Reese-Schäfer, Walter

Kommunitarismus

 

 

 

 

Impressum

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Copyright © 2001. Campus Verlag GmbH

E-Book ISBN: 978-3-593-40019-8

|2|Campus Einführungen

Herausgegeben von

Thorsten Bonacker (Marburg)

Hans-Martin Lohmann (Heidelberg)

 

Walter Reese-Schäfer, Universität Halle-Wittenberg, ist Verfasser der bei Campus erschienen Einführungen »Jürgen Habermas« (2001) und »Richard Rorty« (1991). Außerdem sind von ihm erschienen »Grenzgötter der Moral. Der neuere europäisch-amerikanische Diskurs zur politischen Ethik« (1997) sowie »Politische Theorie heute. Neue Tendenzen und Entwicklungen« (2000).

 

 

 

|7|Einleitung

Das kommunitarische Projekt ist der Versuch einer Wiederbelebung von Gemeinschaftsdenken unter den Bedingungen postmoderner Informations- und Dienstleistungsgesellschaften. Diese Kurzdefinition beleuchtet schlaglichtartig die Ambivalenz kommunitarischen Denkens. Vormoderne Formen von Gemeinschaftlichkeit boten den Menschen traditionaler Gesellschaften die Möglichkeit, sich heimatlich zu fühlen. Die Auflösung dieser Bindungen im Prozess der Modernisierung provozierte moderne, durchstrukturierte Gemeinschaftsideologien wie zum Beispiel den Sozialismus des 19. Jahrhunderts. Heute kann Gemeinschaftlichkeit als internes Korrektiv liberaler Gesellschaften auftreten, jedoch auch als paternalistisches Relikt der Prämoderne oder als neoautoritärer Fundamentalismus. Die politische Diskussion über den Kommunitarismus bewegt sich im Spannungsraum dieser Alternativen.

Diese Ambivalenz ist unvermeidlich, weil sie in der positiven Verwendung des Gemeinschaftsbegriffs schon von vornherein angelegt ist. In Deutschland allerdings ist es besonders schwierig, die mit einer derartigen Ambivalenz verbundenen Spannungen zu ertragen. Eine positive Verwendung des Gemeinschaftsbegriffs stößt hier von vornherein auf sehr ernst zu nehmende Einwände. Selbst wenn man nicht gleich an die nationalsozialistische Volksgemeinschaft oder Walter Ulbrichts |8|sozialistische Menschengemeinschaft denkt, so ist doch in der theoretischen und wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesem Thema immer wieder der Weg von der traditionalen Gemeinschaft zur modernen Gesellschaft, von der Einbindung der Menschen in hergebrachte Strukturen zu ihrer Emanzipation als Individuum nachgezeichnet worden. Die Soziologen beklagten vielleicht den Verlust der Gemeinschaft, waren sich aber von dem Sozialdemokraten Ferdinand Tönnies bis zum konservativen Revolutionär Hans Freyer darin einig, dass dieser Verlust nun einmal unvermeidlich sei. In Amerika denkt man in diesem Punkt anders. Diese Einwanderungsgesellschaft hat die Erfahrung gemacht, dass die entwurzelten Auswanderer aus der Alten Welt nach dem Verlust der meisten ihrer überkommenen Bindungen in den USA neue Formen von Gemeinschaften bildeten. Bis weit in die dreißiger Jahre bedeutete die Einwanderung nicht unbedingt das Aufgehen des Einzelnen in einer anonymen Massengesellschaft, sondern die Bildung neuer Gemeinschaften, die oft sogar mehr Elemente von Gleichberechtigung enthielten als in der Alten Welt.1

Traditionsgemeinschaften wurden also durch Gemeinschaften des Willens ersetzt, die die Bedürfnisse nach enger sozialer Kommunikation, nach Selbstverwaltung und Mitgestaltungsmöglichkeiten in einem überschaubaren Rahmen befriedigen konnten. Die hierzu erforderliche Mentalität der Selbstorganisation, die nicht auf staatliche Anstöße wartet, ist in den USA bis heute lebendig geblieben. Das ist der Grund dafür, dass die kommunitarischen Ideen zur Zeit von dort mit eben diesen Formen der Selbstorganisation vorangetrieben und verbreitet werden.

|9|1990 hat sich in den USA so etwas wie eine kommunitarische Bewegung gebildet. Ihr Mentor ist Amitai Etzioni, der mit außerordentlich begrenzten finanziellen Mitteln inzwischen einen organisatorischen Apparat von beeindruckender Öffentlichkeitswirksamkeit aufgebaut hat. Dazu gehört ein mit Freiwilligen und einer Teilzeitmitarbeiterin besetztes Büro in Washington, das ein Netz von Multiplikatoren mit regelmäßigen Rundbriefen und Informationen versorgt und in wichtigen Städten Konferenzen organisiert, die durchweg mit außerordentlich prominenten Referenten besetzt sind. Die kommunitarische Bewegung ist dynamisch und weiter im Aufschwung begriffen.

