Inhalt

Einleitung

Eins
Wie funktioniert Erziehung heute?

Unterschiedliche Erziehungsstile und was sie bedeuten

Wie wir werden, was wir sind, und wie wir fühlen

Hilft eine neue Methode, um es anders zu machen?

Warum erziehen wir überhaupt?

Am Kipppunkt der Gesellschaft Erziehung neu denken

Im Gesetz verankert – aber ohne Anleitung

Kinder haben Rechte!

Wie kann ich dem Kind zu seinem Recht verhelfen?

Wenn Kinder nicht so wollen, wie wir es uns vorstellen

Unklare Vorbilder

Wie Kinder an unsere Vergangenheit rühren

Auch eine schöne Kindheit hat ihre Tücken

Die Wurzeln der Erziehungsprobleme

Zwei
Der lange Schatten von Erziehung

Kindheit und Erziehung im Wandel der Zeit

Wie sich die Welt um unsere Kinder verändert hat

Gewalt gegen Kinder findet auch heute noch statt

Bedürfnisorientierte Familien und Gewalt

Drei
Wo überall Gewalt enthalten ist und wie wir es anders machen können

Angst als Erziehungsmittel

Lügen, flunkern, tricksen

»Weil ich das so will!«

»Ich weiß besser, was du brauchst!«

Beschämung und Entwürdigung

Überwachung

Vergleiche mit anderen und Ausschluss aus Gruppen

Bevorzugung und Vernachlässigung

Schutzverweigerung und Abhärtung

Diskriminierung

Logische Konsequenzen

Belohnung

»Alles nur für dich!«

Das besondere Kind

Vier
Die Aufgaben der Eltern

Eine neue Fehlertoleranz entwickeln

Fehler und Unsicherheit sind normal

Du musst nicht sofort reagieren!

Sich entschuldigen

Auch Eltern haben Grenzen

Natürlich haben wir Eltern mehr Macht

Sechs L für eine friedvolle Elternschaft

Ist das überhaupt noch Erziehung?

Fünf
Wie Kinder wirklich sind und was sie brauchen

Von Anfang an verschieden: Der Zusammenhang von Genen, Verhalten und Temperament

Gefühle wahrnehmen, ernst nehmen und mit ihnen umgehen

Bindung, Bildung, Lernen – und warum das Spiel die Schule des Lebens ist

Geige, Ballett, Programmieren, Schlagzeug – Talente und Hobbys

Kinder dürfen ihre Wege wählen – Religion

Von schönen Kindern und Geschlechtern

Miteinander reden – Diskussionskultur in der Familie

Schlusswort

Ein Dank und eine Entschuldigung

Anmerkungen

Einleitung

Eins: Wie funktioniert Erziehung heute?

Zwei: Der lange Schatten von Erziehung

Drei: Wo überall Gewalt enthalten ist und wie wir es anders machen können

Vier: Die Aufgaben der Eltern

Fünf: Wie Kinder wirklich sind und was sie brauchen

Ausgewählte Literatur

Einleitung

Die Beziehung von Eltern und Kind beeinflusst das gesamte Leben eines Kindes. Als Eltern legen wir einen Samen dafür an, wie unser Kind seelisch, emotional und körperlich wächst. Deswegen ist es das Anliegen der meisten Eltern, ihren Kindern gute Startmöglichkeiten mitzugeben, die sie durchs Leben tragen. Wie genau dieser Start in Hinblick auf unser Erziehungsverhalten aussieht, ist dabei aktuell noch sehr unterschiedlich. Es gibt nicht die Kindheit. Doch es gibt Forschungen, die ziemlich genau zeigen, was Kinder sowohl in der Gegenwart für ein körperlich und seelisch gutes Aufwachsen brauchen als auch für die Zukunft benötigen, um den großen Herausforderungen begegnen zu können, die durch Klimawandel und gesellschaftliche Veränderungen auf sie warten. Unser Erziehungsverhalten ist allerdings an vielen Stellen noch recht weit davon entfernt, sie wirklich für diese Zukunft zu stärken und ihnen in der Gegenwart mit dem Respekt zu begegnen, den sie als Menschen verdient haben und für eine gesunde Entwicklung brauchen. Zwar verfügen Kinder über das Recht auf gewaltfreie Erziehung, das sie sowohl vor körperlicher als auch psychischer Gewaltanwendung schützen soll, aber in der Praxis sind wir – besonders im Hinblick auf Druckausübung, Demütigung, Liebesentzug, Drohung und Entwertung – noch ziemlich weit weg vom Ziel, obwohl wir es wollen und uns darum bemühen. Aber es ist schwer. Und oft sehen wir nicht einmal, an welchen Stellen wir Kinder und Jugendliche respektlos behandeln, sie verbiegen und gegen ihr Wesen formen wollen. Trotz unserer eigentlich guten Absichten sind Jugendliche eben »PuberTIERE«, noch nicht zum Lesen fähige Mädchen bekommen T-Shirts mit der Aufschrift »Kleine Zicke« angezogen, und wir alle kennen Sätze aus dem Alltag, die mit »Wenn« anfangen und mit »dann« weitergehen. Gar nicht zu sprechen von »stillen Stühlen und Bänken« oder der beliebten Auszeit in Haushalten und Kindergärten.

