Husemann, Dirk

Spiele, Siege und Skandale

Dirk Husemann erzählt vom antiken Olympia

 

 

 

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Copyright © 2007. Campus Verlag GmbH

E-Book ISBN: 978-3-593-40312-0

|7|Auf der Startschwelle

 

Zwanzig nackte Männer stehen in einem engen Gang. In dem Tunnel ist es kühl und still. Sie warten: darauf, dass sich das Gitter vor ihnen öffnet, dass die Kampfrichter das Signal geben, dass sie hinaustreten können in die Hitze des griechischen Sommers, dass der Beifall brandet und die Zuschauer ihre Namen schreien.

Wer durch diesen Tunnel auf die Kampfbahn Olympias tritt, geht durch eine Schleuse in ein anderes Leben. Es mag das Leben eines Gewinners sein, gefeiert in ganz Griechenland, mit einem Namen, der noch Jahrhunderte später berühmt sein wird. Auf ihn warten Sorglosigkeit, Reichtum und Luxus. Andererseits mag es das Leben eines Besiegten sein, geschmäht in der Heimat, verachtet und verspottet für den Rest seiner Tage. Denn eines gibt es in Olympia nicht: einen zweiten Platz. Nur wer vorne liegt, gewinnt. Alle anderen sind Verlierer.

Die Männer werden unruhig. Noch warten die Kampfrichter mit dem Signal. Bevor der Wettlauf beginnt, wollen sie die Spannung knistern hören – im Publikum und unter den Athleten. Einer der Läufer nimmt einen Stein auf und ritzt einen Spruch in den Muschelkalk der Tunnelwand: »Polites ist der Schnellste.« Ein anderer stößt ihn beiseite und schreibt darunter: »Der am Boden liegt.« Nervöses Lachen hallt von den Tunnelwänden. Für einen Moment fühlen sich die Männer verbunden, so, als wären sie Freunde. Aber der Augenblick verfliegt. Die Kampfrichter klatschen in die Hände, und da öffnet sich das Tor.

Ein Hexenkessel verschlingt die Athleten. 45 000 Gesichter starren auf sie herab. Der Lärm ist ungeheuerlich. Angesichts der anonymen Menge schrumpft alle Hoffnung, die eigene Familie unter den Zuschauern erkennen zu können, auf Daumennagelgröße. Wer das Stadion Olympias betritt, steht inmitten von Tausenden und doch am einsamsten Ort der Welt. Zwar haben |8|die Trainer ihre Schützlinge immer wieder auf diesen Moment vorbereitet, aber jetzt setzen sich die Athleten nur zögernd in Bewegung.

Langer Weg zum Ruhm: Durch diesen Gang zogen die Athleten ins Stadion ein. Die Decke des Tunnels ist nur in einem Bogen erhalten.

Zu allem Überfluss liegen die Startschwellen für den Stadionlauf am anderen Ende der Bahn. Bar und bloß, wie es für Sportler üblich ist, marschieren sie vorbei an der Menge, grüßen die Kampfrichter, die auf der Hälfte der Strecke auf ihren Steinsitzen das Stadion überblicken wie Feldherren das Schlachtfeld, dann ist das andere Ende der Laufbahn erreicht. Pfosten mit Fähnchen ragen aus der Startschwelle. Jeder Läufer stellt sich neben einem der Pflöcke auf – und wartet.

Jetzt erreicht die Spannung ihren Höhepunkt. Die Rufe auf den Rängen werden leiser, das Geschrei verebbt. Jeder will das Startsignal hören, die Dauer des Rennens in voller Länge auskosten – zwei Minuten, die die Welt bedeuten. Viele Zuschauer haben eine wochenlange Anreise auf sich genommen, nur um diesen Moment zu erleben. Da hebt der Signalgeber die Arme. »Apite!«, schreit er, klatscht die Hände über dem Kopf zusammen und die Läufer schießen aus der Startschwelle.

|9|Sofort schwillt der Lärm wieder auf den höchsten Pegel an. Die Füße der Athleten trommeln über den Sand, der Puls hämmert und der Applaus donnert. Obwohl die Läufer so schnell wie möglich rennen, scheint die Strecke länger geworden zu sein, als sie es eben noch beim Abschreiten war. Aber alles, was jetzt noch zählt, ist der Abstand zu den Gegnern, das Rasseln ihres Atems, ihr Schweißgeruch in der Nase. Die Tribüne der Kampfrichter fliegt vorbei, der Altar der Demeterpriesterin bleibt zurück, die Gesichter verwischen. 40 Beine rasen auf die Zielschwelle zu. Als der erste Fuß den kühlen Stein berührt, toben die Zuschauer wie die Barbaren. Olympia hat einen neuen Sieger.

