Olaf-Axel Burow

Future Fridays – Warum wir das Schulfach Zukunft brauchen

Prof. Dr. Olaf-Axel Burow lehrt Allgemeine Pädagogik an der Universität Kassel und ist Autor zahlreicher Fachbücher zu Pädagogik, Organisationsentwicklung und Kreativitätsforschung. Er berät Bildungseinrichtungen im In- und Ausland, aber auch DAX-Unternehmen in Change-Prozessen (www.olaf-axel-burow.de).

Inhalt

Prolog

1. Die zukunftsblinde Gesellschaft

2. Das Versagen der Politik

3. Die Antiquiertheit der Schule

4. Der notwendige Abschied vom Brockhaus-Denken

5. Fridays for Future – Streiken für die Zukunft

6. Das Schulfach Zukunft – ein erster Schritt

7. Future Friday: Lehrer und Schüler werden Zukunftsgestalter – Future Designer

Exkurs: Ausbildung zum Future Designer des IF-Institute for Future Design

Danksagung

Literatur

Downloadmaterial (unter https://www.beltz.de/978-3-407-25842-7 )

Großer Test: Wie zukunftsfähig ist Ihre Schule?

Prolog

»It’s easier to invent the future

than to predict it.«

(Alan Kay)

Angesichts der offenkundigen Katastrophenverliebtheit unserer Medien möchte ich auf eine Kerneinsicht der Zukunftsforschung hinweisen: Der Zeitgeist irrt immer! Oder mit Karl Valentin: »Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.«

Aber schlimmer noch: Negative Prognosen – zumal wenn sie im Übermaß verbreitet werden – vermiesen uns nicht nur die Stimmung, sie machen uns auch handlungsunfähig. Je mehr wir über den unabwendbaren Klimawandel hören, auf die wachsende Atomkriegsgefahr hingewiesen werden oder Statistiken über das dramatische Auseinanderdriften von Arm und Reich präsentiert bekommen, desto resignierter werden wir, denn offenbar überfordern die prognostizierten Entwicklungen unsere psychischen Verarbeitungskapazitäten und konfrontieren uns mit unseren beschränkten Eingriffsmöglichkeiten. Zudem sind wir damit linearem Denken verhaftet, in dem wir die negativen Entwicklungen der Gegenwart in die Zukunft verlängern. Wir laufen so Gefahr, nicht nur Chancen zu übersehen und zukunftsblind zu werden, sondern auch allmählich im Zukunftsfrust zu versinken, der uns handlungsunfähig macht.

Die frohe Botschaft: Sie, liebe Leser/innen, sind nicht dieser Gefahr ausgesetzt, denn wenn ich auch in den ersten Kapiteln problematische Zukunftstrends beschreibe und Ursachen unserer Unfähigkeit zum radikalen Umsteuern analysiere, erreichen Sie spätestens ab Kapitel 4 das rettende Ufer. Hier zeige ich nämlich, dass die Katastrophenszenarios nur eine Seite der Medaille sind, denn die ungebrochene Steigerungsrate von Erfindungen der wissenschaftlich-technischen Revolution und der Digitalisierung bietet – anders als es viele meinen – bislang ungenutzte Möglichkeiten, Zukunft völlig neu zu gestalten.

Allen Untergangsprognosen zum Trotz gilt: Zukunft ist stets offen. Alles ist möglich! Von uns, von den Einstellungen und Handlungen der umfassend informierten Bürger der globalisierten, vernetzten und immer stärker zusammenwachsenden Weltgesellschaft wird es abhängen, welche Zukunft entsteht. Denn schon Hölderlin (1803) wusste: »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch«.

Die unterschätzten Zukunftsängste von Kindern und Jugendlichen, wie sie sich in der Fridays-for-Future-Bewegung artikulieren, können – wie ich zeigen werde – positiv gewendet werden, wenn Schule ihre Vergangenheitsorientierung überwindet und sich stärker für die Auseinandersetzung mit Zukunftsherausforderungen öffnet – also das umsetzt, was die streikenden Jugendlichen innerlich bewegt und was sie fordern. Wir sollten auf sie hören.