Und selbst dort, wo wir uns der »Beziehung statt Erziehung« verschrieben haben, dem bindungs- und bedürfnisorientierten Aufwachsen, merken wir, dass wir immer wieder an Punkte kommen, an denen wir nicht weiterwissen, anders handeln, als wir eigentlich wollen, und uns als Eltern hilflos fühlen. Denn der neue Blick auf das Kind als individuelles Wesen, das in seinem persönlichen Sein geschützt und unterstützt werden muss, und modernes, bedürfnisorientiertes Aufwachsen sind keine Methoden, sondern eine Haltung, die wir von Grund auf verstehen und verinnerlichen müssen. Dafür müssen wir uns all dem stellen, was uns davon abhält, unser eigenes Kind und andere Kinder wirklich als Persönlichkeiten anzuerkennen, die respektvoll und ohne Druck und Machtverhalten behandelt werden wollen. Kinder sind keine Erwachsenen, und zusätzlich zu all den Rechten auf Individualität und Entfaltung, die wir Erwachsene auch für uns beanspruchen, haben sie besondere Bedürfnisse, die sich aus ihrem Kindsein ergeben. Kinder brauchen für eine gesunde Gegenwart und Zukunft eine konsequent kindgerechte Denkweise, echte Rechte und Umgebungsfaktoren, die sie heute schützen und für morgen stärken. Eine emotional gesunde Gemeinschaft, die sie stützt und trägt. Doch wir leben heute in einer Welt, in der Schutz nicht mehr durch gute Beziehungen gewährleistet wird, sondern Technik, Distanz und künstliche Überwachung an ihre Stelle getreten sind. Aber Kinder brauchen für ein gesundes Aufwachsen ein emotionales und persönliches Netz. Und wir als Eltern brauchen dies ebenso: ein wertfreies, unterstützendes Familiennetz.

Das können wir als Eltern ermöglichen, das sollten wir als Eltern ermöglichen. Für das Kind, aber auch für uns selbst, weil es das Zusammenleben mit Kindern erleichtert. Wir sind erschöpft von dem Versuch, kindgerecht zu handeln und dennoch an unsere eigenen Grenzen zu stoßen. Erschöpft davon, dass Kinder nicht »funktionieren« und Erziehung oft so anstrengend ist. Erschöpft davon, dass Kinder nun mal oft nicht das tun, was wir wollen. Erschöpft davon, uns rechtfertigen zu müssen, warum unser Kind ist, wie es ist. Und wir sind erschöpft davon, dass wir manchmal selbst nicht so genau wissen, wer wir eigentlich sind, wie wir auf unsere Bedürfnisse hören und welche Eltern wir sein wollen oder müssen, weil wir selbst an der Last unserer eigenen Erziehung tragen. Wir sind erschöpft davon, früher nicht gesehen worden zu sein und heute auch nicht gesehen zu werden mit dem Problem, das Elternsein für uns mit sich bringt. »Erziehung ist doch ganz einfach!« oder »Wenn du mit deinen Kindern nicht umgehen kannst, hättest du keine bekommen sollen!«, bekommen wir manchmal entgegengeworfen, wenn wir über das Leid klagen, Kinder in eine ungewisse Zukunft begleiten zu müssen, ohne passende Unterstützung und fehlende Vorbilder. Wir scheinen keine Fehler machen zu dürfen und trauen uns kaum, sie zuzugeben. Auch das Aufrechterhalten einer perfekten Maske ist erschöpfend.

Aber diesen Problemen können wir begegnen: Wir können den Menschen hinter dem Kind erkennen und so annehmen, wie er ist, um ihn mit seinen individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten zu begleiten. Doch die Schatten unserer eigenen und der gesellschaftlichen Vergangenheit überdecken noch immer an vielen Stellen unser Handeln – manches davon ist uns bewusst, vieles unbewusst. Diesen Schatten müssen wir uns stellen, sie überwinden, und erst dann haben wir einen freien Blick auf unsere Kinder, der es uns erleichtert, den Weg, den sie gehen wollen und müssen, mit ihnen zu gehen. Der Familientherapeut Jesper Juul schrieb dazu sehr passend: »Die meisten Eltern sind immer noch nicht daran interessiert, was Kinder wirklich denken und was sie fühlen. Sie sind mehr daran interessiert, wie Kinder zu denken und zu fühlen haben.«1 Wir blicken auf unsere Kinder, haben eine Vorstellung davon, wie sie sein sollen, was wir ihnen wünschen, und verlieren – oft aus eigentlich gutem Ansinnen heraus – aus dem Blick, wer sich da vor uns befindet. Wir versuchen, sie zu etwas zu machen, sie zu formen, und bemerken dabei nicht, dass sie ja schon sind. Kinder müssen nicht geformt werden, sondern sich entfalten. Sie sind weder Lehmklumpen, die wir formen können, noch Spiegel, an denen wir unsere eigenen Empfindungen, Versäumnisse und Kränkungen abarbeiten sollten. Die Frage ist weniger, wie wir mit Schimpfen, Geschrei und Grenzverletzungen umgehen sollen, sondern warum wir überhaupt denken, dass wir Kinder formen sollten.

