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Gebauer, Gunter
Poetik des Fußballs
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E-Book ISBN: 978-3-593-40211-6
Fußball stellt die Gesellschaft, in der dieser gespielt wird, unter einem ungewöhnlichen Blickwinkel dar. In seinen Spielen geht es um Macht und Zufall, Gewalt und Ohnmacht, Regelfolgen und Regelbrechen, um die Heroisierung des Subjekts und das Wiedererkennen der eigenen nationalen Identität, um die neue Rolle des Heiligen in der Gesellschaft und die Geschlechterbeziehungen. Fußball ist mit allen seinen Fasern in die Gegenwartskultur und in das Leben seiner Liebhaber eingewoben. Seine genaue Betrachtung lässt Aspekte erkennen, die sonst entweder unbemerkt oder bedeutungslos bleiben würden.
Alle Spieler werden gleichermaßen von den Leistungen der Hände und der Sprache ausgeschlossen. Das Geschehen im Fußball spielt sich am Boden ab, nicht in Augenhöhe; der Kopf dient zum Stoßen. Auf den Fuß werden Aufgaben der Gewalt übertragen; im Spiel werden sie zu einer Kunstfertigkeit veredelt. Der Fuß wird eingesetzt, um zu dominieren, aber der Ball entzieht sich der Machtausübung. Im Fußball braucht man, neben der Bereitschaft zur Gewalt, eine Intuition für den Lauf des Balls und das Spiel.
Die Spieler dürfen gegenüber dem Ball keinen Stolz haben, sondern müssen ihn hinnehmen wie ein Schicksal. Dennoch ist er nicht übermächtig: Es gibt herausragende Spieler, die ihn bezwingen können. Dies ist ein Ideal der Moderne: Alles wird zwischen den Menschen entschieden; man kann das Schicksal meistern. Der Spielraum, den sich ein Spieler verschafft, gibt diesem Größe. Darin liegt etwas Aristokratisches, aber auch etwas Verschlagenes. Der Fußballheld ist ein gemischter Charakter, zusammengesetzt aus dem Hohen und dem Niedrigen, ein zweideutiger Held, eine Kippfigur.
Fußball lebt vom Heldentum. Die Frage, ob dieses echt oder angemaßt ist, geht an der Sache vorbei. Sie verkennt, dass ein Held keine objektive Wirklichkeit besitzt, sondern eine Figur ist, die Werte, Stimmungen, Gefühle |8|und den Glauben einer geschichtlichen Epoche in ihrem Handeln bündelt. Ein Held ist, wer Zeit in Taten fasst. Das Einmalige, das ihn auszeichnet, kommt im Vergehen der Zeit an die Oberfläche, wie aus den Strudeln eines sich entfernenden Schiffs. Seine Bedeutung entsteht aus der Erinnerung seiner Getreuen; sie ist von Sehnsucht nach Größe geprägt, die diese in ihrer Gegenwart vermissen. Ihre Erzählungen von der Poesie des Fußballs haben den Ton der Melancholie.
Im Fußball findet man etwas, was der Welt verloren gegangen ist (wenn sie dieses jemals besessen haben sollte) – eine Herrschaft, die sich nicht nur auf Macht, sondern auch auf Ästhetik gründet. Sie entsteht, wenn das Spiel mit dem rohen Fuß in einem glücklichen Augenblick mit Rhythmus und Grazie zusammentrifft. Eine solche Vereinigung ist ein unwahrscheinliches Ereignis. Es sind so viele Widrigkeiten zu überwinden: die Tücke des Balls, der Widerstand der Gegner, die Enge des Platzes, die Wortlosigkeit der Verständigung. Wenn der unwahrscheinliche Augenblick mit einem Schlag doch in die Wirklichkeit eintritt, wird er für alle Beteiligten zur Ursache unbeschreiblicher Empfindungen. Wie immer man diese nennt, ist er ein Moment erlebter Poesie. Anders als in der Kunst, kann er auch Quelle von Unglück sein, wenn er nämlich von der gegnerischen Mannschaft hervorgebracht wird.
Die Poesie des Fußballs entsteht nicht aus einem freien Spiel der Einbildungskraft, sondern ist an einen Standpunkt gebunden. Sie ist parteiisch und wirkt unmittelbar auf ihre Liebhaber. Sie beflügelt deren Fähigkeit, glücklich zu sein, und bestärkt ihre Neigung, sich unglücklich zu machen. Sie greift in ihr Leben ein, wenn sie fähig sind, sich in ein Spiel zu verlieren.
Auch wenn Fußball von Menschen gespielt wird, entsteht seine Poesie nicht durch menschliche Handlungen allein. In die unvergesslichen Spiele mischt sich etwas ein, was über den Menschen hinausgeht. Der Zufall lässt unfassbare Dinge entstehen: übermenschliches Gelingen, aber auch unbegreifliches Versagen. Eine geheimnisvolle Dramaturgie kann einen Spielverlauf hervorbringen, der die menschliche Phantasie übersteigt. Fußball ist freilich nicht mit den Schönen Künsten verwandt. Er ist ein rohes Geschehen und vollzieht sich im Augenblick, wie der Einschlag eines Meteoriten. Für die Zuschauer besitzt er eine Poesie, die in der Erinnerung fortlebt und sich mit den Ereignissen ihres Lebens verbindet. Daher erhalten die Erzählungen von poetischen Momenten des Fußballs fast immer etwas sehr Persönliches, was unweigerlich die Gefahr des Schwelgens in Lebenserinnerungen mit sich bringt. Um ein solches Erzählen soll es hier nicht |9|gehen (nur am Ende des Bandes wird die Verbindung von Fußball- und Politikstilen am Fall der eigenen Erinnerung exemplarisch dargestellt).