Wenn sich so viele Jugendliche zu Recht um die Zukunft sorgen, dann muss Schule zu einem Ort werden, an dem Leidenschaft für Zukunftsgestaltung durch Neudenken der Zukunft entfacht wird. Zukunftsorientierte Bildung ist der Schlüssel.

Doch für die Erfindung der Zukunft braucht es Zeit und Raum – Raum, den sich die Schüler/innen mit ihren Streiks geschaffen haben. Diesen Raum gilt es zu nutzen. Dafür müssen Lehrer/innen und Schüler/innen neue Bildungs- und Handlungsformate entwickeln und zu Zukunftsgestaltern, zu »Future Designern« werden.

Die Einführung eines Schulfachs Zukunft, dessen Umrisse ich in Kapitel 6, beschreibe, könnte ein erster Schritt sein. Doch wenn es uns wirklich um unsere Zukunft geht, warum nutzen wir dann für die Entwicklung neuer Ideen und die Ausbildung der dringend benötigten Zukunftskompetenzen nicht einen ganzen (Schul-)Tag: den Future Friday?

Der sensationelle Aufbruch des Silicon Valley begann in einer unscheinbaren Garage, einem freien Ort zum Tüfteln und Erfinden. In Zeiten wie diesen braucht jede Schule eine »Garage«, einen unverplanten Ort zur Freisetzung von Zukunftsideen und Gestaltungslust.

Aus dem Alltag wissen wir: Das, worauf sich unsere Aufmerksamkeit richtet, wird stärker. Deshalb sollten wir zwar die Gefahren beachten, doch vor allem den Blick auf die Chancen fördern. So sollten wir Zukunftswerkstätten, Design-Thinking-Workshops, Labore für Entrepreneurship und Makerspaces nutzen, um unsere Fähigkeiten zur Zukunftsgestaltung zu entwickeln und so zu »Future Designern« zu werden.

Der Informatikprofessor, Jazzpianist und Theatergestalter Alan Kay, einer der Pioniere der objektorientierten Programmierung, erkannte schon in den Frühzeiten des Silicon Valley, welche wahrhaft weltumwälzenden Chancen darin bestehen, die Gestaltungslust von Menschen freizusetzen: »Die beste Methode, die Zukunft vorherzusagen, besteht darin, sie zu erfinden.«

1.Die zukunftsblinde Gesellschaft

Die Mehrzahl der Experten ist sich einig: Unsere Lage ist dramatisch. Die Menschheit ist dabei, die eigenen Lebensgrundlagen zu zerstören. Beginnend bei der sich erneut zuspitzenden Gefahr durch unkontrollierte atomare Aufrüstung, über den ungebremst voranschreitenden Klimawandel begleitet von einem nie gekannten Artensterben aufgrund einer ressourcenübernutzenden Landwirtschaft bis hin zum wachsenden Gegensatz zwischen Arm und Reich und der daraus resultierenden ungelösten Migrationsfrage stehen wir vor sich zuspitzenden Problemlagen, die sich gegenseitig verstärken und in ihrer Wechselwirkung existentiell bedrohlich sind.

Anders als in früheren Zeiten, als große Teil der Menschheit – wie im Ersten und Zweiten Weltkrieg – sich unwissend in eine Katastrophe stürzten, tragen wir heute sehenden Auges mehr oder minder aktiv zu einem absehbaren Desaster bei, sind wir doch in Zeiten des Internet umfassend informiert. »Wir haben es nicht gewusst« – Diese Ausrede, gilt nicht mehr! Denn anders als im letzten Jahrhundert verfügen wir über das nötige Wissen und die technischen Möglichkeiten zur Vermeidung der Katastrophe. Die Frage entsteht: Warum steuern wir nicht um?

