Richard Rohrmoser
»Sicherheitspolitik von unten«
Ziviler Ungehorsam gegen Nuklearrüstung in Mutlangen, 1983–1987
Campus Verlag Frankfurt /
New York
Über das Buch
Ende der 1970er Jahre spitzte sich der Kalte Krieg zwischen der Sowjetunion und den USA erneut zu. 1983 ließ die NATO Nuklearraketen in der Bundesrepublik Deutschland und in anderen westeuropäischen Ländern stationieren. Vor allem die schwäbische Gemeinde Mutlangen rückte damals als Standort von Pershing-II-Raketen in den Fokus der Friedensbewegung und der Öffentlichkeit. Bis 1987 fanden dort jahrelang Proteste statt, vor allem Sitzblockaden, bei denen es entgegen behördlicher Befürchtungen jedoch nie zu Gewaltausschreitungen kam. Richard Rohrmoser beschreibt die Entwicklung Mutlangens zu einem Symbolort der Friedensbewegung. Seine Studie geht zudem der Frage nach, welche Folgen die massenweise Praktizierung und der juristische Diskurs über den zivilen Ungehorsam der Friedensaktivist_innen für die bundesdeutsche Gesellschaft hatten.
Vita
Richard Rohrmoser, Dr. phil., ist Historiker.
Einleitung
Mutlangen und die internationale Politik
Erkenntnisinteresse, Thesen und Forschungsbeiträge
Forschungsstand
Anmerkungen zu Archiven und Quellen
Gliederung
1.Mutlangen im Kalten Krieg vor der Pershing-II-Stationierung
1.1Das Verhältnis zwischen Lokalbevölkerung und US-Militär
1.2Die Mutlanger Heide
1.3Die Veröffentlichung der Pershing-II-Stationierungsorte 1981
1.4Die Genese der Friedensbewegung in Schwäbisch Gmünd 1981
1.5Eine Blaupause für Mutlangen: Die Blockadeaktion von Großengstingen 1982
1.6Risikofaktor Raketen: Unfälle und Sicherheitsbedrohungen
1.7Die Entfaltung der Nachrüstungskontroverse in der schwäbischen Provinz
1.8Zusammenfassung
2.Die Entwicklung Mutlangens zum Kristallisationspunkt der Friedensbewegung 1983
2.1Das Friedenscamp und die Prominentenblockade
2.2Mutlangen: Ein nahraumorientierter Handlungsansatz
2.3Das politische Stimmungsbild in Mutlangen und Schwäbisch Gmünd
2.4»Heißer Herbst«, Raketenstationierung und rechtspolitische Einwendungen
2.5Die Pflugschar-Aktion in der Schwäbischer Gmünder Hardt-Kaserne
2.6»Widerstand gegen den Widerstand«
2.7Zusammenfassung
3.»Unser Mut wird langen!«: Die Friedensinitiativen in Mutlangen
3.1Die Schlüsselinitiativen und -figuren
3.1.1Die Dauerpräsenz in der Pressehütte
3.1.2Die Friedens- und Begegnungsstätte Mutlangen e.V.
3.1.3Die Kampagne Ziviler Ungehorsam bis zur Abrüstung
3.1.4Die Rechtshilfe Mutlangen
3.2.Überregionale Friedensinitiativen in Mutlangen
3.2.1Gustav-Heinemann-Initiative (GHI)
3.2.2Komitee für Grundrechte und Demokratie (KGD)
3.2.3Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner (DFG-VK)
3.2.4Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA e. V.)
3.2.5Christliche Friedensinitiativen: Ohne Rüstung Leben (ORL) & Pax Christi (PC)
3.2.6DIE GRÜNEN
3.2.7Das Komitee für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit (KOFAZ) und die Deutsche Kommunistische Partei (DKP)
3.2.8Zusammenfassung
3.3Konstituierende Merkmale der Mutlanger Friedensbewegung
3.3.1Exkurs: Ziviler Ungehorsam
Geschichte
Definition
Aneignung der Widerstandskonzepte durch die Friedensbewegung
3.3.2Gewaltfreiheitstraining und egalitäre Kommunikationsstrategien
3.3.3Alternative Sicherheitskonzepte
3.3.4Selbstkonstitution durch Selbstdokumentation: Alternativblätter
»Prozess- und Knast-Rundbriefe«
3.3.5Sprachliche Codes und Topoi
3.3.6Postmaterialistische Werte
3.3.7Politisierung von Emotionen
3.4Zusammenfassung
4.Der zivile Ungehorsam der Friedensbewegung bis zur Raketenabrüstung 1984–1987
4.1Die kreativen Protestaktionen der Kampagne Ziviler Ungehorsam bis zur Abrüstung
4.1.1Offener Brief
4.1.2Seniorenblockaden
4.1.3Geburtstagsblockaden
4.1.4Muttertagsblockaden
4.2.5Blockade-Herbst
4.1.6Konzertblockade
4.1.7Bundesverfassungsgerichts-Blockade
4.1.8Richterblockade
4.1.9Adelsblockade
4.1.10Erntedankfest
4.1.11Prozess-Blockaden und Dauerblockade
4.2Blockade-Moratorium
4.3Nach dem INF-Abrüstungsvertrag
4.3.1Die Friedensbewegung
Die Friedens- und Begegnungsstätte Mutlangen e.V. und die Dauerpräsenz
Die Kampagne Ziviler Ungehorsam bis zur Abrüstung
4.3.2Das US-Militär
4.3.3Die Polizei und das zivile Wachpersonal
4.3.4Die Stadt Schwäbisch Gmünd und die Gemeinde Mutlangen
4.4Zusammenfassung
5.Die Sitzblockaden und die Justiz: Der Streit um die Raketenstationierung vor Gericht
5.1Die Strafverurteilung von Sitzblockierer*innen nach § 240 StGB
5.1.1Ein historischer Überblick über § 240 StGB
5.1.2Das »Laepple-Urteil« (1969) als Präzedenzfall
5.2Begründungen und Leitmotive der Sitzblockierer*innen
5.2.1Ein Fallbeispiel: Die Tübinger Bezugsgruppe Gustav Heinemann vor Gericht
5.2.2Die Leitmotive der Gerichtsreden
