Tim Engartner

Staat im Ausverkauf

Privatisierung in Deutschland

2., aktualisierte und erweiterte Auflage

Campus Verlag Frankfurt /
New York

Über das Buch

Nicht zuletzt die Corona-Pandemie hat verdeutlicht, warum es einen Staat braucht, der seine Bürger schützen, notleidende Unternehmen stützen und lebensrettende Infrastrukturen – Stichwort: Impfungen – organisieren kann. Dessen ungeachtet hallt das Credo des »schlanken« Staates in weiten Teilen der Gesellschaft nach. Anhand besonders eindrücklicher Beispiele analysiert Tim Engartner in sieben Kapiteln – Bildung, Verkehr, Militär, Post und Telekommunikation, soziale Sicherung, Gesundheit sowie kommunale Versorgung – die Privatisierungen in Deutschland und ordnet sie in internationale Zusammenhänge ein. Sein Weckruf zeigt: Die Politik der Privatisierung öffentlicher Aufgaben, die von allen regierenden Parteien betrieben wird, ist nicht alternativlos. Die historischen Rettungspakete, die der Bund im Zuge der Corona-Krise 2020/21 geschnürt hat, drohen aber den Ruf nach weiteren Ausverkäufen noch lauter werden zu lassen.

»Der Autor … plädiert tapfer für öffentliche Bildung oder einen regulierten Gesundheitsmarkt und gegen die Verbetriebswirtschaftlichung der öffentlichen Daseinsfürsorge.« Süddeutsche Zeitung

Vita

Tim Engartner ist Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Direktor der Akademie für Bildungsforschung und Lehrerbildung. Er veröffentlicht regelmäßig Artikel in Tages- und Wochenzeitungen (ZEIT, FAZ, FR, taz, Freitag, SZ).

Inhalt

Staat im Ausverkauf – ein Weckruf

Ein lukrativer Markt: das Bildungssystem

Kinder als Kunden: Krippen, Kitas und Kindergärten

Unterricht aus der Marketingabteilung: die Schulen

Die Coronapandemie als Türöffner für die Digitalkonzerne

Apple: iPads, Classroom-Apps und »Education Pricing«

Facebook: Bildungspolitik und personalisierte Lehrpläne

»Googlefizierung« der Klassenzimmer

Microsoft: Programmierkenntnisse zur Codierung des Lebens

Amazon: zwischen Schreibwettbewerben und Lesefreuden

Schleichende Werbung in Zeiten digitaler Euphorie

Der Boom von Unterrichtsmaterialien

Die Ernährungslehre der Lebensmittelindustrie

Die Automobilhersteller erklären den Klimaschutz

Die Finanzwirtschaft lehrt Produktkunde

Profit vor Pädagogik: die Privatschulen

Fragwürdige Schulkonzepte

Distinktion statt Inklusion

Im Notfall zahlt der Staat Lehrgeld: die Hochschulen

Privathochschulen auf dem Prüfstand

Der Privatisierungsdruck an staatlichen Hochschulen

Heimlicher Gewinner: die Bertelsmann Stiftung

Was nur die öffentliche Bildung leisten kann

Die Privatwirtschaft hat Vorfahrt: das Verkehrswesen

Entgleisungen der Privatisierung: die Deutsche Bahn

Verkauf, Verpachtung und Verwahrlosung von Bahnhöfen

Kosten und Nutzen von »Stuttgart 21«

Rückzug aus der Fläche

Das Debakel der Berliner S-Bahn

Die Tarifpolitik der Deutschen Bahn

Der Erfolg der Schweizerischen Bundesbahnen

Der Ausverkauf von British Rail und seine Folgen

Freie Fahrt für Investoren: der Straßenverkehr

Die Nebenbetriebe der Autobahnen

Kostenfaktor Lkw-Maut

Destination Privatisierung: die zivile Luftfahrt

Flughäfen in privater Hand

Deutsche Lufthansa und Deutsche Flugsicherung

Was nur die öffentliche Verkehrsplanung leisten kann

Krieg als Geschäft: die Bundeswehr

Privatisierungen in den USA: Vorbild oder Mahnung?

Die Privatwirtschaft im Einsatz: Service- und Kernaufgaben

Rüstungskonzerne im Auslandseinsatz

New Public Management

Soldatinnen und Soldaten oder Söldnerinnen und Söldner? Kern- oder Serviceaufgaben?

Demokratie in Gefahr: die Folgen der Privatisierung

Privatisierung der Lebensrisiken: Rente und Arbeit

Lobbyistinnen und Lobbyisten profitieren: der Sozialstaat

Auftragsforschung, Honorartätigkeiten und Drehtüreffekte

Rendite statt Rente: die Privatisierung der Altersvorsorge

Altersarmut und Vorsorgelücken

Vergessene Vorzüge des Umlageverfahrens

Privatsache Arbeitslosigkeit: Hartz IV

Ernüchternde Bilanz der Arbeitsmarktreformen

Entsolidarisierung: Wer gewinnt und wer verliert durch die Reformen

Der große Postraub: Post und Telekommunikation

Prekarisierung durch Privatisierung: die Deutsche Post

Die Internationalisierung des Konzerns

Der Ausverkauf von Royal Mail und seine Folgen

Von der Behörde zum Global Player: die Deutsche Telekom

Betriebswirtschaftlich glamourös, volkswirtschaftlich desaströs

Krankheit Ökonomisierung: das Gesundheitswesen

Privatisierung und Entsolidarisierung: die gesetzlichen Krankenversicherungen

Steigende Zuzahlungen, sinkende Leistungen

Der Wirkstoff Betriebswirtschaft: die Krankenhäuser

Die Fälle Offenbach und Gießen/Marburg

Warum der Gesundheitsmarkt kein freier Markt werden kann

Umsteuern als Resultat aus der Coronakrise

Kostentreiber Privatwirtschaft: die kommunale Versorgung

Der Staat als Geisel: die öffentlich-privaten Partnerschaften

Langfristig teurer, nicht preiswerter

Die Macht der Lobby

Vielfältige Geltungsbereiche für ÖPP

Sorgenkinder: Abfallentsorgung und kommunale Gebäudereinigung

Wohnungen als Ware: die Wohnungsbaugesellschaften

Konsumgut statt Lebenselixier: die Wasserversorgung

Was die Kommunalwirtschaft besser kann als die Privatwirtschaft

Wem gehört was warum? Wem soll was gehören?