Ob es sich um die dringend gebotene Abrüstung, die Reduzierung des Kohlendioxid-Ausstoßes, die Entwicklung einer ökologisch verantwortbaren Landwirtschaft, die Einführung nachhaltiger Produktionsweisen oder die Weiterentwicklung unserer Demokratie zu einem zukunftstauglichen Modell der Beteiligung und der gerechten Verteilung am erwirtschafteten Reichtum handelt – fast nirgendwo ist der ernsthafte Wille zum Umsteuern erkennbar. Im Gegenteil: Die Rüstungshaushalte wachsen ungebremst und ein amerikanischer Präsident setzt uns Europäer sogar unter Druck, die Spirale weiterzutreiben. Die Reduzierung des Kohlendioxid-Ausstoßes wird in die Ferne verschoben und sofort wirksame Maßnahmen werden als unrealistisch denunziert, obwohl ein Weiter-So über kurz oder lang die Problemlagen verschärft und mit hoher Wahrscheinlichkeit in den Abgrund führt. Mehr noch: Klimaskeptiker und Klimaleugner erfreuen sich eines wachsenden Zuspruchs, der durch populistische Politiker noch befeuert wird.

Die Information beispielsweise, dass bis zu 70 Prozent des Insektenbestandes verschwunden sind, löst keine panischen Reaktionen aus, obwohl diese Erkenntnis jeder Autofahrer täglich an seiner blitzblanken Frontscheibe bestätigt sieht. Statt aktiv vorsorgenden Umweltschutz zu betreiben, belügt und betrügt eine ausschließlich am Gewinn orientierte verantwortungslose Managergarde autovernarrte Konsumenten, die immer häufiger spritschluckende SUVs bevorzugen, etwa um ihre Kinder zur Schule zu fahren, von denen ein beachtlicher Teil aufgrund von Fehlernährung und Bewegungsmangel unter Übergewicht leidet. Und anstatt über neue Mobilitätskonzepte nachzudenken, wird das Heil in noch größeren und schwereren Elektrofahrzeugen gesehen, denn aufgrund des Gewichtes der Batterien lohnen sich Kleinwagen kaum noch. Über die Umweltschäden durch den Abbau der benötigten Grundstoffe und durch die energie- sowie materialintensiven Herstellungsprozesse denkt kaum jemand nach. Auch dass, wie jüngst zu lesen war, ein Amerikaner durchschnittlich 74000 (!) Mikropartikel aus Plastikrückständen in seinem Körper aufweist, scheint kaum jemanden zu beunruhigen.

Zu den Nebenfolgen eines expansiven Kapitalismus gehört auch, dass ca. 30 Prozent der britischen Kinder in bitterster Armut aufwachsen. Und warum stört es kaum jemanden, dass ein Oxfam-Bericht aus dem Jahr 2017 zu dem Schluss kommt, dass das reichste Prozent der Weltbevölkerung 50,8 Prozent des weltweiten Vermögens besitzt – und damit mehr als die restlichen 99 Prozent zusammen? Gegen die Gier von Eliten und Großkonzernen, die – statt ihre ungeheuren Ressourcen in die Gestaltung einer zukunftsfähigen Gesellschaft zu investieren – weiter auf Vermehrung ihres überzogenen Reichtums – auch durch asoziale Steuervermeidungspraktiken – setzen, scheint kein Kraut gewachsen zu sein.

Es ließen sich ohne Mühe eine Vielzahl weiterer Indikatoren für eine völlig aus dem Ruder gelaufene Gesellschaft anführen, Indikatoren, die man – jeden Tag – der Presse oder wissenschaftlichen Studien entnehmen kann. Doch angesichts der Nachrichtenexplosion in den sozialen Netzwerken ist der Qualitätsjournalismus auf dem Rückzug, so dass sich Fake News und Verschwörungstheorien immer stärker ausbreiten.

Kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsdefizit

Hier zeigt sich: Auch wenn Klimaleugner die Fakten anzweifeln, mangelt es denen, die sich ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzen, nicht an Informationen oder Wissen, wie man annehmen könnte. Unsere Unfähigkeit, einen zukunftsfähigen Lebensstil zu entwickeln, basiert weniger auf einem Erkenntnis-, sondern mehr auf einem Umsetzungsdefizit.

Ja, in vielen Bereichen der Gesellschaft leiden wir an einer Transformationslücke, d. h. an der Schwierigkeit, erkanntes Wissen in entsprechendes Handeln umzusetzen. Würden uns Bewohner eines anderen Planeten aus der Ferne betrachten, kämen sie unweigerlich zu der Einsicht, dass es sich um eine zukunftsblinde Gesellschaft von Lemmingen handelt, die sehenden Auges auf einen Abgrund zusteuert, obwohl er doch – für alle, die es wissen wollen – sichtbar jeden Tag näher rückt. Was ist die Ursache dieser Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln?

Wissen ist keine Kompetenz

Wir alle, die wir durch traditionelle Bildungseinrichtungen gegangen sind, leiden an einer bislang zu wenig beachteten Fehleinschätzung: der Überbewertung von Wissen. Die Erlösung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit durch die Kenntnisnahme der zur Verfügung stehenden Informationen reicht nämlich längst nicht mehr aus. Wer etwa Hans Roslings (2018) ausgezeichnete Zusammenstellung statistischer Daten zur Lage der Welt mit dem programmatischen Titel »Factfullness« durchgearbeitet hat, ist deshalb noch lange nicht handlungsfähig, auch wenn man zusätzlich auf seiner Seite gapminder.org orientierende Grafiken findet, die ein klares Bild der Weltlage vermitteln. Doch Information allein hilft nicht und die Konzentration weiter Teile der Presse auf Katastrophenmeldungen klärt nicht auf, sondern erzeugt ein Gefühl der Hilflosigkeit, weswegen die Medienwissenschaftlerin Maren Urner (2019) gegen die »digitale Vermüllung unserer Hirne« einen »Schluss mit dem täglichen Weltuntergang« fordert. Die Erziehung zur Umsetzungsunfähigkeit bzw. zur »erlernten Hilflosigkeit« (Seligman 2012) verstärken wir zudem ungewollt in der Art und Weise, wie wir informieren und unterrichten. So setzen Universitäten und Schulen, die sich wohlgemerkt im Anschluss an das Zeitalter der Aufklärung und die industrielle Revolution herausgebildet haben, bis heute zu sehr auf die akademisch-kognitiv orientierte, nach abgegrenzten Fächern ausgerichtete, beziehungslose Vermittlung von Fachwissen, das normiert abgeprüft wird und in die Berechtigung zum Studium und zur Weiterbildung sowie zur Ausübung von Berufen mündet.

Der grundlegende Irrtum traditioneller Bildungseinrichtungen besteht in der Idee, dass die Vermittlung von Wissen für die Entwicklung von Kompetenz ausreicht. Doch Wissen ist keine Kompetenz! Wir alle kennen Experten aus unterschiedlichsten Bereichen, die unglaublich viel wissen, aber sich sowohl im Alltag wie auch bei komplexen Herausforderungen als erstaunlich inkompetent erweisen. Das Handeln vieler Akteure aus Politik und Wirtschaft im Umweltbereich liefert dafür eindrückliche Beispiele.

