Peter Waldmann

Oligarchie
in Lateinamerika

Dominante Familiennetzwerke
im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Die traditionellen gehobenen Schichten Lateinamerikas sind zu Recht Gegenstand weit verbreiteter Mythenbildung. Nicht als Einzelgebilde, sondern im Netzwerkverbund stellten einige wenige Familien besonders während der Belle Époque (1880–1920) im Verhältnis zur Gesamtgesellschaft einen bedeutenden sozio-politischen Machtfaktor dar. Mit einer patrimonialistischen Grundeinstellung sowie der Verfügung über ausgedehnten Grundbesitz schienen die Familien weniger nach politischer Macht als nach einer drastischen Vermehrung des familiären Vermögens zu streben. Erstmalig untersucht diese Studie die Entwicklung privilegierter Familiengemeinschaften in Argentinien, Brasilien, Chile, Mexiko und Peru seit der frühen Kolonialzeit bis ins 20. Jahrhundert.

Vita

Peter Waldmann war bis zu seiner Emeritierung 2002 Professor für Soziologie an der Universität Augsburg.

A Taciana

Inhalt

Danksagung

Einleitung

Begriffliches

Zur Vorgehensweise

Das Erbe des Patrimonialismus

Gab es Alternativen?

Ein Klassifizierungsvorschlag

1.Vorgeschichte in der Kolonialzeit

1.1Oberschichtsfamilien und Netzwerke in der frühen Kolonialzeit

1.2Entwicklungen im 18. Jahrhundert

1.3Ambivalenzen und Spannungspole

1.4Zeitbilder und Zeitporträts

2.Die Oberschichten in der Sattelzeit der Unabhängigkeitskriege und den Wirren danach

2.1Der Umbruch – Erste Reaktionen

2.2Mexiko: Land ohne Führungsschicht

2.3Argentinien: Eine Viehfarm im Großen

2.4Chile: Schwächen einer starken Schicht

2.5Brasilien: Loyalität im Schatten der Krone

2.6Überbrückungsmechanismen und Langzeiteffekte

2.7Zeitbilder und Zeitporträts

3.Familienkarrieren in den Jahrzehnten staatlicher Schwäche im 19. Jahrhundert

3.1Familien als Wirtschaftsunternehmen

3.2Fünf Familiengeschichten im Intergenerationenvergleich

3.3Provinzoligarchien

3.4Strukturelle Deformationen

3.5Zeitbilder und Zeitporträts

4.Die Belle Époque: Eroberung und Instrumentalisierung des Staatsapparats

4.1Vorgeschichte, Entstehungsbedingungen und Grundzüge oligarchischer Regime

4.2Eine herrschende Klasse?

4.3Legalismus und Repression

4.4Bereicherungsstrategien

4.5Schwache und starke Provinzen

4.6Zeitbilder und Zeitporträts

5.Familienstrukturen und soziales Leben in der Belle Époque

5.1Umbau der Städte

5.2Familienstrukturen im Wandel

5.3Europa als Maßstab »feiner Lebensart«

5.4Innenleben und Außenfassade der Oberschichtsnetzwerke

5.5Versuch einer Bilanz

5.6Zeitbilder und Zeitporträts

6.Herrschaftseinbuße und bleibende Hinterlassenschaft

6.1Übergangsregime

6.2Zählebigkeit familialer Netzwerke

6.3Langfristige Prägewirkungen

6.4Zeitbilder und Zeitporträts

Literatur

Danksagung

Es ist nicht einfach, bei Kollegen das Interesse für ein Thema zu wecken, das am Schnittpunkt unterschiedlicher Disziplinen angesiedelt ist und sich zudem auf einen Subkontinent bezieht, der ständig von einer Krise zur nächsten zu schlittern scheint. Da ist man bereits für wiederholte Nachfragen und Ermunterungen, in der Arbeit fortzufahren, dankbar, wie ich sie von Christoph Lau, Wolfgang Reinhard und Heinrich Krumwiede erfahren habe.

Meiner Kenntnislücken angesichts der enormen Stofffülle bewusst, habe ich mich in Einzelfragen und über einzelne Länder von Experten beraten lassen, die durchgehend aufs Freundlichste meinen Auskunftswünschen nachkamen: In Bezug auf Mexiko von Walther Bernecker und Hans Werner Tobler, was Chile betrifft von Enrique Fernández Darraz, Hinnerk Onken stand mir im Falle Perus zur Seite, Claudia Elena Herrera und Leandro Losada ergänzten meine Argentinienkenntnisse. Alle haben mir geholfen, die bei meinem vergleichenden Vorgehen unvermeidlichen Fehler und Irrtümer zu reduzieren, wofür ich ihnen aufrichtig danke.

Der einzige Gesprächspartner, mit dem ich in ständigem Gedankenaustausch stand, weil er die Thematik spannend fand und sich bereits länger mit ihr befasst hatte, war mein Sohn Adrian. Auch ihm gilt mein herzlicher Dank.

In meinen Dank schließe ich nicht zuletzt zwei Personen ein, ohne die mein Vorhaben schwerlich realisierbar gewesen wäre. Als ersten führe ich meinen Freund Wolfgang Knöbl an, den Direktor des Hamburger Instituts für Sozialforschung, der früh meine Idee, den lateinamerikanischen Oberschichtsfamilien mehr wissenschaftliche Aufmerksamkeit zu widmen, aufgriff. Wolfgang organisierte auf meine Anregung hin Ende 2018 einen Workshop zu dem Thema im Hamburger Institut und verfolgte aufmerksam und mit Anteilnahme den Fortgang meiner Untersuchung. In logistischer Hinsicht war für das Gelingen des Projekts der Augsburger Soziologe Moritz Hillebrecht unentbehrlich. Er kam zuverlässig meinen nicht abreißenden Wünschen nach Beschaffung nur über die Fernleihe erhältlicher Literatur nach und übertrug mein ursprünglich handschriftlich verfasstes Manuskript per PC in eine gedruckte Fassung.