Aus Fehlern lernen

Gemeinwohlorientierung versus Gewinnorientierung

Die Notwendigkeit staatlicher Wirtschaftstätigkeit

Renaissance des Staates im Schatten der Coronapandemie?

Dank

Literatur

Staat im Ausverkauf – ein Weckruf

Ein lukrativer Markt: das Bildungssystem

Die Privatwirtschaft hat Vorfahrt: das Verkehrswesen

Krieg als Geschäft: die Bundeswehr

Privatisierung der Lebensrisiken: Rente und Arbeit

Der große Postraub: Post und Telekommunikation

Krankheit Ökonomisierung: das Gesundheitswesen

Kostentreiber Privatwirtschaft: die kommunale Versorgung

Wem gehört was warum? Wem soll was gehören?

Staat im Ausverkauf – ein Weckruf

Jeden Abend um 21:00 Uhr spendeten Menschen zu Beginn der Coronapandemie medizinischem Personal und Pflegekräften Applaus für ihren Einsatz. Derartige Anerkennung erfuhren die Beschäftigten in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen bislang selten. Aber in einer Zeit, in der »italienische Zustände« in den bundesdeutschen Krankenhäusern drohten, wurde offenkundig vielen gewahr, dass Covid-19-Infizierte auch um ihr Leben bangen müssen, weil im Gesundheitswesen die Gewinn- an die Stelle der Gemeinwohlorientierung getreten ist. Über Jahrhunderte hinweg hatte die in den Volksmund überführte Maßgabe gelautet: »Gesundheit lässt sich weder in Geld noch in Gold aufwiegen.« Mit dem Aufstieg des Neoliberalismus in den 1980er-Jahren jedoch hielten die Gesetze der Ökonomie auch im Gesundheitssystem Einzug. So hat das Fallpauschalen-System, über das inzwischen mehr als Dreiviertel des Budgets hiesiger Allgemeinkrankenhäuser abgewickelt werden, den Kostendruck erheblich verschärft. Längst ist die an betriebswirtschaftlichen Kriterien ausgerichtete Gesundheitsökonomie an die Stelle einer an den Bedürfnissen des Patienten orientierten Gesundheitsversorgung getreten – zu Lasten der gesetzlich krankenversicherten Patientinnen und Patienten mit teils unverantwortlichen Wartezeiten bei Facharztpraxen und zum Nachteil der Beschäftigten unterhalb der Chefarztebene.

Vom betriebswirtschaftlichen Imperativ und der damit einhergehenden Kapitalmarktorientierung durchdrungen wurde auch der vormals größte Arbeitgeber der Bundesrepublik, die Deutsche Bahn. Fahrpreiserhöhungen, Bahnhofsschließungen, Lok- und Oberleitungsschäden, Weichen- und Signalstörungen, Verzögerungen im Betriebsablauf aufgrund »dichter Zugfolge« – immer wieder gerät die Deutsche Bahn aufs Abstellgleis. Als internationaler Mobilitäts- und Logistikdienstleister konzentriert sich das »Unternehmen Zukunft« (Eigenwerbung) längst auf Frachttransporte zwischen Dallas, Delhi und Den Haag statt auf die Fahrgastbeförderung zwischen Delmenhorst, Dinslaken und Düren. Beinahe zwei Drittel seines Umsatzes erzielt der einst größte Arbeitgeber der Bundesrepublik inzwischen mit bahnfremden Dienstleistungen. Der Global Player vernachlässigt den inländischen Schienenverkehr und setzt stattdessen auf vermeintlich profitable Lkw-Speditionen (Stinnes), Fuhrparks (Bundeswehr) oder den Ausbau des Schienenverkehrs in Indien und Saudi-Arabien. Gleichzeitig fährt die Deutsche Bahn hierzulande bis zu 8.000 Stunden Verspätung am Tag ein.

Auch die Deutsche Post pflegt seit dem Jahr 2000 ihren Börsenkurs statt ihre Kundschaft und Beschäftigten. Um die »Aktie Gelb« attraktiv zu machen, wurden Tausende sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse durch 450-Euro-Jobs ersetzt, während sich der Vorstandsvorsitzende Frank Appel zuletzt über Bezüge von 5,2 Millionen Euro freuen durfte. Mini-, Midi- und Multi-Jobberinnen und -Jobber sowie Zeit- und Leiharbeiterinnen bzw. -arbeiter stellen Briefe und Pakete im Auftrag oder als »Servicepartner« des Konzerns zu. Wie die Konkurrenten UPS, DPD und Hermes delegiert auch das seit 2002 zur Deutschen Post AG zählende Logistikunternehmen DHL seine unternehmerische Verantwortung an Subunternehmen.

Deutsche Bahn und Deutsche Post führen vor Augen, worüber die Nachrichtensendungen in Deutschland nur selten berichten: Im Glauben daran, dass Privatisierungen Dienstleistungen besser, billiger und bürgernäher machten, schüttelt Vater Staat seit mehr als drei Jahrzehnten seine Aufgaben ab – wie ein Baum seine Blätter im Herbst: Von 1982, dem Beginn der Ära Helmut Kohl (CDU), bis heute trennte sich allein der Bund von rund 90 Prozent seiner unmittelbaren oder mittelbaren staatlichen Beteiligungen.

Unternehmen wie die Deutsche Bundespost, die Deutsche Bundesbahn, die Deutsche Lufthansa, die VEBA-Gruppe (die nun unter E.ON firmiert), die Immobiliengesellschaft IVG, die Bundesanstalt für Flugsicherung, die Gesellschaft für Nebenbetriebe der Bundesautobahn (nunmehr Tank & Rast) gehörten einst vollständig dem Bund und wurden doch alle privatisiert. Auch auf kommunaler Ebene greift die Entstaatlichung seit vielen Jahren Platz. Allerorten verkaufen Städte und Gemeinden ihre Wohnungen, Stadtwerke und Schulgebäude. Bei zwei von drei Haushalten wird der Müll inzwischen von Privatunternehmen wie den Branchenriesen Alba, Remondis, Sulo oder Veolia entsorgt. Marktmechanismen greifen seit einigen Jahren selbst bei (Hoch-)Schulen, Krankenhäusern und Justizvollzugsanstalten sowie bei Wasser-, Klär- und Elektrizitätswerken. Privatisiert werden neuerdings aber auch militärische Dienste, Gewässer und Sparkassen – stets mit dem Versprechen, alle Mitglieder der Gesellschaft würden dadurch gewinnen und keines etwas verlieren.

