Für Yvonne
Vorwort: Eine neue Ehrlichkeit
Männer in der Krise
Das Leiden im Verborgenen
Männer sind anders depressiv
Was Männer depressiv macht
Mythos und Wahrheit der männlichen Depression
Blinde Flecken in der Psychologie
Wovon sprechen wir, wenn von »Depression« die Rede ist?
Wo im Körper beginnt die Depression?
Wer bestimmt, was »normal« ist?
Stress und Trauma
Männerdepression – eine neue Sichtweise
Männer brauchen ein Drehbuch – keine Gebrauchsanweisung
Wer braucht heute noch Helden?
Held oder Arschloch?
Der verletzte Held
Wege aus der Krise
Auf der Suche nach einer neuen Methode
Das 5-Schritte- Programm
Ausblick: Was bleibt
Literatur
Niederlagen, Scheitern und Verletzungen gehören zu unserem Leben. Aber allzu lange gaben sich Männer als unverletzliche Superhelden, die so etwas einfach wegstecken. Dabei taugt ein Mann eher zum Alltagshelden, zu jenem sympathischen Typen, der auf die Schnauze fallen und wieder aufstehen kann; der einsteckt, statt zu verdrängen; der stehen bleibt, statt wegzulaufen; der den Wert seiner Werte kennt.
Das Leben zeigt uns immer wieder, wer wir sind – wir müssen nur den Mut haben, genau hinzusehen. Und was wir da entdecken, gefällt uns nicht immer. Da tun sich Abgründe in uns auf: Alte, muffige Schränke und dunkle Abseiten finden sich in beinahe jedem Haus. Wir müssen dort hinein, wenn wir uns ganz und gar finden wollen. Wir müssen akzeptieren, dass wir Anteile ins uns tragen, die nicht ins schöne Bild passen. Da ist der Neider ins uns, der Angeber, der Feigling. Solche Erkenntnis schmerzt. Und – es mag seltsam klingen – viele Männer ertragen Schmerzen eher schlecht. Auch hier geben sie sich nach außen ganz anders. Aber der verletzte Anteil in jedem Mann ist wie eine schwärende Wunde, deren Schmerz für ihn kaum zu ertragen ist. Die vermeintliche Unempfindlichkeit ist lediglich Ausdruck von Verdrängung und Betäubung. Männer schließen ihren Schmerz tief in sich weg. Leider gehen dabei meist auch viele andere Gefühlsanteile mit in die innere Eremitage, und fortan erreicht der Mann seine Gefühle nur noch schlecht – zu sehr erinnern sie ihn an seine Verletzung.
Krisen sind schmerzhaft, denn sie legen die Verletzung frei. Für viele Männer wäre die Krise aber auch eine Chance. Oftmals ist es sogar für sie die letzte Chance, die vollständige Amputation ihrer Gefühlswelt zu vermeiden. Um dies zu erreichen, muss die Wunde aber aufgedeckt und gepflegt werden. Der Mann hat seinen Schmerz also anzunehmen, um ihn zu überwinden. Dabei brauchen Männer Unterstützung, auf dem unwegsamen und unbekannten Gelände benötigen sie einen Scout. Sie müssen lernen, sich auf dem neuen Gebiet der Emotionen zurechtzufinden. Dabei werden sie auf dunkle Höhlen, tiefe Abgründe, Stolpersteine und Morast treffen, aber diese Landkarte des eigenen Selbst neu zu zeichnen ist Herausforderung und Lösung von männlicher Depression.
Viele Männer verwechseln Souveränität mit kruder Demonstration von Stärke, Unnahbarkeit und Abgrenzung. Der wirklich souveräne Mann jedoch öffnet sich. Er lässt andere an sich heran, gibt sogar seine Schwächen preis, weil er weiß, wer er ist. Das einzig Unerschütterliche im Menschen ist seine Basis, sein Wert als Mensch. Nun tut unsere Welt seit Jahrhunderten einiges, um dieses Urvertrauen des Menschen in sich selbst zu erschüttern. Und für die meisten Gräuel aus Vergangenheit und Gegenwart sind Männer verantwortlich. Aber warum? Ist es vielleicht gerade der seit Ewigkeiten verdrängte männliche Schmerz, der sich hier Bahn bricht? Sind Aggression, Gewalt und Krieg Ausdruck von Hilflosigkeit? Sind sie Hilferufe der Seele mit leider grauenhaften Folgen? Vieles spricht dafür, dass wir es hier mit einem Kommunikationsproblem zu tun haben. Ohne Kontakt zu ihrem Befinden und ihren Gefühlen können Menschen auf Dauer kein für die Seele gesundes Handeln zeigen. Erst die Forschung musste Männern nachweisen, dass viele unserer Entscheidungen aus dem Bauch heraus kommen, dass wir Herzensangelegenheiten haben – dass also unser Verhalten emotional (mit-)gesteuert ist.