Kinder müssen frei, bedingungslos und liebevoll wachsen können. Nur so haben sie eine Chance, mit den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft umzugehen. Unser Leben hat sich durch die europäische Migrationskrise, den Klimawandel mit seinen Naturkatastrophen, durch Pandemien und den technologischen Fortschritt in den vergangenen Jahren so sehr gewandelt, dass wir Erwachsenen mit unseren althergebrachten Denkweisen und dem Beharren auf alten Lösungen nicht mehr mithalten können. Wir brauchen einen gesellschaftlichen Wandel. Und diesen Wandel können nur die heutigen Kinder hervorbringen, die nicht in unseren alten (Erziehungs-)Strukturen von Macht, Gewalt und Anpassung aufwachsen, sondern die Chance haben, emotional und seelisch gesund groß zu werden, um die Werte, die sie dadurch verinnerlicht haben, in die Welt hinauszutragen. Werte wie Agilität, Achtsamkeit, Empathie, Gerechtigkeit, Toleranz, Hilfsbereitschaft, Humor, Nachhaltigkeit und Weitsicht. Astrid Lindgren hat bereits vor über 40 Jahren in ihrer Rede in der Frankfurter Paulskirche erklärt: »Ein Kind, das von seinen Eltern liebevoll behandelt wird und das seine Eltern liebt, gewinnt dadurch ein liebevolles Verhältnis zu seiner Umwelt und bewahrt diese Grundeinstellung sein Leben lang. Und das ist auch dann gut, wenn das Kind später nicht zu denen gehört, die das Schicksal der Welt lenken. Sollte das Kind aber wider Erwarten eines Tages doch zu diesen Mächtigen gehören, dann ist es für uns alle ein Glück, wenn seine Grundhaltung durch Liebe geprägt worden ist und nicht durch Gewalt.«2 Wir können unsere Gesellschaft nur dann positiv und nachhaltig in eine gesunde, überlebensfähige Richtung bewegen, wenn wir das Denken in ungleichen Machtverhältnissen beenden und unseren Kindern auf Augenhöhe einen gesunden und liebevollen Grundstock mitgeben, durch den sie sozial, kreativ, gemeinschaftlich und deswegen ressourcenschonend leben.

Das klingt nach einer großen Aufgabe, die uns auch ängstigen kann. Aber wir dürfen nicht verzagen, denn gerade jetzt ist es wichtig, dass wir als Eltern handeln, etwas ändern und uns dazu selbst ermächtigen, neue und andere Wege zu gehen. Erich Fromm schrieb schon 1976 in seinem berühmten Werk Haben oder Sein: »Zum ersten Mal in der Geschichte hängt das physische Überleben der Menschheit von einer radikalen seelischen Veränderung des Menschen ab.«3 Über die Jahre hinweg haben wir uns auf diesen Punkt zubewegt, und die aktuellen Krisen weltweit zeigen uns, dass wir ihn erreicht haben und so nicht weitermachen können. Kurz und plakativ: Wir müssen unser Erziehungsdenken ändern, um die Welt zu retten. Wir müssen Kindern und ihrem Aufwachsen den Wert beimessen, den sie tatsächlich verdienen, und die Bedeutung der Kindheit für unser aller Wohlergehen anerkennen. Wenn wir unser Denken über Erziehung nicht überarbeiten, verspielen wir die Chance, gesund und nachhaltig in der Zukunft leben zu können. Um den notwendigen Wandel der Erziehung und um den dazugehörigen anderen Blick auf das Kind in unserem Alltag geht es in diesem Buch.

Als Eltern fällt es uns nicht immer leicht, uns an dieser »neuen Erziehung« zu orientieren. Tief verankert in unserer Kultur und persönlichen Geschichte sind Erziehungsmethoden, die auf Druck, Macht und Gewalt aufbauen. An einigen Stellen sind wir uns dessen bewusst, an anderen nicht. Während eigene Gewalterfahrungen durch Schläge, ständige Demütigung oder sexuellen Missbrauch für uns heute meist offenkundig falsch sind, gibt es auch die Verletzungen, die unsichtbar und unterschwellig in uns verankert sind. Als Eltern sehen wir dies nicht, aber vielleicht spüren wir, dass wir gemeinsame Aktivitäten oder Gefühle eher vermeiden oder dass wir besonders große Angst um unsere Kinder haben. Neben unseren Geschichten und Erziehungsweisen treffen Kinder auch in anderen Familien, in Kita und Schule auf Erziehungshaltungen und Bilder von Kindheit, die nicht immer bedürfnisorientiert sind, denn die Geschichte der Kindheit hat sich in wenig kinderfreundlichen Strukturen manifestiert, denen wir an vielen Stellen begegnen und die es aufzuweichen gilt.

Natürlich können wir nicht immer alles richtig machen und müssen es auch nicht, aber wir sollten es schaffen, unsere Kinder mit genügend Liebe, Respekt und Verständnis wachsen zu lassen, damit sie ohne große Belastungen oder gar Schäden ihr Leben und die Welt gestalten können. Wir sollten wissen, was die großen Pakete sind, die wir unseren Kindern mitgeben, und was kleinere Päckchen sind, die eben normal zu schultern sind. Und auf der anderen Seite sollten wir wissen, was wir unseren Kindern unbedingt mitgeben wollen und wie wir das ermöglichen können, auch wenn wir selbst belastet sind. Denn es ist möglich, anders zu handeln, als wir es gelernt haben. Vor allem aber kann ein veränderter Blick nicht nur an unserer eigenen Haltung etwas ändern, sondern auch an den Gegebenheiten in unserer Gesellschaft: Wenn wir wissen, was Kinder wirklich brauchen und was wir unbedingt vermeiden sollten, können wir uns nicht nur bei uns zu Hause, sondern auch in Kitas und Schulen dafür einsetzen, eine konsequent kindgerechte Umgebung zu schaffen.