Das Ziel dieses Buchs ist allgemeiner. Es soll die Elemente zeigen, aus denen das Schauspiel des Fußballs heute entsteht. Unter dem Gesichtspunkt, der hier gewählt wird, sind diese Bestandteile poetischer Natur; zugleich sind sie tief in die Entwicklungen unserer Zeit eingewoben, so dass sie diese nicht nur reflektieren, sondern auch interpretieren. Eine Poetik des Fußballs verschließt daher nicht in schöngeistiger Attitüde die Augen vor dem Hässlichen, Gemeinen und moralisch Krummen des Spiels, sondern erkennt darin eine Quelle der Lust, diesem zuzusehen.
Im Drama des Fußballs findet man Elemente, die wir von anderen Dramen kennen, von den Dramen des Theaters, des Films, der Politik. Anders als in diesen entsteht seine Poesie aus einem gemeinen Spiel, das sich von der hohen Kultur abkehrt. Die Abwehr gegen den hohen Ton, den guten Geschmack, die vergeistigte Haltung lässt sich nicht mit Begriffen beschreiben, die der Hochkultur entnommen werden. Wenn man versucht, den eigentümlichen Zauber des Fußballs in Worte zu fassen, beginnt man am besten mit den Besonderheiten, die den Fußball von jedem anderen Drama unterscheiden: mit dem körperlichen Geschehen der handelnden Personen (Kapitel 1). Hier erschließt sich die Poetik des Fußballs in einer Sichtweise, die das Spiel wieder so fremd erscheinen läßt, wie es im Kontext unserer Kultur ist. Tatsächlich wirkt das Geschehen auf dem Rasen, auf den Tribünen und in den Medien vor dem Hintergrund unserer kulturellen und politischen Institutionen wie ein Fremdkörper. Es ist eine eigenartige Welt inmitten unseres Alltags, die mit den Werten anderer Bereiche unserer Kultur im Konflikt steht, mit der Religion, Bildung, Gerechtigkeit und mit dem sozialen Frieden. Aber in allen diesen Feldern, denen der Fußball gefährlich werden kann, wird ständig versucht, diesen für sich zu nutzen.
Die fremde Welt des Fußballs beginnt zu faszinieren, wenn man in sie eingeführt worden ist. Bei einem Kind oder Jugendlichen geschieht dies, wie in einem Akt der Initiation, durch den Vater, die älteren Brüder oder die Freunde (Kapitel 2). In die Brüderschaften der Initiierten werden seit einiger Zeit auch Mädchen aufgenommen; es gibt zunehmend weibliche Fangruppen. Bei den großen Turnieren der Europa- und Weltmeisterschaft ist der Anteil fußballbegeisterter Frauen kontinuierlich angestiegen und hat inzwischen die Sehbeteiligung der Männer an Übertragungen von Spielen der deutschen Nationalmannschaft erreicht. Was interessiert Frauen und |10|Mädchen an diesem Sport der Männer? Es ist schwierig, auf diese Frage zu antworten (Kapitel 3), ohne sich dem Verdacht auszusetzen, aufgrund der eigenen Geschlechtszugehörigkeit befangen zu sein.
Die Poesie des Fußballs befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu seinem religiösen Gehalt. Fußballfans bilden Gemeinden, denen das Spiel heilig ist und die ihre Lieblingsspieler zu Heiligen verklären (Kapitel 4). Auf den Stadionrängen hat sich eine Religiosität verbreitet, die Elemente der katholischen Liturgie übernommen hat, sich aber gegen die christlichen Werte stellt. Mit der Nähe des Fußballs zur Politik verhält es sich anders. Sowohl Fußball-Liebhaber als auch Politiker suchen im Spiel ihrer Mannschaften ein Fundament und ein Exempel gemeinsamer Werte (Kapitel 5). Von der Politik wird gern auf die Geregeltheit des Fußballspiels hingewiesen: Es gibt Regeln, die angeblich das Spielgeschehen bestimmen, Sanktionen für den Fall von Abweichungen und Schiedsrichter, die die Regeleinhaltung garantieren sollen. Aber damit ist nur die Oberfläche beschrieben. In der Tiefe der Ereignisse versuchen die Spieler mit listenreichen Strategien die Regelauslegung zu ihren Gunsten zu beeinflussen (Kapitel 6).
Fußball ist ein Spiel von Regelbeachtung und Regelverletzung geworden. Die Balance von Ordnung und Bruch mit der Ordnung ist nicht garantiert. Jedes Spiel kann kippen. Von dieser für Gewalt offenen Situation profitieren die Hooligans: Sie machen das Spiel zu einem Schlachtfeld (Kapitel 7). Gegen die zivilisatorischen Wirkungen des Fußballs, der gerade kein Krieg ist, setzen sie den Mythos des Bösen. Sie gefährden die Errungenschaften des Spiels, insofern sie versuchen, seine gewalttätigen Ursprünge wieder zu aktualisieren. Dies ist möglich, weil der Fußball ein kulturelles Gedächtnis ist. Er bewahrt Erinnerungen auf und ruft diese in die Gegenwart – Erinnerung an Gewalt, an die Initiation in Kindheit und Jugend, an bedeutende Spiele und die Politik, die deren Hintergrund bildete, und an jene Helden, die mit unserem Leben verbunden sind.
|13|Ein gemeines Spiel
Nullum enim puto honestum ludum penitus disciplina vacuum.