Als Leserin mögen Sie nun schmunzeln und sich in Ihrem Wissen bestätigt fühlen. Frauen fällt ein Gefühlsdenken oder Denkfühlen seit jeher leichter. Aber für uns Männer ist das starker Tobak. Schon immer meinten wir, unser Gehirn sei quasi Herr im Haus. Schon immer glaubten wir, rein rationale Entscheidungen treffen zu können. Das gab uns Sicherheit in einer Welt, in der wir eben unseren Mann stehen sollten. Und nun das! Gefühle steuern auch den Mann in seinem Verhalten entscheidend mit.
Männer müssen lernen, mit diesen Erkenntnissen umzugehen. Sie müssen sich ehrlich einlassen auf die Entdeckungen in sich. Dafür benötigen sie die unverbrauchte Neugier des Jungen in sich genauso wie die Tatkraft des Entdeckers.
Seit vielen Jahren erlebe ich Männer mit depressiven Symptomen in meiner therapeutischen Praxis. Es sind Männer jeden Alters, aus allen Berufen und Gesellschaftsschichten; es sind erfolgreiche Männer, »Durchschnitts«männer und gescheiterte Männer. In diesem Buch stelle ich Ihnen jene Ansätze und Techniken vor, die sich in meinen Therapien bewährt haben. Dabei folgt es einer Gliederung, die einerseits auf das tiefere Verständnis von Konflikten der männlichen Seele bzw. auf deren Folgen eingeht. Andererseits soll ein Modell vorgestellt werden, das speziell männlichen Belangen gerecht wird.
Sie werden in Teil I eine erste Orientierung zu Ursachen und Symptomen männlicher Depression erhalten. Teil II beschäftigt sich mit wichtigen kulturgeschichtlichen, medizinischen und pharmazeutischen Hintergründen. In Teil III lernen Sie die Heldenreise als zentralen Therapieansatz kennen, der es erlaubt, sich intuitiv den männlichen Denk- und Empfindungsmustern zu nähern. Und schließlich fasst Teil IV die Forderungen an eine spezifisch männliche Therapie zusammen. Zentrale Bestandteile sind hier die Narrative Therapie und das EMDR. Erstere ist eine besondere Form gelenkter Erzähltechnik, Letzteres ein Verfahren, das eingefahrene Denk- und Gefühlsmuster quasi umpolt. Abschließend stelle ich Ihnen noch ein 5-Schritte-Programm vor, das Sie individuell anpassen und umsetzen können.
Wenn wir die Zahlen betrachten, so scheint die Angelegenheit klar. Bei Frauen wird bis zu drei Mal häufiger eine Depression diagnostiziert als bei Männern. Jedoch gibt es keine biologischen oder evolutionspsychologischen Gründe, die diesen Unterschied erklären. Vielmehr tun sich sowohl Laien als auch Therapeuten1 bis heute schwer, Männer mit der Diagnose Depression zu konfrontieren. Woran liegt das?
Männer sind Meister der Verschiebung und Verdrängung. Diese durch Sigmund Freud geprägten Begriffe beschreiben einen unbewussten Umgang mit nicht erträglichen Gefühlen. Männer haben keine Depression, sie haben stattdessen »Probleme«. Sie haben »Stress« oder ein »Burnout«. Gefühle, die nicht zugelassen werden können, erfahren eine sogenannte Besetzung in einem anderen, akzeptableren Bereich. Ein Mann, der sich alleingelassen und missachtet fühlt, verschiebt diese Affekte zum Beispiel auf seine Arbeit, seinen Chef, seine Partnerin, seine Kinder. Fortan hat er also Probleme, die er – psychologisch zunächst entlastend – versucht in den Griff zu bekommen. Da der zugrunde liegende Konflikt jedoch ungelöst bleibt, vermehren sich die Probleme im Laufe der Zeit, anstatt weniger zu werden. Der Betroffene entfernt sich außerdem immer weiter von sich selbst, ist immer weniger in der Lage, sich und seine Empfindungen adäquat wahrzunehmen.
