Für Hanna, Sebastian
& unsere Kinder
Ouvertüre 11
Rhythmen und Rituale 22
Karting 43
»Dienen« von Arno Stern 59
Barcelona 68
Intermezzo: Care-Giving 79
Vertrauen 82
Intermezzo: Der Kenner 89
Erweiterte Realität 90
Bildschirme 97
Shared Attention 102
Virtuell konkret 105
Abschirmung 107
Keine Diät funktioniert, auch keine digitale ... 109
Gender 110
Intermezzo: Lösungssuche 112
Lösungen zu finden ist das,
wozu unser Hirn optimiert ist 115
Viel zu leicht! 122
Intermezzo: Bedingungslos 128
Die Angst, Fehler zu machen 131
Lernen gibt es nicht 142
Die großen Rituale I: Spielen 149
Die großen Rituale II: Nachahmen 151
Die großen Rituale III: Wiederholen 153
»Wiederholung und Entwicklung«
von Arno Stern 154
Freiheit 157
»Frei sein« von Antonin Stern 159
Sicherheit 160
» Ordo ab Chao oder der Gesang des Rituals«
von Giancarlo Ciarapica 162
Der Unterschied zwischen Ritualen, Ticks und (schlechten) Angewohnheiten 166
Coda 168
Dank 177
Anmerkungen 179
Zum Weiterlesen 180
Links 183
Über den Autor 184
Viel liegt mir daran, in diesem Buch nicht all das zu behandeln, was in unserer Weltordnung den natürlichen Rhythmen und Ritualen des Menschen, und im Besonderen den spontanen Rhythmen und Ritualen der Kinder, zuwiderläuft. Die Aufzählung dieser Phänomene überlasse ich anderen, die berufener sind als ich, ihre Weite und ihre Konsequenzen zu erfassen. Ich für meinen Teil ziehe es vor, das Gegenteil zu tun und ganz einfach Geschichten des Vertrauens zu erzählen. Wahre Geschichten, die veranschaulichen, was ganz natürlich entsteht, wenn wir aufhören, das Wesen der Kinder im unsichtbaren Käfig unserer Erwartungen und Vorstellungen gefangen zu halten. Was entsteht, wenn wir ganz einfach aufhören, sie zu erziehen, und wenn wir beginnen, ihnen das Vertrauen zu schenken, von dem wir alle wünschen, dass es uns entgegengebracht wird.
Jedoch werde ich zu Beginn, sozusagen im Vorübergehen, auf vier allgemein verbreitete Gewohnheiten hinweisen, die ganz allgemein dem freien Ausdruck unserer Rhythmen und Rituale Steine in den Weg legen.
1. Unsere Obsession mit Kurvenblättern und Messwerten. Sie beginnt früh in unserer individuellen Geschichte: Bereits im Mutterleib legt sie die ersten Steine quer in den Weg, der zum Vertrauen führt. Sie bringt die meisten Eltern dazu, innerlich den kleinen Fötus zu beschwören, ja brav so zu wachsen, dass seine Kurve beim nächsten Ultraschall mindestens auf dem sakrosankten Durchschnitt liegt, dem 50. Perzentil. So geht es nach der Geburt weiter, über den Umweg der festgelegten Normen sowie der Kohorte von Sorgen, die sie mit sich bringen: Müsste das Kind entsprechend den Wochen seines Alters nicht schon den Kopf heben können? Ist es mit Reden nicht im Verzug? Ist sein Wortschatz groß genug für sein Alter? Oder ist es nicht erstaunlich früh mit Laufen dran? Diese Besorgnisse vereinnahmen und verschlucken regelrecht das Vertrauen in die eigenen Rhythmen und Rituale des Kindes. Statt zu denken, dass das Kind »seinem eigenen Rhythmus folgt«; statt ihm mit einer aufrichtigen Neugier zu begegnen, um zu entdecken, welcher Takt inmitten der unendlich vielen verfügbaren Tempos und Möglichkeiten ihm angemessen ist, patrouillieren die meisten Eltern in der Fachliteratur herum oder lesen in zahllosen Ratgebern über Methoden und Statistiken – sei es nur im Einkaufzentrum, wenn sie in einem Buch schnell bis zu den Informationen über das, was sie gerade aufregt, blättern. Sie durchwandern Internetforen auf der Suche nach Hinweisen, die sie beruhigen sollen und beweisen, dass ihr Kind keine Auffälligkeiten zeigt. Dabei sollten sie sich über diese Auffälligkeiten und Verschiedenartigkeiten freuen. Sie sind keine Probleme, sondern Zeichen von Persönlichkeit.