Ich meine, daß es kein anständiges Spiel gibt, das ganz ohne den Gehalt geistiger Übung ist.
Nikolaus von Kues, De ludo globi (Über das Globusspiel)
Spiele sind kleine Wunder. Ihre staubige Oberfläche verbirgt den Glanz in ihrem Inneren. Je weniger sie ihre Tiefe zu erkennen geben, desto stärker fesseln sie die Spieler. In der Hitze des Spiels wollen diese nur ihre Ziele erreichen, nicht darüber nachdenken, was sie tun. Ein schönes Spiel bestärkt sie darin, sich in ihren Handlungen zu verlieren, die Welt um sie herum zu vergessen. Es hält alle Beteiligten mit ihrer Hingabe an das Spiel gefangen. In der Versessenheit auf das Spiel leben wir eine glückliche Vergessenheit der wichtigen Dinge. Dies ist die Belohnung, die uns ein schönes Spiel bringt: Es gehört nicht in die Ethik, die Lehre des guten Lebens, nicht zum Memento mori. Es fällt aus Heideggers Sorgestruktur heraus – wir denken nicht an unsere letzte Stunde, wenn wir uns dem Ballspiel hingeben. Gerade weil wir in einem Anderswo sind, fühlen wir uns so glücklich im Spiel; niemand sollte uns diesen Moment verderben.
Was wäre über das Fußballspiel noch zu sagen, wenn es uns doch so glücklich macht? Wir brauchen niemanden, der uns erklärt, warum es uns befriedigt, welches seine Geheimnisse sind, die doch jeder intuitiv kennt, der es spielt. Wir brauchen kein Lob einer Sache, die wir mit Leidenschaft betreiben. Wir brauchen niemanden, der uns ein gutes Gewissen verschaffen will, weil er damit so tut, als sollten wir eigentlich ein schlechtes haben. Dieses Buch will niemandem seine Freude am Fußballspiel erklären, diese veredeln oder entschuldigen.
Die wunderbarsten Spiele glänzen hinter ihrer staubigen Oberfläche: Aus gemeinen Aktionen leuchten strahlende Bilder auf. Auf der Oberfläche eines Fußballspiels sehen wir Männer hinter einem Ball herlaufen, treten, schießen, auf einem Rasenplatz mit Toren. Jeder, der sich über die Leidenschaft für den Fußball mokiert, lässt es sich nicht nehmen, mit spitzem Finger auf diese Banalitäten, den Dreck, das Gebrüll, das Hinwerfen zu zeigen. Aber für alle Eingeweihten glänzt hier ein Können, ein Zusammenspiel, eine Virtuosität, ein Heldentum, eine Beherrschung von Kunst und Gegner. Hier tut sich eine Welt auf mit einer Tiefe des Gefühls, des Engagements, der Taten, des Mitteilens, die man keinem Außenstehenden begreiflich machen kann. Entweder jemand hat Zugang zu dieser Welt, |14|oder sie bleibt ihm oder ihr verschlossen. Ihre Tiefe entfaltet sich in einer Dimension, die für Außenstehende unzugänglich ist.
Erfundene Welt
Ein Glanz im Inneren bei einer unscheinbaren Oberfläche ist eine Erscheinung, die das Interesse der Philosophie weckt. Sie gehört in die Domäne der ästhetischen Phänomene. Hier ereignet sich etwas, was wir aus der Dichtung kennen – »Gedichte sind gemalte Fensterscheiben«, lautet eine Zeile von Goethe – wir müssen sie lesen, in uns aufnehmen können, dann entsteht eine Poesie, eine »Verklärung des Gewöhnlichen« (Arthur Danto). Weniger anspruchsvoll ausgedrückt, zündet ein Funken, obwohl niemand weiß, wie der Zündmechanismus gebaut ist, welcher Stoff hier wirksam ist. Man merkt nur an sich selbst, dass es gezündet hat. Alle ästhetischen Phänomene setzen im Betrachter etwas in Bewegung.
Wenn sich die Oberfläche öffnet und hinter den Ereignissen neue, ungeahnte Dinge sichtbar werden, tritt der Moment ein, in dem die Philosophie mitspielen und mitwirken kann, eine bis dahin unerkannte Organisation der Dinge ans Licht zu holen. Sie hat dann die Möglichkeit, auf den Platz zu kommen und philosophisch mit dem Fußball zu spielen, ohne ihn durch Rationalisierung oder Bedeutungsschwere zu verraten. Vielmehr verhilft sie dazu, einen neuen Blickpunkt einzunehmen: Nachdem wir dem Fußballspielen zugesehen und uns von ihm haben gefangen nehmen lassen, platzieren wir uns in dem Raum hinter den Ereignissen und warten auf den Moment, in dem der Glanz aufleuchtet, in dem sich vom Staub eine Poesie absondert, die uns ergreift und eine innere Landschaft erleuchtet, die wir immer schon gesehen haben, ohne sie zu kennen. Von den inneren Bildern des Fußballspiels und von seinem staubigen Äußeren soll das Buch handeln und davon, welchen Ursprung diese haben.
