Inhalt

Kinder fühlen. Und wie!?

Einige Vorbemerkungen

Wie Kinder fühlen

Liebe

Schuld und Verantwortungsgefühl

Zugehörigkeit und Freundschaft

Stolz

Gerechtigkeitsgefühl

Langeweile

Ge-Wichtigkeit

Verrat, Misstrauen und Ehrgefühl

Widerwillen und Ekel

Sich bedrückt und gelöst fühlen

Trauer

Scham

Hilflosigkeit und Hilfsbereitschaft

Ärger, Wut, Zorn, Trotz

Quengeligkeit und »Hass«

Panik und Verzweiflung

Staunen und Erschrecken

Interesse und Neugier

Begeisterung und Leidenschaft

Sehnsucht

Freude und Glück

Mitgefühl und Empfindsamkeit

Einsamkeit

Müdigkeit

Neid und Eifersucht

Leere

Wirksamkeit und Unwirksamkeit

Sich verloren fühlen

Angst

Schutzbedürfnis und das Gefühl der Selbstsicherheit

Sorge und Vertrauen

Gefühl der Gefühllosigkeit

Geborgenheit

Falsch sein und sich richtig fühlen

Selbstwertgefühl

Wie Kinder fühlen lernen

Was die Hirnforschung über das Fühlen sagt

Lernen braucht Gefühl

Spürende Begegnungen, Kinderwürde und Kindergefühle

Schauen und gesehen werden

Tönen und gehört werden

Greifen und ergriffen werden

Drücken und gedrückt werden

Lehnen und anlehnen

Wie Kinder Gefühle maskieren

Wie Kinder emotional feststecken

Was wir von fühlenden Kindern lernen können

Fünf Thesen: Was fühlende Kinder brauchen

Fünf Thesen: Was Erwachsene im Umgang mit Kindergefühlen brauchen

Literatur

Zitierte Literatur

Über die Autoren

Kinder fühlen. Und wie!?

Einige Vorbemerkungen

Kinder fühlen. Eine Binsenweisheit, werden Sie vermutlich sagen. Und das könnte man auch meinen angesichts der schier unüberschaubaren Fachliteratur über Kinder. Viele Menschen haben das Verlangen, sich mit dem Verhalten von Kindern zu beschäftigen, mit ihren Problemen und vor allem den Problemen, die sie Eltern und anderen Erziehenden bereiten. Und sie machen sich infolgedessen ernsthaft und engagiert Gedanken über Hilfsangebote und Lösungen aus festgefahrenen Erziehungsstrukturen und zu Interventionen, die kindliches Verhalten verändern sollen. Aber den Gefühlen der Kinder und vor allem dem, wie Kinder fühlen, wird nach unserer Auffassung viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Diese Lücke wollen wir ein wenig schließen. Das ist unser Herzensanliegen. Denn oft hören wir in unserer therapeutischen Arbeit von Erwachsenen, dass ihre Gefühle in der Kindheit missachtet wurden und wie sehr sie darunter gelitten haben. Und in der therapeutischen Arbeit mit Kindern erfahren wir, dass Kinder oft mit ihren Gefühlen ins Leere gehen, dass sie auf ihre emotionalen Regungen keine oder unangemessene Echos erhalten und häufig resignierend aufhören, überhaupt Gefühle zu zeigen. Viele junge Klientinnen und Klienten äußern ihre Emotionen gar nicht oder so, dass sie von den Erwachsenen, mit denen sie leben, nicht verstanden werden. Wenn wir auf die Geschichte mit unseren eigenen Kindern zurückschauen, taucht eine Reihe von Bildern auf, in denen die Gefühlsäußerungen der Kinder uns tief bewegten und unser Zusammenleben beeinflussten – und wir erinnern uns an Situationen, in denen wir die Gefühle der Kinder nicht oder nicht hinreichend verstanden, an Situationen, die uns verunsicherten, ja hilflos machten, und an Situationen, in denen unsere eigenen Gefühle den Blick auf die Gefühle der Kinder vernebelten. In fast allen Kindern »tobt« oder zumindest bewegt sich ein reiches und vielfältiges Gefühlsleben, zu dem wir Erwachsene leider oft nur geringen Zugang haben.