Denken wir daran, dass Methoden, die darauf abzielen, das Kind in seinen Rhythmen und Ritualen zu steuern (zum Beispiel die ergraute Besessenheit, sein Schlafverhalten organisieren zu wollen), nicht nur die Persönlichkeit des Kindes brechen; sie verbiegen den natürlichen Fluss seines Werdeganges, um es – freiwillig oder mit Gewalt – unter das Joch eines Maßstabes zu zwingen, der von den Bedürfnissen der Erwachsenen geprägt ist.
2. Unsere Obsession mit Kategorien, Schubladen und Stempeln. Auf diese Weise behindern wir den persönlichen Rhythmus eines jeden Menschen: Eine universelle Metapher ist die Notwendigkeit, früh aufzustehen, um in die Schule zu gehen. Wer es nicht tut, wird für den Rest seiner Tage als Faulpelz gebrandmarkt – auch wenn die persönliche Neigung des Kindes deutlich in die Richtung ginge, spät aufzustehen und lange aufzubleiben. (Tatsächlich sind wir Menschen die einzige Spezies, die ihre Kinder ohne Not weckt!).
Die Vorstellung, die Erwachsene davon haben, was Kindheit bedeutet, schreibt einen ebenso willkürlich wie wirksam genormten Rhythmus vor, eine Elle, an der wir das Kind messen, um ihm dann einen endgültigen Stempel aufzudrücken, ohne Rücksicht auf seine wahre Geschichte.
Eines ist »schnell«, ein anderes »ein bisschen langsam«. Fall geschlossen.
Ein Kind ist »eher manuell begabt«, ein anderes »deutlich intellektuell«. Eines ein »Schussel«, ein anderes »schüchtern«. Wenn man uns das lange genug vorsagt, wird es zu unserer offiziellen Natur, an die wir selbst glauben.
Schnellen Rhythmen verleihen wir einen hohen Stellenwert: Wir sind beruhigt, glücklich und sogar stolz, wenn das Kind schneller wächst als der Durchschnitt. Wenn es früher laufen kann als die meisten anderen. Wenn es lesen und schreiben kann, obwohl es noch gar nicht das Alter dazu hat. Zeigt das Kind jedoch ein Verhalten, das uns als »Rückstand« vorkommt, bekommen wir es mit der Angst zu tun. Wir werten gewisse Gebiete auf, in denen ein Fortschritt genehm ist, während wir anderen keine Bedeutung beimessen, weil sie in unseren Breitengraden nicht als wertvoll angesehen werden. Wir sind beunruhigt, weil das Kind noch nicht sprechen kann, und merken nicht einmal, was für einen hervorragenden Orientierungssinn es hat. Wir sind alarmiert, weil es kein Interesse an Lektüre zeigt, und sehen nicht, dass es zum Tanzen geboren ist.
Doch in der Welt des Kindes ist kein Gebiet relevanter als ein anderes.
3. Unsere Obsession mit Ideen und Prozessen, die den großen menschlichen Rhythmen zuwiderlaufen. Zum Beispiel der Versuch, die Mathematik in ein Hirn zu pressen, das dafür nicht bereit ist. Der polnische Neurobiologe Marek Kaczmarzyk1 beleuchtet in aller Deutlichkeit die Tatsache, dass unser mathematisches Hirn – von wenigen Ausnahmen abgesehen – erst mit ungefähr 10 Jahren aufnahmebereit ist und dass der Zwang, sich vor diesem Alter mit Mathematik zu beschäftigen, nur zu einem endgültigen Trauma führen kann. Und damit unweigerlich zum Gefühl einer persönlichen Unfähigkeit: »Ich bin eine Null«, »Das ist nichts für mich« − wie es nicht anders möglich ist, wenn ein Thema aufgegriffen wird, bevor man über das Werkzeug verfügt, mit welchem man es erst verstehen könnte. Leider ist die überwiegende Mehrheit der Kinder – und damit die Mehrheit unter uns – davon betroffen, weil Mathematik lange vor dem 10. Lebensjahr unterrichtet wird (mit der aufrichtigen, aber schädlichen Absicht, den Kontakt mit diesem für die Zukunft wichtigen Instrument so früh wie möglich herzustellen). Die wenigen Kinder, deren Hirn vor dem 10. Lebensjahr bereit ist für die Mathematik, befinden sich in der Gruppe, von der wir behaupten, sie sei »begabt für Mathematik«.
