Kai-Fu Lee
AI
SUPERPOWERS
China, Silicon Valley und
die neue Weltordnung
Aus dem Englischen von Jan W. Haas
Campus Verlag
Frankfurt / New York
Über das Buch
Kai-Fu Lee: China, USA und die künstliche Intelligenz Wer wissen will, wie sich in der Welt die Gewichte verschieben, muss sich die Künstliche-Intelligenz-Industrie (AI-Industrie) anschauen. Kai-Fu Lee, Ex-Google-China-CEO, milliardenschwerer Start-up-Investor und einer der weltweit renommiertesten AI-Experten, bietet in seinem Buch erstmals die chinesisch-amerikanische Perspektive. Er berichtet aus erster Hand - wie die Business-Kulturen aufeinanderprallen, - warum die Silicon-Valley- Strategien in China scheitern mussten, - wie ein chinesisches Google (Baidu), Facebook (WeChat) und Amazon (Alibaba) sowie tausende kleine AI-Unternehmen längst Maßstäbe setzen und sich ungebremst an die Weltspitze arbeiten. Lee fordert, dass die Weltmächte gemeinsam die Verantwortung für die sich neu formierende Wirtschaft übernehmen.
Vita
Der ehemalige Google-China-Chef Kai-Fu Lee, vorher in leitenden Positionen bei Microsoft, SGI und Apple, ist Chairman und CEO von Sinovation Ventures und Präsident des Artificial Intelligence Institute von Sinovation Ventures. Er hat in den USA und in Hongkong studiert und promoviert. 2013 wurde er vom Time Magazine als eine der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten ausgewählt, er zeichnet verantwortlich für zehn US-Patente, hat in China acht Bücher veröffentlicht und hat mehr als 50 Millionen Follower in Social Media.
Für Raj Reddy,
meinen Mentor in der Welt der künstlichen Intelligenz
wie auch im Leben
VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE
EINLEITUNG
Kapitel 1
Chinas Sputnik-Moment
Der chinesische Blickwinkel
Neue Spielregeln für die Welt der Spiele
Der Geist in der Go-Maschine
Eine kurze Geschichte von Deep Learning
Deep Learning: Ein Blick hinter den Vorhang
KI und die internationale Forschung
Das Zeitalter der Implementierung
Das Zeitalter der Daten
Vorteil China
Die Waagschale neigt sich
Die wirklichen Krisen
Die Weltordnung der KI
Kapitel 2
Nachahmer im Kolosseum
Kulturunterschiede
Des Kaisers neue Uhren
Die Nachahmerlein
Bausteine und Stolpersteine
»Umsonst ist kein Geschäftsmodell«
Gelbe Seiten kontra Basar
Warum die Giganten des Silicon Valley in China scheitern
Bei Start-ups und im Krieg sind alle Mittel recht
Der schlanke Gladiator
Die Rache des Wang Xing
Unternehmer, Strom und Öl
Kapitel 3
Chinas alternatives Internet-Universum
Internet-Neuland
Das Saudi-Arabien der Daten
Der mobile Sprung
WeChat: Bescheidene Anfänge, große Ambitionen
Das Pearl Harbor der mobilen Zahlungsdienste
Bereite den Boden, und sie werden kommen
Innovation für die breite Masse
Ein tiefgreifender Kulturwandel
O2O im ganzen Land
Zurückhaltung versus voller Einsatz
Scannen oder gescannt werden
Springfrösche und Taxifahrer
Die Wiederauferstehung der Pekinger Fahrräder
Verwischte Grenzen und schöne neue Welten
Kapitel 4
Zwei Länder, zwei Erzählungen
Der Stoff, aus dem KI-Supermächte gemacht sind
Nobelpreisträger und unbekannte Tüftler
Informationsaustausch
Eine Konferenz mit Terminkonflikten
Die Sieben Riesen und das nächste Deep Learning
Google gegen den Rest der Welt
Stromnetze versus KI-Batterien
Der Chip auf Chinas Schultern
Die Geschichte zweier KI-Pläne
Die KI-Wette
Das Dilemma um selbstfahrende Autos
Kapitel 5
Die vier Wellen der KI
Die Wellen
Die erste Welle: Internet-KI
Algorithmen und Redakteure
Robotergenerierte Berichte und Fake News
Die zweite Welle: Business-KI
Business-KI als Geschäftsmodell
Wozu noch Banker beschäftigen?
»Der Algorithmus hat jetzt Zeit für Sie«
Über Richter richten
Wer liegt in Führung?
Die dritte Welle: Wahrnehmungs-KI
Die Grenzen verwischen: Unsere »OMO«-Welt
»Wenn jeder Einkaufswagen Ihren Namen kennt«
Ein OMO-gestütztes Schulwesen
Öffentliche Räume und persönliche Daten
Made in Shenzhen
Mi, der Vorreiter
Die vierte Welle: Autonome KI
Erdbeerfelder und Roboterkäfer
Schwarmintelligenz
Google versus Tesla: Ein Vergleich zweier Herangehensweisen
Der chinesische »Tesla«-Ansatz
Das autonome Gleichgewicht der Kräfte
Markteroberung und die Bewaffnung der Rebellen
Im Taxigewerbe rumpelt es kräftig
Ein Blick in die Zukunft
Kapitel 6
Zwischen Utopie, Dystopie und wahrer KI-Krise
Ein Realitätstest
Peking falten: Science-Fiction-Visionen und eine KI-Volkswirtschaft
Die wahre KI-Krise
Die Techno-Optimisten und der »Ludditen-Trugschluss«
Das Ende des blinden Optimismus
Warum KI eine Universaltechnologie ist
Hardware: besser, schneller, stärker
Was KI bewirken kann und was nicht: Zwei Arbeitsplatzrisiko-Diagramme
Was die Forschung uns verrät
Was die Forschung übersehen hat
Zwei Arten von Arbeitsplatzverlusten: unmittelbare Verdrängung und grundlegende Umwälzungen
Ein Fazit
Die USA und China im Vergleich: Die Moravec’sche Rache
Der schnelle Aufstieg der Algorithmen – und der gemächlichere der Roboter
Die KI-Supermächte und der Rest der Welt
Wie KI die Ungleichheit verschärft
Düstere Aussichten
Die persönliche Ebene: Eine bevorstehende Sinnkrise
Kapitel 7
Was der Krebs uns lehrt
Der 16. Dezember 1991
Der Ironman
Welche Inschrift soll Ihr Grabstein tragen?
