Sie spielen meist nur die zweite Geige: Geschwister psychisch Erkrankter bleiben mit ihren Bedürfnissen und Erfolgen, ihren Sorgen und ihrer Angst oft allein. Manche ein Leben lang. Sie sind die geborenen Funktionierer, Sonnenkinder, Vermittler zwischen Eltern und Geschwistern. Die Beziehung zu ihrem erkrankten Geschwister ist komplex - mal haben sie einen ausgeprägten Schutzinstinkt, mal hegen sie Gram. Manche hat die Verantwortung stark gemacht, andere fühlen sich ihrer Kindheitsjahre beraubt.
Jana Hauschild gibt den erwachsenen Geschwistern eine Stimme. Mit großem Einfühlungsvermögen schildert die Psychologin Hintergründe, spürt den Gefühlen der Übersehenen nach und begleitet sie auf ihrem Weg zu sich selbst.
Für Thorben
Es gibt ein Video von der Hochzeit meiner Eltern. Es ist Herbst, 1987. Ich bin an diesem Tag knapp vier Monate alt, mein Bruder ist gerade sechs Jahre alt geworden. Im Strampler werde ich von allen betüddelt, aber niemand schaut mich so verliebt an wie mein Bruder. Beinahe bei jeder Aufnahme mit mir sieht man ihn nur Zentimeter von dem kahlen Kopf im Strampler entfernt. Wenn ich von meinem Vater getragen werde, steht mein Bruder ganz dicht daneben und streichelt mich an den Fingern. Wenn ich im Bettchen liege, schaut er sorgsam auf mich herab. Sein Blick ist in jedem dieser Momentaufnahmen weich, beinahe verträumt und voller Zuneigung.
Wenn ich diese Aufnahmen sehe, kommen mir die Tränen. Da ist ein kleiner Junge, der seine neugeborene Schwester abgöttisch liebt. Und ich tat es ihm später gleich. All meine Kindheit war Sven mein geliebter großer Bruder. Er brauchte gar nichts Besonderes zu machen, ich war einfach so schon stolz auf ihn.
Natürlich, er sah gut aus. Meine Schulfreundinnen verliebten sich reihenweise in ihn. Aber auch so: Alles, was er tat, fand ich lustig, interessant, aufregend. Er schenkte mir zum Geburtstag oder zu Weihnachten oft selbst genähte, gebastelte oder gezeichnete Handwerke. Sie waren schrill, kitschig oder im Alltag unbrauchbar. Ich habe sie geliebt und bewahre die meisten noch immer in einer Kiste auf. Ich liebte die Wochenenden bei seinen Handballturnieren und habe mit viel Begeisterung seinen Spielzügen zugesehen. Das ist mein Bruder, der da ein Tor geworfen hat. Oder: Halt, wie kommt der Rüpel von Gegner dazu, meinen Bruder zu schubsen?
Wann immer er mich inmitten seiner Pubertät nervig fand, war ich todtraurig – und gab mir Mühe, wieder cool genug für ihn zu sein. Egal welchen Bockmist er damals angestellt hatte, ob er bei Verwandten Geld geklaut hatte, ob er eine Mitschülerin mit einer Schere verletzt hatte, ob er die Schule geschwänzt und stattdessen lieber bei Bier und Zigaretten mit Freunden abgehangen hat; für mich hat er bei keiner dieser Aktionen an Status verloren.
Die Streitigkeiten zwischen ihm und meinen Eltern wurden jedoch mit jedem Monat öfter, lauter und anhaltender. Türen knallten, Worte schepperten durch die Räume, Tränen flossen. Bei meinen Eltern, meinem Bruder. Und bei mir. Seine jugendlichen Fehltritte schockierten mich, aber ich hatte irgendwie immer Verständnis für seine Ausbrüche. Er muss das gemerkt haben. Er erzählte mir von vielen seiner Querschläge, damals und auch heute noch.
Als mein Bruder kurz vor seinem achtzehnten Geburtstag seine Ankündigung wahrmachte und auszog, sobald er sein Abschlusszeugnis in den Händen hielt, waren meine Eltern vermutlich erleichtert. Ich war einfach nur traurig.
So weit ist das zwischen mir und meinem Bruder wohl normal. Geschwister sind nun mal die Menschen, mit denen wir die meiste Zeit unseres Lebens verbringen. Weder unsere Eltern noch Ehepartner noch enge Schulfreunde werden uns so lange im Leben begleiten wie unser Bruder oder unsere Schwester. Sie erleben uns von Beginn an oder wir sie. Wir sehen einander aufwachsen. Wir wohnen mit ihnen in Kindheit und Jugend, den prägendsten Jahren unseres Lebens, unter einem Dach, Tür an Tür, manchmal gar im gleichen Raum. Für Jahre. Keiner erlebt uns so nahe, so unverfälscht und echt wie Geschwister. Sie sind in all der Zeit an unserer Seite, sind Verbündete und Komplizen – aber nicht selten auch schlimmste Kontrahenten. Selbst wenn sich Geschwister als Erwachsene auseinanderleben, jeder seinen Weg geht, bleibt dieses unsichtbare Band aus frühen Jahren meist bestehen.
Gerade das ist es, was den Aufprall einer psychischen Erkrankung so schmerzhaft macht. Wenn sich diese zwischen die zwei Menschen wirft, die ein Kinderzimmer, eine Jugend und das Erwachsenwerden miteinander geteilt haben. Wenn sie den einen ummantelt und versucht, ihn dem normalen Leben zu entreißen. Wenn sie Familien sprengt.
Ich war zwölf Jahre alt, als etwas Unbekanntes an meinem Bruder zu zerren begann. Die vielen Konflikte mit meinen Eltern waren in Teilen ein Vorbote, wie ich viel später erst verstand.