Wo die Fans in der Antike johlten, zwitschern heute Vögel und zirpen Zikaden. Wo Läufer um die Wette keuchten, liegen Ruinen. 1 700 Jahre ist es her, seit im antiken Olympia zum letzten Mal jemand »Apite!« rief, ins Starthorn blies oder mit einem Kranz aus Olivenzweigen gekrönt wurde. Auch wenn es die Spiele der Antike nicht mehr gibt, der Ruhm Olympias ist unvergänglich.

Schriftsteller und Maler, Könige und Generäle, Forscher und Philosophen besuchten den Ort in Westgriechenland. Der unschlagbare griechische Feldherr und Herrscher Alexander der Große war hier, der verrückte römische Kaiser Nero und der weise Herodot, der »Vater der Geschichtsschreibung«. Riefen die Olympischen Spiele, ließen die griechischen Denker Sokrates, Platon und Aristoteles den Schreibgriffel fallen und sich in Olympia sehen, der Gelehrte Pythagoras kam und sogar der Urvater der Medizin, Hippokrates, verfolgte das Spektakel im Stadion, wohl nicht nur aus wissenschaftlichem Interesse.

Wer nach Olympia reiste, suchte die Sensation. Würgen, Quetschen, Knochenbrechen waren im Stadion an der Tagesordnung. Gegen Regeln zu verstoßen fiel den Athleten schwer – es gab kaum welche. Nur im Notfall züchtigten die Kampfrichter die Sportler kurzerhand mit dem Stock. Die Athleten selbst rangen keinesfalls demütig im Namen der Götter, sondern prügelten sich um Preisgelder, deren Höhe heutige Ablösesummen beim Profifußball in den Schatten gestellt hätte. Olympia war schon immer das große Geschäft.

Das Licht der Spiele fiel noch viel später und fernab von Griechenland auf Läufer, Springer, Wagenlenker: In Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, kämpften Sportler noch nach Jahrhunderten im Namen Olympias um den Sieg, während sich am ehemaligen Ort des Geschehens längst Stadion, Tempel und Altäre in Trümmer verwandelten. In Großbritannien rief der Rechtsanwalt Robert Dover im 17. Jahrhundert die »Olimpick Games« ins Leben, |10|1850 gründeten Engländer die »Olympian Society« und feierten Sportfeste unter dem Namen Olympias und den schweren Wolken Großbritanniens. Der Franzose Pierre de Coubertin rief 1896 die Olympischen Spiele der Neuzeit in Athen aus. Olympia ging um die Welt.

Das Jubeln der Zuschauer ist bis heute dasselbe, aber die Arenen der modernen Olympischen Spiele sind Tempel der Technik und stehen in Weltstädten wie Los Angeles, Sydney, Tokio und Athen, wo 2004 das Sportfest nur eine Tagesreise von seinem Ursprungsort gefeiert wurde. Nach Olympia selbst aber pilgern nur noch Forscher und Touristen.

Vom Zeustempel, einst eines der mächtigsten Bauwerke Europas, ist nur noch der Sockel erhalten. Kundige Wissenschaftler haben eine einzige Säule nachbauen lassen, um die damalige Größe des Tempels zu demonstrieren. Zwischen den Ruinen suchen Archäologen nach den Bruchstücken umgestürzter Säulen, Hunderttausende Steine von Gebäuden und Mauern warten darauf, am rechten Fleck eingepasst zu werden. Olympia ist das größte Puzzle der Welt.

Durch den Tunnel, der zum Stadion führt, gehen die Besucher vorsichtigen Schrittes. Nicht, weil der Untergrund rutschig wäre, sondern weil der Ort so alt ist, dass Ausgelassenheit zunächst nicht aufkommen will. Die Inschrift des Polites, der von sich behauptete, er sei der Schnellste, hat der Zahn der Zeit abgenagt. Die Hänge des Stadions sind wieder aufgeschüttet, aber die Zuschauer kommen nie mehr in Massen. Vereinzelte Touristen spazieren durch das Gras, das hier nun in Seelenruhe wachsen kann, ohne von einer Menschenmenge zertrampelt zu werden. Viele stehen bewundernd vor der Startschwelle, die noch immer an Ort und Stelle erhalten ist, abgewetzt von unzählbaren Füßen. Diese Kalkblöcke waren einmal Prüfstein der besten Sportler der antiken Welt. In ihre Fußstapfen zu treten ist ein so großer Reiz, dass noch heute die Wagemutigsten einer Reisegruppe ihre Fersen in die Rillen stemmen und auf das Startsignal warten. Spätestens jetzt ist es vorbei mit zaghaftem Schreiten und ehrfurchtsvollem Staunen. Von irgendwoher ruft jemand »Apite!« und die Läufer schießen aus den Schwellen, die Füße trommeln über den Sand, der Puls hämmert und der Applaus donnert.

Olympia ist unsterblich.