Kalscheuer, Britta; Allolio-Näcke, Lars
Kulturelle Differenzen begreifen
Das Konzept der Transdifferenz aus interdisziplinärer Sicht
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E-Book ISBN: 978-3-593-40172-0
Habent sua fata termini, mit dieser kulturpessimistischen und auf den Begriff beschränkten Formel schlossen Helmbrecht Breinig und Klaus Lösch, die Schöpfer des Transdifferenz-Begriffs, den ersten, in dieses Konzept einführenden Band Differenzen anders denken (2005). Weggefallen war der voranstehende kulturoptimistische Teil des Terentianus Maurus-Zitates, der da heißt: pro captu lectoris.
Letzteren möchten wir für den vorliegenden Band wieder aufnehmen und produktiv werden lassen, verweist er doch auf die Funktionsweise menschlicher Erkenntnis im Allgemeinen und wissenschaftlichen Erkennens im Besonderen. Erst durch den Rezipienten erhalten unsere wissenschaftlichen Begriffe und Konzepte Kontur und Geltung; erst durch ihn wird es möglich, die Nützlichkeit, aber auch die Grenzen neuer wissenschaftlicher Konzeptionen zu beurteilen. Erst im Unterschied der Sichtweisen, der verschiedenen wissenschaftlichen Kulturen (der Differenz), erweist sich die besondere Leistungsfähigkeit neuer Konzeptionen bzw. Theorien, kann Neues entstehen. Insofern wären Scheu vor der Bewertung durch Andere oder ein Reflex der Verteidigung in Form von Thesen und Antithesen der Ideengeber, die lediglich Ablehnung oder Zustimmung zum Ausdruck bringen, fehl am Platz. Vielmehr ist frischer Wagemut erforderlich, ungeachtet dessen, ob man im Denken auch Sackgassen beschritten haben könnte, hinauszugehen und sich und die Seinen schätzen zu lassen. Überbehütete Kinder missraten leicht. In den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften vollzieht sich dieser Prozess primär im Diskurs, im interdisziplinären Dialog bzw. im Polylog der einzelnen wissenschaftlichen Paradigmen. Einen solchen Polylog über die Möglichkeiten und Grenzen von Transdifferenz legen wir mit diesem Folgeband vor.
Hatte der Band Differenzen anders denken noch die Funktion, das Transdifferenzkonzept einer breiten (wissenschaftlichen) Öffentlichkeit vorzustellen, in die kulturtheoretische Debatte einzuordnen und von anderen Konzeptionen systematisch abzugrenzen, so gehen wir mit diesem Band weit über die reine Standortbestimmung und Selbstvergewisserung – die zudem im Entstehenskontext von Transdifferenz verhaftet blieb – hinaus (zur Entstehung von |10|Transdifferenz vgl. Allolio-Näcke & Kalscheuer 2005a). So wie ein Heranwachsender seine Kinderstube verlassen muss, um erwachsen zu werden, muss auch Transdifferenz ihren Entstehungskontext verlassen und sich im wissenschaftlichen Diskurs bewähren. Hierzu bedarf es eines Mehrwertes gegenüber den bereits etablierten Paradigmen: Was leistet das Konzept der Transdifferenz, was andere Konzepte nicht zu leisten imstande sind? Um diese Frage zu klären, haben wir das Transdifferenzkonzept der interdisziplinären Einordnung und Bewertung ausgesetzt, wovon die Beiträge in diesem Band zeugen.
Wir knüpfen mit dem vorliegenden Band direkt an Differenzen anders denken an und haben den Autorinnen und Autoren diesen als Diskussionsgrundlage vorgelegt, da bislang außer einem Themenheft des Journal for the Study of British Cultures keine inhaltlich weiterführende Publikation zum Transdifferenz-Begriff erschienen ist. Selbst der Beitrag von Breinig und Lösch im genannten Themenheft unterscheidet sich nur unwesentlich von vorherigen Fassungen (vgl. Lösch 2005a und b) – lediglich eine schon 2005 angedeutete Verschiebung stärker hin auf den ästhetischen Bereich lässt sich nun fassbarer machen (vgl. Breinig & Lösch 2005: 455, Punkt 9; 2006). Bestehen bleiben auch nach diesem Text die bereits 2005 vorgetragenen Fragen nach dem Mehrwert und dem Status der Transdifferenz.