Nach seinem Auszug hörte ich wenig von Sven. Er lebte sein neues Leben, ich meines im Ruderverein. Er war volljährig, ich nicht mal wirklich jugendlich. Unsere Schnittstellen waren denkbar gering.
Eines Nachmittags fand ich einen Zettel im Briefkasten, es war ein abgerissenes Randstück einer Zeitung. Darauf stand mit blauem Kugelschreiber geschrieben: »Im Krankenhaus Weißensee wg. Suizidversuch«. Die Schrift war eindeutig von meinem Bruder, niemand schreibt so spitz und filigran wie er. Unbehagen machte sich in mir breit. Ich verstand seine Nachricht nicht und ging mit dem Papierfetzen eiligst nach oben in die Wohnung. Krankenhaus ja, das vernahm ich, aber Suizid, was sollte das sein? Ich schlug ein Wörterbuch auf. Die Antwort des Nachschlagewerks las ich mehrmals hintereinander, als würde ich nicht verstehen, was dort steht. Dabei hatte ich das Wort »Selbstmord« sofort kapiert.
An diesem Tag, als ich diesen Zettel im Briefkasten fand, nistete sich in mir eine tiefe Angst ein. Der Gedanke, mein Bruder hätte nicht mehr sein können, war nicht zu ertragen. Ich weinte bitterlich mit dem Zettel auf meinem Schoß. Und auch nachdem ich ihn in der Klinik besucht hatte. Und viele weitere Abende, wenn ich allein im Bett lag.
Die Angst blieb viele Jahre mein Begleiter. Immer wenn Sven einfach so anrief, immer wenn er zu lange nicht anrief, immer wenn ich anrief. Wenn wir uns sahen, ging es. Denn dann konnte ich ihn ja drücken, trösten, etwas Nähe und Halt geben.
Mein Bruder hat eine Borderline-Persönlichkeitsstörung. Er ist impulsiv und übermäßig empfindsam. Gefühle wie Wut kann er schwer steuern. Für Borderline-Patienten können Situationen, die für Gesunde nur leicht stressig sind, emotional überbordend werden. Die Gefühle der Überlastung suchen dann ihren Weg nach draußen. Beziehungen sind für Sven unverzichtbar, aber auch schwierig. Er braucht viel Nähe von seinen Partnerinnen und fordert zugleich auch großen Freiraum ein. Mittelschwere Konflikte können ihn viel tiefer verletzen als andere Menschen. Sie sind keinesfalls schnell vergessen, sondern brennen sich oft lange Zeit in sein Gedächtnis.
Mein Bruder fügt sich selbst Schaden zu. Er ist keiner, der seine Haut aufritzt. Sich selbst zu verletzen, das geht auch ohne Blut. Mit Anfang und Mitte zwanzig sind es bei ihm Drogenexzesse, mit denen er seinen Körper schindet. Mit komplizierten Beziehungskisten reizt er sein Gefühlsleben aus. Piercings sind zeitweise ein weiteres Ventil. Er neigt zu Depressionen. Zu Weltschmerz. Kann Familienkonflikte nicht abschließen, sie jagen ihn regelrecht. Sucht ist damals sein Weg, seine innere Unruhe zu stillen.
Mit sechsundzwanzig Jahren wird mein Bruder Vater. Meine Nichte Louisa kommt auf die Welt – und verändert sie für meinen Bruder. Er begibt sich in einen Entzug und in eine siebenmonatige Reha, um mit den Drogen Schluss zu machen. Er beginnt, sein Seelenleben in die Hand zu nehmen, und lässt seine Sucht und Depression behandeln.
In dieser Zeit telefonieren wir fast wöchentlich, manchmal öfter. Meist mehr als eine Stunde. Nicht selten weint er am Telefon, manchmal wütet er, sodass ich den Hörer vom Ohr fernhalten muss. Er lässt alles raus, was er so lange mit Drogen weggedrückt hatte. Es ist schmerzhaft für ihn, kraftraubend.
Aber für mich auch. Wenn wir telefonieren, kullern auch mir Tränen über die Wangen. Aber ich versuche, das zu verheimlichen, er soll nicht hören, dass es mich so mitnimmt, ich will für ihn stark sein. Und doch: Ich kann ihm nur zuhören, nur helfen, indem ich da bin. Mehr nicht. Wir gehen in diesen Telefonaten oftmals seine Behandlungsthemen gemeinsam durch. Manchmal fühle ich mich wie eine Co-Therapeutin. Ich stecke damals schon mitten im Psychologiestudium und trotzdem kann ich davon nichts für unsere Situation verwenden.
Dennoch denke ich damals erstmals darüber nach, welchen Einfluss sein Leben und seine Erkrankung auf mein Leben gehabt haben. Und noch immer hat. Zu behaupten, diese Erkrankung hätte keine Auswirkungen auf mich und manche meiner Charakterzüge gehabt, wäre schlichtweg gelogen.
Ich bin eine von Millionen. Acht von zehn Menschen haben Geschwister. Auch Menschen mit psychischen Erkrankungen. Demnach gibt es allein in Deutschland Abertausende Geschwister psychisch Erkrankter. Genaue Zahlen finden sich dazu nicht, aber eine simple Rechnung lässt die Ausmaße erahnen.
Nehmen wir die Schizophrenie. Sie ereilt etwa ein Prozent der Bevölkerung, bei achtzig Millionen Bundesbürgern sind das 800 000 Menschen mit Schizophrenie in Deutschland. Etwa achtzig Prozent von ihnen haben einen Bruder oder eine Schwester. Demnach sind von der Erkrankung Schizophrenie rund 640 000 Geschwister mitbetroffen. Jeweils ebenso viele dürften es bei Bipolarer Störung sowie bei Zwangsstörungen sein. Auch sie betreffen knapp einen von hundert Menschen. In Summe sind wir hier schon bei mehr als einer Million Geschwister. Die Zahl der Menschen mit Depressionen, aber auch die von jenen mit Angststörungen und Suchterkrankungen ist sogar um ein Vielfaches höher als ein Prozent. Auch an ihrer Seite stehen: Geschwister.