Um diesen Gedanken zu erläutern, suche ich für meinen ersten Schritt Unterstützung bei Nikolaus von Kues, der den schönsten Traktat verfasst hat, der je über Spiele geschrieben wurde: »De ludo globi« von 1463. Der Dialog beginnt, nachdem der Kardinal Nikolaus ein neues Spiel, das Globusspiel, bis zur Ermüdung gespielt hat. Mit Vergnügen lässt er sich von Johannes, Herzog von Bayern, in ein Gespräch verwickeln. Der vom Globusspiel Begeisterte schlüpft, nach dem Spiel, ohne Probleme in die Rolle |15|des Philosophen. Dies fällt ihm leicht, denn das Spiel ist ein Nachdenken wert. Ja, ein gewisser Anteil Denken ist schon in diesem selbst enthalten: Man kann ein »anständiges Spiel« gar nicht ohne »geistige Übung« (disciplina) betreiben; körperliche und geistige Aktivitäten spielen hier zusammen. In diesen ereignet sich »eine Spiegelung hoher Gedanken«, in ipso est alicuius altae speculationis figuratio (S. 3).
Wie kommen die »hohen Gedanken« in ein Spiel, das mit einer Kugel im Sand gespielt wird, wie entsteht sein Glanz im Inneren? »Zuerst wirst du aufmerksam den Globus und seine Bewegung betrachten, weil sie aus der Vernunft hervorgehen. Kein Tier bringt nämlich einen Globus und seine Bewegungen zum Ziel zustande.« Was ist an der Erfindung eines Spiels mit einer Kugel, mit dem Globus und mit Spielern, die sich bewegen, so Großartiges? Es ist als eine Erfindung von Menschen hervorgebracht worden, und die Bewegungen der Spieler gehen aus menschlichem Entschluss hervor. Ein Spiel erfinden und es spielen war im antiken Denken Vorrecht eines Gottes. Bei dem Vorsokratiker Heraklit spielt der Gott wie ein Kind mit der Welt. Ein Spiel erfinden heißt für Heraklits Gott: die Welt erfinden; mit der Welt der Menschen willkürlich verfahren, die Spielsteine umwerfen, sie wieder aufbauen, mutwillig zerstören oder eine Kugel rollen lassen und die Welt in die Hand des Zufalls geben – das Spiel ist sein Werk, in dem er mutwillig schaltet und waltet. Für den Menschen heißt ein Spiel erfinden: den Gott nachahmen, wie ein kleiner Gott werden, wie dieser eine Welt errichten und sie nach eigenem Entwurf gestalten. Erfindungskraft und Freiheit werden hier, im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit, zum ersten Mal in der Geschichte des christlichen Denkens als die wesentlichen Merkmale des Menschen behauptet.
Der Weltentwurf von Menschen ist anders als jener der Götter. Heraklits Gott ist unberechenbar, er ist wie ein Kind – ein Gott darf so sein. Aber in Heraklits Welt gibt es keine Dauer, keine Regeln, die Beständigkeit sichern könnten. Eine solche Welt ist für Menschen unerträglich. Es ist die Welt des Krieges, der ständig alles verändert. Menschen haben eine andere Welt erfunden, eine Welt der Schönheit, der athletischen Wettkämpfe, der Kunst, der olympischen Religion, der Mythen, der Gesetze und der Philosophie. Anders als bei Heraklit herrschen in diesen erfundenen Welten Ordnungen, die durch Regeln hergestellt werden. In die Welt der Spiele wird aufgenommen, was die Menschen am meisten interessiert, was sich an den Extremen ihres Interessenspektrums befindet, am guten und am bösen Pol: auf der einen Seite das Ideale, das in der Welt nicht zu finden ist, das |16|die Menschen als Ideen entwerfen. Auf der anderen Seite der Schmutz der Existenz: Gewalt, Willkür, Zufall, Macht. Das Hohe und das Niedrige, das hohe Ideal und die niedrige Lust, das Schöne und das Hässliche, das Edle und das Gemeine.
Zwei Extreme
Die Spiele, die Menschen bewegen, sind bis heute durch diese Mischung gekennzeichnet. Sie sind bewegend, weil Menschen durch das Zusammentreffen der beiden Extreme, die das Leben in Gesellschaften am stärksten markieren, in einem Ereignis berührt werden. In der heutigen Welt ist eine besonders gelungene Mischung der Fußball. Sein hauptsächlicher Akteur, um den sich alles dreht und der sich um alle dreht, ist der Ball. Seine staubige Oberfläche bietet sich zum Hineintreten an, ein Spielgerät, das mit Füßen traktiert wird, das springt, tückisch ist etc. Auf der anderen Seite stellt er eine Kugel dar, die materielle Abbildung einer sphärischen Idealgestalt: der perfektesten Form, die es im Denken und im Kosmos gibt. In Platons und Aristoteles’ Kosmologie haben die Erde und die Planeten eine Kugelgestalt; sie werden vom Weltschöpfer, dem platonischen Demiurgen oder der schöpferischen Natur des Aristoteles, nach ewigen Gesetzen bewegt. Eine solche Gestalt hat die menschliche Erfindungskraft für das Spiel geschaffen.