Dabei werden die Steuern auf Unternehmensgewinne nicht nur seit Jahren immer weiter abgesenkt. Zugleich treiben die Finanzbehörden die gesetzlich vorgeschriebenen Steuern selbst dann nicht in voller Höhe ein, wenn sie historisch niedrig sind – sei es mangels ausreichenden Personals oder aufgrund politisch organisierter Schlupflöcher. Gerade prototypisch stehen dafür die Cum-Cum- und Cum-Ex-Geschäfte. 31,8 Milliarden Euro sollen dem deutschen Fiskus dadurch entgangen sein, dass Banker, Börsenmaklerinnen und Anwälte über Jahre dafür sorgten, dass Aktionären Steuergeld zurückerstattet wurde, das ihnen nicht zustand. In einigen Fällen erhielten sie sogar eine Steuer, die nur einmal bezahlt wurde, mehrfach zurück (Blickle u. a. 2017).

Von der immer wieder in Aussicht gestellten Entlastung der öffentlichen Haushalte kann aber auch dann keine Rede sein, wenn man auf die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung blickt. So wurden durch die Privatisierung der öffentlichen Infrastruktur allein in den vergangenen 25 Jahren mehr als 1,2 Millionen Arbeitsverhältnisse vernichtet. Die historische Sondersituation der deutsch-deutschen Vereinigung, die in den 1990er-Jahren massiven ökonomischen Druck erzeugte, begünstigte das Abschmelzen von Bundesbeteiligungen in einzigartiger Weise. Rechnete man den Ausverkauf des DDR-Vermögens durch die Treuhandanstalt hinzu, bei dem viele volkseigene Betriebe weit unter Wert an teils windige Investoren veräußert wurden, fiele die Privatisierungsbilanz noch düsterer aus.

Die kontinuierlich steigenden Kosten, die wir für Wasser, Strom und Gas aufbringen müssen, sind das Ergebnis der in den 1990er-Jahren angestoßenen Privatisierungen im Energiesektor – aber die wenigsten Bürgerinnen und Bürger sehen diesen Zusammenhang. Ferner hat die Debatte um die Ausstattung von Schulen mit digitalen Endgeräten im Zuge der Coronapandemie gezeigt, dass sich Bildung in der von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) proklamierten »Bildungsrepublik« schon jetzt nicht mehr jeder leisten kann. Dessen ungeachtet wächst die Zahl der privaten und damit gebührenpflichtigen Kindertagesstätten, (Hoch-)Schulen und Nachhilfeinstitute unaufhörlich. Die mit der Privatisierung der Bundesdruckerei einhergegangene Preisexplosion bei der Ausstellung von Personalausweisen, Reisepässen und Führerscheinen sorgt zwar regelmäßig für Unmut, aber statt auf die Privatisierungspolitik zu schimpfen, verteufeln wir die träge Verwaltung. Und die Wehklagen über das »Unterschichtenfernsehen« von RTL, RTL II und SAT.1 wären hinfällig, wenn die zu Beginn der 1980er-Jahre vom Bertelsmann-Konzern mit der unionsgeführten Bundesregierung vorangetriebene Privatisierung des Rundfunks unterblieben wäre.

Die Suche nach preiswertem Wohnraum treibt längst nicht mehr nur junge Menschen und finanziell schlechter gestellte Bevölkerungsgruppen um. Waren erschwingliche Wohnungen lange Zeit nur in Hamburg, Köln, München und Stuttgart knapp, mangelt es inzwischen in beinahe allen Ballungszentren an bezahlbarem Wohnraum. Geradezu unter dem Brennglas zu beobachten ist die Dynamik des Wohnungsmarktes in Berlin. Bis zu dem am 30. Januar 2020 eingeführten und nur 16 Monate später vom Bundesverfassungsgericht gekippten »Mietendeckel« schossen die Mieten auch in Vierteln der Bundeshauptstadt in die Höhe, in denen Wohnraum lange preiswert war, sodass die Ärmeren den Wohlhabenderen Platz machen mussten. Gab es 1987 in Westdeutschland noch über vier Millionen Sozialwohnungen, sind es heute bundesweit nur noch rund 1,12 Millionen. Allein von 2007 bis 2019 sank die Zahl der staatlich geförderten Wohnungen in Deutschland um mehr als die Hälfte. Einer der zentralen Gründe: 1989 wurde die Wohngemeinnützigkeit abgeschafft, d. h. die Förderung von Sozialwohnungen durch Steuererleichterungen. Die Forderung nach einem Recht auf Wohnen verhallt seit Jahren, ohne dass Bundes-, Landes- oder Kommunalregierungen zur Tat schreiten. Obwohl das anhaltend niedrige Zinsniveau prädestiniert wäre, dass die öffentliche Hand eine bundesweite Wohnungsbauoffensive startet, wird Baugrund nach wie vor bevorzugt für private Großinvestoren ausgewiesen. Diese dürfen nicht nur mit einer bevorzugten Behandlung bei der Beantragung von Baugenehmigungen rechnen, sondern auch mit großzügigen Steuerbefreiungen. Für sie beläuft sich die Grunderwerbssteuer ebenso auf 3,5 (Bayern und Sachsen) bis 6,5 Prozent (Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen, Saarland, Brandenburg und Thüringen) wie für Familien, die unter schmerzhaftem Verzicht auf Urlaubsreisen Geld für ihr Eigenheim gespart haben.

In all jenen Kommunen, in denen die Abfallentsorgung, die Energie- und Wasserversorgung sowie die Gebäudereinigung privatisiert wurden, klettern die Preise mitunter bis aufs Dreifache. In den vergangenen zehn Jahren wurden weit über 1.100 Schwimmbäder geschlossen. Die teils horrenden Eintrittspreise für privat betriebene »Spaßbäder« können sich finanzschwache und/oder kinderreiche Familien nicht mehr leisten. Der soziale Ausgleich als Prinzip der Sozialen Markwirtschaft bleibt auch im öffentlichen Personennahverkehr auf der Strecke: Bus- und Straßenbahntickets werden regelmäßig teurer, die Taktungen ausgedünnt, Haltestellen aufgegeben.