All diese Erfahrungen sind uns Grund genug, uns den Gefühlen der Kinder zu widmen. Die emotionale Lebenswelt der Kinder ist voller Besonderheiten und nicht gleichzusetzen mit der der Erwachsenen, auch wenn viele Gefühlsäußerungen ähnlich scheinen und uns Erwachsenen bekannt vorkommen. Kinder sind in der Entwicklung, sie lernen jeden Tag, sie lernen auch, zu fühlen und auf ihre Art und Weise Gefühle auszudrücken. Neben dem Umstand, dass sich Kinder noch mehr als Erwachsene in der Entwicklung befinden und dabei auch lernen und üben, zu fühlen und Gefühle auszudrücken, gibt es einen weiteren wichtigen Unterschied: Kinder haben weniger Spielräume und weniger Wahlmöglichkeiten als Erwachsene. Sie können nicht den Wohnort wechseln oder die Personen, mit denen sie zusammenleben, austauschen. Wenn ihnen ein Elternteil Angst macht, können sie ihn nicht »umtauschen«. Erwachsene sind grundsätzlich in der Lage, Partner_innen zu verlassen und neue zu suchen. Kinder nicht.

Wir wollen einen Blick auf die Besonderheiten werfen, wie Kinder fühlen. Wir haben dazu Gefühle beziehungsweise Gefühlslandschaften ausgewählt, die wir zunächst betrachten wollen. Dies kann nur knapp geschehen. Wir wollen Anregungen geben, die Sie, die Leserinnen und Leser, mit Ihren Erfahrungen in Verbindung bringen können und die, so hoffen wir, Türen zum Verständnis öffnen. Eine genauere und differenziertere Beschäftigung mit diesen Gefühlen über die Besonderheiten der Kinder und Jugendlichen hinaus ist unserem Buch Das Große Buch der Gefühle vorbehalten.

Wir werden in den dann folgenden Kapiteln einige Hintergründe und Zusammenhänge erläutern. Fortfahren werden wir mit einem Kapitel darüber, wie Kinder emotional lernen. Wir stellen die Ergebnisse moderner Hirnforschung in Bezug auf die Bedeutung der Gefühle für die Entwicklung von Kindern vor, und wir betrachten, welche Bedeutung Gefühle für das Lernen haben. Kindergefühle maskieren sich oft. Dem werden wir ein weiteres Kapitel widmen, ebenso dem Konzept der Spürenden Begegnungen, das für das emotionale Beziehungsglück der Kinder von so großer Bedeutung ist. Die unterschiedliche Art und Weise, wie Kinder in ihren Gefühlen und im Ausdruck ihrer Gefühle feststecken können, werden wir in einem weiteren Kapitel beschreiben. Was wir Erwachsene von fühlenden Kindern lernen können, wird Thema des darauffolgenden Kapitels.

Zum Abschluss werden wir in fünf Thesen zusammenfassen, was fühlende Kinder brauchen, und in fünf weiteren Thesen, was Erwachsene im Umgang mit den Gefühlen der Kinder brauchen. Auch hier stellen wir keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern fassen das zusammen, was uns am wichtigsten erscheint. Wir hoffen, dass wir Ihnen an keiner Stelle als »Besserwisser_innen« oder »Bessermacher_innen« entgegentreten. Wir wollen Anregungen geben und bemühen uns, unsere und Ihre Achtsamkeit auf die Bedeutung der Gefühlswelt der Kinder zu richten.

Bei alldem stützen wir uns auf Erfahrungen unterschiedlicher Art, vor allem auf die Erfahrungen mit unseren eigenen Kindern und auf die Erfahrungen in unserer therapeutischen und pädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Wir nennen einzelne Kinder in unseren Beispielen mit Namen um ihnen so ein Gesicht zu geben. Die wirklichen Namen wurden jedoch verändert. Denn es ist uns ein Anliegen, diese Kinder in ihrer unverwechselbaren Identität zu würdigen und gleichzeitig zu schützen. Wichtig sind uns ebenfalls die Erfahrungen der erwachsenen Menschen, mit denen wir in unserer Therapie und Ausbildung zu tun haben und die uns von den Gefühlen ihrer Kindheit berichten. Denn schließlich sind alle Erwachsenen auch Expert_innen für kindliche Gefühle – oder könnten es zumindest sein: Wir Erwachsene haben alle eine Kindheit, wir haben alle Erfahrungen, wie wir uns als Kinder gefühlt haben, was wir für unser Fühlen gebraucht haben und was nicht. Leider sind diese Erfahrungen häufig verschüttet oder irgendwo abgestellt. Wenn in Seminaren oder therapeutischen Prozessen solche Erfahrungen wiederbelebt und genauer betrachtet werden, können sie eine große Quelle des Verständnisses und der Weisheit hinsichtlich der Gefühle von Kindern und Jugendlichen sein.