Peter Waldmann, Augsburg im September 2020

Einleitung

Lateinamerika gibt sowohl Wissenschaftlern, die sich länger mit ihm befasst haben, als auch Journalisten, Touristen und sonstigen Beobachtern, die es häufig besucht haben, Rätsel auf. Einerseits wurde es schon früh über seine Exporte nach Europa mit der Moderne vertraut. Seine Führungsschichten nahmen ab 1860/70 lebhaft an den wirtschaftlichen, intellektuellen und künstlerischen Diskussionen und Moden auf dem alten Kontinent teil und ahmten bei der architektonischen Gestaltung ihrer Hauptstädte Paris und London als Vorbilder nach. Andererseits ist es bis heute keinem lateinamerikanischen Staat gelungen, ein Westeuropa oder Nordamerika vergleichbares Entwicklungsniveau zu erreichen. Nach wie vor lebt ein Großteil ihrer Bevölkerung (meist über 50 Prozent) in Armut, wird der Subkontinent periodisch von sozioökonomischen Krisen und politischen Aufständen heimgesucht, folgen auf verheißungsvolle Aufbruchsphasen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Stagnation und Resignation. Dieses Wiederholungsspiel hat den lateinamerikanischen Nationen den zweifelhaften Ruf von »Schwellenländern auf Dauer« eingetragen (Waldmann 2010).

An Versuchen, das Paradox dieser Zweispurigkeit aufzulösen und zu erklären, hat es nicht gefehlt. Nur drei gängige seien kurz erwähnt. Aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht wurden im Rahmen der sogenannten Dependenztheorie, die in kritischer Distanzierung von der lange vorherrschenden Modernisierungstheorie in den 60er bzw. 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entstand, die ungleichen Tauschbeziehungen zwischen Produkten aus den Industrieländern und jenen aus den Entwicklungsländern für das Nachhinken des Subkontinents im Modernisierungsprozess verantwortlich gemacht. Während die dominanten Industrienationen für ihre Erzeugnisse Weltmarktpreise erzielten, übten sie gleichzeitig systematischen Druck auf die Rohstoffpreise der von ihnen abhängigen Entwicklungsländer aus (Boeckh 2010). Aus politikwissenschaftlicher Warte konzentrierten sich die Defizitanalysen vor allem auf die Schwächen der Staatsentwicklung und der politischen Kultur Lateinamerikas. Autoritarismus, Klientelismus, verbreitete Vetternwirtschaft und das Fehlen einer dem Gemeinwohl sich verpflichtet fühlenden Beamtenschaft und politischen Führungsklasse hätten allen Demokratisierungsansätzen von vornherein etwas Halbherziges verliehen und grundlegende politische Reformen verhindert (Mols/Thesing 1991). Die Wurzeln des missglückten Anschlusses an die Moderne wurden nicht selten auch im kolonialen Erbe der lateinamerikanischen Gesellschaften gesucht. Der im traditionellen spanischen Denken verankerte Korporativismus ebenso wie die Praxis, sich auf konstante Renteneinkommen zu verlassen sowie die exzessive Ausbeutung natürlicher Ressourcen hätten die produktiven Impulse bei großen Teilen der lateinamerikanischen Bevölkerung verkümmern lassen (Wiarda 1991).

Hier ist nicht der Ort für eine intensivere Auseinandersetzung mit diesen Erklärungsansätzen. Allen dreien ist eine gewisse Plausibilität nicht abzusprechen, sie beziehen sich jedoch jeweils nur auf einen Teilaspekt des lateinamerikanischen Entwicklungsdilemmas. Gemeinsam ist ihnen außerdem eine primär systemische Perspektive, bei der offenbleibt, von wem und in welcher Form innerhalb dieses strukturellen Rahmens diese Schwächen vor allem zu verantworten waren und wie sie sich in bestimmten sozialen Praktiken niederschlugen. Nun hätte man für die verschiedenen Bereiche sicher spezifische Berufsgruppen nennen können, welche die skizzierten Defizite kreierten oder fortschrieben, für die Politik etwa Parteienvertreter, im kulturellen Bereich Intellektuelle, der Klerus usf. Allerdings kam diesen Gruppen allenfalls die Rolle von Erfüllungsgehilfen innerhalb ihrer spezifischen Funktionsbereiche zu, eine eigenständige Entscheidungs- und Prägekraft wird man ihnen schwerlich zusprechen können.

Hält man nach für die Entwicklung des Subkontinents konstitutiven sozialen Kräften Ausschau, so wird man hinter die üblichen funktionalen Schemata blenden müssen. Dabei stößt man auf zwei soziale Formationen, deren Selbsterhaltungsstreben, Verhaltensmaxime und Interessen die lateinamerikanischen Gesellschaften von Anfang an maßgeblich bestimmt und in ihrem Werdegang begleitet haben: Im sozialen Mikrobereich die Familie und, was makrogesellschaftliche Weichenstellungen angeht, die sozialen Oberschichten. Dass der Familie bereits zu Beginn der Kolonialisierung eine Schlüsselfunktion zufiel, die sie bis heute in diesen Gesellschaften nicht verloren hat, ist in jedem Handbuch zur Geschichte Lateinamerikas nachzulesen (Milanich 2007). Ähnlich verhält es sich mit der vertikalen Gliederung in soziale Schichten. Nicht nur in den Frühkolonien, sondern auch bei späteren Neubesiedlungen, etwa der banda oriental (östliche Küste) im La Plata-Raum oder entlegener Provinzen im Nordosten und Nordwesten Mexikos, stets begegnen wir dem baldigen Zusammenschluss eines Kerns von Familien, die sich als lokale oder provinzielle Oberschicht etablierten und rangmäßig deutlich von der restlichen Bevölkerung, seien es Indigene oder später Zugewanderte, abgrenzten (Schröter 1999, S. 103 ff.; Cramaussel 1999, S. 85 ff.).