Diagnose
Das Testament
Dem Tod entgegenleben
Der Meister auf dem Berg
Zweitmeinungen und zweite Chancen
Erleichterung und Neugeburt
Kapitel 8
Wie die Menschheit neben KI bestehen kann: eine Blaupause
Eine Feuerprobe und der neue Gesellschaftsvertrag
Die chinesische Sicht auf KI und den Arbeitsmarkt
Drei Ansätze: Reduzieren, umschulen, umverteilen
Die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens
Die »Zauberstab«-Mentalität des Silicon Valley
Eine Marktsymbiose: Optimierungsaufgaben und menschliche Note
Finks Schreiben und das neue Impact Investing
Tiefgreifende Veränderungen und der starke Staat
Der Chauffeur-CEO
Das Sozialinvestitionsgehalt: Fürsorge, gemeinnützige Dienste und Fortbildung
Offene Fragen und schwerwiegende Komplikationen
Ein Blick in die Zukunft und über den Tellerrand
Kapitel 9
Wie KI die Welt verändert
Eine Zukunft mit KI ganz ohne KI-Wettlauf
Von anderen lernen: Weltweite Einsichten für das KI-Zeitalter
Die KI-Zukunft liegt in unserer Hand
Herzen und Köpfe
ANMERKUNGEN
1. Chinas Sputnik-Moment
2. Nachahmer im Kolosseum
3. Chinas alternatives Internet-Universum
4. Zwei Länder, zwei Erzählungen
5. Die vier Wellen der KI
6. Zwischen Utopie, Dystopie und wahrer KI-Krise
7. Was der Krebs uns lehrt
8. Wie die Menschheit neben KI bestehen kann: eine Blaupause
9. Wie KI die Welt verändert
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DANKSAGUNG
ÜBER DEN AUTOR
Als junger Doktorand an der Carnegie Mellon University Ende der 1980er-Jahre interessierte ich mich sehr für die Bereiche maschinelles Lernen und Spracherkennung. Damals hätte ich mir nicht träumen lassen, dass die künstliche Intelligenz sich in drei Jahrzehnten von einem wunderbaren Nischenbereich der wissenschaftlichen Forschung in die treibende Kraft der umfassendsten technologischen Revolution, die unsere Gesellschaft je erlebt hat, verwandeln würde.
Wäre ich damals gebeten worden zu prognostizieren, welche Weltregionen bei Forschung und Entwicklung im Bereich der KI am ehesten eine Führungsrolle einnehmen würden, hätte ich sicher Europa im gleichen Atemzug mit den USA genannt. Schließlich wurden die Entwickler des Deep Learning und Träger des Turing Award 2018 – Geoffrey Hinton, Yann LeCun und Yoshua Bengio – als Europäer geboren.
Doch im Laufe der Jahre geschah etwas Seltsames. Während die Region immer noch einen Vorsprung in Bezug auf den Kernbereich der KI-Forschung besitzt, sind zahlreiche europäische KI-Forscher und -Ingenieure auf der Suche nach lukrativen und herausfordernden Erwerbsmöglichkeiten in die Vereinigten Staaten ausgewandert – oder haben sich US-amerikanischen Unternehmen mit Büros auf dem europäischen Kontinent angeschlossen. Die USA beheimaten alle westlichen Technologieriesen, die im Bereich der KI führend sind, und mit ihren beneidenswert umfangreichen KI-Investitionen wirken sie hochgradig anziehend auf junge Talente, die nach Möglichkeiten suchen, ihr Wissen bei der Entwicklung unzähliger KI-Lösungen einzusetzen, die unsere Lebens- und Arbeitsweise verändern werden.
Unterdessen hat sich China zu einem der weltweit führenden Anbieter von profitablen KI-Lösungen entwickelt. Ich erläutere in meinem Buch, auf welche Faktoren sich diese neu erworbene technologische Dominanz zurückführen lässt. Die schiere Größe der chinesischen Bevölkerung und die Tatsache, dass sie die Mobilfunktechnologie als Teil ihres täglichen Lebens akzeptiert, haben China einen Vorteil bei der Erhebung von Qualitätsdaten verschafft, die für die Entwicklung von KI entscheidend sind. Hinzu kommen die unermüdliche »The-Winner-takes-all«-Unternehmenskultur, die langjährige Wagniskapitalfinanzierung sowie staatliche Anreize für die Entwicklung von KI.
All dies ist auch in Europa auf dem Vormarsch, doch der Versuch, zu den KI-Giganten – China und den USA – aufzuschließen, ist ein mühsames Unterfangen und ein Wettlauf gegen die Zeit.
Europa muss Arbeitsplätze für seine talentierten KI-Ingenieure schaffen, die ihr Studium an den wissenschaftlichen Kompetenzzentren des Kontinents abschließen. Das Wagniskapital-Ökosystem verbessert sich zwar aktuell, muss aber noch weitaus leistungsfähiger werden, um europäische KI-Unternehmer wirksam zu fördern und sie von einer Auswanderung abzuhalten. Die Europäische Union wiederum hat die Möglichkeit, ihren Binnenmarkt-Ansatz bei der Kommerzialisierung von KI zu festigen.
Es ist zwar bekannt, dass die Europäer ihre Privatsphäre sehr schätzen, doch Regulierungsbehörden und politische Entscheidungsträger sollten ein angemessenes Gleichgewicht zwischen der Regulierung von KI und der Innovationsförderung anstreben. Die Privatsphäre ist nicht binär; sie ist eine Entscheidung, die mit Kompromissen einhergeht. Und obwohl es äußerst wichtig ist, Missbrauch mithilfe geeigneter Regulierungsmaßnahmen zu verhindern, sollten diese mit oft wirksameren Technologiekontrollen einhergehen.