Obwohl Privatisierungen also offenkundig für die Mehrheit der Bevölkerung beträchtliche und für unzählige Menschen existenzielle Nachteile mit sich bringen, hält sich der öffentliche Unmut in Grenzen. Dabei sorgt sich angesichts des Um- und Abbaus des Sozialstaates nahezu jeder und jede, ob er oder sie den Lebensstandard wird aufrechterhalten können – erst recht im Ruhestand. Wie lässt sich dies erklären? Ein Grund dürfte sein, dass die Bevölkerung die Verschlechterungen gar nicht mit Privatisierungen in Verbindung bringt, weil diese häufig im Verborgenen, ja mitunter sogar »streng geheim«, vor sich gehen. Ein eindringliches Beispiel liefert die Deutsche Bahn, deren damaliger Vorstandsvorsitzender Hartmut Mehdorn 2006 mit der »Verschlossenen Auster« ausgezeichnet wurde – dem von der Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche e. V. verliehenen Negativpreis für »Auskunftsverweigerer in Politik und Wirtschaft«. Wesentliche Informationen drangen in der »Mehdorn-Ära« nicht an die Öffentlichkeit; die Bahn zog Werbeanzeigen in Medien, die kritisch berichtet hatten, zurück. Als eine der größten Anzeigenkundinnen im deutschen Verlagswesen und als Abnehmerin großer Zeitungskontingente für Erste-Klasse-Reisende und DB-Lounges kann die Bahn die Berichterstattung beeinflussen. So bleiben viele Folgen ihrer Privatisierung im Dunkeln.

Privatisierungen werden auch deshalb zu selten kritisiert, weil sie im Zeitalter des Neoliberalismus als »alternativlos« wahrgenommen werden. Den meisten Menschen ist nicht bewusst, dass mit Privatisierungen lediglich Symptome kurzfristig kuriert, nicht aber die Ursachen für die Missstände langfristig beseitigt werden: Zwar erzielen Kommunen, Länder und der Bund mit Privatisierungen hohe Einmaleinnahmen, für die sich Politikerinnen und Politiker erwärmen können, weil sie ihnen neue finanzielle Handlungsspielräume eröffnen. An der Unterfinanzierung der Gebietskörperschaften ändert dies aber nichts. Es bedarf der Einsicht, dass ein Steuersystem, das Arbeit diskriminiert und Kapital privilegiert, nicht nur die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft, sondern auch den Privatisierungsdruck erhöht.

Hohe Einkommen zeichnen sich durch eine höhere Sparquote aus, d. h. sie werden zu einem geringeren Teil für den Konsum ausgegeben und stattdessen – prozentual steigend – gespart. Die Bezieherinnen und Bezieher hoher Einkünfte suchen also gerade bei niedrigen Kapitalmarktzinsen nach rentablen Anlagemöglichkeiten. Investitionen in die öffentliche Infrastruktur bieten dafür beste Möglichkeiten, da sie ausgesprochen sicher sind: Bahn-, Flug- und Straßenverkehr werden auf absehbare Zeit nicht eingestellt werden, Wasser-, Klär- und Elektrizitätswerke sind unverzichtbar, Selbiges gilt für Justizvollzugsanstalten, Rathäuser und Schulen. Bei investorenfreundlichen Konditionen zulasten der öffentlichen Hand – etwa über öffentlich-private Partnerschaften (ÖPP) – sind diese Investments für Kapitalanleger ausgesprochen lukrativ. Diesen Zusammenhang stellen die meisten Medien jedoch nur selten her, obwohl immer mehr Städte und Gemeinden die Privatisierung von Schulgebäuden mittels ÖPP forcieren. Immer mehr bundesdeutsche Großstädte bevorzugen nicht das im Vergleich zur konventionellen Eigenleistung durch die Stadt oder Gemeinde auf eine Sicht von 30 Jahren regelmäßig teurere Finanzierungsmodell. Die Gutachten des Bundesrechnungshofs und der Landesrechnungshöfe finden nach wie vor zu selten Gehör, so dass ÖPPs unverändert auf allen gebietskörperschaftlichen Ebenen als Lösung für finanzielle und organisatorische Unzulänglichkeiten des öffentlichen Sektors gelten.

Häufig greift der Ausverkauf des Staates erst dann Platz, wenn dessen Güter und Dienstleistungen über Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte vernachlässigt wurden. So eröffneten etwa die kurzzeitig eingeführten Studiengebühren den Hochschulbibliotheken die Möglichkeit, eine Vielzahl neuer Bücher anzuschaffen. Sie verwiesen nun mit einem Stempelaufdruck der Art »Aus Studiengebühren finanziert« in den Büchern auf die Finanzierungsquelle. Die jahrelange staatliche Unterfinanzierung der Hochschulen drang hingegen nicht ins kollektive studentische Bewusstsein, sodass sich die Gleichung »Studiengebühren = gute Studienbedingungen« festsetzte. Selbst viele Politik- und Pädagogikstudierende erkannten das eigentliche Übel nicht: dass Deutschland (gemessen am Bruttoinlandsprodukt) bei den Bildungsausgaben im letzten Drittel der OECD-Staaten rangiert.

Ein weit in die Historie zurückreichendes Beispiel illustriert die guten Gründe, die gegen die Privatisierung hoheitlicher Aufgaben sprechen. Nachdem es im antiken Rom beinahe täglich gebrannt hatte, gründete Marcus Licinius Crassus 70 v. Chr. eine private Feuerwehr. Wenn es brannte, erschien Crassus am Ort des Geschehens und unterbreitete dem Besitzer des brennenden Gebäudes ein Angebot: War er bereit, sein Haus zu einem Bruchteil des angemessenen Preises zu verkaufen, schritten die Löschtruppen zur Tat. Wenn nicht, pfiff Crassus seine Feuerwehrsklaven zurück und ließ dem Feuer seinen Lauf. So stieg er zu einem der reichsten Römer seiner Zeit auf.

Auch zahlreiche Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit lassen erkennen, welche verheerenden Folgen Privatisierungen zeitigen können. Nachdem der britische Premierminister John Major 1994 das Staatsunternehmen British Rail privatisiert hatte, mussten die britischen Bahnreisenden allein im ersten Jahrzehnt mehr als 11.000 Jahre Verspätung in Kauf nehmen. Die Zerschlagung von British Rail in 106 private Einzelgesellschaften ließ nicht nur mehr als 2.000 Subunternehmen entstehen, sondern machte bereits nach kurzer Zeit die damit verbundenen Risiken deutlich: Die Unfälle von Southall (1997), Paddington (1999) und Hatfield (2000), die zusammen 42 Tote und mehr als 500 teils schwer Verletzte forderten, haben sich ins kollektive Gedächtnis der Britinnen und Briten eingebrannt – und die Politik schließlich genötigt, den Infrastrukturbetreiber Railtrack wieder zu verstaatlichen.