Der Nationalsozialismus als Menetekel
Kritik am Militarismus und an der Rüstungsspirale
Ethisch-theologische Kritik an der Raketenstationierung
Kritik an der Justiz für die Strafverurteilung von Sitzblockierer*innen
5.3Zug durch die Instanzen und Verfassungsbeschwerden
5.4Das BVerfG-Urteil von 1986 und die Folgen
5.4.1Die Urteilsbegründung und Reaktionen
5.4.2Die Kontroverse über die Ausweitung des Gewaltbegriffes
5.4.3Die Frage nach dem Recht auf zivilen Ungehorsam
5.4.4Die Kontroverse über die Verwerflichkeit
5.4.5Fazit: Die beiden Leitsätze des BVerfG-Urteils
5.4.6Reaktionen auf das BVerfG-Urteil
5.4.7Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
5.4.8Temporäre Freisprüche am Amtsgericht Schwäbisch Gmünd
5.4.9Der BGH-Beschluss von 1988
5.4.10Diskussionen über ein Straffreiheitsgesetz
5.4.11Der Fortgang der Prozesse nach dem INF-Vertrag
Die Befangenheit der Richter Lang und Offenloch
5.5Der BVerfG-Beschluss von 1995 und die Folgen
5.5.1Das Sondervotum der Richter*innen Haas, Seidl und Söllner
5.5.2Die Folgen des BVerfG-Beschlusses
5.6Der BVerfG-Beschluss von 2011 und die Folgen
5.7Zusammenfassung
Fazit
Die gesamtgesellschaftliche Relevanz des zivilen Ungehorsams von Mutlangen
Die Mutlanger Friedensbewegung heute
Anhang
Kurzporträts
Archiv- und Quellenverzeichnis
Archive
Archiv Aktiv Hamburg (AA)
Abkürzungen
Archiv Grünes Gedächtnis Berlin (AGG)
Das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes Berlin (PA AA)
Stadtarchiv Schwäbisch Gmünd (SSG)
Verzeichnis der geführten Interviews
Gedruckte Quellen
Durchgesehene Zeitungen und Zeitschriften
Quellen
Literatur
Onlineressourcen
Danksagung
Mit den Protesterfahrungen seit Ende der 1960er Jahre wurden in der Bundesrepublik auch Praktiken des zivilen Ungehorsams bekannter. Bis in die 1980er Jahre haben sie sich im Repertoire der westdeutschen Protestkultur etabliert. Aus Sicht von Protestierenden, die ihren Wunsch nach politischer Partizipation ausdrücken wollen, stellt der zivile Ungehorsam bisweilen eine notwendige Kommunikationsform dar. Für sie wäre die angepasste soziale Ruhe und das Fehlen öffentlich ausgetragener Konflikte im Grunde der »Friedhof der Freiheit«.1 Zu Aktionen im Stil des zivilen Ungehorsams kommt es vor allem dann, wenn Aktivist*innen in ihren jeweiligen Anliegen andere Einspruchsoptionen zum Beispiel in Form von Beschwerdebriefen, Demonstrationen, Kundgebungen, Parteiarbeit oder Streiks erschöpft haben, aber ihr Ziel noch nicht erreichen konnten. Im Sinne einer Ultima Ratio begehen aktivistische Bürger*innen in solchen Fällen einen absichtlichen, aber begrenzten Rechtsbruch, um damit eine subjektiv als unrechtmäßig empfundene politische Entscheidung zu verhindern bzw. zu revidieren oder auf bestimmte Entwicklungen und Probleme in der Gesellschaft aufmerksam zu machen. Im Verlauf der letzten Jahrzehnte hat sich die politische, gesellschaftliche und justizielle Einschätzung solcher rechtlichen Provokationen, und inwiefern sie als gewaltförmig zu interpretieren sind, stark gewandelt.
Der zivile Ungehorsam steht auch gegenwärtig im Mittelpunkt zahlreicher Proteste: (1) In Stuttgart versammeln sich seit Oktober 2009 Bürger*innen am Hauptbahnhof, um ihren Protest zur Realisierung des milliardenteuren Verkehrs- und Städtebauprojektes Stuttgart 21 zu artikulieren. Einige von ihnen, wie der Stuttgarter Friedens- und Konfliktforscher Wolfgang Sternstein, praktizieren dort bereits jahrelang zivilen Ungehorsam in Form von Sitzblockaden, Straßensperren und der Besetzung des Hauptbahnhofes.2 (2) Im zwischen Aachen und Köln gelegenen Hambacher Forst besetzen seit April 2012 Umweltaktivist*innen immer wieder Teile des ca. 200 Hektar umfassenden Waldareals, um für den sofortigen Kohleausstieg und einen dauerhaften Stopp der Rodung des Gebietes durch den Energiekonzern RWE zu demonstrieren. Sozialökologische Aktivist*innen wie Peter Illert betrachten die Waldbesetzung als einen starken Impuls zur Politisierung von Bürger*innen, weil durch zivilen Ungehorsam »gesellschaftliche Konfrontation sinnlich erfahrbar« werde.3 (3) Am Fliegerhorst Büchel in Rheinland-Pfalz finden jedes Jahr zum Teil wochenlange Protestaktionen im Stil des zivilen Ungehorsams gegen die letzten in der Bundesrepublik stationierten US-Atomwaffen statt. Bemerkenswert ist, dass sich dazu ein sehr breites friedenspolitisches Bündnis zusammengefunden hat. Zu ihm gehören etwa Repräsentant*innen aus Gewerkschaften, Kirchengemeinden und dem Netzwerk Mayors for Peace. Die Friedensaktivist*innen stammen demnach nicht nur aus dem linksalternativen Spektrum, sondern unter ihnen befinden sich ebenso Konservative wie beispielsweise der CDU-Politiker Peter Seyfried.