In den USA und Großbritannien hatte der Kommunitarismus in den neunziger Jahren eine explizit politische Funktion gehabt bei den Überlegungen innerhalb der Demokratischen Partei und der Labour Party Tony Blairs, wie man die Mittelschichten und Facharbeiter, die sich für Ronald Reagan und Margaret Thatcher entschieden hatten, zurückgewinnen könnte. Eine Basisorganisation der Kommunitarier im eigentlichen Sinne hat es deshalb nie gegeben, wohl aber ein aktives Netzwerk akademisch hochrangiger Intellektueller unter der charismatischen Führung von Amitai Etzioni.

Neben Anthony Giddens’ Programm des Dritten Weges war der kommunitarisch inspirierte Ansatz der Hauptideengeber dessen, was seitdem als »Neue Mitte« auftritt. Der Höhepunkt dieser weltweiten gemeinschaftsorientierten Reformkonzeption war wohl im Juli 2000 mit jenem weltweiten Treffen von 14 linken und linksliberalen Regierungschefs in Berlin erreicht, als es um Ansätze neuen Regierens und der bürger- und dienstleistungsorientierten Reform des Staatsapparates ging. Die von ihnen verabschiedete Erklärung »Modernes Regieren für das 21. Jahrhundert« kann als charakteristisches kommunitarisches Dokument angesehen werden.

Etzioni sympathisierte mit diesen sozialdemokratischen und |10|linksliberalen Initiativen. Ihm war allerdings immer klar, dass der kommunitarische Denkansatz eher eine Öffnung in Richtung »Jenseits von links und rechts« bedeutet. Die Überbetonung des Staates auf der Linken, aber auch die des Marktes auf der Rechten sollte zurückgedrängt werden zugunsten einer Stärkung des Dritten Sektors zivilgesellschaftlicher Elemente: Nichtregierungsorganisationen, Assoziationen, Verbände, Gewerkschaften, Religionsgemeinschaften und alle Formen von Vereinen. Eine zu enge Bindung an nur eine politische Richtung war schon deshalb abzulehnen, weil es sich nicht um ein kurzlebiges und nur für wenige Wahlkämpfe geeignetes Konzept von der Art der »Neuen Mitte« handeln sollte, sondern weil das kommunitarische Denken auf ein tieferliegendes gesellschaftliches Grundbedürfnis antworten sollte. Die Beschleunigung von Modernisierungsprozessen durch den Globalisierungsdruck, die Krise traditioneller Moralvorstellungen, aber auch die Selbstkritik, in welche die erneuerte Moral der sechziger und siebziger Jahre geraten war, mögen als stichwortartige Hinweise auf diese Grundlagen ausreichen. Die Antworten, die in der Erneuerung des öffentlichen Raums in den Städten, ihrer Wiedergewinnung für die Bürger gefunden wurden, konnten genauso von linksliberalen wie von konservativen Bürgermeistern zu ihrem Programm gemacht werden.

Nunmehr hat das konservative Denken unter der Bedingung knapper Mehrheiten sich diesem Konzept der sich bürgerlich selbstorganisierenden Gesellschaft angenähert und zumindest ideologisch eine gewisse Distanz vom kalten Neoliberalismus gewonnen, mit dem sich derzeit offenbar keine Wahlen gewinnen lassen. Im Wahlkampf hatte George W. Bush einen »Compassionate Conservatism« vertreten, um anzudeuten, dass der reine Marktliberalismus durch eine Konzeption neuen Mitgefühls und neuer Verantwortung für die Ärmeren und die Einwanderer ergänzt werden müsse. Nach seiner Wahl hat Bush dann zusätzlich weitere ausgewiesene Anhänger von Civil-Society-|11|Konzepten in sein Team genommen. Seine Inaugural Adress vom 20. Januar 2001 griff auf eine ganze Reihe von kommunitarischen Formeln wie civility, responsibility und community zurück. Amitai Etzioni ging sogar so weit, diese Ansprache als kommunitarischen Text zu bezeichnen.2

Die kommunitarische Idee richtete sich von Anfang an sowohl an Linksliberale als auch an Konservative. Aber erst mit der Übernahme ihrer Rhetorik durch George W. Bush wurde das auch praktisch-politisch dokumentiert, während es bis dahin so ausgesehen hatte, als ob die Democratic Party, New Labour und die übrigen sozialdemokratischen Parteien von Brasilien bis Deutschland hier eine Sprache gefunden hätten, um ihre Ausstrahlung in die bürgerliche Mitte hinein glaubhaft zu vermitteln. In Deutschland war das kommunitarische Denken von Anfang an parteiübergreifend rezipiert worden, und hatte Anhänger sowohl in der SPD (Rudolf Scharping), bei Bündnis 90/Die Grünen (Joschka Fischer), als auch bei der CDU (Kurt Biedenkopf) gefunden. Etzioni hat immer betont, dass dies für die Breitenwirkung seiner Ideen grundlegend sei.3