Kompetent ist man nur, wenn man Wissen, Haltung und Handlung mit Metalernen verbinden kann. Bankmanager, um ein Beispiel zu geben, die fast alles über den Finanzmarkt wissen, haben massiv versagt, weil sie einseitig renditeorientiert vorgingen und ihren ahnungslosen Kunden zweifelhafte Produkte verkauften. Dies konnten sie tun, weil sie offenbar weder über gemeinwesenorientierte Werte noch die entsprechenden Haltungen verfügten. Darüber hinaus konnten sie ihr Handeln nicht in komplexe Zusammenhänge einer dynamisch sich entwickelnden Weltgesellschaft einbringen, die zum Überleben nachhaltige Lösungen benötigt. Dieses begrenzte Scheuklappendenken nach dem Mehr-desselben-Prinzip von Spezialisten, die einseitig orientierte Ziele verfolgen konnte man auch in der Dieselaffäre erleben: Auto-Experten, die ungeheuer viel über Fahrzeugtechnologien wussten, waren nicht in der Lage, ihr Fachwissen auf komplexe Zusammenhänge zu übertragen und Strategien nachhaltiger, zukunftsfähiger Mobilität zu entwickeln. Die Angelegenheit wird noch grotesker und rätselhafter, wenn man weiß, dass diese Experten keineswegs unter Wissensdefiziten leiden.

So hatte ich, um ein weiteres Beispiel anzuführen, vor einiger Zeit das Privileg einer Führung durch die Autostadt Wolfsburg und wurde dort – in einer ausgezeichnet aufbereiteten Ausstellung – angeleitet, meinen ökologischen Fußabdruck zu berechnen. Ja, VW verfügt über ein vorbildliches Öko-Audit! Wer hätte das gedacht!? Auf der kognitiven Ebene, in den Broschüren und Mission Statements ist alles wunderbar. Doch warum führt dieses Wissen, dem in der Autostadt Wolfsburg sogar ein ganzes Gebäude gewidmet ist, nicht zu entsprechendem Handeln? Die Fokussierung auf einseitig interessengesteuertes, bereichs- und fachgebietsorientiertes Wissen ist eine Erklärung, doch sie reicht nicht aus. Bei der Suche nach möglichen Ursachen kann uns die Hirnforschung weiterhelfen.

Innere Bilder bestimmen unser Handeln

Die Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln kennen wir alle. So wissen wir z. B., dass regelmäßiger Sport unsere Gesundheit verbessert und sogar unser Leben verlängern kann, dass wir uns gesund ernähren und bestimmte Genussmittel einschränken sollten. Doch nur Wenigen gelingt es, diese Einsichten umzusetzen, weshalb die Mehrheit der Deutschen übergewichtig ist und gefährliche Lebensmuster aufweist. Ernst Pöppel, Hirnforscher aus München, gibt uns mit seiner Unterscheidung dreier Wissenstypen, wie nachfolgende Abbildung 1 zeigt, wichtige Hinweise, wie es gelingen könnte, diese Diskrepanz zu verringern.

Abb. 1: Formen des Wissens nach Pöppel (2006)

Demnach bestimmt vor allem das Zusammenwirken dreier grundlegender Wissenstypen unser Denken, Fühlen und Handeln. Der erste Typ, begriffliches oder explizites Wissen, auf dessen Vermittlung unsere Bildungseinrichtungen vorwiegend fokussieren, ist ausgezeichnet dafür geeignet, komplexe Zusammenhänge zu verstehen. Doch dieser Wissenstyp hat nur begrenzte Wirkung auf vernünftiges Handeln. Wenn ich jetzt, liebe Leser/innen, einen Vortrag über gesunde Ernährung halten würde, Sie anschließend an einer Klausur teilnehmen ließe und nach einiger Zeit Ihre Ernährungsweisen abfragen würde, wäre ich erschüttert. Denn obwohl die Mehrzahl von Ihnen bei der Überprüfung des vermittelten Wissens eine gute oder sehr gute Note erhielte, würde eine anschließende Überprüfung Ihres Ernährungsverhaltens ein Jahr später zeigen, dass fast niemand Konsequenzen aus den Einsichten gezogen hat. Dieser Wissenstyp, das explizite Wissen, auf den wir schwerpunktmäßig setzen, führt in der überwiegenden Zahl der Fälle nämlich nicht – wie wir aus unserem alltäglichen Leben und nicht nur aus dem Bereich Umweltschutz wissen – zu einsichtsvollem Handeln. Wie kann es sonst sein, dass trotz bekannter Umweltkrise spritschluckende SUVs zum wichtigsten Wachstumssegment der Autoindustrie gehören?

