Über das Buch

Den tibetischen Kaufmann Dorjee Wangchuck und den Rinpoche Sonam Tsering verbindet seit Kindertagen eine tiefe Freundschaft, auch wenn ihre Lebenswege nicht unterschiedlicher hätten verlaufen können. Während der eine sich im Strudel der Geschichte seinen Weg bahnte und ein Vermögen anhäufte, entschied sich der andere für ein Leben im Kloster.

Als der alte Dorjee im Sterben liegt, lässt er seinen Freund rufen mit der Bitte, ihm das Bardo Thödol, das Tibetische Totenbuch, vorzulesen. Das soll ihn auf dem Weg zur Wiedergeburt durch das Bardo, die Zwischenwelt, geleiten. Während der dramatisch geschilderten Reise durch das Bardo erfährt der Leser, was Dorjee im Leben wiederfahren ist.

Erzählt wird hier der Lebensweg zweier Schicksale, eingebettet in die Geschehnisse der tibetischen Geschichte des letzten Jahrhunderts. Kern dieser besonderen Erzählung ist der Glaube, der im Sterbeprozess von Dorjee auf dem Prüfstand steht. Wird er am Ende seines Weges durch die Zwischenwelt wiedergeboren oder muss er in der Zwischenwelt verharren?

Über die Autoren

Aljoscha A. Long studierte Psychologie, Philosophie und Linguistik. Er ist als Autor, Komponist, Therapeut, Taijiquan- und Qigong-Lehrer tätig. Bekannt geworden ist Aljoscha A. Long durch zahlreiche Publikationen und seine Seminartätigkeit in den Bereichen Psychologie und Philosophie. Er lebt mit seiner Frau, der chinesischen Heilerin Fei Long, in München und Guangzhou.

Ronald Schweppe ist Orchestermusiker und Meditationslehrer, Aljoscha Long Psychologe, Komponist und Taiji-Lehrer.

Sie sind Autoren zahlreicher erfolgreicher Veröffentlichungen rund um die Themen Achtsamkeit, ganzheitliche Lebenskunst und Gelassenheit. Moderne Psychologie, zeitgemäße Philosophie und östliche Spiritualität fließen in ihren Werken harmonisch zusammen. Dies ist ihr erster Roman.

ALJOSCHA LONG

RONALD SCHWEPPE

DER KAUFMANN

UND DER

RINPOCHE

Leben, Sterben und

Dazwischen

Roman

Diederichs

Die Reise des Kaufmanns und seine verschiedenen Stationen im Bardo lehnen sich inhaltlich an das klassische Tibetanische Totenbuch an.

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Fonts: ITC Kabel , Century Schoolbook

