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© 2021 Abd Al-Karim

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH

ISBN 9783755704799

In einer der reichsten und größten Städte, Kaifang am Gelben Fluss, lebte der Schneider Mustapha. Auch wenn die Stadt reich war, mit wohlhabenden Kaufleuten und noch wohlhabenderen Mitgliedern des Kaiserreiches, ging es Mustapha nicht gut. Er war arm. Er arbeitete zwar von früh bis spät in die Nacht hinein, aber es reichte nicht hinten und vorn. Kaum brachte er seine Frau und seine Kinder über die Runden.

Sein Sohn Aladdin kümmerte sich nicht darum. Er lebte sorglos und fröhlich vor sich hin, spielte auf der Straße mit ebenso sorglosen und fröhlichen Kindern, als lebte er in Saus und Braus. Er hörte weder auf seinen Vater noch seine Mutter, wenn sie ihn darum baten, mitzuhelfen – kurz gesagt, sie machten sich große Sorgen um ihn, ob er jemals sein Brot würde verdienen können, um sich und seine Familie zu ernähren. Wie oft hatten sie ihn ermahnt, wenigstens einen kleinen Teil beizutragen, damit seine kleinen Geschwister etwas zu essen hätten. Aus der näheren Verwandtschaft hatte er sich bereits den nicht gerade ehrenvollen Beinamen als Nichtsnutz und Schande der ganzen Familie erworben.

Aber da sich Eltern immer vor ihre Kinder stellen, auch wenn sie noch so missraten sind, nahmen sie ihn sogar in Schutz und erfanden unglaubliche Geschichten über ihn, lobten seinen Fleiß und seinen ausgeprägten Familiensinn. Wer ihnen die Geschichten abnahm, fragten sie nicht. Aber Nachbarn und Anverwandte, die einen besseren Einblick in die Familienverhältnisse besaßen, taten so, als hätten sie Auskünfte wie diese nie angezweifelt.

Als Aladdin das Alter erreichte, um einen Beruf zu erlernen, nahm ihn sein Vater in die Lehre. Er sollte lernen, wie er eine Nadel zu führen oder die Armlänge einer Jacke zu messen hatte, aber alle Bemühungen seines Vaters waren umsonst. Es schien, als sei er zu nichts zu gebrauchen. Doch Aladdin ließ sich nichts mehr sagen. Ständig ärgerte sich sein Vater und schimpfte über ihn. Irgendwann verlor er die Geduld und ließ ihn machen, was er wollte. Er schien sich nicht mehr um ihn zu kümmern, obwohl er immer an ihn denken musste. Es dauerte auch nicht lange, bis er sich hinlegte und starb.

Aladdin, der sich, kaum dass sein Vater begraben war, nicht mehr unter der Kontrolle seines Vaters fühlte, gab sich jetzt völlig seinem lockeren Lebenswandel hin und verbrachte seine Zeit damit, den ganzen Tag mit seinen Freunden auf der Straße zu verbringen. Er lebte, als gäbe es kein Morgen und kümmerte sich nicht um die Nöte seiner Mutter und seiner Geschwister. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er jemals für sein Brot werde arbeiten müssen. Eine Änderung trat ein, als er das fünfzehnte Lebensjahr erreichte.

Etwa um diese Zeit, als er sich wieder mit seinen Freunden auf der Straße herumtrieb, ging am Straßenrand ein Fremder entlang, der ihn interessiert beobachtete, dann stehenblieb, wieder weiterging und überlegte. Er kehrte wieder um und ließ ihn nicht aus den Augen. Der Fremde war erst vor zwei Tagen aus Afrika eingereist. Von Haus aus war er ein afrikanischer Magier. Immer noch hielt er sein wachsames Auge auf Aladdin gerichtet, als fürchtete er, ihn im Gewimmel seiner sich jagenden Kumpels zu verlieren.