Nicht immer sind uns unsere eigenen Verletzungen bewusst, und anfangs haben wir in der Erziehung oft das Gefühl, alles würde gut laufen. Erst nach und nach ergeben sich mit dem Älterwerden der Kinder Probleme, weil wir uns oft erst dann der eigenen Last bewusst werden – dann nämlich, wenn die Kinder in dem Alter sind, in dem wir selbst schmerzhafte Erinnerungen mit unseren eigenen Eltern gemacht haben.

Deshalb habe ich einige Fragen an dich, damit du einschätzen kannst, ob dieses Buch dich gut begleiten kann, damit du eigene Gedanken loslassen und dein Kind in seiner Gesamtheit gut sehen kannst – und damit du auch späteren Problemen mit »Erziehung« vorbeugen kannst. Wir werden uns später noch intensiver mit einigen Aspekten, die hier anklingen, beschäftigen. Zunächst geht es nur um ein »Ja« oder »Nein«.

Fragen zu deiner eigenen Kindheit

Fragen zum Familienalltag

Wenn du einige oder sogar die Mehrheit dieser Fragen mit »Ja« beantwortest, kann dir dieses Buch wahrscheinlich helfen, die Beziehung und das Zusammensein mit deinem Kind zu reflektieren und an den Punkten, an denen es für euch wichtig ist, zu verändern.

Dieses Buch wird dich auf verschiedenen Ebenen begleiten und unterstützen: Im ersten Teil des Buches werden wir uns damit beschäftigen, was Erziehung eigentlich ist und welchen Zweck wir meinen, damit zu verfolgen – und was wir wirklich bewirken. Dann werden wir uns im zweiten und dritten Teil der Vergangenheit widmen, um zu verstehen, woher viele Probleme im Zusammensein mit unseren Kindern kommen und dass sie auf einem über Generationen mit falschen Vorstellungen und Erziehungsmaßnahmen vergifteten Boden genährt werden, zu dem wir Handlungsalternativen in konkreten Situationen nennen werden. Die Erkenntnis falscher Maßnahmen ist oft schmerzhaft und belastend, und es können schnell Schuldgefühle entstehen, weshalb wir uns im vierten Teil des Buches damit beschäftigen, warum Eltern immer auch Fehler machen, machen dürfen und dass wir auch hier einen neuen, toleranten Blick auf Fehler brauchen. Wenn du dich in den anderen Teilen des Buches emotional berührt fühlst, Ängste oder Sorgen hast, kannst du hier immer wieder nachlesen, vor- oder zurückspringen, um dich stärken zu lassen. Wenn wir unsere Rolle und die der Gesellschaft geklärt haben, können wir uns im fünften Teil des Buches dem widmen, was Kinder wirklich brauchen, und sie nicht mehr durch die eigene, beschlagene Brille sehen, sondern in ihrem individuellen Wesen mit ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten. Wir werden uns anschauen, wie wir die Reise durch die Kindheit individuell gut begleiten können – mit all ihren Herausforderungen und Überlastungen. Und wir werden sehen, welche Hilfsmittel dabei wirklich hilfreich sind. Dabei ist dieses Buch keine Gebrauchsanweisung: Es soll dich nicht belehren und kann dir nicht die richtige Erziehung oder einen konkreten Weg vorgeben. Es zeigt dir Beispiele von anderen Eltern, die mir in den vielen Jahren Elternberatung und -begleitung begegnet sind und die oft durchaus ähnliche Fragen hatten. Dieses Buch lädt dich ein, dein Kind wirklich kennenzulernen und dadurch den für euch richtigen Weg einzuschlagen. Mit euren Möglichkeiten, nach euren Bedürfnissen.

Vielleicht gibt es Aspekte in diesem Buch, mit denen du gut umgehen kannst, und solche, die dir schwerer fallen. An einigen Punkten wirst du dich eventuell stoßen und sie werden vielleicht auch schmerzen, wenn du über sie nachdenkst. Wenn du merkst, dass es zu viel ist, leg das Buch zur Seite. Manchmal reicht unsere Kraft nur, um den Alltag stabil zu halten und nicht für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Nach dem, wie sich unsere Kultur entwickelt hat, sind wir alle zusammen auf dem Weg, Erziehung neu zu lernen und zu leben. Wir sind alle Lernende. Du kannst mir gern schreiben, was dir besonders geholfen hat, und auch das, was dir nicht geholfen hat. Wir können nicht von heute auf morgen unser Denken umkrempeln und unser Verhalten ändern – auch wenn das schön wäre. Deswegen: Lies dieses Buch langsam, mach dir zu jedem Kapitel deine Gedanken. Schreibe sie vielleicht in ein Notizbuch und reflektiere darüber, was dies mit dir macht, was sich an deinem Blick auf dein Kind ändert und auch, was sich an deinem Blick auf dich selbst ändert. Zur Unterstützung befinden sich in diesem Buch Reflexionseinheiten. Wenn wir uns mit dem beschäftigen, was unsere Kinder wirklich brauchen, kommt auch das in den Blick, was wir brauchen oder gebraucht hätten.

Eins

Wie funktioniert Erziehung heute?