Während depressive Frauen direkt leiden, führt der Mechanismus der Verschiebung dazu, dass der depressive Mann seine Umgebung – oftmals ungewollt – leiden lässt. Auch hier finden wir wieder die typische Verteilung von Ursachenzuschreibungen. Frauen tendieren eher dazu, eine »Schuld« bei sich zu suchen, und sie analysieren das zugrundeliegende Problem. Männer hingegen vollziehen eine Art Außenwendung, in der sie Hindernisse und Benachteiligung als von außen verschuldet sehen. Diese Sichtweise ist für die Partner, Kinder, Angehörigen und Freunde schwer belastend. Deren Zuneigung und Liebe wird vom depressiven Mann uminterpretiert als ein Hintergehen und Schwächen der eigenen Position. So finden sich alle Seiten oft in einer Position wieder, in welcher Kommunikation unmöglich geworden ist. Alle fühlen sich missverstanden bei gleichzeitig besten inneren Absichten.
In meiner psychotherapeutischen Praxis begegne ich häufig Männern, die sich im Stich gelassen fühlen und anderen die Schuld zuweisen. Stefan, ein Familienvater Ende dreißig, beschrieb seine Situation so:
Ich will für meinen Jungen nur das Beste. In der Pubertät sind sie schwierig, das ist mir klar. Aber er braucht Orientierung und eine gewisse Führung, sonst gerät er auf die falsche Bahn. Meine Frau ist da viel zu weich. Sie hat Verständnis für ihn, räumt die Socken und das Geschirr weg. Und merkt gar nicht, dass sie damit sein unsoziales Verhalten noch unterstützt. Dann soll ich abends und am Wochenende noch für eine gewisse Erziehung sorgen? Das frisst mich wirklich an, denn im Moment steht es beruflich auf der Kippe. Ich muss dort hellwach sein, um nicht ins Hintertreffen zu geraten. Da könnte ich es eigentlich gut gebrauchen, dass meine Frau mir zu Hause den Rücken freihält. Aber sie beschwichtigt immer, will vermitteln, wo auch mal eine harte Linie angezeigt wäre. Schließlich brauchen wir das alle irgendwie. Sonst erkennen wir nämlich nicht, wo es langgeht.
Stefan vermittelte im ersten Gespräch eine gewisse Härte. Er sprach von seinem Sohn, als wäre dieser eine Art Leibeigener oder Angestellter, den er »auf Trab bringen« wollte. Er hatte durch seine innere Haltung den Schutzraum Familie zu einer Kampfarena gemacht. Seine Frau fiel ihm in den Rücken, anstatt dass sie ihm diesen freihielt. Sie war in seiner Wahrnehmung zu weich und verständnisvoll, und sein Sohn war zu einem Gegner geworden, mit dem er sich täglich sinnlose Hahnenkämpfe lieferte. Typisch für diese Klientengeschichten ist auch die Erwähnung des Berufs. Stefan sah sich auch dort als unverstandener Kämpfer. Ich fragte ihn direkt nach dem Auftrag, den er für mich als Therapeut hatte. Sollte ich seine Frau überzeugen, dass er Recht hatte? Wollte er Absolution für die harte Linie gegenüber seinem Sohn? Es überraschte mich, dass er auf diese Frage eine klare Antwort hatte.
Ich möchte verstanden werden. Ich habe den Eindruck, gegen Wände zu laufen. Mir wäre fast schon die Hand gegen meinen Junior ausgerutscht, so sehr hat er mich mit seiner Art provoziert. Und meine Frau habe ich bereits mehrmals angeschrien. Ich will, dass wir alle wieder miteinander sprechen. Ich möchte mit meiner Position endlich wahrgenommen werden. Das habe ich als Vater und Ehemann verdient.
Stefan wollte »wahrgenommen werden«. Ohne es zu merken, hatte Stefan einen wichtigen Schlüsselbegriff für unsere Gespräche benannt. Es zählt nämlich zu den wesentlichen Bedürfnissen des Menschen, wertgeschätzt und geachtet zu werden. Jede Form einer kommunikativen Missachtung stellt deshalb eine Verletzung dar. Und diese Wunden fügte sich Stefan im Familienleben seit geraumer Zeit fast jeden Tag zu. Sein unerträglicher Druck auf Frau und Sohn hatte diese veranlasst, aus Selbstschutz dichtzumachen. Somit war eine Spirale emotionalen Schmerzes auf allen Seiten entstanden. Jedes Familienmitglied kommunizierte auf einer anderen Metaebene: Die Mutter übte Nachsicht aus einer reifen Erwachsenenposition heraus, Stefan bezog die typisch lenkende Elternrolle und versuchte dadurch seine Autorität zu untermauern; und sein Sohn verharrte noch in einer unreifen, kindlichen Rolle, die aber schon ihren Input aus der Erwachsenenwelt bezog. Ein solches kommunikatives Knäuel ist unauflösbar. Mit den Mitteln des Verstands ist hier keine Lösung zu erzielen. Diese belastenden Situationen steuern fast immer auf einen Super-GAU zu, der in Trennung und Zerwürfnis endet. Dabei meinen alle Beteiligten, vollkommen im Recht zu sein.