Wir wissen nicht, mit welchem Interesse Sie dieses Buch lesen. Vielleicht mit dem Interesse der Eltern, die die Gefühle ihrer Kinder mehr verstehen und besser mit ihnen umgehen wollen, vielleicht auch mit dem Interesse eines Therapeuten oder einer Therapeutin oder als Erzieher_in(nen), Lehrer_in(nen) oder andere Fach(kräfte)kraft im sozialen oder pädagogischen Bereich, die daraus Anregungen für ihre professionelle Arbeit schöpfen möchte. Wahrscheinlich werden Ihnen beim Lesen Situationen mit Kindern vor Ihr inneres Auge treten und Sie werden sich sicherlich auch an die eine oder andere Situation Ihrer eigenen Kindheit erinnern. All diese Erfahrungen sind es wert, ernst genommen zu werden.

Wie Kinder fühlen

Liebe

Kinder lieben. In jedem Alter. Die Liebe der Kinder ist sichtbar und spürbar, wenn man hinschaut und sich ihr öffnet. Die Liebe eines Säuglings ist offensichtlich: der offene und sich öffnende Blick auf die stillende Mutter, der Verdruss, wenn sich eine geliebte Person abwendet, die strahlende Freude bei Zuwendung und Nähe. So, wie sich ein Kleinkind an eine Person schmiegt, die es liebt und der es vertraut, so vollkommen können sich Erwachsene nur noch selten hingeben.

Werden die Kinder größer, verdichtet sich ihr Lieben oft im Schenken oder, genauer gesagt, in der Vorbereitung des Schenkens. Da tuscheln die Geschwister und sparen und suchen im Internet und gehen allein in Geschäfte – und präsentieren der Mutter als Ausdruck ihrer innigen Liebe eine elektrische Orangenpresse. Die Mutter lächelt pflichtschuldig, zwei solcher Pressen stehen schon unbenutzt im Keller. Für sie ist das Geschenk ein weiterer, eher überflüssiger Haushaltsgegenstand. Sie ahnt aber, dass mehr dahintersteckt, sie hat die »heimliche« Vorbereitung mitbekommen und erlebt, dass dies Geschenk für die Kinder wichtig ist. Und wichtig ist es in besonderer Weise, denn die Kinder freuen sich, wenn die Mutter ihnen einen Orangensaft presst. Sie staunen über ihre Kraft und bemitleiden sie ein wenig wegen der Mühe, die sie mit der Handpresse aufwendet, um ihnen etwas Gutes zu tun. Also wollen sie ihr etwas Gutes tun, wollen ihr ihre Mühe erleichtern und damit ihre Liebe zeigen. Das Geschenk wird damit auch für die Mutter wichtig und das zunächst pflichtschuldige Lächeln nimmt einen liebevoll-freudigen Ausdruck an.

In der Pubertät oder nach der Pubertät ist die Liebe der Kinder für ihre Eltern oft nicht verloren gegangen, selbst wenn sie sich manchmal so verkleidet, dass man ein Fernglas oder eine Lupe braucht, um sie zu erkennen. Natürlich wendet sich die Liebe dann vorrangig den Freunden und Freundinnen zu. Aber wenn die Kinder gegenüber anderen Menschen etwas über ihre Eltern erzählen, dann schimmert Liebe zumindest ein wenig durch. Sie sagen oft Dinge über die Eltern, die sie ihnen direkt gar nicht mehr sagen würden, weil das ja »kindisch« wäre. Die Liebe ist weiterhin da, aber anders, verschämter, manchmal versteckt, sich darin zeigend, dass die Jugendlichen ihre Eltern gegenüber anderen verteidigen oder durchblicken lassen, dass sie stolz auf sie sind.