Die beiden Grundkomponenten lateinamerikanischer Gesellschaften fusionieren in der Themenstellung dieses Buches: Die Familiennetzwerke der lateinamerikanischen Oberschichten in historischer und soziologischer Perspektive. Sowohl für sich betrachtet als auch in dieser Kombination bilden die beiden Teilaspekte der Studie (Familie und Schichtung) kein Neuland der Forschung. Da empirisch nicht leicht erschließbar, hält sich die Zahl der reinen Elite- und Oberschichtsstudien in Grenzen (Imaz 1964; Lipset/Solari 1967; Codato/Espinoza 2018). Dagegen stellten Historiker und Sozialanthropologen immer wieder die Familie als Grundeinheit des Soziallebens in Lateinamerika heraus. Speziell Oberschichtsfamilien, teilweise auch von ihnen gebildeten Netzwerken, wurde von der Mitte der 70er Jahre bis zu den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erhebliche Aufmerksamkeit zuteil (Kuznesof/Oppenheimer 1985; Kuznesof 1989). Damals entstand eine Reihe ausgezeichneter Einzelfallstudien über Oberschichtsfamilien in der Kolonialzeit und den Wirren der Unabhängigkeitskriege, über Familienkarrieren in den Zentren und den Peripherien während des von politischen Turbulenzen erfüllten 19. Jahrhunderts sowie über die politische Machtausübung durch die inzwischen »Oligarchie« getauften Oberschichtsnetzwerke während der Belle Époque (etwa von 1880 bis 1925). Großen Einfluss hatte die vor allem von Diana Balmori vertretene Dreigenerationentheorie, nach der sich der soziale Aufstieg später zu Ansehen und Macht gelangter Familienverbände über mehrere Generationen erstreckte und von bescheidenen Anfängen während des 19. Jahrhunderts in sukzessiven Expansionsschüben bis zur Besetzung von Schlüsselposten in der Wirtschaft und im Staatsapparat gegen dessen Ende hinführte (Balmori 1985). In jüngster Zeit hat das Interesse an der Geschichte von Oberschichtsfamilien nachgelassen, Werke wie die Leandro Losadas und von Denis Gilbert sind inzwischen Ausnahmen (Losada 2008, 2009; Gilbert 2017).

Der Hinweis auf Gilbert eignet sich gut als Übergang zu meiner eigenen Studie, die mit ihm den komparativen Ansatz teilt. Allerdings erschöpft sich Gilberts Arbeit nicht in einem Vergleich mehrerer lateinamerikanischer Staaten während der Belle Époque sowie in der Übergangsphase danach, sondern enthält darüber hinaus eine gründliche Recherche über ausgewählte Familienclans der peruanischen Oligarchie. Etwas Vergleichbares kann der Autor nicht anbieten. Zwar hat auch er jahrzehntelang wie Gilbert über Lateinamerika gearbeitet. Seine Primärkenntnisse der Orientierungsparameter und Mentalität alter Oberschichtsfamilien verdankt er aber nur regelmäßigen Kontakten mit diesem Sozialmilieu in Argentinien. Tatsächlich war es weniger die dadurch geweckte Neugier, tiefer in dieses Milieu einzudringen, als die eingangs skizzierte Fragestellung, wo die Hintergründe und Ursachen des anhaltenden, scheinbar unüberwindbaren Schwellenstatus des Subkontinents liegen mochten, die ihn zu dieser Studie bewog. Diese versteht sich als ein umfassender Versuch, in einer historisch-soziologischen Analyse den Anteil zu klären, den netzwerkartig verknüpfte Oberschichtsfamilien in den verschiedenen Ländern kurz- oder längerfristig an der Entwicklungssackgasse hatten, in welche Lateinamerika geraten ist.

Zum besseren Verständnis meines Vorhabens sollen im Folgenden einige sich eingangs stellende definitorische, methodische und inhaltliche Probleme erläutert werden. Sie betreffen erstens begriffliche Fragen, zweitens die gewählte Vorgehensweise, drittens eine bestimmte Ausgangshypothese, viertens die Warnung vor einer Vorverurteilung und fünftens einen Klassifizierungsvorschlag.

Begriffliches

Wenngleich ein universelles Phänomen, sind Familien definitorisch nicht leicht zu fassen. Das gilt speziell für Oberschichtsfamilien, wenn ihnen wie in Lateinamerika große gesamtgesellschaftliche Bedeutung zukam und sie multiple Funktionen erfüllten. Die Unsicherheit beginnt bei der Frage, wo ihre Außengrenzen verliefen, wer zu ihren Mitgliedern zählte, wer nicht, im spanischen Kulturkreis nicht zuletzt im Hinblick auf das egalitäre Erbrecht von beträchtlicher Relevanz. Die Grenzziehungen verliefen je nach Land unterschiedlich, in den meisten Fällen spielte sich jedoch eine Unterscheidung zwischen der Familie im engeren Sinne und der breiteren Verwandtschaft, einschließlich der »künstlichen« Gevatterschaft (compadrazgo), ein. Für die Kernfamilie, die sich über drei Generationen erstreckte und häufig im selben Haus bis zur Mündigkeit der Kinder wohnte, war meist die männliche Erbfolgelinie ausschlaggebend.

Das Streben und die Zielvorstellungen klassischer Oberschichtsfamilien kreisten um zwei Hauptthemen. Zum einen ging es um die Erhaltung und, wenn möglich, Mehrung des materiellen Besitzstandes; eng daran an knüpfte sich die Sorge um die Wahrung des Ansehens und »guten Rufs« der Familie bei ihresgleichen. Hohe Ämter und politische Entscheidungsfunktionen waren demgegenüber, wenngleich geschätzt, zweitrangig. Beide Zielschwerpunkte bestimmten die innere Struktur der Oberschichtsfamilien und ihren Lebensrhythmus. Der Mehrung des Besitzstandes diente eine nach Möglichkeit zahlreiche Nachkommenschaft, die unter der Anleitung des mit unbegrenzten Vollmachten ausgestatteten patriarchalischen Familienoberhauptes auf ihre künftigen Aufgaben vorbereitet wurde. Wenngleich sie sich ihre Ehepartner vorzugsweise in der eigenen Schicht aussuchten, scheuten sich zur »besseren« Gesellschaft zählende Familien auch nicht, im Bedarfsfall eine Kapitalauffrischung durch die Vermählung einer Tochter mit einem reichen Außenseiter vorzunehmen. Die feierliche Begehung von Festen aller Art, Geburtstagen, Hochzeiten, Begräbnissen und so fort, bildete das »symbolische Kapital« traditioneller Familienverbände. Mittels ihrer rituellen Wiederholung wurde ein Gemeinschaftsgefühl erzeugt, entstanden Vertrauensbindungen und ein kollektives Selbstbewusstsein, die sich auch in einer entsprechenden Außendarstellung niederschlugen.