Auch für Nikolaus von Kues nimmt die Holzkugel, die er in Bewegung versetzt, sowohl die Idealität der Geometrie als auch die Gestalt der Welt an. Der Kugel im Spiel einen Schwung, einen Impuls geben bedeutet soviel wie: die Kraft des ersten Bewegers besitzen und das ruhende Spiel in Gang setzen, den Moment nachahmen, in dem die Welt anfing, ihren Lauf zu nehmen. Beim Fußball wird man Mühe haben, dieses Bild wiederzufinden. Die edle Motiv des Globusspiels gibt es hier nicht, denn das Fußballspiel wird nicht aus dem eleganten, feinen Wurf der Hand entwickelt, sondern aus dem Treten des Fußes. Das Ideale der Geometrie und die würdelose Geste des Tretens im Staub der Erde scheinen hier eine unmögliche Vereinigung einzugehen. Zwei Extreme werden vereint, die nicht weiter voneinander entfernt sein könnten. In beide Richtungen wird hier ins Extreme gegangen, stärker als in anderen Spielen: Der ideale Gegenstand, der Ball, |17|wird mit Füßen getreten, gewalttätig und zärtlich. Der Ball wird geliebt, wie die Welt geliebt wird.
Nehmen wir die Beschaffenheit der Kugel: Beim Globusspiel ist sie aus Holz. Sie hat an einer Stelle eine Einbuchtung, im Verhältnis zum Fußball ist ihre geometrische Perfektion also gemindert. Zu bemerken ist auch, dass dieser etwa die Größe des menschlichen Kopfes hat, was ihn in ein anderes Verhältnis zur menschlichen Anatomie setzt als beispielsweise der Tennis- oder Pingpongball. Auch der Handball ist klein, der Anatomie der Hand angemessen. Der Basketball wiederum ist zu groß. Schon von seiner Beschaffenheit her verlangt er übergroße Menschen. In Form und Größe besitzt das Fußballspiel das ideale Spielgerät. Zugleich ist es (abgesehen von seinen historischen Vorformen und Ablegern) das einzige Spiel, das den Gebrauch der Hand verbietet. Am nächsten kommen dem Fußball der American Football und das Rugby, die aus derselben historischen Wurzel hervorgegangen sind. Aber deren Spielgerät hat eine ellipsenförmige Gestalt, verzichtet also auf das Ideale. Insofern sie den Einsatz der Hände erlauben, gehen sie nicht so weit wie der Fußball, der auf dieser Seite des Spektrums die extreme Spielweise verwirklicht.
Was ist an diesem Zusammentreffen zweier Extreme bemerkenswert? Es wird alles ausgeschaltet, was das Spiel leichter machen könnte. Ein ellipsenförmiges Spielgerät wie jenes des Footballs und Rugbys kann man mit den Händen ergreifen und eng am Körper festhalten, also besser transportieren als einen Ball. Mit den Füßen kann man keine Besitzansprüche begründen. Das Ideale des Balls wird mit seinem größten Gegensatz konfrontiert. Mit dem Handverbot wird der Spieler künstlich primitiv, manchmal sogar hilflos gemacht. Der Ball gewinnt eine autonome Rolle, weil man seiner nicht habhaft werden kann.
Ästhetik des Niederen
An dieser Erschwernis kann man erkennen, wie Ästhetik entsteht. Anstatt die Dinge für den Menschen leichter zu machen, erfindet sie künstliche Beschränkungen, erlegt den Menschen von ihnen selbst erdachte Regeln auf, die sie zwingen, mit ihren Körpern erfinderisch zu werden. In der Ästhetik wird der Weg des größten Widerstands gesucht. Der Handelnde unterwirft sich einer selbst gesetzten Regel und nimmt es auf sich, seinen |18|Körpergebrauch zu verändern: sich umzubauen. Im dichterischen Sprechen wird der Fluss der freien Rede gehemmt. Die Sprache wird in ein Metrum, ein Vers- und Reimschema gezwungen. Beim Singen bewegt sich die Stimme nicht in eigenen Bahnen des Gemütsausdrucks, sondern beugt sich unter die Regeln der Harmonik, der Atemtechnik, des Zusammenklangs von Musik und Worten. Im klassischen Ballett folgen die Tänzerinnen nicht ihrem Bewegungsdrang, sondern erarbeiten sich ihre federleichten Tanzfiguren in qualvollen Übungen, in enge Ballettschuhe hineingezwängt, die so beschaffen sind, dass sie ein Schweben unwahrscheinlich erscheinen lassen. Ebenso besitzt der Pinsel eines Malers nichts von der Feinheit der Linien einer gemalten Haarlocke.
Alle Kunstformen folgen demselben Prinzip: Von banalen Gegenständen wird die Aufgabe, den inneren Glanz der Welt zu zeigen, fast bis zur Unmöglichkeit erschwert. Sie lassen alle Nicht-Könner kläglich scheitern, aber geben allen, die sie beherrschen, die Möglichkeit, ungeahnte, einmalige Dinge hervorzubringen. Was vorher ein Hindernis war, das Metrum, die Atemtechnik, der hässliche Tanzschuh, der Pinsel, erweist sich als ein Mittel, Ausdruckskraft und Feinheit der Form weit über alle ungehemmte Bewegung hinaus zum Leuchten zu bringen.