Diese Analyse ist nicht nur falsch, sie ist ungerecht den anderen gegenüber, die für Mathematik genauso »begabt« sein könnten, aber nicht zum selben Zeitpunkt.
4. Zu guter Letzt: Wir leugnen die Rhythmen der Natur, indem wir Erdbeeren im Winter essen oder mittels künstlichen Lichts mitten in der Nacht so gut wie am Tag sehen können.
*
Was die Rituale anbelangt, so werden sie hauptsächlich von zwei Vorstellungen beeinträchtigt: Man will uns mehr oder weniger glauben lassen, es sei notwendig, Routinen zu vermeiden, und wichtig, aus der eigenen Komfortzone – oder derjenigen des Kindes, das wir erziehen – herauszutreten.
Davon ausgehend, das Kind sei von Natur aus faul und es käme nie voran, würden wir es nicht stoßen, erfindet jeder Methoden, um den kleinen Esel voranzutreiben, ohne dass diese Handhabungen und Maßnahmen sich wirklich von der Karotte oder vom Stecken entfernen. Während es erstaunlicherweise nichts gibt, das ein Kind zurückhalten kann, das vorwärts gehen will, wenn es angetrieben ist von Begeisterung, Neugierde oder einer inneren Notwendigkeit. Deren gemeinsamer Nenner ist, dass sie alle drei höchst persönlich sind.
Das Gefühl von unproduktiver Routine entsteht nur, wenn wir den Sinn dessen, was wir tun, nicht mehr erkennen können: zum Beispiel, wenn von uns verlangt wird, dass wir Multiplikations- oder Konjugationstabellen auswendig lernen, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt für uns uninteressant sind und keinen Zusammenhang mit unserem Leben haben. Nicht nur führt dies zum Gefühl der wirklichkeitsfremden Routine und reiht diese unter diejenigen Dinge ein, die in unseren Breitengraden akzeptabel sind (andere haben es schon getan, tun es noch und werden es tun). Zu unserem Leidwesen ersetzt es darüber hinaus unseren ursprünglichen Drang, zu lernen, durch eine unangenehme Erfahrung, die wir in Zukunft lieber vermeiden möchten. Auf diesem Schlachtfeld fällt unser Verlangen, unsere Lust, zu lernen – und das ist ein Verbrechen gegen die Menschheit.
Wir wissen um die ausschlaggebende Bedeutung der Begeisterung2 für unseren Werdegang. Wir wissen, dass nur die Begeisterung die Genialität wecken kann, die in jedem Kind schlummert, in jedem von uns. Wir wissen um die begrenzte Anzahl der Bereiche, die als der Begeisterung würdig erachtet werden. Und wir wissen, dass es zudem außerordentlich selten ist, dass gerade sie denjenigen entsprechen, die uns zu Genies machen würden, hätten wir den Mut, uns selbst einzugestehen, dass sie uns begeistern. Es ist demzufolge leicht zu verstehen, warum wir die Begeisterung verlieren, wenn uns ständig eingehämmert wird, dass das, was uns begeistert, nicht von Bedeutung sei – wichtig sei vielmehr all das, was uns kaltlässt.
Die Neurobiologie hat bewiesen, dass wir unsere Begeisterung nicht gezielt reduzieren können: Wir können nur unsere generelle Fähigkeit, uns zu begeistern, herunterfahren. Und genauso setzen wir uns der Routine aus und wiederholen inhaltsleer die immer gleichen Bewegungen am unendlichen Fließband der Handlungen und Gedanken, die von uns erwartet werden.