Kinder lieben. Leidenschaftlich. Im Kindergarten gibt es oft Freundschaften, die über das übliche Verständnis von Freundschaft weit hinausgehen und eher leidenschaftliche Liebe beinhalten. Vorher schon beginnt die Liebe in der leidenschaftlichen Hinwendung zu Teddys oder Lieblingspuppen – und wehe, der Teddy wird gewaschen und riecht nicht mehr so wie früher oder wird gar als alt und vergammelt von Erwachsenen weggeworfen. Später dann wendet sich die leidenschaftliche Liebe anderen zu, der Grundschullehrerin oder dem Fußballverein, den Sammelbildern, Mangas oder bestimmten Musikgruppen. Ob das ganze Zimmer mit Bildern von Taylor Swift tapeziert wird, ob das Pferd geliebt wird oder die Meerschweinchen oder Fußballstars – immer geht es um das ganze Herz. Das Herz wird hingegeben, leidenschaftlich und vollständig. Das wird bei Kindern bedauerlicherweise oft übersehen und nicht genug gewürdigt. Leidenschaftliche Liebe ist es und kein Tick, keine Spinnerei oder lediglich Schwärmen. Sie verträgt kein Lächerlichmachen.

Kinder lieben. Bedingungslos. Da wird die elfjährige Lucia von ihrem Vater geschlagen und begrabscht – doch sie entschuldigt ihn und verteidigt ihn und »lässt nichts auf ihn kommen«. Denn er ist ihr Vater und sie liebt ihn. Die Liebe der Kinder ist bedingungslos, andauernd und zäh. Kindliche Liebe lässt sich nicht gänzlich zerstören durch Grausamkeiten, Ignoranz, Demütigungen, Verwahrlosung und heillose Überforderung. Selbst wenn Erwachsene zornig und verzweifelt verurteilen, was ihnen als Kind von einem Elternteil angetan wurde, selbst wenn Liebe offenbar in Hass umgeschlagen zu sein scheint, so bleibt doch – von Außenstehenden zumeist staunend und verwundert oder gar mit großem Unverständnis und Ablehnung zur Kenntnis genommen – ein Rest der kindlichen Liebe vorhanden. Diese Liebe ist ein Teil des Kindseins und braucht Anerkennung und Würdigung. Dass sie selbst bei Menschen, denen Schreckliches angetan wurde, lebendig bleibt, ist ein Zeichen ihrer Kraft und der Bedingungslosigkeit, mit der sie in die Welt tritt.

Kinder lieben. Selbstlos. Gelegentlich mögen Kinder einigen Erwachsenen wie kleine, Liebe und Aufmerksamkeit verschlingende, undankbare Ungeheuer vorkommen. Manchmal scheinen Kinder (elterliche) Selbstaufgabe zu fordern. Doch wenn das Lieben der Kinder nicht verschüttet, verachtet oder beschämt worden ist, wohnt der Liebe der Kinder immer die Bereitschaft inne, viel mehr auf das Wohl von Mutter und Vater und der ihnen Liebsten zu achten als auf das eigene.

Die Selbstlosigkeit der kindlichen Liebe hängt eng mit ihrer Bedingungslosigkeit zusammen und liegt oft nah an der Selbstaufgabe. Sie ist (zunächst zumindest) zutiefst vertrauend und macht blind. Kinder haben grundsätzlich die Fähigkeit und Bereitschaft, sich mit den geliebten Menschen zu identifizieren, sich in sie hineinzuversetzen, sie zu verstehen, zu bejahen und zu entschuldigen. Sie sind in der Lage, die Erwartungen der geliebten Menschen zu erspüren (auch wenn es darin eine mehr oder minder hohe Fehlerquote geben mag), und haben die Bereitschaft, sie zu erfüllen. Die selbstlose Liebe ist Kindern so selbstverständlich, ist ein solch unspektakulärer Teil ihrer Innenwelt, dass sie nur selten das Licht der Welt erblickt beziehungsweise ins Licht der Welt gerückt wird. Sie kann leicht von den Erwachsenen übersehen, überhört und übergangen werden und entschlüsselt sich manchmal erst über die Rückschau im Erwachsenenalter.