Trotzdem spielen Schwestern und Brüder von psychisch Erkrankten in der Öffentlichkeit, in der psychologischen und psychiatrischen Versorgung, in Angehörigengruppen, in Forschung und Literatur kaum eine Rolle. Die Gesellschaft übersieht sie. Nicht nur die Eltern, auch Professionelle haben oft nicht im Blick, was die Erkrankung eines Kindes oder Jugendlichen mit dem Bruder oder der Schwester desjenigen macht. Zugleich nehmen die meisten Geschwister zur Entlastung der Eltern intuitiv einen Platz im Hintergrund ein, halten sich bedeckt, wollen keine weiteren Ressourcen aufbrauchen. Sie sind Schattenkinder. Und doch geht ihnen das Leid des anderen nicht minder nahe, betrifft sie ganz direkt und verändert auch ihr Leben.
Vor allem, weil die Erkrankungen meist in einer Zeit losbrechen, in der Geschwister ebenso wie die Betroffenen selbst noch auf der Suche sind, nach sich und ihrem Lebensweg. Drei von vier psychischen Erkrankungen nehmen ihren Anfang vor dem fünfundzwanzigsten Lebensjahr. Also in einer Zeit, in der bei den Betroffenen, aber auch bei den Geschwistern, die ähnlich alt sind, die Identität reift, eigene Vorlieben ausprobiert werden, erstmals enge Freundschaften und intime Beziehungen beginnen. In diesen Jahren ist unsere Entwicklung bei Weitem noch nicht abgeschlossen.
Die Erkrankung vermag Familien und Biografien zu zerrütten. Nicht nur die Erkrankten, auch die Schwestern und Brüder wirft eine psychische Erkrankung aus der eingeschlagenen Bahn. Umso jünger die Geschwister zu Beginn der Erkrankung sind, umso enger auch ihre Bindung an den Erkrankten ist, umso enger die beiden vom Alter her beieinander liegen, desto gravierender kann für sie der Aufprall der Krankheit des anderen in ihrem Leben sein.
Unabhängig vom Alter entgeht den meisten nicht die Wucht, mit der die Erkrankung den Bruder oder die Schwester trifft. Eine Wucht, die ein Beben in Gang setzt, das auch sie erreicht und vor Schock erstarren lässt oder sie gar ebenfalls von den Füßen reißt.
Ich habe selbst nie verheimlicht, dass mein Bruder anders als ich durchs Leben geht, mitunter deutlich größere Hürden zu nehmen hat. Vermutlich deshalb erfuhr ich von anderen Brüdern und Schwestern im Freundes- und Bekanntenkreis – und von vielen ihrer Probleme in der Rolle der Schwester oder des Bruders. Als ich vor einigen Jahren dann einen Artikel über Angehörige von psychisch Erkrankten schrieb und bei meinen Recherchen von einer Geschwistergruppe hörte, horchte ich auf.
Die Existenz einer Selbsthilfevereinigung nur für Geschwister gab den Gesprächen mit den Bekannten und befreundeten Geschwistern plötzlich einen tieferen Sinn. Wir haben nicht nur diffuse Geschwisterprobleme besprochen, sondern die spezifischen von Geschwistern psychisch Erkrankter. Die von Angehörigen. Probleme und Sorgen, die Gehör brauchen. Dass es eine Gruppe für Schwestern und Brüder gibt, bestätigte unmittelbar meine bislang schwammige Empfindung: Auch wir haben ein Päckchen zu tragen. Manche ein größeres, manche eines, das mal schwerer, mal leichter wiegt. Manche schleifen es mit einiger Entfernung hinter sich her, andere halten es fest an sich gedrückt.
Ich begann, die Geschichten der Freunde und Bekannten aufzuschreiben. Und beschloss vor nun mehr als zwei Jahren, mehr Aufmerksamkeit für Geschwister wie sie zu erwirken.
Einige von ihnen haben für dieses Buch erneut mit mir über ihr Geschwisterleben gesprochen. Andere fand ich über die Selbsthilfegruppen in Berlin und Hamburg sowie über das Projekt Ex-In, in dem Angehörige als Genesungsbegleiter oder Beratung für andere Angehörige aktiv sind.
Bipolare Störung, Schizophrenie, Depression: Die Brüder und Schwestern haben unterschiedlichste Diagnosen, doch meist spielen diese in den Gesprächen keine Rolle. Denn anders als ich zunächst dachte, erleben Geschwister unabhängig von der Erkrankung ihres Bruders oder der Schwester ähnliche Gefühlsturbulenzen, Beziehungsprobleme oder Konflikte. Und andersherum berichteten Geschwister, deren Bruder oder Schwester die gleiche Erkrankung ereilte, von gänzlich anderen Lebenswegen und Gefühlswelten. Wie zerstörerisch der Einschlag des Schicksals hier ist, hängt nicht unbedingt von der Diagnose ab, sondern von den Gefühlen zwischen den Geschwistern, vom eigenen Alter, von Familienstrukturen und unzähligen weiteren Faktoren, deren wissenschaftlicher Erfassung bislang kaum jemand nachgekommen ist.
Die Geschichten der Geschwister ähneln sich daher an vielen Stellen, an anderen sind sie sehr verschieden. Sie sind die älteren Schwestern, die jüngeren Brüder, beinahe gleich alt oder deutlich früher oder später geboren. Auch empfindet jede Schwester, jeder Bruder die Situation als anders schwer, manche sehen darin eine Belastung, andere eine Herausforderung. Und doch hat sie die Erkrankung des anderen tief im Herzen berührt, ihre Leben verändert, ihren Blick auf die Welt beeinflusst.