Insbesondere die Frage nach dem, was Transdifferenz sei, bleibt virulent, wenn Frank Schulze-Engler 2006 feststellt, dass man in Breinig und Löschs Konzeption mindestens drei Varianten von Transdifferenz konstatieren muss: a) eine heuristische Kategorie bzw. einen Begriff, b) ein Phänomen im Sinne einer Grundvoraussetzung aller Kultur bzw. eines strukturellen Elements der sozialen Welt und c) ein ästhetisches Konzept, das auf den kreativen Gebrauch von Sprache verweist (vgl. Schulze-Engler 2006: 124). Nichts anderes hatten wir bereits 2005 konstatiert, indem wir die Frage stellten: Ist die Transdifferenz ein »Begriff, Phänomen oder Konzept«? Je nachdem, wie die Antwort ausfällt, hatten wir weiter vorgeschlagen, müsste man die folgenden Ebenen unterscheiden, auf denen man sich mit Transdifferenz beschäftigen kann: »eine theoretisch-analytische, eine phänomenologisch-empirische und eine kritisch-normative Ebene« (Allolio-Näcke & Kalscheuer 2005b: 452). Die theoretisch-analytische Ebene verweist auf den heuristischen (Mehr-)Wert, den eine wissenschaftliche Kategorie hervorbringen kann: Welche Aspekte von Welt werden durch die Kategorie erschlossen, die mit Hilfe anderer bereits vorhandener Kategorien nicht erfasst werden können? Die kritisch-normative Ebene beleuchtet vor allem die definitorische Abgrenzung zu anderen Begriffen, aber auch zu konkreten Phänomenen. Sie ist daher um Trennschärfe bemüht, geht es doch hier um die Leistungsfähigkeit eines Begriffs für die wissenschaftliche wie auch für |11|die Lebenspraxis. Die phänomenologisch-empirische Ebene schließlich impliziert die Anwendung des Konzeptes auf verschiedene Bereiche.
Dass sich nun diese drei Ebenen erneut auch für diesen Band als die Struktur gebenden erweisen, scheint in der Anlage des oft zurückgewiesenen aber dereinst vertretenen Anspruchs begründet, Transdifferenz sei – heuristisch gesprochen – ein »umbrella concept« für all jene nicht-linearen Phänomene, die sich nicht in eine klar abgrenzbare (binäre) Differenz einordnen lassen (vgl. Breinig & Lösch 2002: 22), die sich einer Bedeutungskonstruktion aufgrund binärer Denkmodelle widersetzen (vgl. Breinig & Lösch 2002: 23). Dies zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie unser Denken uns ganzheitlich im Handeln – und sprachlicher Ausdruck ist nur eine Sonderform des Handelns – beeinflusst, ja durchdringt. Es genügt eben nicht, kosmetische Veränderungen der Texte vorzunehmen, die zwar den Allgemeingültigkeitsanspruch zurücknehmen, aber ansonsten inhaltlich unverändert bleiben. Die in den verbleibenden Textteil eingeflossenen (Allmachts-)Gedanken zeitigen weiter ihre Wirkung. Zur Fokussierung der drei Ebenen hat sicher auch das Wie des Formulierens beider Autoren beigetragen, die in einer schwerfälligen und zudem mit Fremdwörtern überfrachteten Sprache zwischen ja und nein, zwischen Zustimmung und Ablehnung oszillieren und somit fast an dem Rand dessen geraten, was sie für die Transdifferenz selbst in Anspruch nehmen: das Sich-Widersetzen jeglicher Bedeutungskonstruktion. Insofern haben wir keine Struktur an den Band herangetragen, vielmehr strukturierte er sich von selbst und liegt nun in eben dieser heuristischen Dreiteilung vor.
Im ersten Teil des Bandes wird Transdifferenz vor dem Spiegel anderer kulturwissenschaftlicher Konzepte diskutiert, wobei es nicht wie in Differenzen anders denken um eine generelle Abgrenzung geht; es werden nunmehr Feinheiten in den Unterschieden und Gemeinsamkeiten herausgestellt, denn es gibt »bestimmte Aspekte, die den Referenzbereichen dieser Begriffe gemeinsam sind« (Breinig & Lösch 2005: 454). Konkret stehen hierbei Hybridität (Ha) und Transkulturalität im phänomenologischen (Mae), Dekonstruktion (Frank), Diskursanalyse (Reckwitz) und Kulturhermeneutik im methodischen (van Oorschot) sowie Modelle zum Umgang mit kulturellen Differenzen im heuristischen Referenzbereich im Vordergrund: in der Interkulturellen Psychologie (Schmid & Thomas) und im Feld der postcolonial, gender und science studies (Reuter & Wiesner). Im Wesentlichen wird hier nach dem Mehrwert der Transdifferenz gegenüber anderen wissenschaftlichen Denkmodellen gefragt.
Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich grundsätzlicher mit der Frage nach dem Verhältnis von (kultureller) Identität und Differenz – es geht also um normative Setzungen und Abgrenzungen. So zeigen sich Parallelen und Unterschiede insbesondere zu kosmopolitisch hybriden Selbstentwürfen |12|(Keupp), poststrukturalistischen Zugängen zur Identitätsthematik (Moebius) sowie der Konzeption Grenzen des Verstehens (Kogge), aber auch zur sozialwissenschaftlichen Differenzierungstheorie (Imhof) und anderen Differenzansätzen (Jain). Auch wenn die Beiträge je drei Mal mit Identität und drei Mal mit Differenz überschrieben sind, so müssen sich doch alle mit beidem auseinandersetzen, denn es gibt keine Identität ohne Differenz(en bzw. -ierungen) und vice versa – oder in der Logik des Transdifferenzkonzepts formuliert: »Es gibt keine Transdifferenz ohne Differenz« (Lösch 2005a: 23). Dies wird besonders deutlich, wenn das Transdifferenzkonzept im Kontext eines ambivalenten Kulturverständnisses diskutiert wird (Geisen).