Das Wesen Aladdins, seine Mimik, sein Verhalten den übrigen Straßenjungen gegenüber schien ihn zu interessieren. Er war fasziniert von ihm und hielt ihn für einen Kandidaten, der für die Erfüllung seiner Pläne geeignet war. Von seinen Kumpels auf der Straße erfuhr er seinen Namen, seine Geschichte und all das, was ihn interessierte. Als er alles über ihn wusste, ging er zu ihm, nahm ihn zur Seite und fragte:

‚Heißt Dein Vater nicht Mustapha?‘

‚Ja, das stimmt,‘ antwortete er, ‚aber er ist schon lange tot.‘

Nach diesen Worten schlang der afrikanische Magier seine Arme um Aladdins Hals, der versuchte, sich von ihm zu lösen, aber er hielt ihn fest und küsste ihn nicht einmal sondern mehrmals. Tränen schossen ihm in die Augen und er sagte:

‚Ich bin Dein Onkel! Dein wunderbarer Vater war mein Bruder! Ich wusste es gleich, als ich Dich zum ersten Mal gesehen habe. Du siehst ihm so ähnlich!‘

Dann gab er Aladdin eine Hand voll kleinerer Münzen und sagte:

‚Geh, mein Sohn, zu Deiner Mutter! Richte ihr all meine guten Wünsche und Liebe aus und sage ihr, dass ich sie morgen besuchen werde. Ich wünschte, ich könnte sehen, wo mein guter Bruder gelebt und dann auch gestorben ist.‘

Aladdin rannte zu seiner Mutter und zeigte ihr freudig das Geld, das ihm der Onkel gegeben hatte.

‚Mutter‘ fragte er, ‚habe ich einen Onkel?

‚Nein, mein Kind!‘ antwortete seine Mutter, ‚Du hast weder einen Onkel von Vaters Seite noch von meiner.‘

‚Ich komme gerade von einem Mann,‘ sagte Aladdin, ‚der behauptet, dass er mein Onkel sei und der Bruder meines Vaters. Er weinte und küsste mich, als ich ihm erzählte, dass mein Vater tot ist. Dann gab er mir Geld. Ich soll Dir all seine Grüße und Liebe überbringen. Er versprach, Dich zu besuchen, um das Haus zu sehen, in dem mein Vater lebte und starb.‘

‚Tatsache ist nun Mal, mein liebes Kind,‘ erwiderte seine Mutter, ‚dass Dein Vater keinen Bruder hatte. Auch hast Du keinen Onkel.‘

Am nächsten Tag entdeckte der Magier, dass Aladdin sich auf einmal in einem anderen Stadtteil mit seinen Freunden herumtrieb. Auf wundersame Weise hatte er es erfahren und war schnurstracks in den neuen Stadtteil gefahren. Er umarmte ihn wie am Tag zuvor, legte zwei Goldstücke in seine Hand und sagte:

‚Bring das Deiner Mutter! Sag ihr, dass ich heute Abend zu ihr komme. Bitte sie, dass sie uns etwas zum Abendessen kocht. Aber zuerst zeig mir das Haus, in dem Ihr gelebt habt.‘

Aladdin zeigte dem afrikanischen Magier das Haus und gab die zwei Goldmünzen seiner Mutter. Misstrauisch betrachtete sie die zwei glänzenden Münzen in ihrer Hand, denn sie wusste aus Erfahrung, dass ihr bisher niemand etwas geschenkt hatte, ohne etwas dafür zu wollen. Schließlich stammten die Goldstücke von einem Onkel, den es nicht gab.

Misstrauisch schaute sie die Münzen noch eine Weile an, wurde aber von ihrer Anziehungskraft überwältigt. Sie konnte ihr nicht widerstehen. Wenn jemand arm ist wie sie, versuchte sie sich zu überreden, muss man seine Vorsätze überdenken. Einfach, um nicht zu verhungern. Manchmal musste sie Grenzen, die sie sich selbst gesteckt hatte, aus diesem Grunde auch überschreiten. Sie ging gleich auf den Markt und kaufte großzügig für das Abendmahl ein.

Das Besteck lieh sie sich von ihrer Nachbarin, mit der sie befreundet war und die ihr im Notfall immer zur Seite stand. Sie verbrachte den ganzen Tag, um das Essen bis zum Abend vorzubereiten. Als sie so weit war, dass sie den Tisch decken konnte, sagte sie zu ihrem Sohn:

‚Vielleicht weiß unser Gast nicht, wo wir wohnen. Schau mal draußen nach, ob Du ihn siehst.‘