Die Menschen in diesem Buch sind froh, dass sich jemand ihren Bedürfnissen und Sichtweisen annimmt und diese nach außen trägt, in die Gesellschaft. Denn bislang wollte davon außerhalb von Selbsthilfegruppen kaum einer etwas hören.
Die Menschen in diesen Kapiteln sind nicht repräsentativ für alle anderen Geschwister da draußen. Denn nicht alle Geschwister haben die Kraft, ihre Erfahrungen in Worte zu fassen, zu formulieren, was es mit ihnen gemacht hat. Ich bin auch Leuten begegnet, die nicht mit mir sprechen wollten. Besser gesagt: nicht konnten. Die dreißigjährige Elena etwa. Sie ist eine Bekannte, deren zwei ältere Brüder schizophren erkrankt sind. Ihr mittlerer Bruder wurde zudem abhängig von Crystal Meth. Er verstarb vor einem knappen Jahr an einer Überdosis. Ein Schock, der Elena noch immer zu sehr aufwühlt.
Als wir das erste Mal telefonieren, ist sie voller Tatendrang, möchte gern ihre Erfahrungen zu beiden Brüdern einbringen. Sie hat so viel zu erzählen, so viel auf dem Herzen. Ihr ist es ein Anliegen, mehr Öffentlichkeit für Geschwister wie sie herzustellen. Wir vereinbaren ein persönliches Gespräch für eine Woche später. Einen Tag nach diesem Telefonat sendet sie mir eine SMS: Sie kann nicht. Seit unserem Gespräch ist sie sehr unruhig, schläft schlecht. Die Trauer, die Wut, die Hilflosigkeit: All diese Gefühle haben sie wieder eingeholt. Ein längeres Gespräch über sich und ihre Brüder, sagt sie, das verkrafte sie derzeit noch nicht.
Diese wortlosen Schwestern und Brüder sind für mich ein Grund mehr, dieses Buch zu schreiben. Ihre Biografie liegt mitunter zersplittert vor ihnen. Sie haben schwere Krisen eines nahestehenden Menschen miterlebt, eines Lebensbegleiters. Sie haben die Schwester, den Bruder an eine Krankheit verloren. Und sich selbst den Bedingungen, die diese Erkrankung ihrer Familie aufdrängt, angepasst.
Meine Hoffnung ist, dass dieses Buch ihnen zeigt, dass sie nicht allein sind, dass es da draußen noch viele andere gibt, die Ähnliches erlebt haben, die Austausch suchen, die beim Aufarbeiten helfen können. Ich hoffe, dass die Offenheit der Geschwister in diesem Buch bei anderen einen heilsamen Prozess anstoßen kann. Zugleich möchte ich Eltern, Psychiater, Psychologen, Sozialarbeiter und die Gesellschaft aufrütteln, hinzusehen, auch die Geschwister wahrzunehmen und ihnen Unterstützung zukommen zu lassen. Und sei es nur durch ein offenes Ohr.
Nach der Suchttherapie hatte mein Bruder immer wieder ein paar richtig gute Jahre, hat eine weitere Ausbildung begonnen, eine neue Freundin gefunden, eine zweite Tochter kam zur Welt. Ja, es gab auch in diesen Jahren Rückschläge, Beziehungsprobleme, Geldsorgen, Familienkonflikte, Arbeitslosigkeit. Aber Sven ist ein Kämpfer und hat immer wieder Lösungen gefunden, seine Situation zu verbessern, sich weiterzuentwickeln. Er war ambulant weiter wegen seiner Depression in Behandlung. Erst in den vergangenen Monaten festigte sich mein langjähriger Verdacht, dass die Schwermut nicht alles ist, was meinen Bruder aus dem Gleichgewicht bringt. Darunter liegt eine Borderline-Erkrankung.
Tatsächlich waren die Monate, in denen ich an diesem Buch geschrieben habe, mit die turbulentesten seit vielen Jahren. Als die Planung für das Buch im Sommer 2017 beginnt, ist mein Bruder selbstständig, übernimmt als Grafikdesigner kreative und handwerklich anspruchsvolle Aufträge. Er wohnt mit seiner Freundin und dem gemeinsamen Kind zusammen in einer Traumwohnung, die er mit viel Liebe über Wochen hergerichtet hat, er pflegt guten Kontakt zu seiner älteren Tochter Louisa aus einer früheren Beziehung. Eine Patchworkfamilie. Eine schöne Bleibe. Eine wohltuende Arbeit. Es scheint Leichtigkeit zu herrschen.
Doch kurz nachdem ich den Vertrag unterschrieben hatte und begann, für das Buch zu recherchieren, kippte die Situation meines Bruders. Beides hängt nicht ursächlich zusammen. Und doch ist mir der zeitliche Zusammenprall unheimlich.
Was genau zuerst da war, kann ich nicht rekonstruieren, aber es scheint sich viel gegenseitig bedingt zu haben. Aus meiner Sicht fängt es an mit der frisch bezogenen Wohnung: Sie hat einen Käferbefall. Tochter, Freundin und mein Bruder haben Ausschlag vom Ungeziefer, das sich auch nicht durch den Kammerjäger vernichten lässt. Die Wohnung wird unbewohnbar. Wochenlange Arbeiten an Betten, Küche und Bad sind futsch. Zeitgleich kriselt es bei meinem Bruder im Job. Hoher Zeitdruck und immer längere Arbeitstage bringen ihn an seine Grenzen. Er gerät immer öfter mit Kollegen und Auftraggebern aneinander. Bis er nicht mehr kann.
Und weil zwei Krisenherde meist ein weiteres Feuer entzünden, mein Bruder nicht so viele Brände zeitgleich händeln kann, schlägt auch die Beziehung um. Lautstarke Streitereien greifen um sich. Im Sommer 2017 lässt sich mein Bruder wegen Suizidgedanken in eine geschlossene Psychiatrie einweisen. Er bleibt sechs Wochen dort.