»Kinder zu lieben
bedeutet, sie
so sein zu lassen,
wie sie sind.«

Remo Largo

Das Leben mit unseren Kindern kann so schön sein: nasse Küsse, ein kleiner, warmer, weicher Körper, der sich an uns schmiegt, eine kleine Hand in einer großen Erwachsenenhand, gemeinsames Lachen, Ähnlichkeiten beim Kind erkennen und darüber schmunzeln, das Gefühl, das Kind nach der ersten Klassenfahrt wieder in die Arme zu nehmen, gemeinsame Fernsehabende. Und das Leben mit Kindern kann auch so schwierig sein: große Gefühle begleiten, die Wut eines Kleinkindes aushalten, eigene Bedürfnisse wahren und gegenüber denen des Kindes abwägen, sich hilflos fühlen, von anderen bevormundet werden, miteinander streiten und Dinge sagen, die man nicht sagen wollte, Entscheidungen treffen müssen und sich um die Zukunft sorgen.

Das Leben und Wachsen mit einem Kind ist nicht einfach, denn als Eltern haben wir die Verantwortung für diesen Menschen. In dem Moment, in dem wir ihn zum ersten Mal in den Arm nehmen, ist auf einmal diese Gewissheit da: Ich bin für dich verantwortlich, ich muss für dich sorgen. Und auch die Fragen: Wie mache ich das? Mache ich es richtig? Mit dem Älterwerden der Kinder werden diese Fragen nicht weniger. Im Gegenteil: Je mehr sich unsere Kinder mitteilen, je mehr wir in einigen Punkten voneinander abweichen, desto größer wird oft auch die Unsicherheit in Bezug darauf, was getan werden muss, sollte oder könnte und wer hier wem folgt: das Kind den Eltern, die Eltern dem Kind, oder ob immer ein Konsens gefunden werden muss. Wie nur funktioniert dieses gemeinsame Leben, und wie gebe ich meinem Kind das mit, was es für sein Leben braucht? Woher weiß ich überhaupt, was es jetzt und später brauchen wird? Und was ist, wenn ich etwas an diesem kleinen Menschen »kaputt« mache?

Als ich noch Kurse für Gebärende und Eltern mit Babys und Kleinkindern gab, wurde ich oft nach »Erziehungsratgebern« gefragt – von den Eltern, die sich auf das Leben mit Kind vorbereiten wollten, ebenso wie von jenen, die schon drinsteckten und nach Anleitungen für die Einführung von Beikost oder den Umgang mit einem Kind fragten, das mehr und mehr seine Autonomie entdeckt. Zu jedem Zeitpunkt stellten sich viele Fragen: in der Schwangerschaft ebenso wie in der Baby- oder Kleinkindzeit, in der Vorschul- und Schulzeit und in den Teenagerjahren. Immer wieder geht es darum, wie wir mit den Bedürfnissen unserer Kinder umgehen können, wie wir sie vereinbaren mit unseren, wo der Unterschied zwischen Wünschen und Bedürfnissen liegt und wie wir die Kinder eben auf den vermeintlich richtigen Weg bringen. Wir wollen ja nur das Beste für sie! Und das fängt bereits in der Schwangerschaft an, wenn wir überlegen, ob wir unseren Bäuchen Mozart vorspielen sollten, geht nach der Geburt mit der Frage weiter, wie oft es eigentlich in Ordnung ist, das Baby hoch zu nehmen, um es nicht sofort zu verwöhnen, und erstreckt sich über tausend Fragen in der gesamten Elternschaft. Bei all dem geht es um Erziehung.

Ich habe eine Vorstellung von meinem Kind und davon, wie es in der Zukunft sein soll, und helfe ihm, den Weg zu diesem Ziel zu gehen – das ist, was wir normalerweise unter Erziehung verstehen. Der Gedanke von Erziehung auf ein Ziel hin ist tief in uns verankert und beinhaltet sowohl eine kümmernde (»Ich bereite mein Kind auf das Leben vor«) als auch eine mahnende Perspektive (»Ohne Erziehung werden Kinder keine wertvollen Bestandteile unserer Gesellschaft«). Beiden zugrunde liegt die Annahme, dass Kinder in einer bestimmten Weise unfertig sind, nicht wissen, was für sie gut ist, und durch eine bestimmte Art der Behandlung zu einem gesellschaftsfähigen Mensch werden können in Anlehnung daran, was wir als Eltern aktuell als gesellschaftsfähig betrachten. Wie genau nun aber die »richtige« Erziehung aussieht, ist dabei nicht so klar – schon gar nicht im Wirrwarr all der unterschiedlichen Erziehungskonzepte, Namen und Handlungsanweisungen: Autoritär ist passé, antiautoritär ebenso. Aber ist unser Erziehungsstil nun autoritativ, egalitär, permissiv, flexibel – oder ordnen wir uns der »Unerzogen«-Bewegung zu? Müssen wir uns überhaupt zuordnen, oder reicht es, einen Leitstern zu haben? Müssen Kinder erzogen werden, können wir überhaupt nichterziehen, und was müssen Eltern tun (oder nur sein?), um ihre Kinder gut zu begleiten? Welche Methode ist richtig, um Kinder zu wertvollen Menschen werden zu lassen?