Bei diesen drei Protest-Brennpunkten bedienen sich die Aktivist*innen einer Praxis, die schon lange bekannt ist, aber in den 1980er Jahren mit den Protesten vor dem US-Raketendepot in der schwäbischen Gemeinde Mutlangen zu einem populären Protestinstrument wurde: Der zivile Ungehorsam in Form von Sitzblockaden im öffentlichen Raum, genauer gesagt auf offener Straße, stellte für die Friedensbewegung eine innovative, integrative und öffentlichkeitswirksame Aktionsform dar. Sie stieß in einem breiten Bewegungsspektrum auf starke Resonanz, und erhielt nicht zuletzt durch wiederkehrende Bilder in den Medien einen geradezu ikonographischen Stellenwert. Seitdem ist der zivile Ungehorsam ein in weiten Teilen etabliertes Partizipations- und Protestinstrument der Zivilgesellschaft, das immer wieder soziopolitische Nach- und Umdenkprozesse anstößt, weil er sich seit jeher »in der Schwebe zwischen Legitimität und Legalität befindet«.4 Vor allem die extensive Praktizierung von Sitzblockaden wirkte auf die Judikative zurück und stieß einige rechtliche Diskurs- und Grenzverschiebungen in Bezug auf zivilgesellschaftliche Beteiligungsoptionen5 an. Durch seine Impulse für soziale Transformationen stellt der zivile Ungehorsam für viele Sozialwissenschaftler*innen eine essenzielle Gesellschaftspraxis dar. Der Politologe Peter Grottian bezeichnete diese Protestform auch als »das Salz in der Suppe der Demokratie«.6
Die Protestaktionen zwischen 1983 und 1987 gegen die Pershing-II-Raketen in Mutlangen waren nicht nur ein Kulminationspunkt für den zivilen Ungehorsam in der Bundesrepublik. Die dortigen Ereignisse weisen auch direkte und personelle Kontinuitätslinien zu vielen späteren Protest-Brennpunkten wie in Stuttgart, im Hambacher Forst und in Büchel auf: (1) So war Wolfgang Sternstein, der sich für seine Beteiligung an sieben Sitzblockaden am Stuttgarter Hauptbahnhof zwischen März und September 2011 schließlich im Juni 2015 vor Gericht zu verantworten hatte,7 bereits zu Beginn der 1980er Jahre eine Schlüsselfigur für Theorie und Praxis des zivilen Ungehorsams in Mutlangen. (2) Peter Illert, der sich bereits Jahre vor der Eskalation des Konflikts im Hambacher Forst für die Erhaltung des Waldareals und für den Braunkohleausstieg eingesetzt hat, lebte nach der Stationierung der Pershing-II-Raketen zeitweise mit einigen Friedensaktivist*innen in einer Scheune in direkter Nähe zum Mutlanger Raketendepot und beteiligte sich von dort aus an den Protesten.8 (3) Neben etlichen Friedensaktivist*innen, die bereits in der Nachrüstungskontroverse gegen die Nuklearraketen protestiert hatten, beteiligt sich an dem zivilen Ungehorsam in Büchel als Repräsentant der Initiative Mayors for Peace auch der ehemalige Bürgermeister von Mutlangen, Peter Seyfried (CDU).
An diesen exemplarischen Kontinuitätslinien lässt sich erkennen, wie richtungsweisend »Mutlangen« für die Etablierung und Durchsetzung des zivilen Ungehorsams als ein legitimer Bestandteil einer pluralen Partizipations- und Protestkultur war. Dass Konflikte zwischen den Neuen Sozialen Bewegungen9 und staatlichen Instanzen gewaltfrei ausgetragen wurden, war keinesfalls die Regel in der Bundesrepublik. Andere Protestaktivitäten der 1970er und 80er Jahre überschritten nicht nur immer wieder die Grenzen des rechtlich Erlaubten, sondern bewegten sich auf einem schmalen Grat hin zu Straftatbeständen und Gewaltausschreitungen:10 Zu schwerer Gewalteskalation kam es etwa in der schleswig-holsteinischen Gemeinde Brokdorf. Ab 1975 fanden dort Planungs- und Bauarbeiten zur Errichtung eines Kernkraftwerkes statt, die bald Demonstrationen durch Anti-AKW-Aktivist*innen zur Folge hatten. 1976 erließ das Verwaltungsgericht (VG) Schleswig einen einstweiligen Baustopp. Nachdem das Oberverwaltungsgericht (OVG) Lüneburg Anfang 1981 die Fortsetzung der Bauarbeiten erlaubte, begannen über 50 Bürgerinitiativen aus der ganzen Bundesrepublik mit der Planung einer Großkundgebung. Trotz eines richterlichen Versammlungsverbotes kamen am 28. Februar 1981 rund 100.000 Menschen zum Bauplatz und demonstrierten gegen das Atomkraftwerk. Es kam zu den befürchteten Krawallen, infolge derer rund 130 Polizeibeamte und etwa ebenso viele Anti-AKW-Aktivist*innen teilweise schwer verletzt wurden. Noch heute sprechen Beteiligte beider Seiten von »bürgerkriegsartigen Unruhen«.11 Trotz vieler weiterer Protestaktionen in den Folgejahren ging das Kernkraftwerk Brokdorf im Oktober 1986 als weltweit erste Anlage nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl ans Netz.12
Eine weitere Stufe in der Gewaltspirale erreichte der Konflikt in der bayerischen Gemeinde Wackersdorf. Der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß wollte dort eine Wiederaufbereitungsanlage (WAA) für abgebrannte Brennstäbe aus bundesdeutschen Kernreaktoren realisieren, weil er sich dadurch einen Wirtschaftsaufschwung in der strukturschwachen Region erhoffte. 1981 entstand eine lokale Bürgerinitiative, die in den Folgejahren die treibende Kraft für die Demonstrationen gegen den Bau dieses Großprojektes war. Nach der Räumung eines illegal errichteten »Hüttendorfes« im Januar 1986 eskalierten die Proteste schlagartig: Im März 1986 kamen am Rande von Ausschreitungen zwischen militanten Anti-AKW-Aktivist*innen und der Polizei zwei Demonstrant*innen ums Leben. Durch diese Ereignisse sowie die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl kurz darauf am 26. April 1986 intensivierte sich der Protest gegen die WAA zusätzlich. Höhepunkt der Krawalle war die sogenannte Pfingstschlacht vom Mai 1986, als etwa 50.000 Kernkraftgegner*innen sich am Bauzaun versammelten und es zu blutigen Gefechten mit der Polizei kam, bei denen insgesamt ca. 400 Beteiligte zum Teil schwere Verletzungen erlitten. Dass die Stromkonzerne im Frühjahr 1989 die Einstellung der WAA verkündeten, lag allerdings nicht allein an der Gewalteskalation am Bauzaun, sondern ebenso an den juristischen Einwendungen gegen die Errichtung des Großprojektes sowie daran, dass sich die Energiefirmen sich auf eine Kooperation mit englischen und französischen Konzernen einigten.13
