchen mitgebracht und hatte steif und fest behauptet, man bekäme davon keinen Mundgeruch. Ich hatte ihr nicht geglaubt, denn meiner Meinung nach bekommt man von Zwiebelgewächsen jeder Art und jeder Zubereitungsform Mundgeruch, weswegen mich Ida ununterbrochen angehaucht und gefragt hatte: »Hau i etz Mundgeruch odr it?«
Natürlich hatte sie keinen. Ida konnte gar keinen Mundgeruch haben, denn sie duftete aus jeder ihrer Poren nach den süßesten Blümlein, wenn sie nicht gerade aus dem Kuhstall kam. Die Folge dieser ganzen Anhaucherei war jedenfalls, dass sie immer näher rutschte und mich irgendwann küsste. Vielleicht habe auch ich sie geküsst. Und dann hatte ihre Mutter gerufen, die sie abholte, und Ida war davongerannt.
Am Tag vor unserer kleinen Allgäu-Tour bekam ich von Ida eine SMS: Danke für den B. Fürchte Zus-h. Bis dann.
Was der B war, konnte ich mir denken, aber bevor ich dahinterkam, was ein Zus-h war, klingelte Moniques Mutter, die ziemlich aufgelöst wirkte, was schon beim Haar anfing. Ihr Lidstrich war verwischt, ebenso wie Wimperntusche und Lippenstift.
Marleen, also Moniques Mutter, war ja immer sehr stark geschminkt, mit viel schwarzem Kajal um die Augen und auch mit dick Make-up, um ihr Gesicht blasser erscheinen zu lassen. Sie hatte eine Menge Piercings im Ohr und sogar eines an der Lippe.
Marleen schnappte nach Luft und berichtete verzweifelt, ihre Mutter liege im Krankenhaus. Das Krankenhaus sei aber weiter weg und sie müsse hin, könne aber Monique nicht mitnehmen. Deswegen wolle sie fragen, ob Monique nicht übers Wochenende bei uns übernachten könne.
Mama, die gleich dazugekommen war, erklärte, mein Vater, Eddi und ich würden am Wochenende ins Allgäu fahren. Da brach Marleen in Tränen aus. Ihre Schminke verwischte noch mehr. Aber das war ihr egal, was nur bewies, wie verzweifelt sie war.
Mama, die immer gern allen helfen will, hatte eine Idee. Diese Idee war sehr grauenvoll, mich schüttelte es richtig, als ich sie hörte. Mama sagte: »Monique könnte ja vielleicht mitfahren.«
Marleen hörte sofort zu weinen auf und hyperventilierte fast vor Glück. »Ja, mitfahren! Das wäre es! Und die frische Landluft tut meiner Kleenen bestimmt gut! Es wäre toll, wenn das ginge!«
»Natürlich geht das«, sagte Mama. »Im Auto ist Platz und im Haus sowieso. Ist halt eine lange Fahrt.«
»Och, die braucht sich nicht so anstellen. Sie soll froh sein, dass sie mal vor die Türe kommt.« Sie wischte an ihrem Lidstrich herum, und ich überlegte, ob Marleen unter dem Kajal dieselben geröteten Lider hatte wie Monique.
»Wir sollen allen Ernstes Monique mitnehmen?«, fragte ich Mama, nachdem Marleen gegangen war.
»Eddi wird sich bestimmt freuen.«
»Eddi vielleicht. Aber ich nicht. Monique ist grässlich.«
»Du musst dich ja nicht groß um sie kümmern.«
»Aber Monique … ist fett, dumm und stinkt!«
»Hendrik!«
»Na gut. Sie ist nicht sooo dumm. Aber sie riecht.«
»Sie kann doch nichts dafür, dass ihre Mutter raucht. Monique ist ein armes Würstchen. Und sie bekommt eben kein so gutes Essen. Oder glaubst du, dass Marleen regelmäßig kocht?«
Mama hatte mal erwähnt, Marleen habe Monique noch während der Schulzeit bekommen und deswegen – und vielleicht auch aus anderen Gründen – keine Ausbildung geschafft. Sie arbeitete in einem Fabriklager als Aushilfe und hatte nur wenig Zeit für Monique. Solchen Leuten müsse man helfen.
Okay, von mir aus, aber deswegen mussten wir doch Monique nicht gleich mitnehmen!
»Ich muss immer die Luft anhalten, wenn sie neben mir steht«, maulte ich.
»Hendrik, das bildest du dir ein.«
Ich schwieg. Monique stank gar nicht so sehr. Sie war auch nicht so dumm und auch nicht so dick. Das Problem war, dass ich mich für sie schämte. Was würde Ida denken, wenn wir mit Monique im Allgäu ankamen? Allein der Name! Das war wie Chantal oder Mandy. Was musste Ida denken, von uns, von Sachsen, von allem?
»Ihr tut da der armen Marleen einen großen Gefallen«, fuhr Mama fort. »Und du weißt doch selbst, wie es ist, wenn man keine Freunde hat.«
»Monique hat Freunde«, beharrte ich, obwohl ich wusste, dass der Plural nicht stimmte. Sie hatte nur einen einzigen Freund und das war Eddi.
Wir fuhren früh los. Nach zwei Stunden und 49 Minuten machten wir Pause auf einem windigen Rastplatz. Wir hatten belegte Brote dabei und hockten auf einem rauen Betontisch. Monique aß uns die ganzen Bierschinkenbrötchen weg.
Als Monique mit Eddi zur Toilette ging, seufzte mein Vater laut und sagte: »Was erzähl ich bloß der Seelos?«
»Die Wahrheit. Wir haben keine Krähe.«
»Und wenn doch?«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Ach«, seufzte mein Vater noch lauter. »Sie hat ja irgendwie recht. Das Haus steht zu oft und zu lang leer. Einen Garten muss man pflegen. Vielleicht hausen ja wirklich in der Garage oder auf dem Balkon Krähen.«
»Das glaube ich nicht«, sagte ich. Krähen, hatte ich nachgelesen, nisteten in Bäumen, nicht in Garagen oder auf Balkonen wie zum Beispiel Tauben.
»Vielleicht«, dachte mein Vater laut, »war es ja auch keine Krähe, sondern ein Marder … Oder ein Fuchs oder sogar eine Katze.«
Irgendwie beruhigte mich der Gedanke an eine Katze.
»Aber der Grabstein«, überlegte mein Vater weiter, nachdem er die Butterbrotpapiere aufgehoben hatte, die der Wind weggeblasen hatte. »So etwas passt nicht zu Katzen.«
»Du meinst, Katzen kacken nicht auf Grabsteine?«
»Nein. Katzen kacken nicht in der Öffentlichkeit.«
»Ist ein Grabstein die Öffentlichkeit?«
»Für Katzen, glaube ich, schon.«
»Vielleicht handelt es sich um zwei verschiedene Tiere. Eine Krähe und eine Katze. Und das mit den Rosen war bestimmt David. Der hat im Garten Fußball gespielt.«
Die zweite Hälfte der Fahrt verbrachten wir damit, Autos zu zählen. Eddi vertrat die Theorie, dass mehr als 50 Prozent der Autos silbern waren. Das wollte er beweisen – und wir sollten ihm dabei helfen. Immerhin verging so die Zeit schneller.