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN 978-3-641-25417-9
V001

www.diederichs-verlag.de

INHALT

Der Kaufmann stirbt

1935 – Die Geburt Dorjee Wangchuks

Der Lama macht sich auf den Weg

1940 – Der Beginn einer Freundschaft

Der Beginn der Lesung

Der Bardo des reinen Urlichtes

Die zweite Belehrung

Das zweite Licht

Die Visionen der friedvollen Mächte

Das Erwachen

Die Vision des Vairocana

1943 – Die Wut und die Trauer

Die Spiegelgleiche Urweisheit

Vision des Vajrasattva Akshobhya

1945 – Die Ungerechtigkeit

Das Eins-Sein aller Dinge

Vision des Ratnasambhava

1947 – Der Leibeigene

Die Urweisheit der Unterscheidung

Vision des Amithaba

1949 – Das Leid und die Liebe

Die Vollendung im Tun

Vision des Amoghasiddhi

1950 – Die Rache

Der weite Raum des Herzens

Vision der fünf spirituellen Ordnungen

1950 – Der Soldat

Die Täuschung der Neigungen

Die Vision der wissensbewahrenden Mächte

1950 – Der alle Wünsche erfüllende Edelstein

Die Visionen der schreckerregenden Mächte

Der Beginn des Grauens

Vision des Buddha-Heruka

1953 – Der tibetische Chinese

Die Bluttrinker

Vision des Vajra-Heruka

1956 – Auge um Auge

Die blutgefüllten Schädel

Vision des Ratna-Heruka

1958 – Die Flucht

Vertrauen

Vision des Padma-Heruka

1960 – Liebe und Hass

Der Löwe aus Stein

Vision des Karma-Heruka

1966 – Die große Zerstörung

Die Tierköpfigen

Vision der acht Ma-mo

1976 – Der Tod des Vorsitzenden

Der Bardo des Werdens

Das Wägen der Taten

Yama, der Herr des Todes

1982 – Der Reichtum des Kaufmanns

Der letzte Weg

Orte der Wiedergeburt

2000 – Der Zweifel

Die letzte Chance

Das Schließen der Pforte

2012 – Einsicht

Das Rad dreht sich weiter

Glossar

Personenregister

Zeittafel

DER KAUFMANN STIRBT

Der alte Mann lag im Sterben. Das wusste er wohl, und es bereitete ihm keine Angst. Er hatte alles gesehen, was es zu sehen gab. Manchmal mehr, als er wollte. Beinahe war er neugierig auf die Reise ins Unbekannte, die er nun bald antreten würde. Beinahe freute er sich aufs Sterben.

Die schrecklichen Schmerzen, die sich seit einem halben Jahr wie Höllengeister mit scharfen Zähnen durch seine Eingeweide fraßen, würden ihm den Abschied leicht machen. Der Arzt gab ihm starke Medizin, von der ihm übel wurde. Der tibetische Heiler verschrieb ihm kräftigende Kräuter, die seine Schwäche nicht überwinden konnten. Und auch sein alter Freund, Rinpoche Sonam Tsering, hatte ihm mit seinen einfachen Weisheiten und seinem kindischen Glauben nicht helfen können.

An Buddha glaubte er schon längst nicht mehr. Für die Legenden der Mönche, die er schon seit langer Zeit verachtete, hatte er nur Spott übrig. Sicher – seine Verachtung war mit der Zeit schwächer geworden. Auch sein Groll war alt geworden und lag im Sterben. Natürlich wusste er, dass nicht alle Mönche gleich waren. Manchmal war er dem alten Glauben sogar wieder ganz nahegekommen. Sonam Tsering, sein Freund, der Mönch, der Lama, der Rinpoche, hatte ihn das ein oder andere Mal nahezu überzeugt. Doch um sich nun, am Ende seines Lebens, selbst untreu zu werden, war er zu stolz. Zu stolz, um in die alte Welt zu flüchten, mit ihren schützenden Buddhas und Devas, in die heile Welt, in der jeder Mensch, jedes Wesen seinen Platz hatte. Die kostbare Welt, in der alles Sinn ergab und man dankbar sein sollte, als Mensch wiedergeboren zu sein. Dorjee glaubte nicht an eine Seele. Und er glaubte auch nicht, dass seine Seele durch den Bardo, den Zwischenzustand, gehen und wiedergeboren würde.

Und doch hatte er den Lama rufen lassen. Die Geschichten, die er aus seiner Kindheit kannte, die heiligen Legenden der Mönche, die auch noch lange, nachdem die Chinesen nach Tibet gekommen waren, jedem Tibeter vertraut waren, lebten immer noch in ihm – versteckt, tief in einem verborgenen, staubigen Winkel seines Herzens. Dort waren auch, in verschwommenen Lettern, die vergilbten Seiten dieses Buches, das ihm der Lama, der trotz allem sein Freund war, wieder und wieder vorgelesen hatte, das Bardo Thödol, das Totenbuch der Tibeter.

Sein Freund war ein Rinpoche, ein »Kostbarer«, die Wiedergeburt eines früheren Meisters. Dorjee glaubte nicht an diese Dinge – nicht an Wiedergeburt und auch nicht an spirituelle Meister oder die Lehre des Totenbuchs. Und dennoch blieb ein Zweifel – was, wenn doch ein wenig Wahrheit darin war? Und warum sollte er sich auch jetzt noch gegen die alten Traditionen wehren? Er war kein junger Rebell mehr, sondern ein alter, sterbender Mann. Warum sollte er nicht albern sein und sich eine tröstende Geschichte vorlesen lassen? Was konnte es schaden?