Die KI wird bald wie Strom sein – allgegenwärtig und unentbehrlich. Daraus erwächst eine große Verantwortung, dafür zu sorgen, dass die KI ihrem Potenzial, als positive Kraft zu wirken, gerecht werden kann – sei es bei der Schaffung von Arbeitsplätzen, beim medizinischen Fortschritt, bei der Transformation von Industrieprozessen, beim Zugang zu besserer Bildung oder bei der Erleichterung unseres Alltags durch unzählige Annehmlichkeiten – sowohl große als auch kleine.
Die Übergangsphase hat bereits begonnen, und obwohl es 15 Jahre oder noch länger dauern könnte, bis sich die KI-Technologien branchenübergreifend auswirken, ist schnelles Handeln gefragt: Wir müssen die erforderliche Infrastruktur schaffen, um massive Störungen zu vermeiden und die menschlichen Notlagen abzumildern, die zwangsläufig in Form von Arbeitsplatzverlagerungen auftreten werden.
Ich bin äußerst optimistisch, was das Potenzial der KI anbelangt, unser Leben zum Besseren zu verändern. Gleichzeitig bin ich mir der Missbrauchsgefahren bewusst, die mit KI einhergehen. Ungeachtet des globalen Wettbewerbs um die technologische Vorherrschaft ist ein konzertiertes, länderübergreifendes Vorgehen unerlässlich, um sicherzustellen, dass die KI ihr Potenzial ausschöpfen kann. Ich fordere die Unternehmen in Europa und anderswo auf, zu prüfen, inwiefern KI zur Steigerung ihrer Gewinnmarge beitragen könnte. Sie sollten zudem erkennen, welch wichtige Rolle On-the-Job-Training bei dem Bemühen spielt, sicherzustellen, dass sich ihre Arbeitskräfte an die bevorstehenden Veränderungen anpassen können. Ebenso vertraue ich darauf, dass Bildung, Qualifizierung, Sicherheit und die Schaffung von Arbeitsplätzen für alle Regierungen oberste Priorität genießen, während wir den größten technologischen Wandel aller Zeiten durchlaufen.
Was mich jeden Tag antreibt, ist mein grundlegender Glaube an die Fähigkeit der KI, unsere Menschlichkeit zu stärken. Ich hoffe, dass dieses Buch zu weiteren Gesprächen und zur Einleitung förderlicher Maßnahmen in Bezug auf KI anregt.
Kai-Fu Lee, Juni 2019
Eine der Verpflichtungen, die mit meiner Tätigkeit als Risikokapitalgeber einhergehen, besteht darin, dass ich oft Vorträge über künstliche Intelligenz (KI) beziehungsweise Artificial Intelligence (AI) vor Mitgliedern der globalen wirtschaftlichen und politischen Elite halte. Zu den Freuden meiner Arbeit gehört, manchmal mit Kindergartenkindern über genau dasselbe Thema sprechen zu können. Überraschenderweise stellen mir diese beiden sehr unterschiedlichen Zuhörergruppen oft die gleichen Fragen. Während eines kürzlichen Besuchs in einem Pekinger Kindergarten quetschte mich eine Schar von Fünfjährigen über unsere KI-Zukunft aus.
»Werden wir Roboterlehrer haben?«
»Was, wenn ein Roboterauto auf ein anderes Roboterauto stößt und wir dann verletzt werden?«
»Werden die Leute Roboter heiraten und mit ihnen Babys bekommen?«
»Werden Computer so klug werden, dass sie uns herumkommandieren können?«
»Wenn Roboter alles machen, was machen wir dann überhaupt?«
Die Fragen dieser Kindergartenkinder spiegelten jene einiger der mächtigsten Menschen der Welt wider, und unser Austausch war in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Zum einen belegte er, dass KI ins allgemeine Bewusstsein gerückt ist. Noch vor wenigen Jahren war künstliche Intelligenz ein Feld, das überwiegend in akademischen Forschungslabors und Science-Fiction-Filmen anzutreffen war. Der Durchschnittsbürger ahnte vielleicht, dass es bei KI darum ging, Roboter zu bauen, die wie Menschen denken können, doch diese Aussicht hatte nahezu nichts mit unserem täglichen Leben zu tun.
Heute hat sich das grundlegend geändert. Unsere Zeitungen sind voller Artikel über die neuesten KI-Innovationen. Fast täglich findet irgendwo eine Wirtschaftskonferenz statt, die sich mit den Möglichkeiten zur Gewinnsteigerung mithilfe von KI beschäftigt. Und Regierungen weltweit verabschieden nationale Pläne zur Nutzung der Technologie. Die KI steht plötzlich im Mittelpunkt des öffentlichen Diskurses, und das aus gutem Grund.
Bedeutende theoretische Durchbrüche in der KI haben endlich zu praktischen Anwendungen geführt, die unser Leben verändern werden. Viele unserer Lieblings-Apps und -Websites werden schon heute von KI betrieben, und in den kommenden Jahren wird KI unsere Autos steuern, unsere Portfolios verwalten, vieles von dem produzieren, was wir kaufen, und uns möglicherweise unseren Arbeitsplatz kosten. Diese Nutzungsmöglichkeiten sind voller Versprechen und potenzieller Gefahren, und wir müssen auf beides vorbereitet sein.
Mein Gespräch mit den Kindergartenkindern war auch wegen des Ortes, an dem es stattfand, aufschlussreich. Noch vor nicht allzu langer Zeit lag China bei der künstlichen Intelligenz um Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte hinter den Vereinigten Staaten zurück. Doch in den letzten Jahren hat China Feuer gefangen, und eine Welle der Begeisterung hinsichtlich KI ist über das Land geschwappt, die jene im Rest der Welt noch in den Schatten stellt. Diese Begeisterung hat sich von der Technologie- und Geschäftswelt auf die Politik übertragen und ist bis in die Kindergartenklassen von Peking vorgedrungen.