Ein fast unverzichtbarer Bestandteil der materiellen Güter, über die Oberschichtsfamilien verfügten, war das Eigentum an Ländereien, war Großgrundbesitz. Heute oft nur das Teilsegment einer umfangreichen Vermögensmasse bildend, kam dem Besitz einer hacienda, estancia, finca oder eines fundo (die Bezeichnungen wechselten je nach Land oder Region) während der Kolonialzeit und des ganzen 19. Jahrhunderts eine eminente Bedeutung zu. Vor allem in der langen Phase staatlicher Schwäche erfüllten die über das Hinterland der jungen Republiken verstreuten umfangreichen Güter oft die Funktionen multidimensionaler Ersatzinstitutionen. Sie versorgten nicht nur den engeren Kreis der Familienangehörigen und Freunde, sondern auch Tagelöhner und das Gesinde, manchmal sogar die bis in die nächste Ortschaft reichende Klientel mit Nahrungsmitteln, stellten weiterhin, da sie eigene Milizen unterhielten, in von Banden heimgesuchten Gegenden Sicherheitsenklaven dar und boten drittens einer durch die politischen Wirren orientierungslos gewordenen Bevölkerung inneren Halt und ein Zugehörigkeitsgefühl. Sie traten, mit anderen Worten, als eigenständiger, alle wesentlichen Bedürfnisse abdeckender Lebensbezirk in Konkurrenz zu dem in den Städten sich etablierenden republikanischen politischen Apparat und seinen Institutionen.

Unseren Untersuchungsgegenstand bilden allerdings weniger Einzelfamilien, so prominent sie auch gewesen sein mögen, sondern vielmehr Familiennetzwerke. Denn nur im Verbund gewannen Oberschichtclans ein Gewicht und eine gesellschaftlich-politische Relevanz, die sie zu signifikanten Machtfaktoren werden ließen. Einzelfamilien und die von ihnen gebildeten Netzwerke teilten zwar einige Merkmale, etwa ihre unscharfen Grenzen und analoge Zielschwerpunkte, unterschieden sich jedoch in anderer Hinsicht deutlich voneinander. Das hing nicht zuletzt damit zusammen, dass jede Großfamilie, für sich betrachtet, eine rechtlich fundierte, kaum kündbare Institution darstellte, wogegen Netzwerke nur durch gemeinsame Interessen und ein geteiltes Abgrenzungsbedürfnis der sie konstituierenden Familien gegenüber der Restbevölkerung zusammengehalten wurden. Entsprechend ihrem Interessenprofil bildeten für Netzwerke ihr bevorzugtes Wirkungsfeld die Städte, während einzelne Familienclans, es wurde bereits angedeutet, oft in entlegenen Landstrichen einen besonderen Einfluss erlangen und ihre Prestige- und Ressourcenüberlegenheit ungehemmt ausspielen konnten.

Zwei Charakteristika von Familiennetzwerken fallen ins Auge. Das eine war ihre Zähigkeit und Persistenz über längere Zeiträume hinweg. Mochten einzelne Familien aus ihnen ausscheiden und andere in sie integriert werden, so wurden dadurch ihre gesamtgesellschaftliche Rolle und Relevanz kaum tangiert. Sie verfügten über eine Art Ultrastabilität. Der zweite bezeichnende Zug ist eine eigentümliche Ambivalenz, auf die wir in der Untersuchung wiederholt stoßen werden. Mit einer starken Autorität konfrontiert, sei es ein Monarch, ein seine Vollmachten ausschöpfender Präsident oder ein militärischer Diktator, überwog die Solidarität, verschmolzen die diversen Familienverbände meist zu einer gemeinsamen latenten oder offenen Widerstandsfront. Sobald sie jedoch selbst in die entscheidenden Machtpositionen einrückten, was vor allem in der Belle Époque der Fall war, gewannen regelmäßig entzweiende Tendenzen die Oberhand, bildeten sich Rivalitäten heraus, die in gewaltsam ausgetragene Fehden münden konnten. Ein ähnlicher Effekt lässt sich beobachten, wenn sie kollektiv in Bedrängnis gerieten, etwa bei wirtschaftlich absteigenden Provinzeliten. Die Folge waren harte Ausscheidungskämpfe um die verbleibenden Pfründen.

Es fällt nicht leicht, über den Netzwerkbegriff hinaus das Spezifikum des Zusammenschlusses von Oberschichtsfamilien terminologisch genauer zu bestimmen. Man kann im konsequenten Verfechten gemeinsamer Interessen eine Vorform des sich ab den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts generell durchsetzenden Korporativismus in Lateinamerika sehen. Sie bildeten aber keine Körperschaften. Dazu war der Verbund zwischen den Einzelfamilien zu lose, auch die aufgezeigte ambivalente Einstellung zueinander spricht gegen diese Einstufung. Auf der anderen Seite kann man sie trotz ihrer deutlichen Überlegenheit gegenüber der restlichen Gesellschaft auch nicht als herrschende Klasse bezeichnen. Ich habe diesen Ausdruck bewusst vermieden, weil er das Ressourcen- und Einflussgefälle zwischen der Oberschicht und der übrigen Bevölkerung nicht korrekt wiedergibt. Diese Schicht stellte zwar Herren, lehnte es aber ab, wie es an sich dem Herrschaftsbegriff immanent ist, sich mit der Gesamtgesellschaft zu identifizieren und Verantwortung für sie zu übernehmen. Deshalb habe ich es vorgezogen, für die Formen, in denen sie ihre Überlegenheit ausspielte, schwächere Termini wie »Dominanz« oder »Machtausübung« zu benutzen.