Unterschiedliche Erziehungsstile und was sie bedeuten

Erziehungsstile umschreiben »ein charakteristisches Bündel grundlegender Verhaltensweisen und Einstellungen«1, die über verschiedene Situationen hinweg im Verhalten der Eltern zu erkennen sind. Dabei ist wichtig, dass sich diese Beschreibung rein auf die Eltern bezieht und nicht auf ihren »Erfolg«, denn Erziehung ist ein Versuch der Einflussnahme, der aber auch ohne den von den Eltern gewünschten Erfolg bleiben kann, wenn elterliche Kommunikation und kindliche Informationsaufnahme nicht passen. Oft wird dann entweder dem Kind das Problem zugewiesen (»kindliche Verhaltensauffälligkeit«) oder den Eltern (»elterliches Versagen«).

Autokratischer Erziehungsstil2

Die Grundannahme des autokratischen Erziehungsstils ist, dass Autorität gegenüber Kindern dringend notwendig ist und Kinder Regeln brauchen, von denen nicht abgewichen werden darf. Das Kind ist eher ein Objekt als ein Subjekt und wird in seinem individuellen Wesen nicht wahrgenommen. Die Meinung des Kindes hat keinen Wert, es muss sich anpassen und von starker Hand geführt werden.

Autoritärer
Erziehungsstil

Der autoritäre Erziehungsstil ist ähnlich hierarchisch ausgerichtet wie der autokratische Erziehungsstil: Eltern haben die Macht und das Bestimmungsrecht und bestimmen in der Mehrheit der Fälle. Es wird mit Regeln und Strenge erzogen sowie mit Belohnung und Bestrafung zur Verhaltensbeeinflussung gearbeitet. Anordnungen sollen befolgt, nicht diskutiert werden.

Autoritativer Erziehungsstil / 
Demokratischer Erziehungsstil

Der autoritative Erziehungsstil nimmt durch Regeln und Standards Einfluss auf das kindliche Verhalten. Wird von diesen abgewichen, reagieren Eltern berechenbar und konsequent. Sie sind den Kindern emotional zugewandt und fördern gleichzeitig auch die Selbständigkeit des Kindes. Vorschläge und Bedürfnisse des Kindes werden angehört, und gegebenenfalls wird zugunsten dieser die eigene Meinung revidiert.

Die Bezeichnung »demokratischer Erziehungsstil« stammt von dem Sozialpsychologen Kurt Lewin, der diesen Begriff als Mittelweg zwischen autoritärer Erziehung und Laissez-faire wählte, jedoch eher in Bezug auf die Jugendarbeit. Er wird heute oft alternativ zu »autoritativ« genutzt.

Egalitärer
Erziehungsstil

Dieser Erziehungsstil ist auf Gleichheit ausgerichtet: Eltern und Kinder befinden sich auf einer Ebene mit gleichen Rechten und Pflichten. Die Meinung der Kinder wird ebenso berücksichtigt wie die der Eltern.

Permissiver
Erziehungsstil

Beim permissiven Erziehungsstil halten sich die Eltern eher zurück. Es ist eine gemäßigte Form des Laisser-faire. Das Kind übernimmt die Verantwortung für seine Bedürfnisse, die Eltern sind passiv, und es gibt wenige Vorgaben und Hilfe auf Nachfrage.

Laisser-faire-
Erziehungsstil

Die Eltern sind passiv, geben keinen Rahmen und keine Orientierung vor. Die Eltern sind dem Verhalten der Kinder gegenüber eher gleichgültig und übernehmen nur die notwendigsten Dinge, wodurch es zu einer Vernachlässigung kommen kann.

Negierender
Erziehungsstil

Es findet keine Erziehung statt, und die Eltern haben auch kein Interesse am Kind oder dessen Aufwachsen. Es gibt weder Regeln noch Rahmen noch Sicherheiten für das Kind und auch keine Beziehungsangebote. Das Kind wird emotional und körperlich vernachlässigt, was bis hin zu Misshandlung durch Vernachlässigung gehen kann.

Unerzogen

Das Konzept »unerzogen« wendet sich von Erziehung ab, die als bewusste Formung eines Menschen »in eine von jemand anderem als das Selbst für richtig befundene Richtung«3 definiert wird.

Beziehung statt Erziehung

Auch der von Katharina Saalfrank proklamierte Ansatz »Beziehung statt Erziehung« wendet sich vom klassischen Erziehungsbegriff ab und stellt die von Dialog, Offenheit und Toleranz gekennzeichnete Beziehung in den Mittelpunkt.4

Während einige Eltern den Familientraditionen folgen und am Umgang mit ihren Kindern im Vergleich zu ihrem eigenen Aufwachsen nicht viel ändern, ist es vielen Eltern wichtig, es anders zu machen als die eigenen Eltern. Beispielsweise wenn wir fühlen, dass unsere eigene Erziehung es uns nicht leicht gemacht oder an einigen Stellen sogar zu erheblichen Schwierigkeiten geführt hat. Manche kritisieren die zu strengen Erziehungskonzepte ihrer Eltern, andere die zu lockeren. Bei einigen geht es um psychische, bei anderen um physische Gewalt. Einige bemängeln, zu sehr behütet worden zu sein, während andere das Gefühl hatten, zu viel auf sich gestellt gewesen zu sein. Manche kritisieren, dass sie nur mit Belohnungssystemen und Konsum aufgewachsen sind, andere hatten zu strenge Öko-Eltern, bei denen Plastik verboten war. Wir alle haben unsere Erfahrungen mit Erziehung gemacht, haben unsere persönlichen Geschichten und unsere Meinungen. Vielleicht hast auch du dir schon einmal die Frage gestellt: »Was wäre eigentlich aus mir geworden, wenn meine Eltern es anders gemacht hätten?« Und immer wieder haben die meisten von uns das unangenehme Gefühl, ge- oder sogar verformt worden zu sein. Nicht so angenommen worden zu sein, wie sie eigentlich waren: Ob das nun der Zwang zum Cellounterricht war, das Verbot von »Jungenspielzeug« für Mädchen oder von Röcken für Jungen oder auch das Gefühl, nie genug zu sein, nicht erfolgreich genug in der Schule oder nicht »schön« genug fürs Familienbild.