Das Lieben der Kinder beziehungsweise ihre Art, zu lieben, wird oft belächelt. Es verdient stattdessen ein zärtliches Lächeln, Beachtung und Respekt.

Schuld und Verantwortungsgefühl

Ein Vater sitzt am Wohnzimmertisch und redet mit seinem achtjährigen Sohn. Vier Wochen ist es her, dass die Eltern des Kindes sich getrennt haben und der Vater in eine neue Wohnung gezogen ist. Der Vater staunt, wie gut der Sohn die Trennung verkraftet hat, und freut sich, dass er anderen stolz sein neues Kinderzimmer zeigt und anscheinend gern bei ihm ist. Sie trinken einen Kakao. Der Vater fragt den Sohn, wie es ihm mit der Trennung der Eltern geht. Der Sohn erzählt erst, dass er es toll findet, nun zwei Kinderzimmer zu haben, und dass es für ihn gut ist, abwechselnd bei Vater und Mutter sein zu können. In der Schule wären die meisten Eltern der Mitschüler und Mitschülerinnen getrennt und die meisten Kinder hätten nur noch Kontakt zu einem Elternteil. Doch dann sagt er etwas, woraufhin der Vater vor Überraschung fast den Kakao verschüttet. Der Sohn erklärt mit tiefem Ernst und großer Sicherheit, dass er wisse, dass er verantwortlich dafür sei, dass sich die Eltern getrennt hätten, und dass er seit einigen Wochen ganz viel dafür tue, dass sie wieder zusammenkämen. Der Vater hatte von all dem trotz seiner innigen Verbindung zu seinem Sohn nichts mitbekommen. Das ist nicht verwunderlich, denn dieses Verantwortlichkeitsgefühl der Kinder ist ein vor allem geheimes Gefühl.

Wenn in der Lebenswelt der Kinder etwas Einschneidendes geschieht, das sie sich nicht erklären können, das, so wie sie es erleben, vom Himmel fällt, dann fühlen sie sich wie automatisch dafür verantwortlich. In diesem Verantwortlichfühlen ähneln sich Kinder und der Glaube in manchen Kulturen: Wenn der Regen ausbleibt, liegt die Verantwortung dafür darin, dass den Göttern zu wenig geopfert wurde oder der Lebenswandel des Stammesältesten dem Regengott missfiel. In unserem Kulturkreis wuchsen ganze Generationen mit der Vorstellung auf, dass die Sonne morgen scheint, wenn das Kind den Teller heute »schön leer isst«. Es werden Verknüpfungen hergestellt, die logisch nicht zu verstehen sind, die aber von der emotionalen Logik her betrachtet als sinnvoll und selbstverständlich erlebt werden. Wenn ich beim Gewitter fest meinen Kopf halte, schlägt der Blitz nicht ein. Wenn ich mein Zimmer aufräume, bekomme ich eine gute Note. Wenn ich freundlich zu meinem Bruder bin, wird die Mama wieder gesund …

Wir erfahren es in der Therapie und hören es von vielen Menschen, Kindern wie Erwachsenen: Kinder fühlen sich verantwortlich für Dinge, die über sie »hereinbrechen«, und sie versuchen, dieser Verantwortung gerecht zu werden, indem sie »besonders brav« sind, ihr Spielzeug in das Regal stellen, die Geschirrspülmaschine leeren, ihre Mahlzeiten aufessen, sich in der Schule häufig melden usw. Noch als Erwachsene sind sie oftmals erschüttert über das Ausmaß ihrer kindlichen Anstrengungen: Was musste ich nicht alles tun – und was habe ich nicht alles getan –, um das, wofür ich mich verantwortlich fühlte, wiedergutzumachen!

Das Verantwortungsgefühl der Kinder führt oft dazu, dass sie sich schuldig fühlen. Die Schwester eines Kindes stirbt, und das Kind fühlt sich jahrelang für den Tod der Schwester verantwortlich, weil es in dem Moment, als sie starb, draußen spielen war.