Er würde sterben, schon sehr bald. Ein paar Tage höchstens, vielleicht ein paar Stunden noch. Da waren sich der chinesische, in der westlichen Medizin ausgebildete Doktor und der tibetische Arzt einig.

Dorjee Wangchuk hörte die Verwandten im Nebenraum. Leises Murmeln, um den Todkranken nicht zu stören, das allzu lange Warten auf den Tod. Sein ältester Brudersohn, der Neffe, der den größten Teil seiner Unternehmen erben sollte, war nicht hier. Wichtige Geschäfte hielten ihn in Beijing fest. Er war ihm nicht böse darum. Seine sechs Nichten und zehn Neffen, deren Söhne und Töchter, die Großkinder, Ehegatten und Ehefrauen der Verwandten, die Dorjee noch nie gesehen hatte und die auch ihn noch nie gesehen hatten, waren gekommen, um von ihrem reichen Verwandten Abschied zu nehmen. Keiner von ihnen aus allzu großer Liebe zu dem alten Mann. Dorjee war es gleichgültig. Er wollte nur in Stille und ohne Qualen ruhen.

Die Medizin, die ihm der chinesische Doktor gegeben hatte, vertrieb nun allmählich die Schmerzen und machte ihn müde. Er wollte jetzt aber nicht schlafen. Vielleicht würde er nicht mehr erwachen. Er wollte nicht gehen, ohne Sonam Tsering noch einmal gesehen zu haben. Er sehnte sich nach seinem Trost.

Ein langes Leben. Wie lange Zeit. Der Hirtenjunge, der vor über achtzig Wintern geboren wurde, der junge Revolutionär, der Liebende, der Vater, der Geschäftemacher, der Politiker, der Greis … waren sie wirklich alle eine Person? Bin all das ich? Er lächelte. Solche Gedanken hatte ihm sein Freund eingegeben. Für den Lama war die Welt eine große Illusion, mehr nicht. Und, wenn er recht hatte, würde die Illusion weitergehen. Eine Wiedergeburt nach der anderen, immer im Rad der Illusion gefangen. Dorjee hatte eine blitzartige Einsicht: Wie gut wäre es doch, sich aus diesem Kreislauf zu befreien. Sonam Tsering würde ihm noch einmal das Buch von der augenblicklichen Befreiung im Zwischenzustand vorlesen müssen, bevor er starb. Er wollte nicht wiedergeboren werden.

Seine Augen schlossen sich, und er träumte, dass er ein Kind sei.

1935 – Die Geburt Dorjee Wangchuks

Im ersten Frühlingsmonat, im dreiundfünfzigsten Jahr des 13. Dalai Lama, Thubten Gyatsho, wurde Dorjee geboren, der zweite Sohn des freien Hirten Jamyang Wangchuk. Seine Frau Lhagkpa hatte gehofft, dass es ein Mädchen sein würde, doch Jamyang freute sich über den Jungen. Erst mit zwei männlichen Nachkommen war es gewiss, dass sein Stamm blühte. Auch seine Söhne würden frei und keine Leibeigenen sein.

Frei zu sein bedeutete Jamyang Wangchuk viel. Auch wenn sein Leben kaum besser war als das der Leibeigenen der Fürsten oder Klöster. Er war arm. Doch war er sein eigener Herr. Er hatte seine eigene Jurte, seine eigene Yak-Herde, eine gute Frau und nun sogar zwei Söhne. Oh, wie glücklich war er doch. Liebevoll sah er Lhagkpa an, die noch von den Schmerzen der Geburt gezeichnet war, aber mit ihren dunklen Augen zu ihm aufblickte und ihn anlächelte. Sie hielt ihm seinen Sohn entgegen. »Dorjee«, sagte sie. Er hatte nichts dagegen einzuwenden. Jamtsho, sein erster Sohn, trug den Namen des Vaters seines Vaters. Und so war es nur gut, dass der zweite Sohn den Namen des Vaters der Mutter bekam. Es war wichtig, die Vorfahren in seinen Kindern zu ehren. Vielleicht war es sogar der wiedergeborene Ahn selbst, den Jamyang in seinen Armen hielt. Die Welt war gut.