Reflexion: Mitbestimmungsbarometer

Es ist schwer, sich einem einzigen dieser Erziehungsstile zuzuordnen, denn die Übergänge zwischen den einzelnen Stilen sind fließend. Für den Alltag ist es auch nicht notwendig, sich derart festzulegen. Für die weitere Arbeit mit diesem Buch und die Bewusstmachung der eigenen Einstellung ist es aber sinnvoll, wenn du dir grundlegend überlegst, wie du das Mitbestimmungsrecht in deiner Familie gewichtest: Bist du/seid ihr als Eltern eher die tonangebenden Personen, ist es ausgeglichen, oder richtet ihr euch besonders nach eurem Kind/euren Kindern? Und wie war das in deiner Kindheit?

Trage auf dem Barometer ein, wo du eure Familie siehst. Im Laufe der Zeit verändern sich bei vielen Familien auch die Positionen: Während in der Babyzeit viel Orientierung am Kind erfolgt, ändert sich das im Kleinkindalter oft in die andere Richtung und pendelt sich später in der Mitte ein. Auch eine solche Beobachtung über die Zeit kann hilfreich für den Alltag sein.

Wie wir werden, was wir sind, und wie wir fühlen

Erziehung hinterlässt Spuren in uns. Sie bestimmt, ob wir uns als Menschen sicher fühlen, ein gutes Bild von uns selbst und unseren Fähigkeiten ausbilden und uns als selbstwirksam erfahren, sodass wir auch in späteren Jahren mit schwierigen und belastenden Situationen gut umgehen können. Wesentlich beteiligt an einem Aufbau eines sicheren Bildes von uns selbst ist die Bindungsbeziehung, die wir zu unseren nahen Bezugspersonen eingehen. Im Laufe der Menschheitsgeschichte hat sich daher das Bindungssystem ausgebildet: Ein Verhaltenssystem, das dafür sorgt, dass Kinder sich in den ersten Jahren an mindestens eine schutzgebende Person5 binden und mit ihrem Verhalten dafür sorgen, dass sich diese Person um sie kümmert. Die Signale des Babys sorgen dafür, dass es im Idealfall Nahrung erhält, geschützt und gepflegt wird und auch die emotionalen Bedürfnisse für eine gesunde psychische Entwicklung erfüllt werden. In der ersten Zeit nach der Geburt verfügt das Baby über vergleichsweise wenige Signale, um Nähe und Schutz einzufordern: es schreit oder weint. Später kann es die Nähe aktiv aufsuchen durch Hinterherrollen, -krabbeln, -laufen und das Festhalten an den Bezugspersonen, und auch andere Möglichkeiten werden eingesetzt, beispielsweise das Brabbeln und später die Sprache, Mimik und Gestik. Durch die Reaktion der Bezugspersonen auf die Signale des Babys entsteht im Alltag langsam die Bindung zwischen Eltern und Kind, sie bildet sich innerhalb der ersten drei Lebensjahre aus. Dieses Bindungssystem ist so wichtig für das Kind, dass es allen anderen (Entwicklungs-)aufgaben vorgelagert wird.6 Aus Sicht des Kindes sind diese schützenden Bezugspersonen das Wichtigste, denn sie ermöglichen dem Kind das Überleben. Das bedeutet aber auch, dass das Kind in diesen ersten Jahren nichts an den Handlungen der Bezugspersonen infrage stellt: Sie sind richtig. Erfährt das Kind Gewalt in irgendeiner Form durch sie (körperlich oder emotional durch Liebesentzug, Beleidigung etc.), ergibt das nur Sinn für das Kind, wenn es die Schuld bei sich selbst sucht und die Verantwortung für das Verhalten der Eltern übernimmt:7 »Ich bin selbst schuld, dass ich so behandelt werde, weil ich immer zu laut/energievoll/dumm … war.« Es bildet ein Bild davon aus, wie es ist und wie es sein soll. Wenn es erfährt, dass es nur in einer bestimmten Weise sein darf, versucht es, sich dahingehend anzupassen: »Jungs dürfen nicht mit Puppen spielen und sind immer wild und mutig« kann ein solches Bild sein, ebenso wie »Mädchen spielen nur mit Puppen, mögen Rosa und sind empathisch«.