Romane und Erzählungen enthalten zahlreiche Geschichten, in denen beschrieben wird, wie verlassene Kinder die Schuld für das Verlassenwerden bei sich suchen. So auch der Junge in der Erzählung »Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran« (Schmitt 2003): »Es kam gar nicht infrage, dass ich zugebe, verlassen worden zu sein. Zweimal verlassen, einmal nach meiner Geburt von meiner Mutter, das zweite Mal als Heranwachsender von meinem Vater … Was war nur so abscheulich an mir? Was war bloß an mir, dass man mich nicht lieb haben konnte?« (S. 51). Auch in Annie Proulx’ »Schiffsmeldungen« übernimmt ein verlassener Junge die Verantwortung dafür, dass ein Elternteil die Familie verlassen hat, und ist sich sicher, dass es daran liegt, dass er so langweilig ist.

Auch hier sagt die Logik des Verstandes: Das ist falsch, sogar verrückt. In der Logik der Gefühle sind solche Verknüpfungen selbstverständlich. Wie viele Kinder fühlen sich schuldig dafür, dass ihre Eltern sich getrennt haben! Wie viele Kinder übernehmen die schuldhafte Verantwortung dafür, dass nahe Angehörige gestorben sind oder schwer krank wurden oder sonstige unglückliche Ereignisse geschehen sind! Und wie viele Kinder übernehmen die Verantwortung für das »verkorkste Leben« ihrer Eltern! Sie spüren oder reimen sich aus vielen Hinweisen zusammen, dass sie eigentlich existenziell unerwünscht sind oder dass ihre Eltern »wegen ihnen« zusammenbleiben. Sie übernehmen die Schuld dafür, dass ihre Mutter oder ihr Vater ihr Leben nicht so leben, wie sie es eigentlich leben wollten. Diese Schuld ist zäh und nachhaltig. Sie kann jahrelang, ja manchmal jahrzehntelang anhalten und das Leben beeinflussen.

Zwei Verhaltensweisen wirken diesen Schuldgefühlen entgegen: Transparenz und Entschuldung. Der Vater des erwähnten Jungen tat das einzig Richtige: Er erzählte seinem Sohn, warum seine Ehe gescheitert war. Nicht alles, aber vieles von sich und der Beziehung zu seiner ehemaligen Frau, was dazu geführt hatte, dass sie nicht mehr zusammenleben konnten und wollten. Hier ging es nicht darum, »schmutzige Wäsche zu waschen« oder über den anderen »herzuziehen«, um sich zu rechtfertigen. Es galt hier und es gilt für viele andere Kinder in ähnlichen Situationen, ihnen zu erklären, dass Liebe manchmal nicht ausreicht, damit Menschen zusammenbleiben können. Es gilt, zu erklären, dass sich Menschen auseinanderleben und dass es dann auch gut ist, wenn sie auseinandergehen, um sich nicht weiter zu verletzen oder eine unerträgliche Spannung aufzubauen beziehungsweise aufrechtzuerhalten. Das Schuldgefühl und das Sichverantwortlichfühlen der Kinder entstehen, wenn etwas Unerklärliches geschieht, das für sie wesentliche Bedeutung hat. Also bedarf es der Erklärung und der Transparenz. Es ist notwendig, das, was geschehen ist, so verständlich wie nur irgendwie möglich für die Welt des Kindes zu machen.

Zur Entschuldung gehören zwei Sätze. Der eine Satz lautet: »Du bist nicht schuld.« Dieser Satz muss ausgesprochen werden, auch dann, wenn Kinder schweigen und ihn nicht einfordern. Dass Kinder sich schuldig fühlen, ist ebenso wie das Gefühl, verantwortlich zu sein, ein geheimes Gefühl. Nur in Ausnahmefällen wird es bekannt. Also sollten Erwachsene es auch ohne äußere Anzeichen in Erwägung ziehen und gleichsam »auf Vorrat« den Kindern mitteilen. Am besten sagen sie es eher beiläufig und dennoch ernst und wiederholen, dass die Kinder nicht schuld sind, wenn eine ihnen nahestehende Person gestorben ist, wenn Eltern sich trennen, wenn jemand krank wird … »Du bist nicht schuld!« Auch wenn Kinder »merkwürdig«, »depressiv«, »panisch« werden oder »durchknallen«, ist es oft hilfreich, der Spur der heimlichen Schuldgefühle zu folgen.