Er wandte sich mit einem kurzen Dankgebet an Amithaba-Buddha und an Shugden, den Beschützer. Dann gab er das Kind wieder in die Arme der Mutter zurück, sah nach dem Feuer, trank ein wenig salzigen Buttertee und steckte etwas Tsampa in seinen Beutel. Dann musste er wieder auf die Weide. Die Bri, die Yak-Kühe, konnten nun, da es Sommer wurde, endlich gemolken werden. Und sein Erstgeborener, Jamtsho, war noch zu jung, um ganz allein auf die Herde aufpassen zu können.

Zärtlich strich er noch einmal Lhagkpa über die Wange, bevor er das Zelt verließ.

»Yahaha! Jamyang, Vater von Dorjee, yahaha!« Er schüttelte sein langes tiefschwarzes Haar und warf die Hände nach oben und schrie seine Freude in die Berge, die den Himmel trugen. Auch die Berggötter sollten an seiner Freude teilhaben. Dann griff er seinen Hirtenstab und machte sich auf den Weg zur Herde, wo Narga, die Schwester Lhagkpas, und sein Sohn Jamtsho auf ihn warteten. Mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht ging er durch das noch immer trockene Gras.

Als Dorjee drei Jahre alt war, kannte er sämtliche Tiere der kleinen Herde seines Vaters. Sein großes Vorbild war sein Bruder Jamtsho, der bereits dann und wann die Herde ganz allein hütete. Jamtsho war mutig – nicht einmal vor den Berggeistern, die sogar der Vater fürchtete, hatte er Angst.

DER LAMA MACHT SICH AUF DEN WEG

In Meditation versunken saß der Lama vor der kleinen Buddhastatue. Schon einige Stunden saß er so, nahezu bewegungslos. Sein Geist war leicht und klar, keine Sorge, kein Begehren, keine unruhigen Gedanken drückten seine Seele, die wie ein Spiegel des Universums nichts in sich aufnahm, nur widerspiegelte, ohne davon berührt zu werden. Er saß in seiner kleinen Kammer im großen Kloster in Lhasa. In diesem Raum verbrachte er schon viele Jahre einen großen Teil seiner Zeit, meditierend, Sutras rezitierend, die Gebete verrichtend. Jeder einzelne Gegenstand im Raum war heilig. Es war ohnehin wenig: neben der Buddhastatue nur ein paar Schriftrollen, ein Thangka, eine Kerze.

Ein junger Mönch trat lautlos ein und verneigte sich. Obwohl der Lama mit dem Rücken zum Eingang gewandt war und der junge Mönch ehrfurchtsvoll schweigend verharrte, war er sich der Gegenwart des anderen sofort bewusst und wusste auch, welcher seiner Schüler es war. Was anderen als übernatürliche Fähigkeit eines Heiligen erscheinen musste, war für ihn nur das vollkommen wache Bewusstsein, das einen Lama auszeichnete.

»Was gibt es, Chagdud?« Seine Stimme klang voll und sanft und ließ sein Alter nicht erahnen. Der junge Mönch Chagdud trat vor den Lama, kniete sich nieder und berührte mit der Stirn den Boden.

»Ehrwürdiger Rinpoche, der Kaufmann Dorjee Wangchuk …«

Der Lama nickte. »Es ist so weit. Er wird nun bald übertreten und muss wohl wiedergeboren werden. Ich werde mich gleich auf den Weg machen. Es ist alles vorbereitet. Bitte bring mir meine Reisetasche.«

Chagdud verneigte sich erneut vor seinem Lehrer. Er zögerte kurz.

»Chagdud, du möchtest noch etwas sagen.« Der Lama fragte nicht, er stellte es nur fest.