Im Fußball wird der Spieler durch die Grobheit der Schuhe, die Ungeschicklichkeit des Fußes und die Schwierigkeit, dem runden Ball eine Richtung zu geben, zur Erfindung neuer Eigenschaften geführt. Vor allem muss er Bewegungen in Harmonie miteinander bringen, die sich gegenseitig auszuschließen scheinen. Auf den ersten Blick ist es Aufgabe des Spielers, durch Schießen, Treten, Stoppen Akte der Gewalt auszuüben. Aber damit kommt er nicht weit – wenn sein Spiel gelingen soll, hat er vieles mehr zu bewältigen: Er muss den Ball führen, im vollen Lauf annehmen, ihn zum Mitspieler passen, ein Gefühl für den Ball entwickeln, dessen Lauf vorwegnehmen, sich richtig platzieren, Kontakt zu seinen Mitspielern haben, seine Gegner überraschen. Gewalt richtet im sensiblen Kontext des Spiels nichts aus, wenn sie roh ist; sie muss mit Finesse, Erfindung, Antizipation gepaart sein.
Mit einigen Eigenschaften, die es fordert, gehört das Fußballspiel in die Domäne der Strategie, nicht nur der militärischen, sondern auch der Kunst des Regierens, des Gouvernements, der Beherrschung eines Territoriums und seiner Bevölkerung. Moderne Fußballstrategien, die ein Überzahlspiel praktizieren, mit beweglichen schnellen Außenverteidigern und Mittelfeldpositionen mit wechselnden Aufgaben, setzen neue Konzepte eines dynamischen |19|Handlungsraums in die Tat um. Mit anderen Eigenschaften nimmt das Fußballspiel Bewegungen des Tanzes auf: Viele Füße bewegen sich auf dem Spielfeld, während sich der Ball an einer Stelle befindet. Bei einer guten Mannschaft folgen die Schritte der Spieler einer geheimen improvisierten Choreographie, die die Schrittfolgen aller an einer Aktion Beteiligten aufeinander abstimmt, den Fluss des Spiels verlangsamt, die Aktionen in die Breite oder in die Tiefe entwickelt, mit einer pfeilschnellen Bewegung den Ball steil nach vorn spielt, eine Handvoll Spieler ausschwärmen lässt, während sich die anderen hinter ihnen auf beweglichen Positionen bereit stellen. Im modernen Spiel werden die Fußbewegungen graziös. Sie geben dem Ball einen Rhythmus und bewegen sich selbst im Rhythmus des Balls. Zugleich versuchen sie den Gegner daran zu hindern, die tänzerische Bewegung zu durchschauen, ihre versteckten Regeln zu erkennen, um diese zu brechen, die Choreographie zu stören, den Ball aus seinem Lauf herauszuholen und ihm das eigene Gesetz aufzuzwingen.
Man erkennt den Sinn für das Tänzerische vor allem bei Spielern, die aus Ländern mit Tanzkultur kommen. Er zeigt sich an der Empfänglichkeit für den Rhythmus des eigenen und des fremden Körpers, am feinen Gespür für Zeit, das sich in unvermuteten Wechseln der Positionen und des Tempos ausdrückt, in der Fähigkeit, den Ball mit feinen Stößen an den Füßen der Gegner vorbeizuspielen, die kleinste Lücke, die geringste falsche Reaktion des Verteidigers zu ahnen und auszunutzen. Die »Tänzer« unter den Angreifern spielen ihre Gegner schwindelig – diese verlieren die Orientierung wie eine Tänzerin mit einem wilden Walzerpartner. Der entscheidende Moment, in dem ein Tor möglich wird, der fruchtbare Augenblick, ist ein kairós, der Moment der Grazie, den die Griechen über alles liebten, in dem die Feinheit und genaueste Abstimmung der Bewegung eine glückliche Möglichkeit eröffnen.
Mit dem Ball und dem Handverbot hat das Fußballspiel Zugang zu einer geometrischen Idealität, zugleich auch zum Zufall, zur Improvisation und zum Tänzerischen, das auf einem Untergrund männlicher Gewalt praktiziert wird. Man kann die Auswirkungen dieses Zusammentreffens beobachten, wenn man Fußball mit American Football vergleicht. Dort gibt es das Ideal des Runden nicht, der Handgebrauch ist ebenso erlaubt wie der Einsatz der Füße: Der Besitz des Balls ist viel sicherer. Dieser läuft nicht, er wird geworfen, gefangen, getragen und gestoßen. Zufall und Improvisation sind deutlich geringer, während die Taktik dominiert und die Hierarchien in der Mannschaft klar ausgebildet sind. Das Spiel ist scharf |20|reglementiert, aber auf eine Weise, die eine Steigerung der Gewalt ermöglicht. Es zeigt dennoch eine Form der Idealisierung an, die von einer ganz anderen Art als das geometrische Ideal des Fußballs ist: Sie bezieht sich auf die Regeln, die im Football einen idealen Status besitzen. Das Ideal wird hier als das Vorbild konzipiert, das der Gesellschaft vorgehalten wird und dieser zeigen soll, wie man Praktiken regelt. Es weckt die Sehnsucht, die Gesellschaft möge so geregelt sein wie der Football.