In Deutschland ist mit geringen finanziellen Mitteln, aber hoher kommunikativer Effizienz ein parteiunabhängiges und allen Vereinnahmungsversuchen fernstehendes »deutschsprachiges Kommunitariernetzwerk« gegründet worden, das Hans-Ulrich Nübel in Freiburg verwaltet.4 Auf die entsprechenden |12|Homepages wird im Anhang dieses Buches hingewiesen. In enger Zusammenarbeit mit dem weltweiten amerikanischen Netzwerk wird hier systematisch ein deutschsprachiges Angebot von Informationspapieren, Literatur- und Veranstaltungshinweisen geboten sowie eine Kontaktaufnahme mit Referenten organisiert. Das deutschsprachige Netzwerk soll der Entwicklung kommunitarischer Theorie und Praxis dienen, die Angebote des Communitarian Network in deutscher Sprache vertreten und die Ergebnisse des deutschsprachigen Diskurses in andere Sprachräume vermitteln. Inhaltlich ist das Ziel eine Balance zwischen Autonomie und Ordnung, d. h. ein dritter Weg zwischen Individualismus und Kollektivismus. Von den üblichen Denkschablonen der rechts-links-Differenzierung versucht man sich hier nach Möglichkeit zu befreien und seine Aufmerksamkeit auf die Gestaltung der »Ich-Wir-Beziehungen« sowie der Interaktion zwischen verschiedenen Communities durch internationale und interkulturelle moralische Dialoge z.B. über Menschenrechtsfragen zu richten.

Diese Initiativen stehen in Deutschland immer noch sehr am Anfang. Deshalb lassen sich über die möglichen gesellschaftlichen und politischen Wirkungsperspektiven im Grunde noch keine Aussagen machen. Es handelt sich immer noch um ein kleines Netzwerk mit wenigen Mitgliedern. Ziel ist ja auch gar nicht primär die Mitgliedergewinnung, sondern vielmehr die Ideenverbreitung und die Kommunitarisierung öffentlicher Diskurse. In der Wissenschaft hat der Einfluss des kommunitarischen Denkens interessante Perspektiven eröffnet. Der Heidelberger Staatsrechtler Winfried Brugger hat z. B. dargelegt, dass der Kommunitarismus als Verfassungstheorie des Grundgesetzes betrachtet werden könne. Das Bundesverfassungsgericht hat von Anfang an ein ausgeprägt kommunitarisches Menschenbild vertreten, am prägnantesten in folgender Formulierung: »Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz |13|hat vielmehr die Spannung Individuum-Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne deren Eigenwert anzutasten.«5

Zum Aufbau des Bandes: Zum Zwecke der Exposition eignet sich am besten eine Darstellung der minutiösen Kritik von Michael Sandel an John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit. Diese Kritik war der Auftakt der kommunitarischen Diskussion. In ihr kommen die Grundthemen, besonders das Problem des atomisierten Individuums zur Sprache. Da Michael Sandel zugleich einer der politisch reflektiertesten Kommunitarier ist, ist an Hand seiner Arbeiten auch schon eine erste Einordnung dieses Denkens in den Zusammenhang der gegenwärtigen intellektuellen Szene in den USA möglich.

Bei Charles Taylor erschließt sich dann der philosophische Hintergrund dieser Kritik. Bei Alasdair MacIntyre wird der Schritt in eine melancholisch-reflexive Philosophie hinein getan, die auf politische Überlegungen fast völlig verzichtet und dadurch auf eine außerordentlich unbestimmte Art zu schillern beginnt. Wenn einer der Kommunitarier zu Recht als politischer Romantiker mit einer Sehnsucht nach dem Mittelalter bezeichnet werden könnte, dann ist es MacIntyre. Der Bereich der Entwicklungspolitik muss kommunitarisches Denken in besonderem Maße herausfordern. Wie eine aristotelische Konzeption in diesem Bereich aussehen könnte, hat die klassische Philologin Martha Nussbaum als Konsequenz aus ihrer Tätigkeit als UNO-Beraterin dargelegt.

Der wohl wichtigste Kommunitarier ist Michael Walzer. Seine Sphären der Gerechtigkeit sind ein praxis- und erfahrungsgesättigter Entwurf, der ohne jede Polemik, einfach durch das Beispiel, die ganze Abstraktheit der entscheidungstheoretischen |14|Überlegungen in Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit deutlich werden lässt.

Mit Robert Putnams Bowling Alone wird dann ein Blick geworfen auf den soziologischen Tatsachenboden der kommunitarischen Argumentation. Bei Amitai Etzioni schließlich finden wir einen theoretisch fundierten Organisationsansatz kommunitarisch-intellektueller Einflussnahme in Form einer netzwerkartigen Nichtregierungsorganisation. Vor allem aber zeigt sich bei Etzioni eine interessante Wendung. Das kommunitarische Denken wurde nicht dogmatisch verbreitet, sondern veränderte sich selbst im Prozess der Auseinandersetzung mit den Gegeneinwänden aus verschiedenen kulturellen Traditionen in Asien und Europa zu einem kommunitarischen Liberalismus, sodass die Denkbewegung von der theoretischen Liberalismuskritik Michael Sandels und Charles Taylors auf dem Weg über einen weltweiten stärker praxisorientierten Diskussionsprozess zu einer neuen Synthese geführt hat.