Ein zweiter Wissenstyp, das implizite oder Handlungswissen, ist  – insbesondere, was unsere praktischen Fertigkeiten betrifft – sehr viel wirksamer. Wer einmal Skifahren gelernt hat, wird es mit großer Wahrscheinlichkeit auch den Rest seines Lebens ausüben können. Leider legen unsere Bildungsinstitutionen zu großen Wert auf die frontale Belehrung im Sitzen. Abgesehen von den negativen gesundheitlichen Folgen werden Haltung und Handlungsfähigkeit durch diese Vereinseitigung nur ungenügend ausgebildet. Und auch an den Universitäten dominiert in den Hörsälen das bewegungslose Berieseltwerden, das letztlich vom Katechismusunterricht des Mittelalters abgeleitet ist und das wir heute noch in Koranschulen finden.

Den dritten Typ schließlich bezeichnet Pöppel als »pictorial knowledge«, also als bildliches oder Anschauungswissen. Im Verlauf unserer Biographie haben wir demnach ca. 800 emotional tiefe berührende Erfahrungen gemacht, die unser Erleben, unsere Verarbeitung von Erfahrungen, unseren »Mindset« und damit auch unser Handeln prägen.

Wenn wir die Diskrepanz zwischen Einsicht und Handeln vermindert wollen, dann müssen wir dafür sorgen, dass diese drei Wissenstypen angemessen berücksichtigt werden: Wissen sollte also mit problemlösendem Handeln und der Reflexion eigener, mentaler Modelle sowie der Kenntnis über die uns leitenden inneren Bilder verbunden werden. Auf die zentrale Bedeutung der mentalen Modelle weisen auch die Organisationsforscher Robert Kegan und Lisa Laskow Lahey hin. In ihrer Untersuchung »Immunity to Change« (2009) geben sie uns wertvolle Hinweise, die dazu beitragen können, das Rätsel unserer Unfähigkeit zu grundlegendem Wandel aufzuklären.

Immunity to Change als eine Ursache der Transformationslücke

Wie Kegan und Lahey im Anschluss an eine Vielzahl einschlägiger Untersuchungen zur Diskrepanz zwischen Einsicht und Handeln zeigen, scheitern bis zu 70 Prozent aller Veränderungsprojekte in Unternehmen sowie sonstigen Organisationen und der Politik. Bei der Schwierigkeit, Wissen umzusetzen, scheint es sich um ein verbreitetes Problem, schlimmer noch: um den Normalfall zu handeln, wie der Nobelpreisträger Richard Thaler (2018) – ein Pionier der Verhaltensökonomik – anhand zahlreicher Studien aus unterschiedlichsten Bereichen gezeigt hat. Bei Amazon finden sich denn auch tausende Titel, die uns aus unterschiedlichen Perspektiven versprechen, nicht nur die Gründe des Scheiterns zu erklären, sondern auch Wege zum Erfolg aufzuzeigen. Fabeln in Form des »Pinguin-Prinzips« (Kotter & Rathgeb 2006) oder der »Mäusestrategien für Manager« (Johnson 2000) werden bemüht, um anschauliche Hilfen zu geben. John Kotter (2011) beispielsweise hat acht Stufen identifiziert, die geplanten Wandel zum Erfolg führen sollen, und sie werden von Beratern auch eifrig propagiert. Doch, wie Kegans & Laheys Analyse zeigt, erweist sich schon die erste Stufe Kotters als nicht zwingend. Laut Kotter gibt es vor allem drei Gründe, die Ursache für das Beharren auf alten Mustern und das Scheitern des Wandels sind:

  • fehlende Einsicht in die Notwendigkeit bzw. Dringlichkeit

  • mangelnde Anreize für ein verändertes Verhalten

  • Unklarheit, was man tun soll