Aber während in Großbritannien selbst (bahnpendelnde) Investmentbanker für eine Wiederverstaatlichung (der Eisenbahn) plädierten, versickert nach wie vor jeden Tag von der breiten Öffentlichkeit unbemerkt ein Drittel des Trinkwassers im Londoner Erdreich. Obwohl die geschätzte Wassermenge ausreichen würde, um mehr als 350 olympische Schwimmbecken zu füllen, und das Trinkwasser aufgrund der eindringenden Luft häufig schal wird, setzt das private Wasserver- und -entsorgungsunternehmen die Rohre nicht in Stand. Thames Water, das seit Oktober 2006 zu einem Konsortium unter Leitung eines australischen Investmentfonds namens Kemble Water Holdings zählt, scheut die Investitionen und wurde auch deshalb häufiger als jedes andere britische Unternehmen wegen Umweltdelikten belangt. Aufgrund überlasteter Kanäle werden beinahe jede Woche ungereinigte Abwässer in die Themse abgeleitet. Nach einer starken Regenflut im Juli 2007 mussten aus dem gesamten Land Tanklaster zusammengezogen werden, um die 150.000 Anwohnerinnen und Anwohner in Cheltenham, Gloucester und Tewkesbury mit Trinkwasser zu versorgen, weil der privatisierte Wassermonopolist Severn Trent die Instandhaltung der Trinkwasseranlagen in den englischen Midlands über Jahre vernachlässigt hatte. Und als der Konzern 2013 eine feindliche Übernahme mit geschätzten 19 Millionen Pfund Sterling abwehren musste, stiegen die Wasserpreise um zwei Prozent.

Man sieht: Auch wenn das vorliegende Buch sich im Wesentlichen den Privatisierungen in der Bundesrepublik Deutschland widmet, rollt die Welle staatlicher Selbstentmachtung doch keinesfalls nur dort. Als sich die »Troika« im Schatten der 2007 über uns hereingebrochenen Wirtschafts- und Finanzkrise auf ein »Sparprogramm« für Griechenland verständigt hatte, schallte der Ruf nach dem Verkauf von Staatsbesitz bis nach Hellas: 50 Milliarden Euro sollte die griechische Regierung durch Privatisierungen bis 2015 erlösen – eine gigantische Summe. Stolz sprach die damalige Regierung vom »weltgrößten Privatisierungsprogramm«, das u. a. die Energiefirmen Depa, DEI und Hellenic Petroleum, das Telekommunikationsunternehmen Hellenic Telecom sowie den Wettanbieter OPAP teilprivatisieren sollte. Tatsächlich flossen bis 2015 nur 3,2 Milliarden Euro in die staatlichen Kassen. Und auch wenn es inzwischen knapp acht Milliarden Euro sind, liegt der milliardenschwere Ausverkauf staatlicher Unternehmen weniger im Interesse der griechischen Bevölkerung als vielmehr in dem der Investoren, das der konservative Premier Kyriakos Mitsotakis als ehemaliger Investmentbanker und Analyst der Unternehmensberatung McKinsey fortlaufend bedient.

Aber auch in Spanien, Portugal und Italien ist die Privatisierungseuphorie der konservativ-liberalen Parteien ungebrochen – und selbst in Lateinamerika und in Südostasien scheuen Regierungen nicht vor Entstaatlichungsprogrammen zurück. Vorreiter sind – wie bei vielen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Entwicklungen – die USA und Großbritannien. So sind die Vereinigten Staaten von Amerika weltweit »Spitzenreiter« beim Einsatz privater Streitkräfte, beim Bau und Betrieb privater Haftanstalten sowie bei der Einrichtung von ÖPPs im Bildungssektor. In Großbritannien ließ Margaret Thatcher kaum ein Staatsunternehmen unangetastet. Während ihrer Amtszeit zwischen 1979 und 1990 privatisierte die »Eiserne Lady« zunächst jene Unternehmen, die besonders hohe Verkaufserlöse versprachen: British Petroleum (1979), British Aerospace (1981), Cable and Wireless (1981), British Telecom (1982), Britoil (1985), British Airways (1987), Rolls-Royce (1987), British Steel (1988) und Thames Water (1989). Allein zwischen 1984 und 1991 wurde ein Drittel der weltweiten Privatisierungserlöse in Großbritannien erzielt. Beinahe eine Million Beschäftigungsverhältnisse wurden während dieses Zeitraums vom öffentlichen in den privaten Sektor überführt (Wright 1994, 10).

Aber der Blick über den Ärmelkanal stimmt auch hoffnungsfroh. Mittlerweile stoßen Privatisierungen bei der überwältigenden Mehrheit der Briten und Britinnen auf Ablehnung. Schon vor zwei Jahrzehnten schilderte der London-Korrespondent der ZEIT, Jürgen Krönig, unter der Überschrift »Insel der Katastrophen – Die Lehren der Eisernen Lady haben ausgedient« das landesweite Unbehagen (2001): »Marktprinzip und Privatisierung, ideologische Markenzeichen der Thatcher-Revolution, von New Labour bejaht und für den Gebrauch einer Mitte-Links-Partei modifiziert, werden auf der Insel nun wieder infrage gestellt. Urplötzlich geistert sogar ein längst tot geglaubter Begriff durch die Lande – Verstaatlichung. Mehr als zwei Drittel der Briten wünschen, die Privatisierung der Eisenbahn möge rückgängig gemacht werden. Über die Schattenseiten der fulminanten Entstaatlichung in den vergangenen zwei Dekaden wird mittlerweile auf Dinnerpartys der konservativen ›middle classes‹ lamentiert. Wir sind zu weit gegangen, lautet der Tenor selbst in Wirtschaftskreisen.«

Die Gründe für den weltweiten Privatisierungswahn – der nur vereinzelt politisch kritisiert wird – sind vielfältig, kulminieren aber letztlich alle im neoliberalen Glauben an den Markt als »Allheilmittel«. Das neoliberale Credo des »schlanken« – mitunter sogar des »magersüchtigen« – Staates geriet und gerät ins Wanken, weil die »Steuerungsdefizite des Staates und im Staate« (Jänicke 1993, 65) immer öffentlichkeitswirksamer herausgestellt wurden. So gelingt es dem Bund der Steuerzahler mit seinem auf die Unzulänglichkeiten staatlicher Wirtschaftstätigkeit zielenden »Schwarzbuch« Jahr für Jahr, ein breites Medienecho auszulösen. Die Unzulänglichkeiten privatwirtschaftlicher Tätigkeit (in Bereichen der öffentlichen Daseinsfürsorge) werden in den überregionalen Tages- und Wochenzeitungen hingegen immer noch viel zu selten behandelt.