Zur Vorgehensweise

Die Studie ist am Schnittpunkt von Geschichtswissenschaft und Soziologie angesiedelt. Sie folgt in ihrem groben Aufbau einem chronologischen Schema, die einzelnen Kapitel enthalten aber keine historiographischen Narrative, sondern konzentrieren sich auf bestimmte inhaltliche Schwerpunkte und ziehen wiederholt Zwischenbilanzen oder stellen Querschnittsbetrachtungen an. Als Ergänzung zu generalisierenden Betrachtungen und Analysen enthalten die Annexe zu den einzelnen Kapiteln ausgewählte Zeitzeugnisse und Porträts von Zeitgenossen. Insgesamt lässt sich mein Vorgehen der komparativen qualitativen Sozialforschung zuordnen.

Der normale Rahmen historiographischer Arbeiten wird bereits durch die räumliche und zeitliche Ausdehnung der Studie gesprengt. Sie bezieht sich nicht auf ein Land oder eine Provinz, sondern umfasst mehrere Staaten. Und sie erstreckt sich über einen Gesamtzeitraum von gut einhundertfünfzig Jahren. Mit dem vergleichenden Ansatz folgt der Autor einer ihm vertrauten Methode, die sich bei anderen Forschungen, beispielsweise seinen Gewaltanalysen, bewährt hat (Waldmann 1989). Sie ist zwar sehr aufwendig, setzt eine intensive Beschäftigung mit oft recht unterschiedlich gelagerten Einzelfällen voraus, ohne immer eine befriedigende Vertrautheit mit ihnen zu erzeugen. Doch sie liefert, vor allem wenn es sich wie hier durchweg um Ähnlichkeitsvergleiche handelt, empirisch fundierte, plausible Ergebnisse. Hätte Balmori bei ihrer Drei-Generationenthese beispielsweise neben dem spanischen Amerika auch Brasilien berücksichtigt, wäre ihr sicher aufgefallen, dass es im 19. Jahrhundert nicht unbedingt politischer Turbulenzen und eines nicht sonderlich ernst zu nehmenden Staatsapparats bedurfte, um Oberschichtsfamilien zu gesteigerter wirtschaftlicher und soziopolitischer Bedeutung zu verhelfen. Im monarchisch regierten Brasilien herrschten vergleichsweise stabile politische Verhältnisse, gleichwohl gewannen dort, von der Exekutive teilweise sogar gefördert, Familienverbände auf lokaler und provinzieller Ebene ebenfalls an Macht (Uricoechea 1980). Das lag in diesem Fall daran, dass es der Zentralbürokratie an den erforderlichen sachlichen und persönlichen Mitteln mangelte, um das riesige Territorium zu kontrollieren und sie deshalb den Beistand mächtiger Familienclans mobilisierte. Diese wurden für ihre Unterstützung mit der Einräumung eines halboffiziellen Status als Milizführer entschädigt.

Außer Brasilien zählen Argentinien, Chile, Mexiko und Peru zu meinem Sample. Dieses umfasst damit weit über die Hälfte des gesamten lateinamerikanischen Territoriums und seiner Bevölkerung. Allerdings wurde der Vergleich nicht systematisch, sondern je nach Gegenstand mit wechselnder Intensität durchgeführt. Mexiko blieb beispielsweise in den Kapiteln über die Belle Époque weitgehend ausgeklammert, weil diese dort mit der Schlussphase des Porfiriats (der Herrschaft von Porfírio Diaz) und der Revolution zusammenfiel, was die Analyse erheblich verkompliziert hätte. Wenngleich das Hauptaugenmerk auf Großstaaten und ihre Metropolen gerichtet war, wurden die Verhältnisse in den Provinzen und den Kleinstaaten Zentralamerikas darüber nicht aus den Augen verloren. Dem Verfasser fiel schon früh auf, dass überschaubare, vergleichsweise rückständige, der Kontrolle durch die politischen Zentren weitgehend entzogene Regionen einen günstigen Nährboden für die Entstehung von Enklaven der Machtausübung durch einen begrenzten Kreis von Oberschichtclans bildeten und noch heute bilden.

In zeitlicher Hinsicht war ursprünglich geplant, die Studie auf das 19. und frühe 20. Jahrhundert zu begrenzen. Die Revolution und die Unabhängigkeitskriege schienen eine historische Zäsur darzustellen, welche neue Bedingungen schuf und damit vor kurzem aus Spanien zugewanderten jungen Leuten mit unternehmerischer Energie die Chance bot, mittels der Einheirat in alteingesessene Grundbesitzerfamilien als Kaufleute Karriere zu machen und den Grundstein für langlebige Familiendynastien zu legen. Die Möglichkeit einer auf dieser Krisensituation und dem anschließenden Neuanfang (im Fachjargon critical junctures genannt (Collier/Collier 1991)) fußenden Pfadabhängigkeitsanalyse zeichnete sich ab. Eine intensivere Beschäftigung mit der Kolonialzeit, vor allem die Lektüre des von Bernd Schröter und Christian Büschges herausgegebenen Sammelbandes zur Thematik, belehrten mich indes rasch eines Besseren (Schröter/Büschges 1999). Wie Stuart Voss bei der Schilderung der Situation der Kolonisten im Nordwesten Mexikos an einer Stelle schreibt: »[…] newcomers began the creation of familiy networks almost from scratch« (Voss 1984, S. 83). Nicht selten, etwa im Falle Extremaduras, gingen die Bindungen zwischen den Familien sogar noch weiter, auf die gemeinsame Herkunftsregion zurück (Altman 1992). Ähnlich wie die Gründung von Munizipien zählte der baldige Zusammenschluss weißer Neusiedler zu Familienbünden offenbar zu den konstitutiven Schritten, mit denen sie ihren Anspruch auf eine gemeinsame Führungsrolle und zur Wahrung eines Abstands gegenüber der eingeborenen Bevölkerung und verstreut siedelnden anderen Weißen bekräftigten.