Ein weiterer Protest-Kulminationspunkt der 1980er Jahre, der brutal eskalierte und die Neuen Sozialen Bewegungen in der öffentlichen Debatte substanziell diskreditierte, war der Konflikt über die Flughafenerweiterung in Frankfurt am Main. Bereits in den 1960er Jahren erhielt die Betreibergesellschaft die politische Freigabe, den Flughafen um ein neues Empfangsterminal und eine vier Kilometer lange »Startbahn West« auszubauen. Nachdem sämtliche juristische Einwendungen der Projekt-Gegner*innen erfolglos geblieben waren, fanden in den Folgejahren viele verschiedene Aktionen statt. Nach der Fertigstellung und Inbetriebnahme der Startbahn im Jahr 1984 intensivierten sich die Protestaktionen und führten etliche Male zu Gewaltausschreitungen. Am 2. November 1987 fand die breite Bewegung gegen die Flughafenerweiterung ein abruptes Ende, als während einer Demonstration von Autonomen plötzlich Schüsse in Richtung Polizei fielen. Zwei Beamte kamen ums Leben, neun weitere wurden teilweise schwer verwundet. Der Sprecher der Bürgerinitiative gegen den Bau der Startbahn West erklärte daraufhin, dass die politische Kultur zerfallen sei.14 Joschka Fischer, damals Grünen-Fraktionsvorsitzender im Hessischen Landtag, prognostizierte sogar, dass durch die Überschreitung dieses Tabus »die Zeit der sozialen Bewegungen« vorbei sei.15 Tatsächlich löste sich die Protestbewegung gegen die Startbahn West wenig später auf.16
Der Hinweis auf diese gewalttätigen und eskalierenden Proteste unterstreicht die außergewöhnliche Position, die die Proteste in Mutlangen in diesem Kontext einnahmen. Sicherlich fanden die Protestaktionen in Mutlangen unter anderen Vorzeichen statt als in Brokdorf oder Wackersdorf, denn Friedensproteste legitimieren sich explizit über die Betonung ihrer Gewaltfreiheit. Dennoch stellt die Gemeinde Mutlangen in Anbetracht der Gewalteskalationen an anderen Protest-Brennpunkten der 1980er Jahre einen Sonderfall dar: Vom »Heißen Herbst 1983« bis zum bilateralen INF-Abrüstungsabkommen zwischen den USA und der Sowjetunion im Dezember 1987 fanden zwar kontinuierlich Sitzblockaden vor dem Tor des US-Raketendepots statt, bei denen die Polizei über die Jahre insgesamt knapp 3.000 Friedensbewegte festnahm. Jedoch kam es trotz der starken Konzentration von zivilem Ungehorsam gegen die Stationierung der Pershing-II-Raketen zu keinen Krawallen und keinen direkten Angriffen auf Menschen. Deshalb war Mutlangen nicht nur ein geografischer Protestort, sondern entwickelte sich ebenso zu einem zentralen und symbolisch aufgeladenen Kristallisationspunkt der Friedensbewegung.
Am 12. Dezember 1979 verabschiedeten die Außen- und Verteidigungsminister der NATO-Mitgliedstaaten den sogenannten NATO-Doppelbeschluss, der die Stationierung von 108 US-amerikanischen Pershing-II-Raketen und 464 bodengestützten Cruise Missiles in westeuropäischen Ländern als Gegengewicht zu den sowjetischen SS-20-Mittelstreckenraketen vorsah – falls die bilateralen Verhandlungen der Supermächte USA und Sowjetunion über die Begrenzung ihrer atomaren Mittelstreckenraketen keine Einigung erzielen sollten.17 Auslöser dafür war, dass die Sowjetunion bereits im Jahr 1976 damit begonnen hatte, Nuklearraketen mit einer Reichweite von etwa 5.400 Kilometern an Standorten in den Ukrainischen und Weißrussischen Sozialistischen Sowjetrepubliken sowie in der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik zu stationieren.
Insbesondere Bundeskanzler Helmut Schmidt sorgte sich deshalb um das strategische Gleichgewicht in Europa. In seiner Rede vor dem Londoner International Institute for Strategic Studies (IISS) am 28. Oktober 1977 erklärte er, dass das westliche Verteidigungsbündnis Gegenmaßnahmen ergreifen müsse, welche die NATO zwei Jahre später in ihrem Doppelbeschluss festschrieb. Die bilateralen Abrüstungsverhandlungen zwischen dem Osten und dem Westen erzielten in den Folgejahren keinen Erfolg. 1983 schätzte die NATO die Zahl der einsatzbereiten und auf Europa gerichteten SS-20-Raketen auf 243. Da jeder Flugkörper mit drei nuklearen Sprengköpfen bestückt werden konnte, vermutete das Atlantische Bündnis, dass insgesamt sogar 729 Atomwaffen das europäisch-mediterrane NATO-Territorium bedrohten.18 Vor diesem Hintergrund stimmte der Deutsche Bundestag – trotz eines breiten Tableaus an Protestaktionen der bundesdeutschen Friedensbewegung gegen die Nachrüstung – am 22. November 1983 dem NATO-Stationierungsbeschluss mit dem Votum der Regierungsparteien CDU/CSU und FDP zu.19 Am nächsten Tag brach die Sowjetunion die Genfer Abrüstungsverhandlungen mit den USA ab. Bereits am darauffolgenden Wochenende begann die westliche Verteidigungsallianz mit der Stationierung der ersten Pershing-II-Raketen als potenzielle Trägersysteme für Nuklearwaffen.