Der zweite Satz lautet: »Ich, der Erwachsene/die Erwachsene, übernehme die Verantwortung.« Es ist eine wunderbare Eigenschaft, dass Kinder auch bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Dieses Verantwortungsgefühl sollte, wo immer es möglich und verantwortbar ist, unterstützt werden. Doch die Verantwortlichkeit der Kinder ist eine andere als die der Erwachsenen. Wenn Kinder Verantwortung übernehmen müssen für Geschehnisse, für die sie keine Verantwortung übernehmen können, dann verwandelt sich ihr Verantwortlichkeitsgefühl in Schuld.

Acht- oder zwölfjährigen Kindern die Verantwortung für die Entscheidung zu übergeben, wo die Familie leben soll, ob die Mutter eine neue Stelle annehmen darf, ob der neue Lebenspartner, die neue Lebenspartnerin die richtige Person zum Zusammenleben ist, ist eine heillose Überforderung, die in dem Kind das tiefe Empfinden hinterlässt, zu früh groß sein zu müssen, zu versagen und zu scheitern, kurz: sich zu verlieren. Es ist wichtig, die Meinung der Kinder einzuholen, ihre Empfindungen und Gefühle ernst zu nehmen und ihnen Raum zu geben. Es ist wichtig, mit ihnen im Gespräch zu bleiben und den Kindern zu sagen, wo und in welcher Hinsicht Verantwortlichkeit von ihnen erwartet wird. Gleichzeitig müssen wir Erwachsene ihnen mitteilen, wo sie keine Verantwortung haben und diese auch nicht übernehmen müssen. Die Verantwortlichkeit darüber, wie Erwachsene zusammenleben, ist Sache der Erwachsenen. Auch die Verantwortlichkeit für die Lebensumstände der Kinder ist Sache der Erwachsenen. Nur wenn die Erwachsenen diese Verantwortlichkeit auch offen aussprechen und übernehmen, können Kinder sie loslassen.

Zugehörigkeit und Freundschaft

»Zu wem gehörst du?« Diese Frage würden heute nur wenige stellen, zu altmodisch kommt sie daher. Doch für das Gefühlsleben der Kinder ist die Beantwortung dieser Frage wichtig.

Die siebenjährige Lara gehört zu ihrer Familie. Zwar ärgert sie sich manchmal oder ist traurig, gelegentlich fühlt sie sich im Stich gelassen oder ist enttäuscht und findet das eine oder andere Verhalten ungerecht. Doch Freude, Liebe, Geborgenheit prägen ihr Leben genauso wie die alltäglichen Reibereien und Kümmernisse. Sie gehört zu dieser Familie, die zusammen isst und gemeinsam in den Urlaub fährt, in der jeder und jede aber auch einen eigenen Spielraum hat. Sie gehört dazu, selbstverständlich, ohne dass darüber Worte verloren werden und ohne dass sie das Wort »Zugehörigkeit« kennt oder gar in den Mund nimmt.

Lara gehört auch zu Theresa, zu ihrer Freundin, mit der sie »durch dick und dünn« geht, von den ersten Tagen des Kindergartens an. Freundschaft, Liebe, ganz gleich, wie man das innige Verhältnis von Lara und Theresa bezeichnet, sie gehören zueinander.

Der zwölfjährige Mike hat früher zu seiner Familie gehört, jetzt steht sein Fußballverein an erster Stelle. Der Trainer ist ihm wichtiger als Familie oder Lehrer_innen, auf ihn »hört« er mehr als auf seine Eltern. Die Mannschaftskameraden sind seine Kumpels, zu ihnen gehört er nach seinem Selbstverständnis mehr und intensiver als zu seinen Mitschüler_innen oder zu seiner Familie. Diese Zugehörigkeit ist sichtbar: Er trägt, sooft er darf, seine Vereinsmütze, seine Schulhefte werden von Vereinsaufklebern geschmückt, über seinem Bett hängt ein Fußballposter, die Mappe mit seinen Stiften ist blau wie seine Vereinsfarbe.