Die breite Unterstützung für das Thema KI spiegelt die wachsende Stärke Chinas in diesem Bereich wider und unterfüttert sie gleichzeitig. Chinesische KI-Unternehmen und -Forscher haben bereits beträchtlichen Boden gegenüber ihren US-amerikanischen Kollegen gutgemacht und experimentieren mit innovativen Algorithmen und Geschäftsmodellen, die die chinesische Wirtschaft umwälzen dürften. Gemeinsam haben diese Unternehmen und Wissenschaftler China in eine echte KI-Supermacht verwandelt, die das einzige ernst zu nehmende Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten hinsichtlich dieser neuen Technologie darstellt. Die Art und Weise, wie sich der Wettbewerb und die Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Ländern im Bereich der KI gestalten, wird dramatische Auswirkungen auf die Weltwirtschaft und die globale Ordnungspolitik haben.
Und schließlich stolperte ich während meines Austausches mit diesen jungen Wissbegierigen über eine tiefere Wahrheit: Wenn es darum geht, unsere KI-Zukunft zu verstehen, sind wir alle wie diese Kindergartenkinder. Wir alle stecken voller Fragen, zu denen wir die Antworten nicht kennen, und versuchen, mit einer Mischung aus kindlichem Staunen und den Sorgen eines Erwachsenen in die Zukunft zu blicken. Wir möchten wissen, was KI-gesteuerte Automatisierung für unsere Arbeit und für unser Sinnstreben bedeutet. Wir wollen erfahren, welche Menschen und Länder von dieser gewaltigen Technologie profitieren werden. Wir fragen uns, ob die KI uns ein Leben in materiellem Überfluss ermöglichen wird und ob es in einer Welt, die von intelligenten Maschinen gesteuert wird, noch Raum für Menschlichkeit gibt.
Niemand besitzt eine Kristallkugel, die uns die Antworten auf diese Fragen offenbaren könnte. Doch angesichts dieser tiefgreifenden Unsicherheit ist es umso wichtiger, dass wir diese Fragen stellen und alles daransetzen, die Antworten zu erforschen. Dieses Buch ist mein Versuch, genau dies zu tun. Ich bin kein Orakel, das unsere KI-Zukunft exakt vorhersagen kann, doch bei der Untersuchung dieser Fragen kann ich meine Erfahrung als KI-Forscher, Technologiemanager und heutiger Risikokapitalgeber in China und den Vereinigten Staaten einbringen. Ich hoffe, dass dieses Buch etwas Licht auf die bisherige Entwicklung wirft und auch neue Gespräche darüber anregt, wie es nun weitergehen wird.
Eine Prognose darüber, wie die KI-Geschichte enden wird, gestaltet sich auch deshalb so schwierig, weil diese Geschichte nicht nur von Maschinen handelt. Sie erzählt auch von Menschen mit freiem Willen, der es ihnen erlaubt, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und ihr eigenes Schicksal zu gestalten. Unsere KI-Zukunft wird von uns selbst geformt, und sie wird die Entscheidungen, die wir treffen, und die Maßnahmen, die wir ergreifen, widerspiegeln. Ich hoffe, dass wir im Zuge dieses Prozesses tief in uns selbst und bei anderen nach den Werten und der Weisheit suchen werden, die uns leiten können.
Lassen Sie uns in diesem Geiste mit der Erkundung beginnen.
Der chinesische Teenager mit der quadratischen Brille schien kaum dafür geeignet, als einsamer Held die Menschheit zu verteidigen. In einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte gekleidet, rieb sich Ke Jie die Schläfen und rätselte über das Problem, das sich vor ihm auftat. Der 19-Jährige, dessen Selbstvertrauen normalerweise an Überheblichkeit grenzte, wand sich in seinem Ledersessel. An einem anderen Ort hätte man ihn vielleicht für einen ganz normalen Abiturienten gehalten, der sich mit einem undurchdringlichen Geometriebeweis abquälte.
Doch an diesem Mainachmittag des Jahres 2017 befand er sich in einem allumfassenden Kampf gegen eine der intelligentesten Maschinen der Welt: AlphaGo, ein Kraftpaket der künstlichen Intelligenz, unterstützt von dem wohl weltweit führenden Technologieunternehmen, Google. Das Schlachtfeld war ein von kleinen schwarzen und weißen Steinen bevölkertes Brett mit 19 mal 19 Linien, den Rohstoffen des trügerisch komplexen Go-Spiels. Während des Spiels setzen zwei Spieler abwechselnd Steine auf das Brett und versuchen, die Steine des Gegners zu umkreisen. Kein Mensch der Welt konnte das besser als Ke Jie, doch heute trat er gegen einen Go-Spieler an, der auf einem bislang ungekannten Niveau agierte.
Go wurde vermutlich vor mehr als 2 500 Jahren erfunden und ist damit älter als jedes andere Brettspiel, das heute noch gespielt wird. Im alten China stellte Go eine der vier Kunstformen dar, die jeder chinesische Gelehrte beherrschen sollte. Man glaubte, dass das Spiel seine Spieler mit einer Zen-gleichen intellektuellen Reife und Weisheit erfüllte. Während Spiele wie das westliche Schach von kruder Taktik bestimmt waren, beruhte das Go-Spiel auf geduldiger Positionierung und langsamer Einkreisung, was es zu einer Kunstform, einem Gemütszustand machte.
Die lange Geschichte des Go-Spiels geht mit seiner hohen Komplexität einher. Um die Grundregeln des Spiels auszudrücken, genügen neun Sätze, doch die Anzahl der möglichen Positionen auf einem Go-Brett übersteigt die Anzahl der Atome in dem uns bekannten Universum.1 Die Komplexität des Entscheidungsbaums hatte dazu geführt, dass die Aufgabe, den Weltmeister des Go zu besiegen, für die Entwickler künstlicher Intelligenz als eine Art Mount Everest galt – ein Problem, dessen schiere Größe jeden Lösungsversuch zunichte gemacht hatte. Poetisch veranlagte Menschen sagten, es sei unmöglich, da Maschinen das menschliche Element – ein beinahe mystisches Gespür für das Spiel – fehle. Die Ingenieure befanden, dass das Go-Brett einfach zu viele Positionen ermögliche, sodass ein Computer sie niemals alle auswerten könne.