Aus unseren erzieherischen Handlungen und Maßnahmen ergeben sich genau die Passivität und die Routine, vor denen wir unsere Kinder bewahren wollten.
Tun wir hingegen nichts von alledem und lassen zu, dass gegenseitiges Vertrauen wächst, dann stellt sich keine Routine ein, sondern eine Reihe von Rhythmen und Ritualen, die auf dem festen Grund eines bedingungslosen »Ich liebe dich, weil du bist, wie du bist« einen sicheren Hafen bauen. Dieser sichere Hafen ist ein Reich der Ruhe, das sehr darunter leidet, als verwerfliche »Komfortzone« betrachtet zu werden, aus der Eltern ihre Kinder holen sollten.
*
Das Kind geht fortwährend aus seinem sicheren Hafen hinaus (ohne dabei Unbehaglichkeit zu empfinden, obwohl diese anscheinend notwendig ist, damit wir unsere Glaubwürdigkeit vor den Augen der Welt bewahren), mit einer Beständigkeit, die unsere Bewunderung verdient. Sich aufzumachen in die weite Welt, Neues kennenzulernen ist eine der hervorstechendsten Veranlagungen des Kindes, des menschlichen Wesens überhaupt, die aber nur zum Tragen kommt, wenn es einen sicheren Hafen gibt, in den es zurückkehren kann.
Um zu ermessen, welche Sicherheit Rituale bieten und was das Kind empfindet, wenn es in seinen Ritualen gestört wird (wir verlangen von ihm, dass es die Rituale der Gesellschaft respektiert, treten aber seine eigenen mit Füßen und machen uns so zu einem Vorbild, dem es folgen wird), reicht es aus, uns vorzustellen, wie wir uns fühlen würden, wenn heute morgen beschlossen worden wäre, dass ab nächster Woche die Tage so aufeinanderfolgen: Dienstag, Freitag, Sonntag, Mittwoch, Samstag, Montag, Donnerstag.
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Nach diesem kurzen Überblick verlassen wir den Teil der Präambel, der davon spricht, was verstört, behindert, trennt − und nicht nur unsere eigenen Rhythmen und Rituale ersetzt, sondern auch an die Stelle unserer vorwiegend kreativen Natur tritt. Tauchen wir jetzt miteinander ein in die Welt der Kindheit.
Während ich Sie einlade, mir zu folgen, bitte ich Sie, die Perspektive zu wechseln und einen neuen Blick auf die Kindheit zu werfen. Die Wissenschaft gibt uns einen kleinen Schubs. Sie hat sich im letzten Jahrzehnt maßgeblich entwickelt und beleuchtet heute die Welt in manchen Bereichen entgegengesetzt zu früheren Überzeugungen. Nehmen wir zum Beispiel die Natur: Jahrhundertelang wurde sie als gefährlicher Dschungel dargestellt, in dem logischerweise – alle wissenschaftlichen Erkenntnisse zeigten in diese Richtung – das Gesetz des Dschungels herrschte: Wettbewerb, Konkurrenz und das Überleben der Stärksten. Seit einigen Jahren stellt die Wissenschaft jedoch fest, dass die Wahrheit anderswo zu suchen ist. Die Bäume bekämpfen sich nicht, sie helfen sich gegenseitig. Sie ersticken die Kleinsten nicht, indem sie ihnen das Sonnenlicht vorenthalten, sondern nähren sie über die Wurzeln. Das tun sie auch, wenn einer von ihnen, ein alter Baum, zur Fotosynthese nicht mehr fähig ist, was ohne die radikale Unterstützung der umstehenden Bäume zum Tod führen würde – eine Art solidarische Transfusion, eine uralthergebrachte Dialyse3. Und wird ein Baum bedroht von einem gefräßigen Käfer, senden seine Nachbarn den Duft aus, der genau den Vogel anzieht, der diesen Käfer frisst. Sie ernähren den Vogel und retten ihren Artgenossen. Ohne zu vernachlässigen, dass das Überleben jedes Einzelnen dieser Riesen vom Austausch mit den Mikroorganismen am Boden abhängt, die ihn mit Nährstoffen versorgen – zum Beispiel mit Magnesium – als Gegenleistung für den Zucker, den er für sie produziert. Der Baum bietet den Bienen einen Lebensraum und bedient sich ihrer als domestizierter Bestäuber; er nährt die Vögel mit seinen Früchten und zählt darauf, dass sie seine Samen verbreiten.