Nur durch die Sicherheit dieser Bindungsbeziehung beginnt das Kind mit der Erkundung der Umwelt und bildet nach und nach Fertigkeiten aus, um mehr und mehr selbst wirksam zu sein und für das eigene Überleben sorgen zu können. Auch das Verständnis der eigenen Gefühle spielt dabei eine wichtige Rolle, und das Kind ist auch hier zunächst auf die Bezugsperson(en) angewiesen, um eine Kompetenz im Umgang damit zu erwerben, die es später in der Gesellschaft benötigt. Das Kind lernt, sich als eigenständige Person wahrzunehmen und auf Basis all dieser Erfahrungen zu agieren. Daher sind die ersten Jahre von großer Bedeutung für das Selbstbild und weitere Bindungsbeziehungen. Je nachdem, wie die Bezugsperson(en) auf die kindlichen Signale reagieren, bildet sich eine unterschiedliche Qualität der Bindung aus. Kinder, deren Signale wahrgenommen, richtig interpretiert und beantwortet werden, machen die Erfahrung, dass sie gut umsorgt sind, und lernen im Wechselspiel mit der erwachsenen Person, ihre Bedürfnisse immer klarer auszudrücken. Es bildet sich eine sichere Bindungsbeziehung aus mit einem guten Selbstbild und dem Wissen, dass andere Personen das Kind stützen und bei Bedarf hilfreich zur Verfügung stehen. Das Kind weiß nach und nach, mit welchem Verhalten der Eltern es rechnen kann, und passt das eigene Verhalten daran an: Es weiß, dass es sicher umsorgt wird, auch wenn es mit zunehmendem Alter vielleicht länger auf seine Bedürfnisbefriedigung warten muss. Erfährt das Kind hingegen, dass die Signale oft ins Leere laufen, unzuverlässig beantwortet oder bewusst abgewiesen werden, bildet sich keine sichere Beziehung aus, da das Kind kein Vertrauen ausbilden kann. Auch das Selbstbild des Kindes entwickelt sich aufgrund dieser Erfahrungen anders, und das Kind verinnerlicht, nicht selbstverständlich Hilfe, Schutz und Unterstützung zu bekommen. Es erfährt nicht, dass einzelne Bedürfnisse sicher versorgt werden, und muss immer wieder neu darum kämpfen oder resignieren.

Nur etwa 50 bis 60 Prozent aller Kinder hierzulande sind sicher gebunden,8 der Rest weist andere Bindungsqualitäten auf. Und auch in unserer Erwachsenengeneration ist es nicht viel anders. Viele von uns haben keine sichere Bindungsbeziehung, fühlen sich immer mal wieder unsicher, inkompetent oder eben irgendwie »verbogen« durch das, was sie erlebt haben. Wie wir leben und reagieren, ist nach der (frühen) Kindheit nicht in Stein gemeißelt, aber die Kindheit bildet die wesentliche Basis für unser Leben. Eine unsichere Bindung muss nicht zu späteren Störungen führen, kann aber Probleme hinsichtlich der Verhaltenskontrolle, die Neigung zu Wutausbrüchen und Schwierigkeiten in Beziehungen zu Gleichaltrigen in den Vorschuljahren und später zur Folge haben. Eine desorganisierte Bindung (die nach Gewalterfahrungen, Deprivation oder bei Eltern mit unverarbeitetem Trauma entstehen kann) wird hingegen mit psychopathologischen Konsequenzen wie verstärkten Aggressionsproblemen, Beruhigungsproblemen, Problemen der Emotionsregulation, Schulproblemen, geringem Selbstwertgefühl und Ablehnung durch Gleichaltrige in Verbindung gebracht.9 Laut Deutscher Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. sind in Deutschland 27,8 Prozent der erwachsenen Bevölkerung von einer psychischen Erkrankung betroffen, das entspricht 17,8 Millionen Menschen.10 Nicht alle dieser psychischen Erkrankungen gehen auf Belastungen in der frühen Kindheit zurück, aber frühkindliche Belastungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer psychischen Störung wie Depression und Angsterkrankungen um das Doppelte, Essstörungen treten drei- bis fünfmal so oft auf, die Suizidrate ist erhöht, und auch die Wahrscheinlichkeit für körperliche Beschwerden, die nicht oder nicht nur auf organische Ursachen zurückgeführt werden können, wie Fatigue-Syndrom, Fibromyalgie und das Reizdarmsyndrom steigt, wie auch die Wahrscheinlichkeit für körperliche Erkrankungen wie Diabetes Typ 2, Schlaganfall und koronare Herzerkrankungen. Durch die frühkindlichen Belastungen wird die Stressreaktion des Körpers verändert, was zu einer ganzen Reihe von körperlichen Belastungen und Veränderungen führen kann, selbst zu Veränderungen im Gehirn: Hippocampus und Präfrontaler Cortex schrumpfen, was kognitive Einbußen nach sich ziehen kann, während die Amygdala, die unter anderem für die Furchtkoordination zuständig ist, wächst und somit Angsterkrankungen befördern kann.11

Die Art, wie wir mit unseren Kindern umgehen, ist also tatsächlich wichtig für ihre weitere Entwicklung und kann das ganze Leben beeinflussen. Wie wir im zweiten Teil dieses Buches noch sehen werden, ist die Geschichte der Kindheit – unserer und der vorangehenden Generationen – von sehr viel Stress geprägt, und viele von uns tragen die Folgen auf körperlicher oder psychischer Ebene in sich. Wenn wir unsere eigene Kindheit ein wenig reflektiert haben und wissen, dass das eine oder andere Problem daher rührt, oder wir zumindest spüren, wie unglücklich wir selbst als Kind waren, dann wollen wir es als Eltern anders machen.