Regelfolgen gilt in den USA als ein hohes ethisches Gut, dessen Verwirklichung insbesondere in sportlichen und pädagogischen Kontexten von der Öffentlichkeit gefordert wird. In Ländern, in denen Fußball gespielt wird, in Europa, Südamerika und Afrika, wird den Regeln kein vergleichbar hoher kultureller Wert beigemessen. Die Regeln haben hier keinen idealen Status. Sie werden nicht als feststehend, sondern als interpretierbar angesehen. In dieser Sicht ist es möglich, trickreich mit ihnen umzugehen und sie zum eigenen Vorteil zu beugen.
Regeln und Täuschung
In der Vergangenheit wurden die Regeln im Fußball so weit respektiert, dass sie fähig waren, die Kräfte von Gewalt, Kunst und Zufall zu bändigen und in ein rechtes Verhältnis zueinander zu setzen. Seitdem das große Geld in das Spiel eingedrungen und der Fußball in den Medien allgegenwärtig ist, besteht die Gefahr, dass diese Fähigkeit geschwächt wird. Die Gewalt hat sich auf den Rängen und auf den Straßen um das Stadion ausgebreitet. Die Kunst der Schützen und die theatralischen Täuschungsversuche zur Erschleichung eines Freistoßes haben eine beängstigende Höhe erreicht. Die Bedeutung des Zufalls hat sich dramatisch erhöht: Eine ungünstige Auslosung, eine katastrophale Schiedsrichterleistung, ein unglücklich vergebener Elfmeter – eigentlich gewöhnliche Vorkommnisse im Fußball – haben heute unübersehbare Folgen für einen Verein oder den Stolz einer Nation. Gegenüber den steigenden Drücken und Temperaturen in den Arenen besitzen die Regeln des Spiels, die Gebote der Fairness, des Anstands und Respekts vor den Gegnern immer weniger Kraft. Es zeigt sich aber auch, dass der Anstieg von Emotionalität dem Spiel eine neue, von den Medien und Veranstaltern geschürte Attraktivität verschafft.
|21|Regeln wirken nie aus sich selbst, sondern können nur dann eine ordnende Kraft erhalten, wenn sie von Spielern und Zuschauern anerkannt werden. Seit langem sind die innere Zustimmung zu den Regeln, der Respekt vor ihnen, der Wunsch, sie im eigenen Handeln auszudrücken, in einem Korrosionsprozess auf breiter Fläche weggefressen worden. Das Schwinden der inneren Verankerungen der Regeln hat die ganze Gesellschaft erfasst. Gewiss hat diese Entwicklung nicht im Fußball begonnen, aber mit diesem Hinweis lassen sich die Veränderungen im Spiel nicht entschuldigen, im Gegenteil: Die Kraft des Sports lag einmal darin, der schlechten Gesellschaft einen idealen Gegenentwurf vorzuhalten, eine utopische Welt, die inmitten einer kriegerischen, rassistischen, vom Geld verdorbenen Welt einen Ort darstellte, an dem die Gesetze des reinen Wettkampfs, die freie Anerkennung von Regeln und Anstandsgeboten Geltung besaßen.
Eine Steigerung der Emotionen bis zum Siedepunkt wünschen sich alle am Fußball Beteiligten: die Veranstalter, Spieler, Fernsehanstalten und Journalisten, weil auf diese Weise der Preis ihres Produkts steigt; die Fans und die normalen Zuschauer, die intensivere Erlebnisse erwarten; die gewaltbereiten Hooligans, um die Hitze der Ereignisse für die Entfesselung von Brutalität zu nutzen. In der Organisation und Inszenierung der Spiele werden alle Register der Gefühlseskalation gezogen. Die Zuschauer werden bis zum äußersten dazu angereizt, ihre Rationalität und ihre Alltagspersönlichkeit abzuwerfen. Die baulichen Formen des klassischen Sportstadions gelten heute als veraltet. Sie werden zur emotionssteigernden Architektur der Sportarena umgebaut. Die Tribünen werden an die Spielfläche heruntergezogen, die Ränge so steil in die Höhe aufgetürmt, dass sie von weitem aussehen wie menschliche Wände. Das kochende Innere wird mit einem niedrigen Dach verschlossen. Es gibt keinen freien Himmel mehr über der Rasenfläche; die Blicke der Zuschauer werden ausschließlich auf das Innere der Arena gerichtet.
Helden, Mythos, Glauben
Während der letzten Jahrzehnte ist Fußball ein anderes Spiel geworden, als es vorher war. Spieler und Zuschauer haben den Glauben an die verbindende Kraft der Ordnung des Spiels verloren. In der Hinwendung zum |22|Spiel und zu den großen Athleten ist jedoch eine andere Art des Glaubens entstanden: die Begeisterung hat sich ins Religiöse gesteigert. Aus den bewunderten Figuren auf dem Rasen sind Helden mit Heiligenstatus geworden. Die Anerkennung von großen sportlichen Leistungen ist in Mythos umgeschlagen.
Mythisierung ist ein Prozess, der das komplexe gesellschaftliche Geschehen in einen »Naturzustand« zurückversetzt. Was insgesamt Produkt des Einsatzes von Kapital, Medienmacht, von geschickter Organisation, nationalistischer Politik ist, wird auf einige wenige herausragende Athleten konzentriert. Was diese körperlich zur Erscheinung bringen, durch spektakuläre Aktionen, durch ihr Aussehen, ihre Posen, wird für bare Münze genommen. Dies heißt aber nicht, dass Fußball ein »Opium« ist, das nur dazu dient, die Massen zu zerstreuen, von ihren Interessen abzulenken, damit zu entpolitisieren. Diese These war noch nie richtig. Sie gilt nicht einmal für das panem et circenses des alten Roms (Paul Veyne). Ein enttäuschtes Publikum, das von seinen Stars abfällt, entzaubert diese im Nu, entkleidet sie ihres Heiligenstatus, verlangt wirkliche Leistungen oder droht mit dem Boykott der Spiele. Es kann von einer Gemeinde der Gläubigen im Handumdrehen in eine von der Politik frustrierte Menge umkippen.