Doch auch danach keine Entspannung, zumindest nicht dauerhaft. Ein neuer Versuch, im Sicherheitsgewerbe zu arbeiten, scheitert in den ersten Arbeitswochen. Die Nachtschichten überfordern meinen bereits geschwächten Bruder. Der Stress prallt dann ungebremst auf Beziehungskonflikte. In der neuen Wohnung leben Sven und seine Familie nur drei Monate gemeinsam, dann zieht seine Freundin mit dem Kind vorübergehend zu ihren Eltern – und mein Bruder erneut in die Psychiatrie. Aus Selbstschutz.
Er ging mir in diesen Wochen täglich durch den Kopf. Wie geht es ihm? Tut ihm die Therapie gut? Sieht er wieder Licht? Und ständig war da der Gedanke: Ich muss ihn anrufen. Gefolgt von dem Gefühl: Ich kann ihn nicht anrufen.
Die Angst der zwölfjährigen Jana ist in diesen Tagen so präsent wie einst. So greifbar nah. Ich habe Angst, dass seine Gedanken an den Tod zu Taten werden. Habe Angst, dass er wieder zu Drogen greift, um sich nicht spüren zu müssen. Habe Sorge, dass unsere Familie zerbricht an dem Ungeheuer »Borderline«. Ich scheue daher die Gespräche, und doch bin ich immer froh, wenn wir uns wieder gehört haben. Denn nicht immer ist er traurig oder verzweifelt, manchmal haben wir lustige Unterhaltungen oder er schwärmt von einem neuen Hobby. Denn so schlecht es ihm innerlich gehen mag, er sucht außen immer nach Neuem, bleibt wach und ist begeisterungsfähig.
Ich denke viel an ihn, aber die Gedanken kann ich auch schnell wieder wegschieben. Ihn anzurufen, würde bedeuten, mich dreißig Minuten, vielleicht auch eine Stunde ohne Pause mit seiner Situation auseinanderzusetzen.
Nicht immer kann ich das.
Dabei habe ich schon das Gefühl, mich viel und ohne Pause mit ihm auseinanderzusetzen. Denn das Buch zu schreiben, lässt mir keinen Raum, mich gedanklich davon abzuwenden, stößt mich täglich auf die Ängste, die ich um meinen Bruder habe. Auf die Konflikte, die es in unserer Familie gibt. Auf die Frage, wie es weitergehen soll. Auf den Wunsch, ihm zu helfen. Auf meine gefühlte Hilflosigkeit. Auf die Aussicht hin, dass es nie einfach sein wird.
Doch dies soll kein Buch über mich werden, sondern über alle Geschwister, über die vielen verschiedenen Facetten, in denen eine psychische Erkrankung Lebensläufe der Erkrankten und ihrer engsten Angehörigen lenken kann. An manchen Stellen werde ich daher von mir berichten, an den meisten aber von anderen.
Denn über mein Erleben als Angehörige, als Schwester für die Öffentlichkeit zu berichten, empfinde ich wie viele Geschwister als schwierig. Vor allem, weil ich nicht nur über mich und meine Sichtweise rede. Wenn ich darüber erzähle, dann handelt meine Erzählung auch immer von meinem Bruder, meiner Familie.
Die Mehrheit der Schwestern und Brüder in diesem Buch bleiben aus genau diesem Grund anonym. Sie haben andere Namen und wohnen an anderen Orten, als es zu lesen ist. Da ich persönlich nicht anonym bleiben kann und möchte, werden meine Berichte nur wenige sein und nur solche, die ich mit meinem Bruder abgestimmt habe und die nicht meine Eltern betreffen. Dennoch finde ich mich in vielen Berichten der anderen wieder, so wie diese sich auch in den Erzählungen von mir oder den anderen wiederfinden werden.
Unsere Geschichten sollen ein großes Bild erzeugen, kein vollendetes, aber eines, das deutlich macht: Hier sind Menschen, die sich mehr Rückhalt, mehr Aufmerksamkeit oder mehr Unterstützung wünschen – und diese mitunter dringend brauchen.
Schon früh bündelt David die Aufmerksamkeit seiner Mutter. Andere Vierjährige, die aus Versehen die heiße Herdplatte berühren, weinen und lassen dann die Finger davon. David aber greift schon kurze Zeit später erneut auf die glühende Oberfläche. Wo andere Kinder ihren Eltern im Kaufhaus hinterherrennen, aus Angst, sie im Gewimmel zu verlieren, da läuft David in die entgegengesetzte Richtung. Wenn anderen Kindern eine strenge Ermahnung genügt, ist Davids Widerstand gegen elterliche Ansprachen unerschöpflich.
David hat kein Schmerzempfinden wie andere Kinder, er hat kein Angstempfinden, er lernt nicht aus Fehlern. Und wenn ihn etwas wütend macht, schlägt er mit aller Kraft um sich. Im Kindergarten gehänselt, in der Vorschule ein Sonderling, in der Grundschule gemiedener Außenseiter: David eckt an. Zweimal wird er von der Grund- in die Vorschule zurückversetzt. Nicht weil er lernbehindert ist. Sondern weil die Lehrer ihn nicht bändigen können. David kommt schließlich auf eine Schule für verhaltensauffällige Kinder.
Mit neun Jahren ist er das erste Mal in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Drei Wochen lang. Doch ändern tut sich dadurch nichts. In den Jahren danach wechselt er Schulen und Wohnungsorte wie andere Kinder in dem Alter Hobbys. Mutter Sabine ist ratlos und zunehmend überfordert. Sie weiß nicht weiter. Alles, was sie daheim versucht, hilft nicht. Keine Schule will ihn mehr. Das Jugendamt steckt ihn ins Heim, es wird nicht das einzige bleiben. Es folgen Erziehungshäuser, betreutes Wohnen, psychosoziale Einrichtungen, Eingliederungsmaßnahmen, Obdachlosigkeit, geschlossene Psychiatrien.
In Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, in der Eifel: Die Mutter fährt überallhin zu Besuch, sooft sie kann. Sie kennt die vielen Stationen ihres heute dreiundzwanzigjährigen Sohnes im Schlaf, weiß noch jeden Ort und Zeitpunkt. Zu einigen Etappen und Tiefpunkten erinnert sie sogar Uhrzeiten und Wetterlage. Auch die Vielzahl an Diagnosen, die ihrem Sohn zugeschrieben oder die diskutiert wurden, Begriffe, die sie nie zuvor gehört hatte, kann sie lückenlos aufzählen: Bindungsstörung mit Enthemmung, Schizophrenie, Borderline-Persönlichkeitsstörung, ADHS, Autismus, Tourette-Syndrom, Hypersensibilität, Posttraumatische Belastungsstörung.
Doch wo war eigentlich ihre Tochter in all der Zeit? Sabine senkt den Blick und schweigt. Eine knappe halbe Stunde hat sie über die Odyssee ihres Sohnes berichtet. Als wir auf ihre Tochter zu sprechen kommen, erfüllt den Raum erstmals Stille.
Sabine möchte sofort mit mir sprechen, als sie von meinem Buchprojekt erfährt und hört, dass ich auch mit einem Elternteil ins Gespräch kommen möchte. Sie leitet eine Gruppe für Angehörige psychisch Erkrankter in Berlin. Innerhalb weniger Stunden nach meiner E-Mail an sie ruft sie mich bereits zurück. Wir treffen uns ein paar Tage später. Sabine weiß, in unserem Treffen geht es um sie und Nora, die Tochter, die ich später ebenfalls zu einem Gespräch treffen werde. Sabine flüstert beinahe, als sie fortfährt zu erzählen.
»Ja«, sagt sie mit gebrochener Stimme. Ihre Schultern zucken kurz hoch und fallen dann umso tiefer, »wie ein anderes Kind dann einfach untergeht …«
Sie schüttelt den Kopf darüber. Ihre Tochter Nora ist fünf Jahre älter als David. Ob Nora mit zu den Besuchen kam? »Ich weiß noch nicht einmal das«, sagt Sabine. Nora lief nebenher. Ein Umstand, über den die Mutter heute trauert. Sie trauert um die Jahre mit ihrer Tochter, die sie nicht hatte. Jahre, in denen sie sich für ihren Sohn aufopferte – und die Tochter übersah. Weil diese funktionierte. Nicht meckerte, nicht aufbegehrte. Vielleicht auch deswegen will sie unbedingt mit mir sprechen, sie will wiedergutmachen und das Gleiche in anderen Familien vermieden wissen.
»Die vergessenen Angehörigen« nennen Wissenschaftler die Geschwister von psychisch Erkrankten. Kein Fachbuch spricht explizit und ergiebig über sie, nur eine Handvoll deutschsprachiger Forschungstexte existieren zu ihnen. Kaum einer forscht dazu, was ihre Sorgen und Bedürfnisse sind. Wenn doch, dann sind es meist selbst Geschwister, die versuchen, sich und Gleichgesinnten über Studien Gehör zu verschaffen.
Aber auch die Eltern erblinden partiell, wenn eines ihrer Kinder erkrankt. Sie sehen ihre gesunden Kinder nicht mehr. Und das wiegt mitunter für die Geschwister am schwersten. Eine der ersten und wenigen Forschungsarbeiten zum Befinden von Geschwistern psychisch Erkrankter in Deutschland trägt den treffenden Titel Außen vor und doch mitten drin. Sie bespricht, wie Geschwister psychisch Erkrankter ihre Rolle in der Familie häufig erleben. Darin mahnen die Psychologen Rita Schmid und Reinhard Peukert sowie der Mediziner Hermann Spießl zum Hinsehen. Erfahre ein Kind, dessen Geschwister psychisch erkrankt ist, nicht die nötige altersentsprechende Unterstützung, etwa weil die Eltern in hohem Maße durch das erkrankte Kind beansprucht werden, können den Geschwistern emotionale Belastungen erwachsen, die sie nicht selten das gesamte weitere Leben begleiten.
Unbestritten ist, dass Eltern sich vor allem in akuten Zeiten, also dann, wenn die Erkrankung das erste Mal Raum greift oder erneut aufflammt, oftmals dem erkrankten Kind mehr zuwenden als den gesunden Kindern. Nachvollziehbar. Für eine Übersichtsarbeit fanden Spießl, Schmid und Clemens Cording allerdings keine Studien, die sich dieser speziellen Familiendynamik angenommen haben. Untersuchungen mit Geschwistern von körperlich chronisch kranken Kindern ergaben jedoch, dass sich in solchen Konstellationen schnell eine Konkurrenz zwischen den Geschwistern um die Aufmerksamkeit und Zuwendung der Eltern entwickeln kann, die von Neid und Ärger erfüllt ist und mitunter auch in aggressiven Ausbrüchen oder viel Widerstand gegen die Eltern münden kann.