Das aber ist gerade jetzt von nicht zu überschätzender Bedeutung, denn mit dem durch die Coronakrise ausgelösten Konjunktureinbruch und den daraus erwachsenden Steuermindereinnahmen wird der Privatisierungsdruck massiv wachsen. Die Frage, ob – und wenn ja, wie – die Finanzpolitik einen Pfad in Richtung regulärer Schuldenbremse gestalten kann, wird schon jetzt in wirtschaftsliberalen Kreisen intensiv diskutiert: »Nach jetzigem Stand sind dabei mittel- bis langfristig Konsolidierungsmaßnehmen [sic!] unvermeidbar. Die jüngsten Prognosen ändern an den Empfehlungen […], ausgabenseitig und bei Subventionen anzusetzen, wenig« (Boysen-Hogrefe 2020, 4). Nach wie vor ist auf der Website des Bundesministeriums der Finanzen zu lesen (2020): »Durch Privatisierung gewinnen Staat und Unternehmen Handlungsfreiheiten: Der Bund setzt Reformpotenziale frei und die Unternehmen steigern ihre Effizienz, um sich im internationalen Wettbewerb zu positionieren. Dies zeigt sich in nahezu allen Bereichen, in denen aus staatlichen monopolisierten Industrien wettbewerbsorientierte Märkte und eine Vielfalt des Angebots entstanden, die den Verbrauchern und Unternehmen zu Gute kommen.« Dass diese Haltung auf der Website des von Olaf Scholz (SPD) geführten Bundesministeriums prominent vertreten wird, lässt erkennen, wie tief der neoliberale Zeitgeist selbst in sozialdemokratische Kreise eingedrungen ist.

Zugleich gilt zu betonen, dass die Politik der staatlichen Selbstentmachtung nicht ohne Lobbyismus in Richtung aller im Deutschen Bundestag vertretenen politischen Parteien denkbar ist, vor allem nicht im Bildungs-, Finanz-, Gesundheits-, Verkehrs- und Sicherheitssektor. Gerade in diesen Politikfeldern stehen Lobbyisten und Lobbyistinnen die Türen zu den politischen Stellwerken teils sperrangelweit offen. Allein die Ministerien für Verteidigung, Inneres und Verkehr verausgabten 2019 knapp 418 Millionen Euro für externe Beraterinnen und Berater. Insgesamt überstiegen die diesbezüglichen Ausgaben (oder derartigen Beraterkosten) der 15 Ressorts auf Bundesebene in Höhe von 548,5 Millionen Euro die auch im internationalen Vergleich kaum vorstellbare Schwelle von einer halben Milliarde Euro (dpa 2020). Bundesfinanzminister Olaf Scholz gab zudem jüngst zu verstehen, dass sein Haus an dieser Praxis festhalten wolle. Dass selbst schmerzliche Erfahrungen wie die mit dem von Andreas Scheuer (CSU) zu verantwortenden »Pkw-Maut-Desaster«, das die deutschen Steuerzahlerinnen und -zahler 760 Millionen Euro kosten dürfte, keine Abkehr von der systematischen und langfristigen Einbindung von aus der Privatwirtschaft entsandten »Leihbeamten und -beamtinnen« auslöst, ist nicht nur ein Armutszeugnis für die öffentliche Verwaltung. Es zeigt außerdem, wie weit die Abhängigkeiten der öffentlichen Hand von privatwirtschaftlichen Interessen gediehen sind.

Überdies erhalten privatwirtschaftliche Interessen durch »janusköpfige« Abgeordnete immer stärker Einzug in die Plenarsäle: Zahlreiche Politikerinnen und Politiker gehen schon als Mandatsträgerinnen und -träger zeitintensiven »Nebentätigkeiten« in der Wirtschaft nach oder werden spätestens nach ihrem Mandat durch die lobbyistische Drehtür auf lukrative Posten in der Privatwirtschaft befördert. Wenn sich ehemalige SPD-Parteivorsitzende wie Sigmar Gabriel in den Dienst der Deutschen Bank stellen, langjährige EU-Kommissare wie Günther Oettinger (CDU) ohne »Abkühlzeit« bei einem Dutzend privater Arbeitgeber wie der Unternehmensberatung Deloitte und der Fondsgesellschaft Amundi anheuern und Neu-Parlamentarier wie Philipp Amthor (CDU) für ihre Lobbyarbeit zugunsten von IT-Unternehmen wie Augustus Intelligence Aktienoptionen erhalten, gefährdet dies nicht nur demokratische Prinzipien. Zugleich bahnt die Methode »Revolving Door« (Drehtür) der Aushöhlung von Vater Staat den Weg, weil die Politiker und Politikerinnen sich nicht mehr (nur) den Interessen ihrer Wählerschaft verpflichtet sehen, sondern auch denen ihrer (potenziellen) privaten Auftraggeber. Diese wurde zuletzt mit der im Frühjahr 2021 vom Nachrichtenmagazin Der Spiegel aufgedeckten »Maskenaffäre« deutlich, als sich CDU- und CSU-Abgeordnete wie Nikolas Löbel, Georg Nüßlein, Mark Hauptmann, Niels Korte und Alfred Sauter wegen der Einflussnahme auf die Beschaffung und Produktion medizinischer Schutzmasken offenkundig bereicherten. Die eigenen Verdienstmöglichkeiten desavouieren die in Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz festgeschriebene Maßgabe »Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat«.