Wenngleich sich die Studie auf das 19. und frühe 20. Jahrhundert konzentriert, ist, wie dem Eingangs- und dem Schlusskapitel zu entnehmen ist, das Thema damit nicht ausgeschöpft. Die über zahlreiche Generationen und manchmal Jahrhunderte sich erstreckende Langzeitperspektive alter Familien erklärt zugleich, warum die Besetzung eines Staatssekretärs- oder Ministerposten durch ein Familienmitglied für begrenzte Zeit nicht unbedingt einen Markstein in ihrer Entwicklung darstellte. Unabhängig davon bestätigt die Untersuchung die Eingangsbehauptung, dass Oberschichtsfamilien und ihre Netzwerke die Entwicklung dieser Gesellschaften von Anfang an und teils bis zur jüngsten Vergangenheit entscheidend mitgestaltet und geprägt haben.

Um dem Selbstverständnis und Sinn dieser eigentümlichen Form sozialer Zusammenschlüsse näher zu kommen, verzichtet die Arbeit auf quantitative methodische Werkzeuge, etwa Statistiken. Primär handlungstheoretisch orientiert, geht mein Bestreben vielmehr dahin, typische Verhaltens- und Reaktionsmuster dieser Familien und ihrer Netzwerke herauszuarbeiten, um die dahinterliegenden Wertprämissen und Normen zu verstehen. Mit diesem qualitativen, die Entwicklung der Oberschichteliten unter wechselnden historischen und geographischen Umständen nachvollziehenden Vorgehen schließe ich mich weitestgehend Susan Socolows auf einer Tagung geäußerten Vorschlag an, sich nicht mit statistischen Analysen zufrieden zu geben, sondern zu differenzieren und den Elitenwandel über die Epochen hinweg zu verfolgen (Socolow 1999, S. 125).

Das Erbe des Patrimonialismus

Eine weitere Annahme des Verfassers hat sich im Laufe der Untersuchung ebenfalls bestätigt. Der Ausdruck »Hypothese« wäre dafür zu hoch gegriffen, vielmehr bezieht sie sich auf einen Komplex von Einstellungsmustern und Verhaltensweisen, für den die lateinamerikanischen Oberschichten ein überzeugendes Beispiel liefern. Gemeint ist das primär von Max Weber ausgearbeitete Modell patrimonialer Herrschaft. Dieses wird in der Literatur über den Subkontinent zwar öfter erwähnt, aber meistens nicht näher erläutert (Mansilla 1990). Seine Stärke besteht unter anderem darin, dass Weber es nicht bei der Aufzählung der wesentlichen Strukturmerkmale des von ihm entwickelten Idealtypus beließ, sondern dessen Variationen über sukzessive Epochen hinweg verfolgte (Weber 1980, S. 583 ff.).

Den Ausgangspunkt der Weberschen Überlegungen bildete die Hausgemeinschaft mit einem ausgedehnten Grundbesitz als wirtschaftlicher Basis, die durch die Ausgliederung erwachsener Nachkommen und verdienter Mitglieder des Hauspersonals sowie deren Belohnung mit einer Parzelle Land eine gewisse Dezentralisierung erfährt. Die solcherart Begünstigten genießen zwar eine vermehrte Selbstständigkeit, bleiben aber gleichwohl durch ein Bündel informeller Pflichten und Rechte an das Stammhaus und ihren Herrn gebunden. Zu ersteren zählen die regelmäßige Ablieferung von Naturalien und Dienstleistungen aller Art für den Gesamtbetrieb. Im Falle eines Krieges oder einer Fehde wird von den Abhängigen bedingungslose Gefolgschaft erwartet. Doch die Beziehung ist nicht einseitig, sie impliziert für den dominanten Gegenpart, den Grundherrn und seinen Familienclan, dass sie die Hintersassen »pfleglich« behandeln, ihnen Schutz gewähren und in Notfällen nach besten Kräften beistehen. Patrimoniale Beziehungen sind nicht das Ergebnis punktueller Entscheidungen und schriftlicher Verträge, sie bilden sich vielmehr im Laufe der Zeit allmählich heraus, beruhen auf Generationen überspannender Sitte und Gewohnheit. Gleichwohl geht von ihnen eine starke Bindekraft aus. Da sie ihre Legitimität, wie Weber an einer Stelle schreibt (Weber 1980, S. 584), aus der heiligenden Kraft faktischer Übung beziehen, überlegt es sich jede Seite zweimal, bevor sie die eingespielte Tradition durch ein Höherschrauben ihrer Forderungen in Frage stellt.

Webers Charakterisierung patrimonialer Gebräuche lässt sich ohne wesentliche Abstriche auf große Teile des ruralen Lateinamerikas bis weit ins 19. Jahrhundert hinein übertragen. Auch dort, insbesondere in älteren Kolonien wie Peru und Chile, aber auch in Brasilien, lebten die Fürsorgepflichten der reichen Landherren gegenüber ihrem sozial schwächeren sozialen Umfeld, vor allem den Parzellenbesitzern, fort, unterhielten die einflussreichen Familienclans eigene Milizen und maßen sich häufig in heftigen Fehden ohne Rücksicht auf das staatliche Gewaltverbot. Nicht selten übten sie auf ihrem Territorium auch richterliche Funktionen aus. Bedeutsam ist in unserem Zusammenhang die von Max Weber besonders betonte Informalität patrimonialer Beziehungsmuster. Dass diese nicht schriftlich dokumentiert wurden, mag auf Anhieb als ein Schwächesymptom erscheinen, hatte aber im lateinamerikanischen Kontext zur Folge, dass sie bei den ehemals dadurch Begünstigten nie in Vergessenheit gerieten, sondern sich in ihren Köpfen umso hartnäckiger einnisteten.