Doch an diesem Tag schlug AlphaGo Ke Jie nicht nur – es demontierte ihn regelrecht. In drei Marathonspielen von jeweils mehr als drei Stunden Länge konfrontierte Ke das Computerprogramm mit allem, was er aufzubieten hatte. Er testete es mit verschiedenen Ansätzen: konservativ, aggressiv, defensiv und unberechenbar. Nichts davon schien zu funktionieren. AlphaGo gab sich keine Blöße. Stattdessen zog es seinen Schraubstock um ihn herum immer weiter zu.
Was man in diesem Spiel erkannte, hing vom geografischen Standpunkt des Betrachters ab. Manche Beobachter in den Vereinigten Staaten interpretierten die Siege von AlphaGo nicht nur als Triumph der Maschine über den Menschen, sondern auch als Sieg der westlichen Technologieunternehmen über den Rest der Welt. In den vorangegangenen zwei Jahrzehnten hatten Silicon-Valley-Unternehmen die weltweiten Technologiemärkte erobert. Unternehmen wie Facebook und Google hatten sich zu den Standardplattformen für Internetnutzer, die sich vernetzen oder etwas suchen wollten, entwickelt. Im Zuge dessen hatten sie lokale Start-ups in verschiedenen Ländern von Frankreich bis Indonesien geschluckt oder ins Aus befördert. Diese Internet-Giganten hatten den Vereinigten Staaten eine digitale Vorherrschaft beschert, die ihrer militärischen und wirtschaftlichen Macht in der realen Welt entsprach. Mit AlphaGo, einem Produkt des britischen KI-Start-ups DeepMind, das 2014 von Google übernommen worden war, schien der Westen im Begriff zu sein, diese Dominanz auch im Zeitalter der künstlichen Intelligenz aufrechtzuerhalten.
Doch als ich während des Spiels von Ke Jie aus meinem Bürofenster blickte, sah ich etwas ganz anderes. Der Hauptsitz meines Wagniskapitalfonds befindet sich im Pekinger Stadtteil Zhongguancun (ausgesprochen »dschong-gwan-suun«), einem Gebiet, das oft als chinesisches Silicon Valley bezeichnet wird. In Zhongguancun schlägt heute das Herz der chinesischen KI-Bewegung. Die hiesigen Menschen empfanden die Siege von AlphaGo gleichermaßen als Herausforderung und als Inspiration. Sie erwiesen sich als Chinas »Sputnik-Moment« für die Entwicklung künstlicher Intelligenz.
Als die Sowjetunion im Oktober 1957 den ersten von Menschenhand geschaffenen Satelliten in die Erdumlaufbahn schoss, hatte dies unmittelbare und tiefgreifende Auswirkungen auf die amerikanische Psyche und Regierungspolitik. Das Ereignis löste in der breiten Öffentlichkeit der USA Besorgnis über die wahrgenommene technologische Überlegenheit der Sowjetunion aus. Die Amerikaner verfolgten den Lauf des Satelliten am Nachthimmel und lauschten im Radio seinen Funksprüchen. Das Ereignis führte zur Gründung der National Aeronautics and Space Administration (NASA), löste eine umfangreiche staatliche Subventionierung mathematischer und naturwissenschaftlicher Bildungsangebote aus und begründete letztlich den Wettlauf ins All. Diese landesweite US-amerikanische Mobilisierung trug zwölf Jahre später Früchte, als Neil Armstrong als erster Mensch überhaupt den Mond betrat.
Seinen ersten prominenten Sieg feierte AlphaGo im März 2016, als es den legendären koreanischen Spieler Lee Sedol in einer Fünf-Spiele-Serie schlug. Das Ereignis wurde von den meisten US-Amerikanern kaum wahrgenommen, lockte aber mehr als 280 Millionen chinesische Zuschauer an.2 Über Nacht wurde China von einem KI-Fieber erfasst. Die Aufregung nahm zwar nicht ganz die Ausmaße der amerikanischen Reaktion auf Sputnik an, doch sie entzündete inmitten der chinesischen Technologiegemeinschaft ein Feuer der Leidenschaft, das bis heute brennt.
Wenn sich chinesische Investoren, Unternehmer und staatliche Stellen gemeinsam auf eine Branche konzentrieren, können sie die Welt in ihren Grundfesten erschüttern. Tatsächlich treibt China seine Investitionen, seine Forschung und seine unternehmerischen Aktivitäten im KI-Bereich in historischem Maßstab voran. Geld für KI-Start-ups fließt aus den Schatullen von Risikokapitalgebern, Technologiegiganten und der chinesischen Regierung. Auch unter chinesischen Studenten hat sich das KI-Fieber ausgebreitet; sie schreiben sich für Aufbaustudiengänge ein und verfolgen Vorlesungen internationaler Forscher auf ihren Smartphones. Start-up-Gründer überarbeiten nach Kräften ihr Geschäftsmodell, optimieren es oder verpassen ihm zumindest einen neuen Anstrich, um auf der KI-Welle mitreiten zu können.
Weniger als zwei Monate, nachdem Ke Jie sich ein letztes Mal AlphaGo geschlagen geben musste, veröffentlichte die chinesische Zentralregierung einen ehrgeizigen Plan zum Aufbau von Fähigkeiten der künstlichen Intelligenz.3 Er sah zusätzliche Mittel, politische Unterstützung und eine staatliche Koordinationsrolle für die Entwicklung von KI vor. Für die bis 2020 und 2025 zu erreichenden Fortschritte wurden klare Zielmarken vorgegeben, während das Endziel lautete, China bis 2030 in das weltweit führende Land der Innovation im Bereich der künstlichen Intelligenz zu verwandeln, führend in puncto Theorie, Technologie und Anwendung. Im Jahr 2017 hatten chinesische Wagniskapitalgeber bereits auf diesen Aufruf reagiert: Sie investierten Rekordsummen in Start-ups, die sich mit künstlicher Intelligenz beschäftigten, und zeichneten für 48 Prozent aller Risikokapitalfinanzierungen im KI-Bereich weltweit verantwortlich.4 Damit übertrafen sie erstmals die Vereinigten Staaten.