Wie einflussreich die Akteure hinter den Kulissen sind, zeigte sich unlängst einmal mehr. Die Bürgerbewegung Finanzwende, geführt vom ehemaligen grünen Finanzexperten Gerhard Schick, hat zutage gefördert, dass der Finanzindustrie in Deutschland die Lobbyarbeit über 1.500 Mitarbeiter und mehr als 200 Millionen Euro pro Jahr wert ist (Bürgerbewegung Finanzwende 2020). Stellt man diesem gewaltigen Engagement die Mitglieder des Finanzausschusses im Deutschen Bundestag gegenüber, ergibt sich ein Personenverhältnis von 36 zu 1. Welchen Einfluss die führenden Wirtschaftsprüfungsgesellschaften Deloitte, Ernst & Young, KPMG sowie PricewaterhouseCoopers (PWC) insbesondere im Bundeswirtschafts-, Bundesfinanz- und Bundesjustizministerium geltend machen können, zeigen die von den »Big Four« verwässerten Branchenvorschriften, die zuletzt u. a. im Wirecard-Skandal gipfelten. Unzählige Lobbyorganisationen umgarnen Politikerinnen und Politiker auf pompösen Empfängen, mit detaillierten Stellungnahmen und im direkten Vier-Augen-Gespräch, um ihren Interessen Nachdruck zu verleihen.

Lobbyismus kennt darüber hinaus gerade in »privatisierungsanfälligen« Bereichen verborgene Wege, was in Gestalt des »Deep Lobbying« als besonders subtiler Form der Einflussnahme offenkundig wird: Dazu zählt, dass das Formulieren von Gesetzestexten an Anwaltskanzleien ausgelagert wird. Allen & Overy, Freshfields Bruckhaus Deringer und Gleiss Lutz sind nur drei von vielen. Darunter fällt auch die Platzierung von Leihbeamten und -beamtinnen in Ministerien. Als neue Spielart des informationellen Inputs hat in den vergangenen Jahren die »wissenschaftliche« Politikberatung an Bedeutung gewonnen. Durch Studien aus den Federn von Sachverständigenräten, Beiräten, Expertenkommissionen, Hochschulen, Stiftungen und Think Tanks werden Privatisierungsvorhaben auf ein vermeintlich belastbares Fundament gestellt, obwohl diese »Politikberatung auf Weisung« wissenschaftlichen Gütekriterien häufig nicht genügt.

Während Sie dieses Buch lesen, arbeiten Heerscharen von Industrie- und Finanzunternehmen, von Wirtschaftsprüfern und -anwältinnen, von Stiftungen und Forschungsinstituten, von Konzernbeiräten und Leihbeamten – mal leiser und mal lauter – daran, den Staat weiter zu beschneiden. Tag und Nacht widmen sich Unternehmens- und Steuerberatungen wie McKinsey & Company, Roland Berger Strategy Consultants, Bain & Company, PWC, Ernst & Young, KPMG und Boston Consulting Group der Frage, wie öffentliches Eigentum zugunsten privater Kapitalgeber liquidiert werden kann. Eine halbe Milliarde Euro gab die Bundesregierung allein 2019 für externe Beraterinnen und Berater aus, vor allem für sogenannte Sachverständige im Bereich Verteidigung und Militär. Zum Vergleich: In den sozialen Wohnungsbau wurden 2020 gerade einmal 400 Millionen Euro investiert. Zeitgleich bahnen millionenschwere Lobbygruppen den weiteren Ausverkauf öffentlichen Eigentums an. Dazu zählen die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) mit höchst manipulativen Wort- und Bildkampagnen, die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) als eng mit der Politik verflochtenes Netzwerk und die Bertelsmann Stiftung. Solche »Denkfabriken« und Think Tanks üben den wohl am meisten nachhaltigen Einfluss in Richtung »Vermarktlichung« auf die deutsche Politik aus.

Vermutlich wird auch das vorliegende Buch das Pendel der Privatisierungspolitik nicht in die andere Richtung ausschlagen lassen. Dafür wird die Leserschaft dieses Buchs zu klein und die Privatisierungslobby weiterhin zu einflussreich sein. Aber womöglich ändert sich im Nachgang der Coronapandemie als jüngster gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Bewährungsprobe nach der Finanz-, Wirtschafts- und Eurokrise zu Beginn des 21. Jahrhunderts das Bild von staatlichen Gewährleistungsangeboten? Wurde nicht mit den milliardenschweren staatlichen Hilfsprogrammen für Adidas, Lufthansa und TUI erneut das Ende der freien Marktwirtschaft verkündet? Selbst der FDP-Vorsitzende Christian Lindner gab im Frühjahr 2020 im Deutschen Bundestag zu verstehen (zit. nach Heinemann 2020): »Jetzt ist die Stunde des Staates. Wir brauchen ihn bei allem, was über die Fähigkeit, individuell Verantwortung zu übernehmen, hinausgeht.« Und in einer Bundestagsrede am 16. Dezember 2020 betonte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) mit Blick auf die coronabedingten Kontaktbeschränkungen: »Das Wir ist stärker als das Ich.« Nun, da bekannt ist, dass Spahn inmitten der Coronapandemie gemeinsam mit seinem Ehemann für 4,1 Millionen Euro eine Villa in Berlin-Dahlem erwarb, klingt die Aussage ohnehin schon wenig glaubwürdig. Darf man dennoch an einen belastbaren Wandel des Staatsverständnisses in den Reihen von Union und FDP glauben?

Dem stehen nicht nur die Erfahrungen mit den politischen Realitäten in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten entgegen, sondern auch der 2015 von dem US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Philip Mirowski in seinem Werk »Untote leben länger« formulierte Befund, wonach der Neoliberalismus trotz der mit der Finanzkrise an den Rand des Zusammenbruchs gebrachten Weltwirtschaft stärker sei denn je. Und auch die Feststellung des britischen Politologe Colin Crouch, der nur vier Jahre zuvor in seinem gleichnamigen Werk das »befremdliche Überleben des Neoliberalismus« konstatiert hatte (2011), liest sich überzeugend. Aber unabhängig davon, ob es zu einer dauerhaften Neueinschätzung der Bedeutung staatlicher Wirtschaftstätigkeit kommen wird (oder eben nicht), wird für deren Akzeptanz zentral sein, dass Inkompetenz und Ineffizienz der öffentlichen Verwaltung der Vergangenheit angehören. Inakzeptable Bearbeitungszeiten bei Bauanträgen, mangelhafte Digitalisierungsprozesse in Kommunalverwaltungen, grotesk langwierige Gerichtsverfahren sowie unterfinanzierte und zugleich kostenpflichtige Kita-Plätze schaden der Akzeptanz einer staatlich verantworteten Gemeinwohlorientierung in Gestalt öffentlicher Güter und Dienstleistungen.