Reinhard Peukert beobachtet wiederum, dass die Geschwister von psychisch Erkrankten sich vor allem zurückziehen, sich kleinmachen, um die Familie nicht noch weiter zu belasten. Er ist Professor für Sozialmedizin im Ruhestand und selbst betroffenes Geschwister. Sein Bruder Ingo hatte Schizophrenie. Jahrzehntelang hat Peukert ihm zur Seite gestanden und ist einer der Experten, der versucht, den Geschwistern in Forschung und Praxis Aufmerksamkeit zu verschaffen. Für seine unveröffentlichte Monografie Wie geht es denn den Schwestern und Brüdern? hat er seine Erfahrungen und Erkenntnisse aus dreißig Jahren Forschung und Gesprächen mit Geschwistern zusammengetragen. Sein Fazit: »Viele, nahezu alle Mitgeschwister berichten, von ihren Eltern eher übersehen worden zu sein.« Vor allem für jene, bei denen der Beginn der Erkrankung in der Kindheit liegt, sei das ein kaum zu ertragender Zustand. »Sie erleben neben positiven gemeinsamen Situationen vielfältige Belastungen, über die sie häufig mit ihren Freunden nicht reden können – und ihre Eltern als die natürlichen Gesprächspartner, als die natürlichen ›Erklärer der Welt‹ und die allzeit verfügbaren ›Tröster‹ fallen aus.«
Das Übersehenwerden ist jedoch nicht ausschließlich ein Phänomen der Kindheit und Jugend. Erkranken die Kinder dauerhaft psychisch, und sei es erst im jungen Erwachsenenalter, erliegen die Eltern ebenso dieser Sehstörung. Ihre gesunden Kinder fallen plötzlich aus dem Sichtfeld. Wie etwa bei Doreens Familie. Sie ist fünfundzwanzig Jahre alt, als sie im Rahmen einer Forschungsarbeit der Hochschule München über ihre zwei Jahre ältere Schwester berichtet. Wenn sie mit ihren Eltern telefoniert, dann gibt es nur ein Thema: »Da ist nur noch meine Schwester. Da ist nur noch die Krankheit, die Genesung, die Stabilisierung.«
Die junge Frau hat festgestellt: »Wenn bei dir alles läuft, dann kriegst du halt keine Aufmerksamkeit mehr.«
»Begrenzte Ressourcen« führen Wissenschaftler als Erklärung für den blinden Fleck der Eltern an. Wenn Mutter und Vater ihren Blick auf ein Kind richten, verlieren sie automatisch das andere aus dem Fokus.
»Ein bekanntes Experiment verdeutlicht, wie leicht wir Dinge und sogar Menschen übersehen können«, sagt der Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche Hendrik Strumpf aus Berlin. Bei dem Versuch wird den Teilnehmern ein Video vorgespielt. Darin stehen ein paar junge Menschen im Kreis und werfen einen Basketball schnell hin und her. Die Aufgabe für die Zuschauer: Zählen, wie oft der Ball geworfen wird. Nach dem Film fragt der Studienleiter erst nach der Anzahl der Würfe – und dann, wer den Gorilla gesehen hat. In einem Raum mit hundert Zuschauern hebt bei der zweiten Frage etwa die Hälfte der Leute die Hand. Alle anderen schauen ungläubig. Dann sehen sie das Video ein zweites Mal. Mitten im Film läuft ein Mensch im Gorillakostüm durch den Kreis. »Doch weil alle getreu der Aufgabe auf den Basketball geachtet haben, haben viele den scheinbar unübersehbaren Gorilla nicht erblickt«, sagt Strumpf.
So sei es auch mit den Eltern von erkrankten Kindern: Sie sehen das hilfsbedürftige Kind, sein Leid, seine Probleme und geben alles, um ihm Gutes zu tun. Dabei läuft ihr vermeintlich gesundes Kind völlig ungesehen durch das Bild. Selbst wenn es im Gorillakostüm um Aufmerksamkeit heischen würde, es würde von vielen der Eltern nicht bemerkt.
Jetzt ließen sich Theorien spinnen, in welchen Konstellationen Eltern diesen blinden Fleck entwickeln. Hängt es mit der Beziehung zwischen Kind und Eltern zusammen, oder sind es persönliche Eigenschaften, die es den Erwachsenen nicht ermöglichen, mehrere Blickwinkel einzunehmen und das gesamte Bild zu erfassen? Erforscht hat das niemand und auch aus den Gesprächen ergibt sich darauf keine Antwort.
Mit dem Bildungsstand eines Elternhauses hat es zumindest nichts zu tun. Das erfahre ich, als ich Daniela treffe. Sie und ihre Schwester wuchsen gutbürgerlich auf. Der Vater war Architekt mit eigenem Büro in Hamburg und ausreichend Aufträgen, die Mutter Französischlehrerin an einer Privatschule in einem betuchten Stadtteil. Eine gut situierte Familie, die von einer schweren Erkrankung erschüttert werden wird.
Wenn Daniela auf ihre Kindheit und Jugend zurückblickt, in eine Zeit, als schon die ersten Krankheitsanzeichen bei ihrer Schwester aufblitzten, wird ihr heute klar: Ihre Schwester hat von Beginn an mehr Raum eingenommen als sie selbst. Die vier Jahre ältere Kathrin begehrt in ihrer Pubertät mächtig auf. Es sind die Siebzigerjahre, die Hierarchien zwischen Eltern und Kindern sind sehr starr gesteckt. Lautstark verkündet Kathrin dennoch, wenn ihr das Essen der Mutter »scheiße« schmeckt. Schreiend rannten die Mutter und sie dann um den Mittagstisch.
Daniela verlässt in solchen Momenten auf leisen Füßen den Tisch und versteckt sich weinend in ihrem Zimmer. Selten ist das nicht. Vielleicht auch deswegen verbringt Daniela die meiste Freizeit außer Haus mit Freundinnen.
Als Daniela dreizehn Jahre alt ist, rennt ihre große Schwester von zu Hause weg. Die Mutter ist außer sich. Nach zehn Tagen kommt die siebzehnjährige Kathrin wieder. Sie ist mit dem Zug nach Paris gefahren und wollte sich dort als Clochard, als Stadtstreicherin, durchschlagen. Sie übernachtet in der anderen Stadt in einem Obdachlosenheim. Dort schlägt sie auf dem Boden der Realität auf und kehrt zurück nach Hamburg. Auf der Zugfahrt wird sie sexuell belästigt. Aber als Clochard, sagt sie ihrer Schwester, müsse es ihr ja egal sein, ob sie vergewaltigt würde.