Weber geht ausführlich auf Entwicklungen nach dem Vorherrschen rein patrimonialer Verhältnisse, wie sie etwa für das Mittelalter kennzeichnend waren, ein (Weber 1980, S. 590 ff., 604 ff.). In Europa vollzog sich aufgrund der Entstehung ausgedehnter, hierarchisch strukturierter Machteinheiten und deren Ausscheidungskämpfen ein zunehmender politischer Zentralisierungsprozess. Dieser führte sowohl auf Seiten der über mehr Untertanen und wirtschaftliche sowie militärische Mittel verfügenden Fürstenhäuser als auch bei den nunmehr zu dienenden Funktionen herabgestuften, ehemals selbstständigen Grundherren zu einer Vermischung traditionell patrimonialer und den neuen zentralistischen Zwängen angepasster Normvorstellungen und administrativer bzw. politischer Praktiken. Die daraus resultierenden Ungereimtheiten und Widersprüche bildeten aber keinen Dauerzustand. Die Entwicklung insgesamt ließ den Patrimonialismus zu einer allenfalls noch von den ostelbischen Landjunkern gepflegten Restgröße verkümmern, während sich bei den rivalisierenden, ständig an Macht gewinnenden Nationalstaaten öffentliches Interesse und Gemeinwohl als zu verteidigende Werte in den Vordergrund schoben.

In Lateinamerika fehlte es hingegen an einem den europäischen Ausscheidungskämpfen vergleichbaren Motor der Staatsentwicklung (Centeno 1997). Der politische Rückhalt für die in den Metropolen verabschiedeten republikanischen Verfassungen war zu schwach, die sie trennende Kluft zum herkömmlichen Patrimonialismus zu groß, als dass sie zur Basis einer neuen allgemein verbindlichen Ordnung hätten werden können. Diego Portales, der geniale chilenische Politiker, der eine dem Präsidenten weitgehende Volllmachten einräumende Verfassung durchsetzte, dank deren Chile 40 Jahre institutioneller Stabilität vergönnt waren, hatte vermutlich mit seiner Behauptung nicht unrecht, die jungen Nationen seien noch zu unreif für eine genuine Republik und bedürften deshalb einer starken Hand als Ersatz für den ehemaligen Monarchen. Doch selbst die gesetzestreuen chilenischen Eliten waren auf Dauer nicht bereit, sich von mächtigen Präsidenten gängeln zu lassen. So kam es zu einem Machtpatt zwischen divergierenden, teils nebeneinander existierenden, teils sich vermischenden und einander lähmenden Ordnungs- und Normensystemen. Eine unglückselige Vermischung stellte beispielsweise die Überzeugung der Oberschichten dar, sie seien weiterhin die uneingeschränkten Herren dieser Länder, während sie gleichzeitig die aus dem Patrimonialismus sich ergebende Fürsorgepflicht gegenüber den sozial schwächeren Gruppen durch eine ungeschminkte Klassenherrschaft ersetzten. Während der Belle Époque konnte der Patrimonialismus nochmals ein regelrechtes »Comeback« feiern und gesellschaftliche wie staatliche Strukturen durchdringen. Dabei zeigte sich trotz des spektakulären wirtschaftlichen Aufschwungs, den etliche Staaten in dieser Zeit nahmen, dass er aufgrund des schwachen Bildes, das die Oberschichten großenteils an der Macht abgaben, als Staatsdoktrin für eine längerfristige nationale Entwicklung denkbar ungeeignet war.

Gab es Alternativen?

Dieser Abschnitt hätte auch mit »Warnung vor einer Vorverurteilung« überschrieben werden können. Gewiss, unter dem bestimmenden Einfluss der Oberschichten häufte sich eine Reihe von Problemen an: ein schwacher, hybrider Staat, eine jeglicher Gemeinwohlorientierung ermangelnde, auf partikularistische Belange ausgerichtete politische Kultur, eine aufgrund der Abhängigkeit von Rohstoffexporten äußerst verletzliche Wirtschaftsstruktur und, nicht zuletzt, ein Ausmaß an sozialer Ungleichheit, das weltweit seinesgleichen suchte. Weit schwieriger erscheint es, im historischen Rückblick zu bestimmen, wann und wo es zu nicht oder falsch genutzten Möglichkeiten gekommen ist, alternative Entwicklungswege einzuschlagen. Das ist weniger eine theoretische Fragestellung, denn inzwischen weiß man, dass industrielle Massenproduktion und Massenkonsum die Schlüssellosung darstellen, um wirtschaftlich zurückgebliebenen Ländern zu einem akzeptablen Lebensstandard zu verhelfen (Plumpe 2019, S. 185 ff., 425 ff.). Die ostasiatischen Länder haben das vorgemacht. Hingegen tut man sich schwer, in Lateinamerika die sozialen Kräfte auszumachen, welche, die eingefahrenen Trends durchkreuzend, alternative Entwicklungen hätten anstoßen und durchsetzen können.

Die alten Oberschichten kamen als Initiatoren dieser Umorientierung nicht infrage. Ihre Reformbereitschaft erschöpfte sich darin, durch progressive Minderheitsfraktionen oder später an die Macht gekommene Außenseiter die Diskrepanz zwischen dem Sinn und Wortlaut der republikanischen Verfassungen einerseits und der geübten oligarchischen Praxis andererseits zu beseitigen. Wirtschaftlich blieben sie fest auf Ausbeutung und Inwertsetzung von Rohstoffen und lukrative Positionen im Handel und im Bankensektor fixiert. Einzelpersönlichkeiten aus diesen Schichten gelang es gelegentlich, Schlüsselpositionen im Rahmen der politischen Spielregeln der Republik zu erlangen. Doch als Kollektiv hielten sie nach besten Kräften an der alten Privilegienordnung fest.