Vielmehr war Stefans Bedürfnis nach Wahrnehmung seiner Person der Schlüssel zur Behebung des inneren und äußeren Konflikts. Wir sprachen lange über seine eigene Kindheit und Jugend, und dort zeigte sich, dass dieses Grundthema bereits angelegt war.
Wenn ich an meinen Vater denke, bin ich hin- und hergerissen. Er hat uns Kindern viele Freiheiten gelassen. Vielleicht zu viele, ich weiß es nicht. Aber manchmal hätte ich mir gewünscht, mehr an die Hand genommen zu werden. Ich hätte mir gewünscht, dass er mir zeigt, wie man angelt oder ein Floß baut. Solche Sachen eben. Er aber kam nach Hause, trank seine zwei oder drei Biere und las Zeitung. Dann wieder gab es Zeiten, da war er fast brutal. Wenn ich etwas kaputt gemacht hatte, setzte es Dresche, wie er es nannte. Die hatte er auch bekommen, behauptete er, und geschadet habe es ihm nicht. Er war in diesen Situationen fürchterlich ungerecht und hörte gar nicht zu, wenn wir Kinder versuchten, etwas zu erklären. Geschirr kaputt, eine Ohrfeige. Schlechte Noten, zwei Ohrfeigen. Meine Mutter hat dazu nie etwas gesagt. Sie hat die drohende Bestrafung wohl gern als Druckmittel uns Kindern gegenüber in Kauf genommen. Sie selbst hat außerdem immer mit Rückzug reagiert, wenn wir uns nicht so verhielten, wie sie es wollte.
Stefan hatte also als Kind das erlebt, was heute als Schwarze Pädagogik bekannt ist: Schläge als Mittel der Erziehung gepaart mit dem psychologischen Druck des Liebesentzugs und einer emotionalen Vernachlässigung kindlicher Bedürfnisse. Daraus entwickelte sich bei ihm der Wunsch, als Erwachsener endlich wahrgenommen und wertgeschätzt zu werden. In unseren Gesprächen konnten wir gut herausarbeiten, dass es viele Situationen in seinem Leben gab, in denen er sehr harsch reagierte, wenn er sich missachtet fühlte. Nun kam es bei ihm – wie bei den meisten Männern – zu einer Art Deckelung dieser Gefühle. Die beschriebene Verschiebung führte dazu, dass er mit seinem Bedürfnis und den damit verbundenen Affekten andere Lebensbereiche besetzte. Ausbildung, berufliche und soziale Stellung und Statussymbole erfüllten dabei eine Ersatzfunktion. Sie lieferten ihm die Wertschätzung, die er sich wünschte. Tragischerweise entfremden sie den Mann auch seiner selbst. Die zugrundeliegenden Gefühle werden quasi weggeschlossen, vergessen, sind kaum noch zugänglich.
So ist also nicht das Mannsein das eigentliche Problem; es sind vielmehr die in der Tiefe verborgenen Verletzungen, die wir alle als Menschen im Laufe unseres Lebens erleiden. Männer nutzen jedoch oft zur Bewältigung ihres Schmerzes zwei Strategien, die in neuerer Zeit inadäquat und sogar von Nachteil sind: Einerseits verdrängen sie die mit dem Schmerz verbundenen Gefühle, was ihre ohnehin schlechtere emotionale Kompetenz weiter schwächt, und andererseits gehen sie fast immer in die Offensive. Statt Hilfe zu suchen und anzunehmen, agieren sie gegen ihre Umwelt und vermuten dort die Ursache für ihr Leid. Beide Strategien taugen in einer Berufswelt, die mehr auf Kommunikation als auf Hierarchie setzt, allerdings nichts mehr. Der postmoderne Mann hat also ein Anpassungsproblem, kein Daseins-Problem.