Das vorliegende Buch analysiert dieses neu definierte Staatsverständnis zwar, geht aber davon aus, dass es nicht nur eines bloßen Regierungswechsels auf dem Weg zu einer Renaissance des Staates bedarf. Zentrale Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge werden nur dann reaktiviert werden können, wenn es zu einem sicht- und spürbaren Politikwechsel kommt. Das mit dem Ziel der höheren Lesbarkeit auf in wissenschaftlichen Kontexten übliche Quellenangaben stellenweise verzichtende Buch nimmt seinen argumentativen Ausgang daher in einer durchweg privatisierungskritischen Haltung. Privatisierungen betrachte ich als Überführungen staatlichen Eigentums in privates Eigentum im Sinne der »Vermarktlichung« der öffentlichen Daseinsvorsorge, die oft keiner Sachzwanglogik folgen. Meine Ausführungen illustrieren besonders eindrückliche Fallbeispiele und spitzen Thesen zu – unter weitreichender Ausblendung der betriebswirtschaftlich womöglich positiven Dimensionen von Privatisierungen, aber stets getragen von der Überzeugung, dass in den vergangenen Jahren zu viele Gewinne privatisiert und zu viele Verluste sozialisiert worden sind. Denn auch deshalb ist die Vermögensungleichheit inzwischen in keinem EU-Staat größer in Deutschland. Dass das auf dem Leitbild der Leistungsgesellschaft fußende Aufstiegsversprechen der »Alten Bundesrepublik« Tag für Tag unterlaufen wird, ist einer der wesentlichen Gründe für die sich verbreitende und verfestigende Polarisierung unserer Gesellschaft. Die nicht leistungsgerechte Konzentration hoher Vermögen ist jedoch nicht die einzige negative Auswirkung der Privatisierungspolitik. Soll unsere Gesellschaft nicht weiterhin von einer auf Ellenbogenmentalität fußenden Individualisierung geprägt sein, in der jeder und jede allein seines bzw. ihres eigenen Glückes Schmied ist, muss die »Verbetriebswirtschaftlichung« der öffentlichen Daseinsvorsorge dringend ein Ende finden.

Insofern soll dieses Buch einen »Weckruf« darstellen. Es richtet sich nicht nur an all jene, die ohnehin an wirtschafts- und sozialpolitischen Debatten interessiert sind, sondern auch an diejenigen, die sich zunächst einmal nur sorgen – um ihre Sportstätten und Kultureinrichtungen vor Ort, um das berufliche Schicksal der Paketboten und -botinnen oder Bahnschaffner und -schaffnerinnen, um ihre Gesundheitsversorgung und ihre Rente oder um die Bildung ihrer (Enkel-)Kinder. Längst trifft der Verkauf öffentlichen Eigentums nicht mehr nur Personenkreise ohne politische Lobby, die für eine boomende Wirtschaft nur von geringer Bedeutung sind oder eine heterogene Wählerschaft bilden (zum Beispiel Schülern und Schülerinnen sowie Studierende, Erwerbslose, einkommensschwache Familien oder Menschen mit Behinderungen). Vor diesem Hintergrund sollten wir alle wachsam sein, wenn die Gewinn- an die Stelle der Gemeinwohlorientierung tritt – jedenfalls dann, wenn wir nicht in einer Gesellschaft leben wollen, die von allem den Preis, aber von nichts mehr den Wert kennt.

Frankfurt am Main, im Sommer 2021, Tim Engartner

Ein lukrativer Markt: das Bildungssystem

Die Schulschließungen, die im Zuge der Coronakrise mit dem merkwürdig anmutenden Begriff des »Distanzunterrichts« angeordnet wurden, haben unzählige Routinen und Strukturen auf den Prüfstand gestellt. Auf einen Schlag wurde der schulische Bildungsauftrag in die Zuständigkeit der Familien verlagert. Deren prägende Sozialisationswirkung ist unbestritten, aber was es heißt, wenn die kleinste soziale Keimzelle zur Lehranstalt wird, in der Eltern und Geschwister in die Rolle von Lehrerinnen und Lehrern schlüpfen, ließ sich bislang allenfalls erahnen. Nun aber wurde im Shutdown nicht nur unter dem Brennglas sicht- und spürbar, wie intakte Familien auf das Phänomen der sozialen Verdichtung reagieren. Zugleich wurde deutlich, welchen zentralen Stellenwert die Schule als Erfahrungs-, Schutz- und Sozialisationsraum für die Gesellschaft hat. Und schließlich haben die Homeschooling-Wochen einige verallgemeinerungsfähige Erkenntnisse über das hiesige Schulsystem zutage gefördert, die es sich in den Blick zu nehmen lohnt.

So etwa droht »das Land der Dichter und Denker« zum »Staat der Stifter und Schenker« zu werden – und damit Bildung zur Ware: Immer massiver drängen die von dem Digitalpakt Schule beflügelten Digitalkonzerne Apple, Google und Microsoft in die Klassen- und Lehrerzimmer, immer häufiger übernehmen private Nachhilfeanbieter wie Schülerhilfe, Studienkreis, abiturma oder der zur Zeit-Verlagsgruppe zählende Schülercampus die Schulbildung nach Schulschluss. Auch die Anbieter von Sprachreisen und Weiterbildungskursen wachsen rasant, denn längst sind die Bildungsbiografien der Kinder zum Statusmerkmal ihrer Eltern geworden.

Aber in jüngerer Zeit greifen betriebswirtschaftliche Steuerungsmuster auch in einst ausschließlich staatlich verantworteten Bereichen des Bildungssystems Raum. Eine stetig wachsende Zahl an Kindertagesstätten, Schulen und Hochschulen wird nicht mehr ausschließlich aus öffentlichen, sondern auch aus privaten Mitteln finanziert. So öffnete in Deutschland zeitweilig jede zweite Woche eine neue Privatschule ihre Pforten. Und staatliche Hochschulen sind dem Wettbewerb nicht nur ausgesetzt, wenn sie mit der Fernhochschule AKAD, der Hochschule für Oekonomie und Management (FOM), der Hochschule Fresenius oder einer der anderen über 110 Hochschulen in privater Trägerschaft um Studierende buhlen. Längst konkurrieren sie auch untereinander um Hunderte von Millionen Euro an Drittmitteln aus der Privatwirtschaft.