Die zunehmende Unterstützung seitens der chinesischen Regierung lässt sich auf einen Paradigmenwechsel im Verhältnis zwischen künstlicher Intelligenz und Wirtschaft zurückführen. Während die Forschung zu künstlicher Intelligenz über Jahrzehnte hinweg langsam, aber stetig voranschritt, hat dieser Fortschritt erst in jüngster Zeit so weit an Fahrt aufgenommen, dass diese akademischen Leistungen in reale Anwendungen übersetzt werden konnten.
Mit den technischen Herausforderungen, die damit verbunden waren, einen Menschen beim Go-Spiel zu schlagen, war ich bereits vertraut. Als junger Doktorand, der 1986 an der Carnegie Mellon University künstliche Intelligenz erforschte, wurde ich von Raj Reddy betreut, einem Pionier der KI-Forschung. Unter seiner Leitung entwickelte ich 1986 das erste Software-Programm, dem es gelang, ein Mitglied des Weltmeisterschaftsteams für das Spiel Othello zu besiegen.5 Dabei handelte es sich um eine vereinfachte Version von Go, die auf einem Brett mit acht mal acht Feldern gespielt wurde. Es war damals eine ziemliche Leistung, doch die zugrunde liegende Technologie war nicht in der Lage, etwas anderes als einfache Brettspiele in Angriff zu nehmen.
Dasselbe galt, als das von IBM entwickelte Deep Blue 1997 den Schachweltmeister Garry Kasparow in einem Match besiegte, das den Titel The Brain’s Last Stand (deutsch: »Des Gehirns letztes Gefecht«) erhielt. Dieses Ereignis hatte die Besorgnis geweckt, dass unsere Roboter-Oberkommandanten demnächst mit ihrer Eroberung der Menschheit beginnen würden. Doch abgesehen davon, dass es den Aktienkurs von IBM ankurbelte, hatte das Match keinen spürbaren Einfluss auf das Leben in der echten Welt. Es gab nur wenige praktische Anwendungen künstlicher Intelligenz, und die Forscher hatten jahrzehntelang gearbeitet, ohne einen wirklich grundlegenden Durchbruch zu erzielen.
Deep Blue hatte sich letztlich auf »brachiale« Weise zum Sieg gekämpft, wobei es sich weitgehend auf eine maßgeschneiderte Hardware stützte, die es ihm ermöglichte, nach jedem Zug rasch verschiedene Positionen zu generieren und auszuwerten. Es war zudem auf die Hilfe echter Schachmeister angewiesen, die der Software lenkende Heuristiken hinzufügten. Der Sieg war zweifellos eine beeindruckende Leistung der Ingenieurskunst, doch er gründete auf einer seit Langem etablierten Technologie, die nur in sehr begrenzten Bereichen funktionierte. Sobald man Deep Blue aus der geometrischen Schlichtheit eines quadratischen Schachbretts von acht mal acht Feldern herauslöste, wirkte es überhaupt nicht sehr intelligent. Und schließlich gefährdete es nur einen einzigen Job: den des Schachweltmeisters.
Diesmal liegen die Dinge anders. Das Spiel von Ke Jie gegen AlphaGo vollzog sich zwar innerhalb der Grenzen eines Go-Bretts, weist aber einen engen Bezug zu den einschneidenden Veränderungen in der echten Welt auf. Zu diesen Veränderungen zählt auch der chinesische KI-Rausch als Ergebnis der Spiele von AlphaGo und der zugrunde liegenden Technologie, die das Programm zum Sieg führte.
AlphaGo basiert auf Deep Learning, einem bahnbrechenden Ansatz künstlicher Intelligenz, der die kognitiven Fähigkeiten von Maschinen entscheidend verbessert hat. Programme, die auf Deep Learning gründen, können jetzt besser als Menschen Gesichter identifizieren, Sprache erkennen und Kredite vergeben. Jahrzehntelang schien die Revolution der künstlichen Intelligenz immer fünf Jahre entfernt zu sein. Doch mit der Entwicklung von Deep Learning in den letzten Jahren ist diese Revolution endlich eingetreten. Sie wird eine Ära massiver Produktivitätszuwächse einleiten, aber auch zu großen Verwerfungen auf den Arbeitsmärkten führen sowie tiefgreifende sozialpsychologische Auswirkungen auf die Menschen haben – denn künstliche Intelligenz wird menschliche Arbeitskraft in allen möglichen Branchen ersetzen.
Während des Ke-Jie-Spiels waren es nicht die KI-gesteuerten Killerroboter, vor denen einige prominente Technologen warnen, die mich erschreckten. Es waren vielmehr die realen Dämonen, die durch Massenarbeitslosigkeit und die daraus resultierenden sozialen Unruhen heraufbeschworen werden könnten. Die Bedrohung von Arbeitsplätzen wird weitaus schneller eintreten, als von den meisten Experten erwartet, und sie wird sich nicht an der Arbeitskleidung der Menschen festmachen, sondern gut wie schlecht ausgebildete Arbeitskräfte gleichermaßen treffen. Am Tag des bemerkenswerten Spiels zwischen AlphaGo und Ke Jie entthronte Deep Learning den besten Go-Spieler der Welt. Dieselbe arbeitsplatzfressende Technologie kommt bald in eine Fabrik und ein Büro in Ihrer Nähe.
Doch im selben Spiel entdeckte ich auch einen Hoffnungsschimmer. Zwei Stunden und 51 Minuten nach Spielbeginn war Ke Jie an seine Grenzen gestoßen. Er hatte in diesem Spiel sein Bestes gegeben, doch er wusste, dass es nicht reichen würde. Tief über das Brett gebeugt, schürzte er seine Lippen, während seine Augenbrauen zu zucken begannen. Als er erkannte, dass er seine Emotionen nicht mehr im Zaum halten konnte, nahm er seine Brille ab und wischte seine Tränen mit dem Handrücken von den Augen. Es geschah blitzschnell, doch seine Gefühlsregung war für alle sichtbar.