Der Glaube an die Heiligen und die Mythen im Fußball führt nicht zur Blindheit des Publikums. Er ist kein unverrückbar festsitzender Zustand, der das Denken dauerhaft umklammern und an seiner Entfaltung hindern könnte. Er zeigt die Bereitwilligkeit der Liebhaber des Fußballs, einem Schema zu folgen, das an allen Orten der Gesellschaft angeboten wird. Es ist ein Schema, das die Beziehung der Individuen zur Macht organisiert. Man findet es in der Politik, in den Medien, in den Filmen, in der Wirtschaft: Es ist die Erzählung von den großen Individuen, den Anführern, den Machern, den Könnern, den Profis, den »Lichtgestalten«... In diesen Erzählungen sind es immer heldenhafte Einzelne, die eine große Entdeckung machen, eine Firma retten, eine Mannschaft zu höchsten Erfolgen führen, die den größten Reichtum der Welt angehäuft haben, als ein mastermind oder Schurke die Welt in Atem halten. Im Sport ist diese Heroisierung auf dem Rasen zu besichtigen und die Heiligung der Spieler auf den Rängen zu spüren: Hier werden die Körper der Spieler zu »Naturkräften«; von hier strahlt die Naturalisierung in die Gesellschaft aus.
Man findet dieses Schema in fast allen Erzählungen über das Fußballspiel als Prinzip der Ereignisstrukturierung und Wahrnehmungslenkung. Unsere Erinnerung an vergangene Fußballereignisse wird von ihm ebenso |23|organisiert wie das Angebot von Fanartikeln. Es eignet sich problemlos für die hochaktiven und gewaltbereiten Zuschauer, die Fans und Hooligans. Sie lassen sich mit Hilfe des Schemas als Kräfte verstehen, die ein Spiel durch ihre Aktivitäten entscheidend beeinflussen, so dass sie sich als Ursache für den Sieg ihrer Mannschaft auffassen. Im Sport lässt sich, besser als in anderen Feldern der Gesellschaft, erkennen, wie ein Mythos die von ihm beschriebenen Ereignisse und Personen wirklich werden lässt, wenn er geglaubt wird.1
Geschlechterdifferenz
Im Mittelpunkt des mythischen Schemas steht der Kampf um die Macht. Es geht immer darum, einen Gegner unter die eigene Macht zu bringen, Herrschaft zu etablieren und diese an herausragende Personen zu knüpfen. Was dieses Schema organisiert, sind wesentlich männliche Erzählungen, Spielerinnen haben in der Regel keinen Zugang zum Heldentum. Fußball ist der Ort, wo Männer Helden sein und bewundert werden wollen.2 Damit ist der Platz der Frauen bezeichnet: auf der Tribüne, als Zuschauerinnen, vor deren kritischen und vergleichenden Augen die Spieler sich gegen andere bewähren und durchsetzen müssen. Geschlechterdifferenz ist im Fußballspiel ein ständig präsentes, meistens untergründig wirkendes |24|Thema. Man spielt, sieht, erzählt dieses je nach Geschlechtszugehörigkeit anders.
In der Reflexion über Fußball meint man die geistige Freiheit gewinnen zu können, sich von typischen Sichtweisen der Geschlechter zu distanzieren. Gleichwohl kann sich ein männlicher Beobachter niemals vollständig von seiner männlichen Perspektive lösen – ebenso wenig wie eine weibliche Beobachterin von ihrem weiblichen Standpunkt. Ein Mann kann das Interesse, Engagement und Spiel von Frauen im Fußball nicht anders als aus seiner Perspektive begreifen; wie auch umgekehrt Frauen die Begeisterung von Männern für das Spiel ausschließlich aus weiblicher Sicht wahrnehmen. Ohne Zweifel haben sie am Machtspiel von Männern ein größeres Interesse als diese am Frauenfußball. Es ergibt sich hier eine viel sagende Asymmetrie: Frauen interessieren sich für ein Mannschaftsspiel, das sie in aller Regel selbst nicht spielen, während sich Männer für das Spiel, das sie als ihres betrachten, deutlich weniger interessieren, wenn es von Frauen gespielt und entsprechend weiblich interpretiert wird.3
Für Nikolaus von Kues erhält die Welt des Globusspiels ihren Glanz aus einer großen Erzählung, aber eben nicht aus den alten Mythen, sondern aus der Bibel, die Gott als Schöpfer der menschlichen Welt und des Kosmos einsetzt. Im Fußballspiel zeigt sich, dass unsere Gegenwart nicht ausschließlich christlich geprägt ist, sondern zugleich auf eine andere, vorchristliche Tradition, auf die griechische Mythologie und ihr Heldenschema zurückgreift. In der Erhöhung der mythischen Helden zu Heiligen, die von ihrer Gemeinde verehrt und nachgeahmt werden, umschlingen sich biblische und griechisch-mythische Traditionen.