All diese und viele weitere Entdeckungen werfen ein völlig neues Licht auf die Welt: Das Gesetz des Dschungels besteht aus Symbiose, Synergie und Solidarität. Welch eine Erleichterung! Welch eine Befreiung von der Notwendigkeit, uns als Raubtiere zu definieren, unsere Welt als Kriegsschauplatz zu begreifen und unsresgleichen als Konkurrenten! Es ist kein Zufall, dass wir in uns eine Nostalgie nach einer symbiotischeren, synergetischeren und solidarischeren Welt tragen.
Was wir über die Kindheit zu wissen glaubten, hat sich gleichermaßen und im gleichen Zeitraum – dem letzten Jahrzehnt – weiterentwickelt. In denselben früheren Jahrhunderten wurde die Kindheit als ein primitives Stadium angesehen, der »Nullpunkt« der menschlichen Entwicklung. Und wir waren überzeugt, dass wir dem Kind helfen müssen, zu wachsen, damit es eine nach der anderen die Stufen erklimmt, die zur Spitze führen, zum Kulminationspunkt der menschlichen Entwicklung: dem Erwachsenenalter.
Doch auch darauf wirft die Wissenschaft ein völlig neues und komplett anderes Licht. Es ist ganz einfach: Welche Potenziale zu unserem Überleben unentbehrlich sind, hängt jeweils von der Umwelt und dem Zeitalter ab, in denen wir leben, während unsere genetischen Programme seit Jahrtausenden dieselben sind – ob wir vor 20 000 Jahren auf dem Packeis der Eiszeit geboren wurden oder in 200 Jahren inmitten einer dürren Wüste das Licht der Welt erblicken werden. Da unsere genetischen Programme unmöglich wissen können, wann und wo wir zur Welt kommen, haben sie uns ganz einfach mit allen nur möglichen Potenzialen ausgestattet, damit sich in diesem Überfluss mit Sicherheit auch diejenigen Potenziale finden, die notwendig sind, damit wir überleben.
Diese Erkenntnis verleiht dem Kind einen ganz neuen Status: Jedes Kind ist eine wahre Potenzialbombe. Ein Kind kann alles werden, was menschenmöglich ist, und es kann alles lernen, was der Mensch lernen kann. Doch unmittelbar nach der Geburt fängt eine regelrechte Verblutung an: Die Potenziale, die nicht abgerufen werden, weil sie in der spezifischen Umgebung nicht gebraucht werden, gehen ein und machen denjenigen Platz, die für das Leben in gerade dieser Umgebung nützlich sind. Während der ersten Monate unseres Lebens werden unsere Potenziale in alle Winde zerstreut und gehen zu Tausenden verloren.
Was bleibt nach dieser drastischen Auslichtung? Ein erwachsener Mensch. Betrachten wir die Potenziale, so ist der Erwachsene, der sich bis jetzt selbst als die Krönung der menschlichen Entwicklung sah und sich auch entsprechend positionierte, nur noch der Schatten dessen, was er hätte werden können. Die Bonsaiversion. Sieht er aber ein Kind vor sich, so steht er einem Riesen gegenüber. Vor einem Riesen der Potenziale, vor dem einzigen Hüter all dessen, was wir werden und lernen können.
Diese Feststellung bringt eine neue Erkenntnis mit sich: Die Zeit ist gekommen, Kindern anders zu begegnen.
Die Welt ist Rhythmus.
Der Rhythmus der Natur, der
Rhythmus des Universums.
Auf den Tag folgt die Nacht.
Mondphasen. Jahreszeiten.
Orbitalresonanzen: In der Zeit,
die Saturn braucht, um die
Sonne zweimal zu umkreisen,
umkreist sie Jupiter genau
dreimal. Musik ist universell, weil
sie Rhythmus ist. Wie Tanz.