Die drei westdeutschen Stationierungsorte dieser atomaren Mittelstreckenraketen waren Heilbronn, Neu-Ulm und die Gemeinde Mutlangen, die sich ca. 60 Kilometer östlich von Stuttgart befindet. Diese Orte lagen alle innerhalb eines designierten Radius von 70 Kilometern um das EUCOM (EUropean COMmand), der US-Kommandozentrale in Stuttgart-Vaihingen, die für Operationen der US-amerikanischen Streitkräfte in Europa, Nordafrika und im Nahen Osten verantwortlich war. Für jedes dieser drei Depots waren 36 Raketen bestimmt. Ferner beschloss die NATO, alle 96 für die Bundesrepublik vorgesehenen Cruise Missiles an einem Raketenstandort bei Hasselbach/Wüschheim im rheinland-pfälzischen Hunsrück zu stationieren. Die Dislozierung der atomaren US-Mittelstreckenraketen begann ab Ende November 1983 in Mutlangen. Die Gemeinde entwickelte sich daraufhin zu einem Kristallisationspunkt der bundesdeutschen Friedensbewegung, an dem tausende Friedensaktivist*innen von 1983 bis zum Abzug der Nuklearwaffen infolge des INF-Vertrags vom 8. Dezember 1987 kontinuierlich zivilen Ungehorsam im Stil ihrer Vorbilder wie etwa Henry David Thoreau, Mahatma Gandhi oder Martin Luther King praktizierten.
Mutlangen hatte zu diesem Zeitpunkt ca. 4.500 Einwohner*innen, von denen der Großteil der Erwerbstätigen in der knapp fünf Kilometer entfernten Stadt Schwäbisch Gmünd (ca. 55.000 Einwohner*innen) arbeitete. Dort war neben vielen kleinen und mittelständischen Firmen auch der Großbetrieb ZF (Zahnradfabrik) ansässig, der unter anderem Rüstungsgüter wie Lenkungen und Getriebe für Militärtransporter produzierte und rund 5.000 Arbeiter*innen beschäftigte.20 Die christdemokratische Partei dominierte die politische Stimmung in Mutlangen in den 1980er Jahren: Bei der baden-württembergischen Landtagswahl 1984 erzielte die CDU mit 55,3 Prozent fast doppelt so viele Stimmen wie die SPD mit 28,7 Prozent; die Grünen kamen auf 8,8 Prozent.21 Der von 1954 bis 1986 regierende parteilose Bürgermeister Heinz Hartmann bezog zur Stationierung der Pershing-II-Raketen in Mutlangen nicht offiziell Stellung, ließ jedoch im Sommer 1983 das Zelten der Friedensaktivist*innen auf Gemeindeflächen verbieten. Sein Nachfolger Peter Seyfried verstand sich dagegen als Vermittler zwischen allen in der Nachrüstungskontroverse involvierten Parteien, stand aber letztlich zwischen den Fronten. Konfessionell ist Mutlangen mit seiner St. Georgs-Kirche vor allem römisch-katholisch geprägt. Es existiert dort aber auch eine evangelische Gemeinde. Letztere galt Friedensaktivist*innen als von Beginn an relativ offen für zivilen Ungehorsam gegen die Raketenstationierung, während diese Thematik in der katholischen Gemeinde erst später aufgegriffen wurde.22
Große (inter-)nationale Bekanntheit erlangte die Gemeinde durch die Sitzblockaden vor dem US-Raketendepot. Bereits vor Beginn der Stationierung veranstalteten einige Friedensinitiativen erste Demonstrationen. Vom 1. bis zum 3. September 1983 fand die sogenannte Prominentenblockade vor dem Lager statt, die Mutlangen durch die Anwesenheit von ca. 150 bekannten Persönlichkeiten wie etwa Heinrich Böll, Günter Grass und Petra Kelly in den Fokus der (inter-)nationalen Medienöffentlichkeit rückte. Wegen dieser Veranstaltung konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der Medien stark auf den kleinen Ort in der schwäbischen Provinz. Friedensaktivist*innen aus dem ganzen Bundesgebiet kamen ins abgelegene Mutlangen, um sich für die Verhinderung der Stationierung von Nuklearraketen einzusetzen.
Damit setzte sich im Blick auf den Austragungsort von sozialpolitischen Konflikten ein Trend der Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre fort. Während sich in den Jahren zwischen 1967 und 1969 die Studierenden- und Jugendrevolten noch in erster Linie auf die Groß- und Universitätsstädte fokussierten, entdeckten die Alternativbewegungen – die Anti-Atomkraft-, die Friedens-, die Jugendzentrumsbewegung etc. – die bis dato als reaktionär abgeschriebene Provinz als Schauplatz für sich und ihre Anliegen.23 Dort sahen sie die Chance, »den Kontakt zur ›Basis‹, zu den breiten Massen zu finden.«24 Im Kontext einer zivilisationsskeptischen Wende der frühen 1970er Jahre setzten sich die verschiedenen Strömungen der Neuen Sozialen Bewegungen sogar explizit für »nahraumorientierte Handlungsansätze«25 ein. Der Begriff »Provinz« war sowohl in der zeitgenössischen als auch in der gegenwärtigen Forschung lange Zeit in Abgrenzung zu ›metropolen‹ Deutungsfeldern recht despektierlich verwendet worden.26 Durch den Aktivismus der Neuen Sozialen Bewegungen in ländlichen Gebieten entwickelte sich dieser aber zu einem veritablen »Kampfbegriff gegen den technokratischen Zentralismus der Städte«.27 Fortan weckte »Provinz« dadurch weniger Assoziationen zu »Rückständigkeit, Kleingeistigkeit und Kirchturmpolitik«.28 In diesem Kontext war ferner die »Sehnsucht nach Heimat« ein nicht zu unterschätzender Aspekt des Zeitgeists.29
Ein harter Kern der Friedensbewegung reiste nicht nur an den Wochenenden oder in relativ regelmäßigen zeitlichen Abständen nach Mutlangen, sondern war zu einer weiteren Radikalisierungsform im Konflikt gegen die Stationierung der Pershing-II-Raketen bereit: Rund 25 junge Friedensaktivist*innen gaben im Herbst/Winter 1983 ihr bisheriges (zum Teil auch bürgerliches) Leben auf, um sich fortan komplett dem Protest gegen Nuklearwaffen in der schwäbischen Provinz zu verschreiben. Sie fanden in einer alten Scheune (Pressehütte) in unmittelbarer Nähe zum Raketenlager eine Unterkunft, die sich in den Folgejahren zur Anlaufstelle für die Friedensbewegung, aber auch für Medienvertreter*innen entwickelte. Neben dieser Gruppe, der sogenannten Dauerpräsenz, engagierten sich viele weitere Friedensinitiativen wie der bürgerliche Verein Friedens- und Begegnungsstätte Mutlangen e.V. und die in Tübingen ansässige radikalpazifistische Kampagne Ziviler Ungehorsam bis zur Abrüstung bis zu deren komplettem Abzug im Jahr 1990 gegen die Pershing-II-Raketen.