Heute ist sich Daniela sicher, dass all dies, das Weglaufen, dieser Wunsch, ohne Zuhause zu sein, die Gleichgültigkeit gegenüber einer Vergewaltigung, die ersten Anzeichen dafür waren, dass ihre Schwester in eine psychische Erkrankung glitt.
Damals erschien es ihr einfach nur befremdlich.
Die Hinweise auf eine Erkrankung verdichten sich mit jedem Jahr. Ein Lebensgefährte von Kathrin berichtet Daniela ein paar Jahre später auf einer Geburtstagsfeier von Kathrins krankhafter Eifersucht. Sie unterstellt ihm, er hätte ein Verhältnis mit einem guten Freund, mit dem er öfter an der Alster entlangspaziert. Weil er an dem Nachmittag der Feier auch wieder zu einem Spaziergang verabredet ist, legt sich Kathrin kurzerhand auf die Kühlerhaube seines Autos – und lässt ihn nicht wegfahren. Daniela muss zu Hilfe eilen.
Mit siebenundzwanzig Jahren ist Kathrin der Welt schließlich so stark entrückt, dass sie das erste Mal in eine Klinik kommt. Zuvor schlägt sie bei der Mutter daheim alles kurz und klein. Wirft Billardkugeln in Glasscheiben und eine Stehlampe um, die selbst der Vater kaum gehoben bekam.
Kathrin hat eine Psychose. Doch Daniela geht es auch nicht gut. Sie erleidet kurz zuvor bei einem Unfall einen Trümmerbruch am Knie und geht monatelang auf Krücken, hat zwei Operationen zu überstehen und Angst, nicht wieder normal gehen zu können.
Mehr noch: Einige Wochen nachdem die Schwester in die Psychiatrie kommt, nimmt sich Danielas Lebensgefährte das Leben. In der Zeit entwickelt Daniela Schwindelanfälle, hat immer wieder das Gefühl, einen Herzinfarkt zu erleiden, und panische Angst davor einzuschlafen. Es ist zu viel. »Mir ging es sehr schlecht. Aber ich hatte in meinem Leben keinen Platz. Der Suizid meines Freundes hatte keinen Platz. Es ging immer nur um meine Schwester«, sagt Daniela.
Zwischen dem fünfundzwanzigsten und sechsunddreißigsten Lebensjahr richtet sich Danielas Leben nur danach, wie es Kathrin geht. Von der Mutter erhält sie kaum Rückhalt. Der Vater war zwischenzeitig bereits verstorben, also ruft die Mutter Daniela an, wenn es Probleme mit der Schwester gibt. Sie muss dann hinkommen und helfen oder sich die emotionalen Berichte am Telefon anhören.
Dass sie keinen Raum für sich und ihr Leben hat, schlägt sich damals bis in ihre Träume nieder. Einer ist ihr noch besonders präsent: Sie wohnt darin in einem Haus, in der Mitte eines Flusses, erhöht auf einem Baum. Immer wenn sie in ein anderes Zimmer will, kommt sie dort nicht hinein. Es ist schon voll mit anderen Menschen oder die Tür geht nicht auf. Schließlich findet Daniela ein Badezimmer und will hinein, nur allein sein. Doch sie kommt auch hier nicht zur Ruhe. Sie kann nicht abschließen. Ihre Familie läuft unentwegt durchs Bad. Nicht einmal auf dem stillen Örtchen erhält sie den Raum, den sie braucht. Es hat Jahre gedauert und psychologischer Unterstützung bedurft, damit Daniela sich diesen eigenen Raum schaffen konnte. Noch länger hat es gedauert, der Mutter sagen zu können, wie erdrückend das Leben für sie als Schwester einer psychisch Erkrankten ist. Und wie wenig sie sich und ihre Bedürfnisse gesehen fühlte.
Friederike Samstag hat bereits früh den Mut gefunden, bei ihrer Mutter anzusprechen, wie zweitrangig sie sich fühlt. Sie findet drastische Worte dafür, was sie erlebt und empfunden hat, als ihr Bruder erkrankte und die Welt begann, sich hauptsächlich um ihn zu drehen. Im Buch Wahnsinn um drei Ecken verarbeitet sie gemeinsam mit ihrer Mutter die Erkrankung des Bruders. Sie setzen sich mit sich selbst und ihrer Beziehung auseinander. Ihre Worte sind mitunter bedrückend, aber zu jeder Zeit offen und ungefiltert.
»Manchmal fühlt es sich so an, als habe mein Bruder mir die Mutter weggenommen, als er krank wurde«, schreibt die Tochter. Ihren Ärger darüber kann sie aber nicht gegen ihn richten, er ist schließlich krank. Und auch bei der Mutter weiß sie: Sie strengt sich schon genug an.
Friederike wird zur Nebensache im Familiengefüge. »Ich konnte dich gar nicht mehr sehen«, habe die Mutter mal zu ihr gesagt. »Als Tochter hatte ich für dich keinen Platz mehr. Ich wollte dich am liebsten nur noch als verständnisvolle Beraterin an meiner Seite haben.«
Ich finde diese Aussage schon drastisch und kann es mir nur verletzend vorstellen, dies von der eigenen Mutter gesagt zu bekommen. Doch wie Friederike es selbst empfunden hat, ist eine deutliche Steigerung dessen: »Du wolltest mich gar nicht mehr in deinem Leben haben. Du wolltest mit meinem Bruder alleine sein. Du wolltest, du musstest dich nur um ihn kümmern. Es gab keinen Platz für andere Menschen mehr. Auch ich sollte weg sein.«
Hilflosigkeit, Verzweiflung, Angst: Friederikes Kummer schlägt sich in Essstörungen nieder. Zwei Kinder drohen im Fluss zu ertrinken, habe sie mal zu ihrer Mutter gesagt. »Du hast dich für ihn entschieden. Deine Kraft reichte für zwei nicht aus.«