Wie fast jeden Tag drückt Benjamin mit diesem besonderen Elan seines ganzen Körpers deutlich den Wunsch aus, in den Kindersitz unseres Fahrrades gehoben zu werden, und macht klar, dass die Stunde gekommen ist, um die vier Kilometer zurückzulegen, die uns von der Nationalstraße trennen.
Wir gehen dorthin, um die Autos vorbeifahren zu sehen, vor allem die Lastwagen. Man sieht sie von Weitem, wie sie die lange, gerade Strecke hinauffahren. Nichts ist ansteckender als Begeisterung, vor allem die Begeisterung eines Kindes. Es klatscht in die Hände, hüpft vor Freude, und wenn der große, mächtige und so konkrete Lastwagen vorbeifährt, ist es starr vor Begeisterung – und der Fahrer begreift und lächelt. Ich weiß, dass die Lastwagenchauffeure per Radio miteinander kommunizieren und sich gegenseitig darauf aufmerksam machen, dass bei Kilometer soundso, bei der Bushaltestelle, ein Vater und sein kleiner Bub den Lastwagen zuschauen, wie sie vorbeifahren. Und sie, Einsame auf langen Strecken, unbekannte Arbeiter der Straße, die keiner sieht und noch weniger anerkennt, fühlen sich plötzlich willkommen, bewundert, geschätzt. Sie grüßen uns mit der Hand, einige beschränken sich darauf, die Finger zu heben und die Handballen auf dem Steuerrad zu belassen, andere hupen kurz, wenn das imposante Fahrzeug dröhnend an uns vorbeifährt und wieder anonym wird, während es sich entfernt.
Dank Benjamin habe ich diese Stunden schätzen gelernt, habe gelernt, mir die Zeit eines Kindes zu nehmen, die oft sehr lang sein kann. Ich spüre den Wind, die Wirbel, die noch lange anhalten, nachdem der Lastwagen vorbeigefahren ist, ich höre die Geräusche, ab und zu auch ganz weite, wenn es gerade eine größere Lücke zwischen den Fahrzeugen gibt. Ich höre die sich verändernde Höhe des Geräusches eines Motors, der näher kommt, eingekeilt zwischen dem Geräusch der Luft und demjenigen der Reifen; ich nehme den Schrei der Raben wahr und das leise Knacken der Insekten.
Benjamin, der zwei Jahre alt ist und gerade zu sprechen beginnt, sagt unvermittelt: »Fertig Auto, fertig Lastwagen, holen Mama!« Also setze ich unser Fahrrad wieder in Bewegung, wir machen uns auf den Heimweg. Heute nehme ich nicht die Abkürzung über die Schotterstraße und den Parkplatz, sondern folge ein paar Meter der Nationalstraße und fahre um den Parkplatz herum. Zur Abwechslung, diese Idee eines Erwachsenen. Sie gefällt Benjamin aber überhaupt nicht, er schreit, weint beinah: »Mama ist dort!« Er dreht sich vehement um und zeigt hinter sich auf den Weg, den wir gewöhnlich nehmen. Ich begreife, dass es keine gute Idee war, und kehre um; verstehe, dass das Verhalten von Benjamin nichts mit Trotz zu tun hat, dass er nicht »befehlen« will, sondern schlicht und einfach ein Ritual zu Ende führen muss.
Das Ritual. Mit den Rhythmen zusammen strukturiert es die Kindheit. Die Rituale geben Sicherheit, Geborgenheit, sie festigen und sind der Ruhepunkt, von dem aus das Kind Anlauf nehmen kann für das großartige Abenteuer, jeden Tag aufzubrechen zur Entdeckung neuer Horizonte. Abkürzungen und Ausnahmen sind störende Elemente, sie sind nicht willkommen und machen manchmal Angst.
Wir legen zwei Drittel des üblichen Wegs zurück, von dem Benjamin jeden Meter genau kennt. Wir kommen zum Punkt, an dem die Straße auf die Weide trifft, wo Esel, Kühe und Stiere weiden. »Da, da, da!«, schreit Benjamin, was heißt, dass er anhalten will. Wir gehen so nah wie möglich zum Zaun und die Tiere nähern sich uns ruhigen und gemessenen Schrittes und bilden einen Halbkreis, in dessen Zentrum das Kind steht, und dazwischen nur der Zaun.