Diese Schlüsselinitiativen waren in den Folgejahren vor allem für die vielen illustren und öffentlichkeitswirksamen Protestaktionen wie beispielsweise die Seniorenblockaden, die Konzertblockaden, die Geburtstagsblockaden, die Muttertagsblockade, die Richterblockade, die Bundesverfassungsgerichtsblockade und den Blockade-Herbst verantwortlich. Ferner stellten christliche Feste wie Ostern, Pfingsten, Weihnachten und Erntedank Anlässe dar, um »am Ort der Todesdrohung« ein »Bekenntnis zum Leben« einzufordern.30 Laut Schätzungen der Friedens- und Begegnungsstätte Mutlangen kamen zwischen 1983 und 1987 insgesamt ca. 10.000 Friedensbewegte in die schwäbische Provinz, von denen die Polizei 2.999 für die Beteiligung an Sitzblockaden zum Teil wiederholt festnahm.31 In der Regel verurteilte das Amtsgericht im benachbarten Schwäbisch Gmünd die Festgenommenen wegen Nötigung nach § 240 des Strafgesetzbuches zu einer Geldbuße von 20 Tagessätzen, wobei sich die Höhe des Tagessatzes wiederum aus der individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Friedensaktivist*innen ergab. Etwa 200 Sitzblockierer*innen saßen ihre Strafen ersatzweise im Gefängnis ab, weil sie es ablehnten, die Geldsumme an den Staat zu zahlen. Für die Friedensaktivist*innen war es von zentraler Bedeutung, durch rechtliche Provokationen, Grenzüberschreitungen und Skandalisierungsprozesse »den politischen Kampf […] auf der juristischen Ebene fortzusetzen und den Widerstand vor die Gerichte zu tragen. Durch die erreichte Öffentlichkeit direkt im Gericht und durch Berichte in Zeitungen« sahen sie nicht zuletzt »die Möglichkeit, Gedanken und Informationen weiterzutragen.«32
Da ziviler Ungehorsam als systematisch eingesetzte Protestpraxis zwar bekannt war, aber zu Beginn der 1980er Jahre in der Bundesrepublik noch einen relativ neuen Gegenstand in der Rechtsprechung darstellte (und die Justiz im Grunde bis heute keine konsistente Rechtsprechung für Sitzblockaden finden konnte), entwickelte sich infolge divergierender Rechtsprechung eine veritable Justizkrise. Schließlich erreichte diese nach einem Zug durch die Instanzen Mitte der 1990er Jahre das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) und führte zu einer erbitterten öffentlichen Debatte über die Entscheidung(en) dieser Institution. Im Kern ging es bei diesem Diskurs um die Frage, welche Rechte, Pflichten und Artikulationsweisen von Protest (z.B. Partizipations-, Nichtkooperations- und Boykottaktionen) ein Individuum gegenüber dem Staat und seinen legislativen Festschreibungen hat, wenn es sich beispielsweise durch die Stationierung von Nuklearraketen und der daraus resultierenden Eventualität eines Atomkrieges existenziell bedroht sieht.33 Insofern stellt Mutlangen ein anschauliches Fallbeispiel für Berührungspunkte, Grenzverhandlungen und (produktive) Wechselwirkungen zwischen politischem Protest und der Sphäre der Judikative dar.