»Ehrwürdiger, darf ich Euch begleiten?«

Der Lama lächelte still. »Diesmal nicht, mein Lieber. Diese kleine Reise werde ich allein unternehmen.«

Der junge Mönch verneigte sich und wandte sich zum Gehen. Der Lama Sonam Tsering erhob sich. Trotz seines hohen Alters und des langen Sitzens bedurfte er dazu keiner Hilfe. Allein wollte er sich nun auf den Weg machen, um einem Kaufmann, einem Sünder, einem, der über die Lehren Buddhas oft gespottet hatte, einem, der sich an wertvollen religiösen Kunstschätzen bereichert hatte, einem Ehebrecher und einem, der vielleicht sogar einen Mord auf dem Gewissen hatte, beizustehen, wenn er von diesem Leben in den Bardo, den Zwischenzustand, eintreten und wohl nach neundundvierzig Tagen wiedergeboren würde. Seine Mönchsbrüder und seine Schüler waren darüber erstaunt, aber sie bewunderten das große Mitgefühl ihres Lama. Das allein war es jedoch nicht. Nur wenige wussten, dass der sterbende reiche Kaufmann der älteste Freund des Rinpoche war.

Es war ein kühler Herbsttag. Der Himmel war klar, und die heiligen Berge ragten in ihrer ewigen, gewaltigen Majestät in den Himmel. Trotz der Kälte trug der Lama nur sein einfaches Mönchsgewand. Er beherrschte die Fähigkeit, in seinem Körper eine solche Hitze zu erzeugen, dass sogar eiswassergetränkte Kleidung in kürzester Zeit trocknete. Unwillkürlich lächelte er, als er sich daran erinnerte, wie er vor vielen Jahren diese Fähigkeit erworben hatte. Wie stolz waren er und seine jungen Mitbrüder darauf gewesen – immer wieder, viel öfter als notwendig, waren sie in den großen, eiskalten Fluss gesprungen und hatten dann kleine Wettkämpfe darum abgehalten, wessen Gewand am schnellsten wieder trocken war. Der Abt hatte sie, als er davon erfuhr, streng angesehen und ihnen Bußübungen wegen ihres Stolzes auferlegt. Wie viele Jahre war das her! Damals war Tibet noch ein unabhängiges Land und Chinesen nur bestaunte Fremde aus einer fernen Gegend.

Damals, als er mitunter aus dem Kloster schlich und seinen Freund Dorjee traf und immer wieder versuchte, ihn zu überreden, ebenfalls ins Kloster einzutreten. Natürlich erfolglos. Dorjee war damals voller Hass auf alle Adligen und alle Mönche. Verständlich nach dem, was seinem Vater geschehen war. Auch wenn sich Sonam Tsering gern an das alte Tibet seiner Jugend erinnerte, so war ihm stets bewusst, dass es keine vollkommene Welt gewesen war. Und doch: Was wäre heute, hätte der 14. Dalai Lama die begonnenen Reformen seines Vorgängers fortführen können? Stattdessen lebte er im Exil in Indien und konnte nicht nach Tibet zurückkehren.

Der Lama seufzte kurz auf, lächelte dann und befreite seinen Geist von diesen nutzlosen Gedanken. Wenn schon die ganze Welt eine Illusion war, wie viel mehr die Welt des wenn, dann …, wäre …, könnte …, sollte … Die gewohnte Heiterkeit kehrte wieder in seinen Geist ein. Eine heitere Stille, die selbst die Melancholie durchdrang, die seine Reise in sich trug. Er würde nun seinen alten, seinen ältesten Freund beim Sterben begleiten und alles daransetzen, ihm beizustehen, wenn schon nicht die große Befreiung, so doch zumindest eine gute Wiedergeburt als Mensch zu erreichen.

Der Weg zum Haus des Freundes führte ihn hinab vom Kloster durch die Stadt. Autos hupten, Leuchtreklamen mit zumeist chinesischen Schriftzeichen blinkten von den Geschäften. Immer mehr neue, hässliche Gebäude erhoben sich über die alten Bauten. Immer noch war ihm dieser Anblick ungewohnt und unangenehm. Vor seinem inneren Auge sah er die Stadt, wie sie früher einmal gewesen war – ein Heiligtum, der Mittelpunkt der tibetischen Welt, der Sitz des beinahe gottgleichen Kundün, der »verehrungswürdigen Präsenz« des Dalai Lama.