Im abschließenden dritten Teil wird die noch verbleibende phänomenologische Ebene ins Blickfeld gerückt. Die Bandbreite der Phänomene, die hier diskutiert wird, erstreckt sich vom konkreten Leib (Gugutzer), über dessen Bild und die Abbildung von Welt (Krines), ethnologische (Antweiler) und pädagogische (Mecheril, Probadnick & Scherschel) sowie Fallstudien aus der Konfliktforschung (Bischof & Schneider) bis hin zu abstrakten aber wirksamen Phänomenen wie Europa als Leitidee zukünftiger Entwicklung auf unserem Kontinent (Gostmann) und dem Ereignen des Noch-Nicht-Gewesenen (Ercan). Allein hierin zeigt sich auch die Verlockung, der Breinig und Lösch dereinst erlegen waren, mit Transdifferenz ein Instrument zu schaffen, dem es gelingt, die gesamte Bandbreite konkreter wie abstrakter Phänomene zusammenzubinden.
Am Ende des Bandes werden wir als Herausgeber in Tradition von Differenzen anders denken die verschiedenen Ideen, Vorschläge und kritischen Anmerkungen der Einzelbeiträge in einen Polylog zusammenführen, miteinander ins Gespräch bringen, bündeln, diskutieren und hinsichtlich einer theoretischen wie praktischen Weiterentwicklung von Transdifferenz Vorschläge unterbreiten.
Nur soviel sei bereits an dieser Stelle verraten: Die Transdifferenz hat ihre Feuertaufe bestanden, auch wenn sie sich in ihrem jugendlichen Leichtsinn noch einige Hörner abstoßen muss.
Wir möchten uns bei allen Autorinnen und Autoren bedanken, die diesen Band möglich gemacht haben, indem sie sich auf die Transdifferenz eingelassen und mit ihr konstruktiv gerungen haben. Der Wilhelm-Hahn-und-Erben-Stiftung und der Frau Dorothea und Dr. Dr. Richard Zantner-Busch-Stiftung danken wir für die großzügige finanzielle Unterstützung in Form von Druckkostenzuschüssen, ohne die ein solches Projekt heute kaum noch realisierbar wäre. In diesem Zusammenhang danken wir Prof. Dr. Jürgen van Oorschot und Prof. Dr. Gerhard Wagner, dass sie unsere Anträge bei den Stiftungen namentlich befürwortet haben. Wir bedanken uns bei Steven Graupner, der zum zweiten Mal zum Cover eine einzigartige Grafik beigesteuert hat, die trotz ihrer |13|Einzigartigkeit ein Wiedererkennen des Layouts von Differenzen anders denken ermöglicht. Frau Andrea Beyer danken wir für die gewissenhafte und kritische Lektüre der Texte. Frau Dr. Judith Wilke-Primavesi hat ihrerseits durch das schöne Cover zum Wiedererkennen beigetragen und erneut mit kritisch-konstruktiver Begleitung und Betreuung dem Projekt gut getan, dafür auch unser herzlicher Dank an sie und den Campus Verlag.
Britta Kalscheuer, Lars Allolio-Näcke
Literatur
Allolio-Näcke, Lars & Kalscheuer, Britta (2005a). Wege der Transdifferenz. In: dies. & Arne Manzeschke (Hrsg.), Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt am Main: Campus, S. 15–25.
Allolio-Näcke, Lars & Kalscheuer, Britta (2005b). Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz – Resümee und Ausblick. In: Differenzen anders denken, S. 443–453.
Breinig, Helmbrecht & Lösch, Klaus (2002). Introduction: Difference and Transdifference. In: Helmbrecht Breinig, Jürgen Gebhardt & Klaus Lösch (Eds.), Multiculturalism in Contemporary Societies: Perspectives on Difference and Transdifference. Erlangen: Universitätsbund, pp. 11–36 (= Erlanger Forschungen: Reihe A, Geisteswissenschaften, Band 101).
Breinig, Helmbrecht & Lösch, Klaus (2005). Lost in Transdifference: Thesen und Antithesen. In: Differenzen anders denken, S. 454–455.
Breinig, Helmbrecht & Lösch, Klaus (2006). Transdifference. In: Journal for the Study of Britisch Cultures, 13 (2), pp. 105–122.
Lösch, Klaus (2005a). Begriff und Phänomen der Transdifferenz: Zur Infragestellung binärer Differenzkonstrukte. In: Differenzen anders denken, S. 26–49.
Lösch, Klaus (2005b). Transdifferenz. Ein Komplement der Differenz. In: Ilja Srubar, Joachim Renn & Ulrich Wenzel (Hrsg.), Kulturen vergleichen. Sozial- und kulturwissenschaftliche Grundlagen und Kontroversen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 252–270.
Schulze-Engler, Frank (2006). What’s the Difference? Notes towards a Dialogue between Transdifference and Transculturality. In: Journal for the Study of Britisch Cultures, 13 (2), pp. 123–132.