Die Unterschichten waren ebenfalls mit der Aufgabe überfordert, durch neue programmatische Akzente alternative Entwicklungen einzuleiten. Großenteils selbst Einwanderer oder zur ersten Generation bereits in Lateinamerika Geborener zählend, ließen sie sich zunächst stark von den südeuropäischen Strömungen des Anarchismus und Anarchosyndikalismus beeinflussen. Das führte, zusammen mit sozialistischen und kommunistischen Gruppen, zu einer Zersplitterung der Gewerkschaftsbewegung. Nach dramatischen Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften wurden in den meisten Ländern die Ideologen innerhalb der Arbeiterschaft zurückgedrängt und machten einem pragmatischen Flügel Platz, der sich für konkrete Ziele wie Lohnerhöhungen, den Achtstundentag und die soziale Absicherung von Frauen und Kindern einsetzte. Sozialistische Reformprogramme blieben auf primär von Intellektuellen unterstützte Minderheitsparteien beschränkt.

Das Militär stellte in Lateinamerika seit jeher einen wichtigen politischen Machtfaktor dar. Gruppen junger Offiziere schlugen häufig, sich von den nur ihre Eigeninteressen verfolgenden Oberschichten distanzierend, nationalistische Töne an, Generäle bekleideten wiederholt Präsidentenposten. Von anderen Nachzüglerstaaten im Entwicklungsprozess wie Japan und Südkorea ist bekannt, dass es oft Militärs waren, von denen die entscheidenden Impulse ausgingen, durch eine nachholende forcierte Industrialisierung zu den entwickelten Industrienationen aufzuschließen. Dabei spielte als Motiv regelmäßig eine wichtige Rolle, von diesen militärisch ernst genommen zu werden und sich im Konfliktfall mit ihnen messen zu können. Dieser Beweggrund für einen wirtschaftlichen Aufholprozess war in Lateinamerika sowohl in Bezug auf Europa und die USA als auch im Verhältnis der lateinamerikanischen Staaten untereinander nur von sekundärer Bedeutung. Die Streitkräfte entwickelten sich von einer Schutzmacht »nach außen« überwiegend zu einem innenpolitischen Machtfaktor mit korporativen Eigeninteressen. Sie unterschieden sich insoweit nicht grundsätzlich von anderen Interessengruppen, außer dass sie, im Unterschied zu diesen, physische Gewalt als Durchsetzungsmittel einsetzen konnten.

Verbleiben als letzte Gruppierung die sozialen Mittelschichten, ein reichlich diffuses Etikett, das für teils sehr unterschiedliche Interessen und Sozialprofile steht. Von den Mittelschichten gingen vielfältige intellektuelle, künstlerische, politische und auch wirtschaftliche Impulse aus. Unternehmer aus der aufsteigenden Mittelschicht ergriffen auch bereits relativ früh, um die Mitte des 19. Jahrhunderts, Industrialisierungsinitiativen. Getragen von Mittelschichtgruppen kam es in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts und vor allem nach der Weltwirtschaftskrise zu einem regelrechten Industrialisierungsschub auf dem Subkontinent. Gleichwohl blieb das verarbeitende Gewerbe, abgesehen von Brasilien, stets ein Stiefkind der Entwicklung. Während der Weltkriege, als der Importdruck aus Europa und den USA nachließ, verzeichnete es zwar aufgrund der bleibenden Nachfrage nach Produkten der Lebensmittel-, Textil- und generell der Leichtindustrie einen Aufschwung. Doch blieben die Unternehmer meistens an der Schwelle zur Schwerindustrie stehen und zeigten geringe Exportambitionen. Was den Export angeht, so setzten diese Länder fast durchgehend weiterhin auf die Ausfuhr von Rohstoffen. Die auf eine liberale Wirtschaftspolitik eingeschworenen Lobbygruppen waren so stark, dass die einheimischen Industriezweige wenig Chancen hatten, mit ihrem Anliegen eines zumindest zeitlich begrenzten Zollschutzes durchzudringen.

Bilanzierend ist festzuhalten, dass keine der die Dominanz der traditionellen Oberschichten infrage stellenden sozialen Gruppen und Schichten die notwendige Kraft und Ausstrahlung hatte, um diese an der Spitze der gesellschaftlichen Pyramide zu ersetzen oder ihnen zumindest als ebenbürtiger Partner zur Seite zu treten. Damit war zugleich der Weg zu einem alternativen Kurs sozioökonomischer Entwicklung versperrt. Denn sowohl das sich in Europa über das ganze 19. Jahrhundert hinziehende Ringen zwischen dem Adel und der aufstrebenden Bourgeoisie als auch die jüngsten ostasiatischen Erfahrungen lehren, dass ein nachholender Industrialisierungsprozess weitgehend chancenlos ist, solange es nicht gelingt, die alten aristokratischen Eliten aus ihrer Vormachtstellung zu verdrängen (Schirokaner 1989, S. 421, 433 ff.; Evans 1987; Waldmann 2017).

Es ist müßig darüber zu spekulieren, ob dies in Lateinamerika am ungebrochenen Nimbus und der Stärke der Oberschichten oder an der relativen Schwäche und Unentschlossenheit der sie herausfordernden Kontrahenten gescheitert ist. Es fällt auf, dass in fast ganz Lateinamerika die Zugehörigkeit zur Oberschicht oder zumindest deren stilistische Nachahmung nichts von ihrer früheren Attraktivität eingebüßt haben (Torre/Pastoriza 2019). Der tiefere Grund dafür könnte darin liegen, dass insbesondere in der Belle Époque durch Oberschichtsfamilien Erfolgsmaßstäbe kreiert wurden, die dem Wunschtraum der meisten Migranten entsprochen haben dürften: In materieller Hinsicht ein von allen beneidetes Leben des ostentativen Luxus und der Verschwendung zu führen; dabei jedoch der inneren Überzeugung treu zu bleiben, dass all dies nicht primär Ausdruck des Eigennutzes und individuellen Ehrgeizes sei, sondern dem Familienwohl dienen sollte, welches dem Leben einen die Einzelexistenz transzendierenden Sinn verleihe.

Ein Klassifizierungsvorschlag