Diese Tränen lösten eine Welle der Sympathie und Unterstützung für Ke aus. Im Laufe dieser drei Spiele hatte Ke eine Achterbahnfahrt der menschlichen Emotionen hinter sich gebracht: Zuversicht, Unruhe, Angst, Hoffnung und Kummer. Er hatte seinen Wettbewerbsgeist offenbart, aber ich sah in diesen Spielen einen Akt wahrer Liebe: die Bereitschaft, sich mit einem unschlagbaren Gegner anzulegen – aus reiner Liebe zum Spiel, seiner Geschichte und den Menschen, die es spielen. Diejenigen, die Kes Enttäuschung miterlebten, antworteten auf gleiche Weise. AlphaGo mag das Spiel gewonnen haben, aber Ke stieg zum Volkshelden auf. Diese Verbundenheit von menschlichen Wesen, die Liebe geben und empfangen, vermittelte mir einen Eindruck davon, wie Menschen im Zeitalter der künstlichen Intelligenz Arbeit und Lebenssinn finden werden.
Ich glaube, dass eine geschickte Anwendung der KI China die bestmögliche Chance bieten wird, zu den Vereinigten Staaten aufzuschließen und sie möglicherweise zu überholen. Aber noch wichtiger ist, dass diese Veränderung allen Menschen die Möglichkeit eröffnet, wieder zu entdecken, was uns menschlich macht.
Um zu verstehen, warum das so ist, müssen wir zunächst die Grundlagen der Technologie begreifen und erkennen, wie sie unser Leben verändern wird.
Maschinelles Lernen – der Oberbegriff für das Fachgebiet, das auch Deep Learning umfasst – ist eine bahnbrechende Technologie, die jedoch das Glück hatte, ein turbulentes halbes Jahrhundert an Forschungsaktivitäten zu überleben. Seit ihrer Erfindung hat die künstliche Intelligenz eine ganze Reihe von Boom-and-Bust-Zyklen durchlaufen. Auf vielversprechende Phasen folgten »KI-Winter«, in denen ein enttäuschender Mangel an verwertbaren Ergebnissen zu erheblichen Mittelkürzungen führte. Um verstehen zu können, warum die Ankunft von Deep Learning einen so tiefen Einschnitt bedeutet, müssen wir einen kurzen Blick auf die geschichtliche Entwicklung werfen.
Mitte der 1950er-Jahre setzten sich die Pioniere der künstlichen Intelligenz ein nahezu unerreichbares, aber klar definiertes Ziel: die menschliche Intelligenz in einer Maschine nachzubilden. Diese beeindruckende Kombination aus klarer Zielvorgabe und hochkomplexer Aufgabe zog einige der größten Köpfe auf dem aufstrebenden Gebiet der Informatik an: Marvin Minsky, John McCarthy und Herbert Simon.
Als ahnungsloser Informatikstudent an der Columbia University in den frühen 1980er-Jahren beflügelte all dies meine Vorstellungskraft. Ich wurde Anfang der 1960er-Jahre in Taiwan geboren, zog aber im Alter von elf Jahren nach Tennessee und absolvierte dort die Mittel- und Oberstufe meiner schulischen Ausbildung. Nach vierjährigem Studium an der Columbia University in New York wusste ich, dass ich tiefer in die KI eindringen wollte. Bei meiner Bewerbung für verschiedene Promotionsstudiengänge im Bereich Informatik im Jahr 1983 nahm ich folgende etwas grandiose Beschreibung des Feldes sogar in mein Motivationsschreiben auf: »Künstliche Intelligenz verdeutlicht den menschlichen Lernprozess, quantifiziert den menschlichen Denkprozess, erklärt menschliches Verhalten und verkörpert das Verständnis dessen, was Intelligenz ermöglicht. Es ist der letzte Schritt in dem Bestreben des Menschen, sich selbst zu verstehen, und ich hoffe, an dieser neuen, aber vielversprechenden Wissenschaft teilnehmen zu können.«
Dieser Aufsatz half mir bei der erfolgreichen Bewerbung für die hochrangige Informatikabteilung der Carnegie Mellon University, einer Hochburg für innovative KI-Forschung. Er belegte auch meine Naivität gegenüber dem Forschungsgebiet – ich überschätzte das menschliche Vermögen, die eigene Spezies zu verstehen; gleichzeitig unterschätzte ich die Fähigkeit der KI, in begrenzten Bereichen übermenschliche Intelligenz hervorzubringen.
Zu Beginn meines Promotionsstudiums hatte sich das Feld der künstlichen Intelligenz in zwei Lager aufgespalten: Man folgte entweder dem »regelbasierten« Ansatz oder jenem der »neuronalen Netze«. Forscher im regelbasierten Lager (manchmal auch »symbolische Systeme« oder »Expertensysteme« genannt) versuchten, Computern das Denken beizubringen, indem sie eine Reihe logischer Regeln kodierten: Wenn X, dann Y. Dieser Ansatz funktionierte bei einfachen und klar definierten Spielen (»Spielzeugproblemen«) gut, er versagte aber, sobald sich die Gesamtheit der möglichen Entscheidungen oder Spielzüge ausdehnte. Um die Software besser für reale Probleme anwendbar zu machen, versuchte das regelbasierte Lager, Experten zu den in Angriff genommenen Problemen zu befragen und deren Einsichten daraufhin in die Algorithmen des Programms einzuarbeiten (daher der Name »Expertensysteme«).
Das Lager der »neuronalen Netze« ging jedoch einen anderen Weg. Anstatt dem Computer Regeln beizubringen, die ein menschliches Gehirn durchdrungen hatte, versuchten diese Fachleute, das menschliche Gehirn selbst nachzubauen. Angesichts der Tatsache, dass die verwickelten Neuronennetze in tierischen Gehirnen die einzige Quelle uns bekannter Intelligenz waren, hielten sie es für sinnvoll, diese Quelle unmittelbar zu untersuchen. Ihr Ansatz imitiert die zugrunde liegende Architektur des Gehirns und konstruiert Schichten von künstlichen Neuronen, die Informationen in einer Struktur, die unseren Netzwerken von biologischen Neuronen ähnelt, empfangen und übertragen können. Im Gegensatz zum regelbasierten Ansatz geben die Entwickler neuronaler Netze diesen Netzen im Allgemeinen keine Regeln an die Hand, nach denen sie Entscheidungen treffen können. Sie füttern sie stattdessen einfach mit möglichst vielen Beispielen für ein bestimmtes Phänomen – Bilder, Schachpartien, Klänge – und lassen die Netze selbst Muster innerhalb der Daten identifizieren. Mit anderen Worten: Je weniger menschliche Eingriffe, desto besser.