Bilder der Vergangenheit strömten durch seinen Geist. Der junge Mönch Sonam Tsering, der mit seinem verehrten Lama zum ersten Mal die Hauptstadt mit großen, staunenden Augen sah, die Pracht des Palastes, das friedliche und doch so lebendig strahlende Gesicht des jungen Kundün, der sogar jünger war als der junge Reisende selbst. Die Scharen von Pilgern, die ihren Kora, den Rundweg um das Heiligtum, gingen oder vielfach sogar auf Knien rutschend, sich immer wieder zu Boden werfend. Und dann die Ereignisse, die alles veränderten – die Chinesen, die als Befreier gekommen waren und dann als Zerstörer wüteten, um schließlich als Händler, Handwerker, Lehrer und Kaufleute zu bleiben. Die Jahre, in denen das Leid fast unerträglich wurde und er nicht mehr Mönch sein durfte. Alles veränderte sich, alles war vergänglich – das hatte der Buddha gelehrt. Und wie alle Veränderung und alles Vergehen war es mit Leiden verbunden und doch ein Teil des Lebens.

In diesem Augenblick sah Sonam Tsering eine Gruppe Pilger, die wie früher den Kora gingen und ihn, den Lama, ehrfürchtig grüßten. Er lächelte, und die gewohnte Heiterkeit erfüllte wieder sein Gemüt. Das, was zerstört worden war, war gestorben und wiedergeboren worden. Vielleicht würde auch das alte Tibet einst neu geboren werden; die Äußerlichkeiten andere, doch die Seele die alte. Die alten Traditionen lebten wieder auf, die Lehre Buddhas hatte sich in der ganzen Welt verbreitet, und der Dalai Lama belehrte die Menschen auf allen Kontinenten. Sonam Tsering musste an die alte Prophezeiung denken:

Wenn die Eisenvögel fliegen

und Pferde auf Rädern laufen

und der Befreier

zum Beherrscher wird,

wird das Dharma Tibet verlassen

und das Land der Rotgesichtigen erreichen.

Mittlerweile hatte der Lama den inneren Kreis Lhasas durchquert und gelangte nun in den Stadtteil, in dem einst die Adligen und nun die Reichen lebten. Schon konnte er das große Haus des Kaufmanns Dorjee Wangchuk erkennen. Im Gegensatz zur vorausgegangenen Woche, als er den Freund zum letzten Mal gesehen hatte und es feststand, dass dieser nicht mehr lange in diesem Leben verweilen sollte, wehten nun am Eingang, im Garten und an den Fenstern die traditionellen Gebetsfahnen. Offenbar waren die Verwandten gekommen. Dorjee selbst hätte sich wohl dagegen gewehrt, wenn er dazu noch in der Lage gewesen wäre. Der Lama wusste um den von alter Wut gespeisten Kampf gegen die alten Traditionen und die Religion im Geiste seines Freundes. Doch ebenso wusste er, dass es nie zu spät war, Zuflucht zur Lehre des Buddha zu nehmen und Befreiung zu erlangen. Das war die Essenz des Bardo Thödol, des »Totenbuches« – dass selbst der größte Sünder jederzeit die Möglichkeit habe, umzukehren und sich aus den Verstrickungen des Karma und aus dem Kreislauf von Geburt, Leiden, Tod und Wiedergeburt zu befreien.

Als der Lama sich dem Hause näherte, öffnete sich die schwere Holztür, und eine alte Frau verneigte sich ehrfürchtig und hieß ihn willkommen. Sie stellte sich als Tashima, die Schwester Dorjee Wangchuks, vor und bot ihm Tee und Speisen an. Der Lama spürte, dass es wenig Trost in diesem Haus bedurfte. Der Sterbende war nicht geliebt worden. Seine Verwandten kannte er kaum, und selbst mit seiner Schwester hatte er erst vor wenigen Jahren wieder Kontakt aufgenommen.