Abseits der sich bis in die Gegenwart fortsetzenden akademischen und breitenwirksamen Dispute über die juristische Bewertung von Sitzblockaden war sich ein Großteil der Friedensbewegung sicher, dass ihr jahrelanger ziviler Ungehorsam vor US-Militäreinrichtungen zu einem nicht unerheblichen Anteil zur Beendigung des atomaren Wettrüstens zwischen Ost und West beigetragen habe. Historiker*innen verweisen bei der Frage zum Ende des Kalten Krieges vor allem auf Veränderungen der politischen Großwetterlage und in erster Linie auf das historische Zustandekommen des INF-Abrüstungsabkommens zwischen den USA und der Sowjetunion vom 8. Dezember 1987, das die vollständige Vernichtung aller Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometern besiegelte. Letztlich war es eine paradoxe Synergie aus einerseits der Durchsetzung der kontroversen NATO-Militärpolitik und andererseits dem beständigen zivilen Ungehorsam der Friedensbewegung dagegen, die den Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, zu neuen politischen Impulsen veranlassten und letztendlich das Ende des Ost-West-Konfliktes einleiteten.34
Trotz der historischen Relevanz Mutlangens erinnert heute kaum noch etwas daran, dass sich bis zu Beginn der 1990er Jahre am Ortsrand der Gemeinde ein US-Depot für Nuklearraketen vom Typ Pershing-II befand und sich dort über Jahre eine bedeutsame Episode der bundesdeutschen Protestgeschichte ereignete. Nach langen Streitigkeiten konnte die Gemeinde das 30,5 Hektar große Gelände im Jahr 1998 dem Bund abkaufen. Sie ließ die ehemaligen Militäranlagen fast vollständig abreißen, um schließlich auf der dortigen Heide ein Neubaugebiet zu errichten. Neben Teilen der früheren Start- und Landebahn für Militärflugzeuge stehen lediglich noch die beiden halb in die Erde versenkten Depot-Bunker, welche die Gemeinde inzwischen als Lager für Altpapier und Streusalz verwendet. Erst bei einem aufmerksamen Spaziergang durch das Wohngebiet lässt sich ein ca. ein Kilometer langer Geschichtslehrpfad entdecken, den die Gemeinde im Jahr 2007 anlegen ließ. Seit Sommer 2016 steht im Neubaugebiet ferner ein Kunstwerk von Klaudia Dietewich, das den Konversionsprozess des ehemaligen Raketenstandorts in einen öffentlichen Raum für zivile Nutzung versinnbildlichen soll.35
Mutlangen steht heute nicht nur für die Erinnerung an die Stationierung atomarer US-Mittelstreckenraketen, sondern es existieren in der Gemeinde weiterhin Friedensinitiativen wie beispielsweise die Friedenswerkstatt Mutlangen, die sich nach wie vor für die Abrüstung von Atomwaffen einsetzt. Diese hatte im Herbst 2017 allen Grund zum Feiern, da sie Teil des internationalen Bündnisses ICAN (International Campaign to Abolish Nuclear Weapons) ist, das für sein Engagement zum Verbot von Nuklearwaffen den Friedensnobelpreis verliehen bekam.36
»Mutlangen« stellt in vielerlei Hinsicht ein Forschungsdesiderat der Geschichtswissenschaft dar. Die schwäbische Gemeinde entwickelte sich zu einem Kristallisationspunkt der Nachrüstungskontroverse und der (inter-)nationalen Friedensbewegung. Bemerkenswert ist, dass es dort zu einer gewaltfreien Austragung des Streits zwischen Friedensaktivist*innen vieler verschiedener Initiativen und deren Konfliktpartner*innen wie der Bundes- und Landesregierung, dem US-Militär, der Polizei, der Justiz und einem Großteil der lokalen Bevölkerung kam.
Nach der Zustimmung des Deutschen Bundestages zur Stationierung von Cruise Missiles und Pershing-II-Raketen auf bundesdeutschem Territorium im Herbst 1983 stellten viele Friedensinitiativen enttäuscht und resigniert ihr Engagement ein.37 Ein optimistischer gestimmter Teil der Friedensbewegung blieb aber weiterhin aktiv und proklamierte die Verlagerung des Aktivismus an die konkreten Stationierungsorte. Der Nachrüstungskonflikt sollte sich demnach von Städten wie Berlin, Bonn und Hamburg, wo in den Folgejahren des NATO-Doppelbeschlusses zahlreiche Großdemonstrationen mit hunderttausenden Bürger*innen stattfanden, in deutlich kleinere Städte wie Heilbronn und Neu-Ulm beziehungsweise in die schwäbische Provinz verschieben.
Diese Studie befasst sich mit den Aktivitäten der Friedensbewegung sowie den staatlichen Reaktionen. Sie erläutert, wie Mutlangen zu einem Sinnbild für den zivilen Ungehorsam gegen die Stationierung von Atomwaffen in der Bundesrepublik und in Europa wurde. Gleichermaßen stellte dieser Ort eine Feuertaufe für neue Beteiligungs- und Einspruchsoptionen dar, der aufgrund der Gewaltfreiheit der Ereignisse wie ein demokratischer Vitalisierungsschub für die Gesamtgesellschaft in der Bundesrepublik wirkte. Die Friedensinitiativen vor Ort diskutierten jahrelang über Formen und Grenzen des zivilen Ungehorsams und zugleich über die Legitimität staatlicher Gewalt. Auf diese Weise trugen sie dazu bei, das gesellschaftliche Verständnis für Formen der bürgerlichen Initiativ- und Kontrollrechte bei politischen Entscheidungsfindungen zu verändern.
Wie bei den anderen Protest-Brennpunkten in den 1980er Jahren stellten die Schlüsselinitiativen und -figuren in der schwäbischen Gemeinde also keine (sicherheits-)politische »Single-Issue-Bewegung« zur Abrüstung der Nuklearraketen dar. Über die Abrüstungsfrage hinaus formten die Friedensaktivist*innen eine soziale Bewegung, die starke Impulse für Tempo, Intensität und Richtung des sozialen Wandels setzte:38 Erstens steht »Mutlangen« dafür, dass alternative politische Kommunikations-, Partizipations- und Protestformen aus der Zivilgesellschaft breitere (juristische) Akzeptanz fanden. Zudem setzten die Friedensaktivist*innen in Mutlangen den Konflikt um die nuklearen Mittelstreckenraketen auch nach der Entscheidung ihrer Stationierung mit veränderten Mitteln und Schwerpunkten fort. Während dieses intensiven Konfliktes trugen die Proteste dazu bei, das in der bundesdeutschen Öffentlichkeit produzierte Bild von selbstbestimmten Bürger*innen zu verändern. Zweitens ist die schwäbische Gemeinde ein Paradebeispiel für die »Normalisierung und Inkorporierung«39 von Protestanliegen in die politischen Institutionen und den politischen Diskurs während der 1980er Jahre. Die Friedensbewegung folgte nicht einer von Sozialwissenschaftler*innen postulierten Steigerungslogik,40 derzufolge der (non-)verbale Widerspruch zu bestimmten Politikentscheidungen, Ereignissen und Situationen bei Nichtberücksichtigung zwangsläufig in Gewalt zu eskalieren droht. Die symbolstarken Sitzblockaden bewirkten stattdessen, dass Gesellschaft und Staat diese und weitere Protestarten als Partizipationsoptionen zur öffentlichen Meinungsbildung sowie als Eingriffsmechanismus in die Gesetzesauslegung letztlich anerkannten. Drittens waren die Aktionen des zivilen Ungehorsams ein handlungsorientierter Teil der substanziellen Kritik an der Militär- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik, in deren Verlauf schon in den 1970er Jahren alternative Sicherheitskonzepte wie die Soziale Verteidigung lanciert worden waren.