Unterschiede zwischen den beiden Ansätzen zeigen sich darin, wie sie sich einem einfachen Problem nähern, etwa um festzustellen, ob eine Katze in einem Bild vorkommt. Der regelbasierte Ansatz würde versuchen, Wenn-dann-Regeln festzulegen, um das Programm bei der Entscheidungsfindung zu unterstützen: »Wenn zwei Dreiecksformen vorkommen, die auf einer runden Form aufliegen, dann ist wahrscheinlich eine Katze auf dem Bild zu sehen.« Der Ansatz der neuronalen Netze würde stattdessen das Programm mit Millionen von Beispielfotos mit der Bezeichnung »Katze« oder »keine Katze« füttern, sodass das Programm selbst herausfinden könnte, welche Merkmale in den Millionen von Bildern am engsten mit der Bezeichnung »Katze« korrelieren.
In den 1950er- und 1960er-Jahren lieferten frühe Versionen künstlicher neuronaler Netze vielversprechende Ergebnisse, sodass ein großer Medienrummel entstand. Doch 1969 holten Forscher aus dem regelbasierten Lager zum Gegenschlag aus und überzeugten viele auf dem Gebiet Tätige davon, dass neuronale Netze unzuverlässig und nur bedingt nützlich waren. Der Ansatz der neuronalen Netze kam schnell aus der Mode, und die KI versank in den 1970er-Jahren in eine ihrer ersten »Winterschlaf«-Phasen.
In den folgenden Jahrzehnten erfreuten sich neuronale Netze kurzer Phasen der Aufmerksamkeit, gefolgt von einer nahezu vollständigen Aufgabe. 1986 nutzte ich eine den neuronalen Netzen vergleichbare Technik (das sogenannte Hidden-Markov-Modell), um Sphinx zu entwickeln, das weltweit erste sprecherunabhängige Programm zur Erkennung kontinuierlicher Sprache.6 Diese Leistung brachte mir einen Steckbrief in der New York Times ein.7 Doch sie reichte nicht aus, um zu verhindern, dass neuronale Netze erneut in Ungnade fielen, wo sie für den Großteil der 1990er-Jahre verharrten.
Die letztliche Wiederbelebung des Bereichs der neuronalen Netze und die heutige KI-Renaissance lassen sich auf Veränderungen an zwei der wichtigsten Rohstoffe, die neuronale Netze nähren, sowie auf einen großen technischen Durchbruch zurückführen. Neuronale Netze benötigen große Mengen an zweierlei Ressourcen: Rechenleistung und Daten. Die Daten »trainieren« das Programm, Muster zu erkennen, indem sie ihm viele Beispiele an die Hand geben, und die Rechenleistung lässt das Programm diese Beispiele mit hoher Geschwindigkeit analysieren.
Sowohl Daten als auch Rechenleistung waren in den 1950er-Jahren, als der Bereich in den Kinderschuhen steckte, knappe Güter. Doch in den letzten Jahrzehnten hat sich all dies geändert. Heute verfügt Ihr Smartphone über eine millionenfach höhere Rechenleistung als diejenige der Spitzencomputer, die die NASA 1969 einsetzte, um Neil Armstrong auf den Mond zu schicken. Und das Internet hat zu einer explosionsartigen Zunahme aller Arten von digitalen Daten – Texte, Bilder, Videos, Klicks, Einkäufe, Tweets und so weiter – geführt. Zusammengenommen hat all dies den Forschern reichlich Datenmaterial zur Verfügung gestellt, mithilfe dessen sie ihre Netzwerke trainieren können, sowie viel billige Rechenleistung für dieses Training.
Doch die Netze waren hinsichtlich ihrer Einsatzmöglichkeiten immer noch stark eingeschränkt. Um präzise Lösungen für komplexe Probleme zu finden, waren viele Schichten künstlicher Neuronen erforderlich, aber die Forscher hatten keine Möglichkeit gefunden, diese neu hinzugefügten Schichten wirksam zu schulen. Der große technische Durchbruch kam schließlich Mitte der 2000er-Jahre, als der führende Forscher Geoffrey Hinton einen Weg entdeckte, diese neuen Schichten in neuronalen Netzen effizient zu trainieren. Im Ergebnis war dies so, als würde man den alten neuronalen Netzen Aufputschmittel verabreichen: Ihr Vermögen, Aufgaben wie Sprach- und Objekterkennung auszuführen, vervielfachte sich.
Bald überflügelten diese neuen neuronalen Netze – jetzt in »Deep Learning« umbenannt – ältere Modelle bei einer Vielzahl von Aufgaben. Doch die jahrelang gehegten, tief verwurzelten Vorurteile gegenüber dem Ansatz der neuronalen Netze führten dazu, dass viele KI-Forscher diese »Randgruppe«, die hervorragende Ergebnisse erzielte, nicht beachteten. Die Wende kam 2012, als ein von Hintons Team entwickeltes neuronales Netzwerk die Konkurrenz in einem internationalen Computer-Vision-Wettbewerb vernichtend schlug.8
Nach Jahrzehnten der Randexistenz im Schatten der KI-Forschung stießen neuronale Netze über Nacht ins Rampenlicht vor. Dieser Durchbruch versprach, das Eis des letzten KI-Winters aufzutauen und es der KI zu ermöglichen, zum ersten Mal ihre Kraft auf eine Reihe von praktischen Problemen anzuwenden. Forscher, Futuristen und Technologie-CEOs begannen alle vom riesigen Potenzial des Feldes zu schwärmen, das menschliche Sprache entschlüsseln, Dokumente übersetzen, Bilder erkennen, Verbraucherverhalten vorhersagen, Betrug identifizieren, Kreditentscheidungen treffen, Robotern ein »Augenlicht« verleihen und womöglich sogar ein Auto steuern könnte.