1940 – Der Beginn einer Freundschaft

Endlich, nach den langen kalten Monaten, trug der Himmel wieder Wärme und Blütenduft auf die Wiesen. Dorjee konnte sich kaum an die vorigen Sommer erinnern, die wenigen, die er erlebt hatte. Sie waren nicht viel mehr als ein wohliges spannendes Gefühl, kaum mehr als eine der Geschichten, die Vater oder dessen fast zahnlose Mutter, Dorjees Mola, am Winterfeuer erzählte. Kaum mehr und doch ein weniges mehr. Dorjee erinnerte sich an das Gefühl seiner nackten Füße auf dem weichen Gras, an das überwältigende Bild der großen blauen Weite über den schneebedeckten Gipfeln.

Dorjee war auf den Beinen, noch bevor die Sonne den Bergriesen goldene Strahlenkronen aufsetzte, bevor der dunkelblaue Himmel hellblau wurde. Und dann verflogen alle Zweifel, ob wirklich der Sommer wiedergekommen sei, als er mit Bruder und Vater und den Yaks auf die Weidegründe ging. Langsam, mit lauten Rufen und dünnen Birkenruten trieben sie die Yaks und die Bri, die Yak-Kühe, hinauf, dorthin, wo das gute, frische Gras wuchs. Es roch nach Weite und nach Abenteuer und nach Freiheit.

Dorjee stieß einen lauten Frühlingsschrei aus. Vater und Bruder Jamtsho lachten und stimmten mit ein, sodass die Yaks erschraken und schneller vorantrabten.

Es gab viel zu tun. Es war harte Arbeit, die Herde stets im Auge zu haben, dafür zu sorgen, dass sich keines der wertvollen Tiere verlief, die vollen Euter der Bri zu melken …

Dorjee war noch zu jung, um alleine zu arbeiten. Und so hatte sein Vater nichts dagegen, dass er auf der Weide mit den Kälbchen herumtollte und Streifzüge durch die Gegend unternahm.

Dorjee war dem Verlauf eines Flüsschens gefolgt, war von Stein zu Stein gesprungen und hatte sich vorgestellt, wie er eine lange Reise antrat – entlang des großen Flusses, über die Berge hinweg, in fremde Länder … Plötzlich sah er, nur einen Steinwurf entfernt, einen Jungen, so alt wie er selbst, der am Ufer saß und konzentriert auf das Wasser blickte.

Was gab es dort wohl zu sehen? Dorjee wurde neugierig. Langsam näherte er sich dem fremden Jungen, der ebenso wie Dorjee wie ein einfacher Hirtenjunge gekleidet war. Offenbar war er also keiner dieser Adligen, vor denen ihn sein Vater so oft gewarnt hatte.

»Halte dich von den Reichen fern«, hatte Vater gesagt. »Ihr Karma hat sie an eine hohe Stelle gesetzt und uns an eine niedrigere. Das musst du respektieren. Wenn sich das Lebensrad dreht, wirst du vielleicht emporgehoben, vielleicht wird der Hochstehende hinabsinken.«

Er zeigte es mit seinen Händen und drehte das vorgestellte Rad, indem sich eine Hand hob, die andere senkte. »Es ist wichtig, dass du deinen Platz gut ausfüllst und nicht Neid gegenüber den Hochstehenden empfindest, damit das Gleichgewicht und der Lauf des Rades nicht gestört werden. Deshalb ist es besser, wenn du ihnen fernbleibst und nicht wie mit unseresgleichen verkehrst. Das bringt nur Unheil, Neid und Gier. Und den Zorn der Adligen.«

Das war wohl die längste Rede, die sein Vater je gehalten hatte. Sie hatte Dorjee neugierig gemacht. Allzu gern hätte er ein höheres Wesen gesehen – wenn auch nur aus sicherem Abstand.

Der Junge am Fluss war sicher kein Adliger. Und wahrscheinlich auch kein Mönch. Einen Mönch hätte er gern einmal gesehen, doch auch vor ihnen hatte ihn der Vater gewarnt. Es waren höhere Wesen, aber auf andere Weise als die Adligen … Vater hatte gesagt, er selbst, Dorjee, könne ein Mönch werden, wenn er einen dritten Sohn bekäme.