Mit einem differenzierten Gesamtbild der Ereignisse von Mutlangen können überdies unterschiedliche Aspekte des Wandels von Protestverhalten, Friedensbewegung und der Bewertung von Gewalt gezeigt werden. Im Mittelpunkt steht der radikalpazifistische Kern der Friedensbewegung, der nach der Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik nicht zerfiel, sondern sein Engagement bis zu deren kompletten Abzug fortsetzte. Insbesondere die in dieser Zeit entwickelten, diskutierten und umgesetzten Praktiken des zivilen Ungehorsams sind für die historische Bewegungsforschung aufschlussreich. Da sich die Friedensbewegung nach der Raketenstationierung aus strategischen Gründen mit ihren Protestaktionen bewusst auf die Provinz fokussierte, trägt diese Studie auch zur Erforschung der Lokalgeschichte der Gemeinde Mutlangen und der benachbarten Stadt Schwäbisch Gmünd bei, wo die für die Pershing-II-Raketen zuständigen Einheiten der US-Armee ihre Kommandozentrale hatten. In diesem Zusammenhang steht auch das Verhältnis zwischen der tendenziell konservativ grundierten Bevölkerung Mutlangens und den Friedensaktivist*innen im Mittelpunkt, die fortan ihre Raison d’Être in kontinuierlichen Protestaktionen gegen die Pershing-II-Raketen sahen. Nach jahrelangen Konflikten zwischen beiden Seiten fanden die Friedensbewegten und ihr in der Pressehütte eingerichtetes Experimentierfeld für linksalternatives Zusammenleben schließlich Akzeptanz bei der lokalen Bevölkerung. Da auf diese Weise auch die Dynamik zwischen subkulturellen Lebenspraktiken der Friedensaktivist*innen und den Reaktionen der Einwohner*innen Mutlangens sichtbar wird, steht die Arbeit auch im Kontext der Kultur-, Mentalitäts- und Sozialgeschichte der 1980er Jahre. Ebenso liefert die Studie einen Beitrag zur bundesdeutschen Rechtsgeschichte, weil sie die juristischen Folgen der Sitzblockaden vor dem US-Raketendepot durch alle Instanzen bis zum Bundesverfassungsgericht differenziert beleuchtet.
Schließlich lässt sich die Studie auch in das Feld der historischen Friedens- und Konfliktforschung einordnen,41 denn sowohl Thema wie Praktiken aller Beteiligten auf Seiten der Protestierenden konzentrierten sich, mit unterschiedlicher Intensität, auf eine Konfliktaustragung ohne Gewalt. So wie die Forderung nach Abrüstung von dem Gedanken getragen war, dass sich internationale Konflikte ohne Gewaltandrohung austragen ließen, stellten auch die Protestaktivitäten in Mutlangen den Versuch dar, gewaltlose Konfliktaustragung zu demonstrieren. In Mutlangen stritten die involvierten Akteur*innen über den Leitwert des Friedens, die Friedensfähigkeit moderner Gesellschaften und die Minderung kollektiver Gewaltanwendung, jedoch ebenso über sinnstiftende Visionen von Basisdemokratie, Partizipation und Solidarität beziehungsweise über Differenzerfahrungen.42 Deshalb zeigt diese Studie, dass »der vergesellschaftende Grundmodus des Konflikts auch zum Grundcharakter der Friedensbewegungen und ihrer Gruppierungen« gehörte und dieser nicht nur auf den politischen Inhalt, sondern ebenso auf »Formen, Mobilisierungschancen, Entwicklung und Wandel von Protest« einwirkte.43
Am zivilen Ungehorsam von Mutlangen lassen sich außerdem verschiedene theoretische Konfliktmodelle erkennen. Der Philosoph und Soziologe Georg Simmel stellte in seinem Werk Soziologie – Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung aus dem Jahr 1908 im Kapitel Der Streit die These auf, dass es keineswegs zu einem reicheren Gemeinschaftsleben führen würde, wenn die disruptiven Energien verschwänden.44 Stattdessen brauche jede Gesellschaft attraktive und repulsive Kräfte, um »irgendein quantitatives Verhältnis von Harmonie und Disharmonie, Assoziation und Konkurrenz, Gunst und Missgunst« herzustellen und um dadurch »zu einer bestimmten Gestaltung zu gelangen«.45 Es sei gerade die Opposition, die der Gesellschaft ein Gefühl von Genugtuung, Ablenkung und Erleichterung gäbe, denn sie lasse »unsere Kraft sich bewusst bewähren und verleih[e] so erst eine Lebendigkeit und Wechselwirksamkeit an Verhältnissen, denen wir uns ohne dieses Korrektiv um jeden Preis entzogen hätten«.46
Ralf Dahrendorf entwickelte diese Konflikttheorie fort und schrieb in Pfade aus Utopia – Arbeiten zur Theorie und Methode der Soziologie, dass es insbesondere der »geregelte und friedlich ausgetragene Konflikt [sei], der als große schöpferische Kraft den Wandel voranbringt [und] die Gesellschaft dynamisiert«.47 Im Sinne dieser Konflikttheorien dynamisierte auch die Nachkriegskontroverse die bundesdeutsche Gesellschaft. Denn sie trug zu einer gesamtgesellschaftlichen Verständigung im Hinblick auf a) die kulturelle Westbindung, b) die erinnerungskulturelle Akzeptanz der NS-Erblast, c) die Vorstellung eines Friedensauftrages in Europa und d) die Anerkennung von Parlamenten und Gerichten als Foren des politischen Streites in der Bundesrepublik der 1980er Jahre bei.48 Für den konstruktiven Austausch in diesem »breiten Kulturkampf zwischen Alternativbewegung und Establishment«49 stellt »Mutlangen« nicht nur ein anschauliches Beispiel aus der Lokalgeschichte dar, sondern ein Brennglas, unter dem sich zahlreiche bewegungsinterne Konflikte und schwierige Situationen vor Ort erkennen lassen, die diesen letztlich gewaltlosen Konflikt beeinflussten.