Seine drei Jahre ältere Schwester gehört zu den Gothics: schwarze Haare, schwarze Kleidung, entsprechende Musik …

Zugehörigkeit ist wichtig für die Identität eines Kindes. Die Frage »Wer bin ich?« wird auch dadurch beantwortet, dass ein Kind weiß, spürt, lebt, zu wem es gehört. Für Lara, Mike und seine ältere Schwester ist ihre Zugehörigkeit selbstverständlich, da werden keine großen Worte gemacht. In und nach der Pubertät findet die Zugehörigkeit oft einen demonstrativen Ausdruck, der ein deutliches Zeichen für den Wunsch oder die Notwendigkeit ist, sich von der Familie abzusetzen. Um die Zugehörigkeit der Kinderzeit abzulegen, wird häufig nach deutlichen Alternativsignalen gesucht. Nicht die Individualität kann die Zugehörigkeit zu einer Familie sofort ersetzen beziehungsweise ergänzen. Fast immer bedarf es eines Zwischenstadiums der Zugehörigkeit zu einer anderen Gemeinschaft, zu einer politischen, religiösen oder sportlichen Gruppe, zur Gemeinschaft der Anhänger_innen einer bestimmten Musik- beziehungsweise Subkultur oder von Ähnlichem.

Doch von den pubertären Zeichensetzungen abgesehen wohnt der Zugehörigkeit etwas Selbstverständliches inne. Sie ist selten konkretes Gefühl, zumeist ein Boden des Befindens, auf dem Geborgenheit und Glück gedeihen können. Die enorme emotionale Wichtigkeit der Zugehörigkeit offenbart sich vor allem, wenn sie gefährdet oder verloren ist. Verloren gehen kann sie, wenn Kinder verstoßen, im Stich gelassen oder verraten werden. Sie wird brüchig oder schwindet schließlich, wenn Kinder dauerhaft ignoriert werden und ihre Regungen und Bestrebungen ins Leere greifen. Manchmal ist sie auch dadurch gefährdet, dass Kinder anders als die meisten in ihrer Umgebung sind, klüger, vielleicht hochbegabt, empfindsamer, langsamer oder erregter. Diese Kinder suchen dann die Zugehörigkeit zu anderen Personen, Gemeinschaften, Lebewesen, oft auch zu einem Tier.

Sich nicht zugehörig zu fühlen hat nachhaltige Folgen. »Mich versteht sowieso keiner!« – durch diese Stimmung muss jedes Kind irgendwann einmal durch. Verfestigt sie sich aber im sicheren Gefühl, nicht dazuzugehören, wird daraus ein Grundgefühl, verloren zu sein. Wie viele Kinder fühlen sich fremd! Wie oft haben wir in Therapien gehört, dass Erwachsene erzählen, sie seien sich als Kind sicher gewesen, dass sie bei der Geburt vertauscht worden sind, weil alles dafür sprach, dass sie nicht zu dieser Familie gehörten, in der sie lebten! Wie oft hören wir von Kindern den im Brustton der Gewissheit ausgesprochenen Satz: »Ich bin falsch.« Wie oft hören wir, dass Kinder weglaufen, und erfahren jedes Mal, dass sich unsere Vermutung bestätigt: Wer wegrennt, ist vorher schon verloren gegangen. Nicht dazuzugehören, verloren gegangen zu sein zeigt sich oft darin, dass sich Kinder unter Druck fühlen. Dieser innere Druck ist häufig mit einer Unruhe verbunden, mit Unstetigkeit, wie ein Hamster im Rad getrieben zu sein, wie auf der Flucht oder auf der ständigen Suche nach etwas, was nicht benannt werden kann.

Was hilft: Erstens muss aufmerksam und wachen Blickes hingeschaut werden, muss wahr- und ernst genommen werden, dass sich Kinder verloren und nicht zugehörig fühlen und dass sie darunter leiden. Zweitens gilt es, ernst und verlässlich Zugehörigkeit anzubieten beziehungsweise gemeinsam mit den Kindern herauszufinden, wo und wie sie dazugehören wollen. Oftmals wird Zugehörigkeit erzwungen (»Du gehörst nach Hause.« »Du gehörst ins Heim.«) – ein Unding, weil sich das Problem so nur scheinbar und nur in der Wahrnehmung der Verantwortlichen, nicht aber im Erleben der Kinder und Jugendlichen lösen lässt. Und drittens hilft Kindern die Unterstützung darin, herauszufinden, was sie brauchen, um sich zugehörig fühlen zu können!

Stolz