Dorjee war nun nur wenige Schritte von dem Jungen entfernt, der weder Mönch noch Adliger war. Bis jetzt hatte der Junge ihn nicht bemerkt. So klatschte Dorjee in die Hände und rief »Heiya!«

Der fremde Junge fuhr erschrocken auf, fing sich aber gleich wieder. Er grinste Dorjee an und legte die Hände zum Friedensgruß zusammen. Dorjee war dieser Junge sofort sympathisch. Er grinste zurück und erwiderte den Friedensgruß. »Hast du die Fische beobachtet?«, fragte er.

Der Junge lachte. »Ja! Und das Wasser und die Käfer und die Steine. Endlich ist wieder Sommer!«

»Ja, endlich!«, stimmte Dorjee zu. Er legte die Hand auf seine Brust. »Ich bin Dorjee, der zweite Sohn von Jamyang Wangchuk.«

»Ich bin Sonam Tsering, der dritte Sohn von Jamtsho Tsering. Ich bin Hüter der Herde meines Vaters.«

Dorjee klatschte in die Hände. »Das bin ich auch! Dein Vater trägt denselben Namen wie mein Bruder!«

Die beiden Jungen verstanden sich von Anfang an. Beide waren sie Hirtensöhne und im selben Frühling geboren. So war es kein Wunder, dass Dorjee und Sonam schnell Freunde wurden, sich ewige Freundschaft schworen, Blutsbrüder wurden. Doch wie viele Brüder, auch solche mit denselben Eltern, waren sie in mancherlei Hinsicht sehr verschieden.

Die beiden Freunde trafen sich meistens am Fluss. Dort, wo sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Sie spielten Hirtenspiele, Jägerspiele, spielten Dämonen und Buddhas, Mönche und Händler, und während sie spielten, mit all dem Ernst, mit dem es nur Kinder können, waren sie all dies. Doch jeder nach seiner Art.

Beide waren Hirten und Jäger. Doch Dorjee war Dämonenfürst, Sonam Bodhidharma, Dorjee reicher Händler, Sonam Mönch. Jeder wählte, was ihm näher im Herzen war.

»Was mag wohl hinter den Bergen sein?«, fragte Dorjee eines Tages.

Sonam sah ihn erstaunt an. Tatsächlich hatte er darüber noch niemals nachgedacht und stets angenommen, dass es einfach nur die Welt gab und die Berge darum herum.

»Irgendetwas muss doch hinter den Bergen sein!«, beharrte Dorjee.

»Ich weiß nicht.«

»Ich werde es eines Tages herausfinden!«

Sonam zuckte mit den Schultern. »Was soll es da schon geben? Wenn es keine Berge sind, sind es eben Weiden. Sind es keine Weiden, sind es vielleicht Seen. Oder Dörfer.« Er schloss die Augen. »Ein Mönch hat gesagt: Der nicht aus dem Haus geht, kann am weitesten reisen.«

Dorjee sah seinen Freund mit großen Augen und spöttischem Grinsen an.

Sonam öffnete die Augen und lächelte. »Der Mönch meinte natürlich die Reise nach innen, in unser Herz. Er sagte, das wäre die Versenkung, die Buddha zur Erleuchtung geführt hat.«

Dorjee war einen Moment still. Die Mönche waren mit Ehrfurcht zu behandeln. Sie wussten alles über die Götter und konnten einem helfen, als göttliches Wesen oder Adliger wiedergeboren zu werden. Doch Dorjee hatte noch nie einen Mönch aus der Nähe gesehen, geschweige denn mit einem gesprochen. Und das, obwohl ein Bruder seines Vaters Mönch in einem viele Tagesreisen entfernten Kloster war. Er wusste also sehr wenig. Und das ärgerte ihn; insbesondere, dass er weniger als sein Freund Sonam wusste, der von Versenkung und Erleuchtung und Buddha sprach, als wäre er selbst ein Mönch.

»Weißt du, dass ein neuer Dalai Lama in Lhasa regiert? Er ist genauso alt wie wir!«, sagte Sonam.

Dorjee sah seinen Freund durchdringend an. »Du willst wohl auch so ein Mönch werden«, entgegnete er spöttisch mit schiefem Mund.

Sonam sah ihn an und lächelte. »Ja«, antwortete er schließlich. »Das will ich.«