Aladdin zog sich gerade seine Schuhe an, um auf die Straße zu gehen, als der Magier an die Tür klopfte. Er trat ein, mit einer Flasche Wein und einigen Früchten für das Dessert, während Aladdin ihn gleich ins Esszimmer führte. Er begrüßte Aladdins Mutter, nachdem er ihr die Gastgeschenke überreicht hatte, und bat sie, ihm den Platz zu zeigen, auf dem sein Bruder Mustapha gewöhnlich auf dem Sofa saß. Als sie auf den Platz in der Sofaecke zeigte, fiel er auf seine Knie, küsste ihn überschwänglich und schrie, mit Tränen in den Augen:

‚Mein armer Bruder! Wie unglücklich ich bin! Wie traurig, dass ich nicht rechtzeitig bei Dir war, um Dich ein letztes Mal zu umarmen!‘

Aladdins Mutter lud ihn ein, sich auf den gleichen Platz zu setzen, aber er lehnte ab.

‚Nein!‘ sagte er, ‚ich werde das nicht tun! Aber erlaube mir wenigstens, dass ich mich ihm gegenübersetze, damit ich zwar nicht das Familienoberhaupt sehen kann, aber den Platz, auf dem er jeden Abend gesessen hatte.‘

Als er endlich den richtigen Platz gefunden hatte, um die Sitzecke Mustaphas genau vor sich zu haben, begann er, sich mit Aladdins Mutter zu unterhalten und Fragen zu stellen.

‚Meine gute Schwester!‘ fing er an, ‚sei bitte nicht überrascht, dass Du mich nie gesehen hast, als Du noch mit meinem Bruder Mustapha verheiratet warst. Ich lebte vierzig Jahre lang im Ausland. Während dieser Zeit unternahm ich viele Reisen, wie nach Indien, Persien, Arabien und Syrien. Danach schiffte ich mich nach Afrika ein und wählte Ägypten zu meinem ständigen Hauptwohnsitz.

Schließlich ist es, glaube ich, ganz natürlich, dass ich wieder mein Heimatland sehen wollte. Mein Land, wo ich geboren wurde, wie mein Bruder Mustapha auch. Bei dieser Gelegenheit wollte ich ihn nach so langer Zeit wieder in die Arme schließen. Ich fühlte mich auch stark genug, die lange Reise auf mich zu nehmen.‘

‚Nach den Vorbereitungen fuhr ich in den nächsten Hafen Ägyptens und fand auch ein Schiff, das bereit war, mich mitzunehmen. Nichts hat mich in meinem Leben so niedergeschmettert, als ich erfahren musste, dass mein Bruder tot ist. Allah, der Allmächtige, entscheidet aber darüber. So bin ich froh und überglücklich, dass ich in seinem Sohn Aladdin die gleichen Gesichtszüge finde, wie bei meinem geliebten Bruder Mustapha. Er besitzt eine verblüffende Ähnlichkeit mit ihm.‘

Als der afrikanische Magier bemerkte, dass die Witwe in Erinnerung an ihren Mann zu weinen anfing, wechselte er das Thema und wandte sich an ihren Sohn Aladdin:

‚Welsches Geschäft betreibst Du? Arbeitest Du irgendwo?‘

Nach dieser Frage senkte Aladdin seinen Kopf und starrte vor sich hin. Seinem Gesicht sah man an, dass es ihm peinlich war, darüber zu reden. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Wie erleichtert war er dann, als seine Mutter für ihn antwortete:

‚Aladdin ist ein Nichtsnutz. Er scheut die Arbeit und treibt sich den ganzen Tag auf der Straße herum. Sein Vater gab sich alle Mühe, als er noch lebte, ihn für seinen Beruf zu begeistern, aber es war umsonst. Nach seinem Tod, ich muss es leider sagen, tut er nichts als faulenzen. Er vertreibt sich die Zeit auf der Straße mit seinen Kumpels, die die unsinnigsten Dinge anzustellen. So, wie Du ihn auch gesehen hast.

‚Er denkt keinen Augenblick daran, dass er kein Kind mehr ist. Und wenn Du als sein Onkel ihn nicht auf irgendeine Art beschämst und auf den rechten Weg führst, sehe ich voraus, dass es mit ihm ein schlechtes Ende nehmen wird. Was mich betrifft, bin ich inzwischen so weit, dass ich ihn eines Tages aus dem Haus werfen werde. Dann kann er selbst sehen, wie er zurechtkommt. Dann ist es auch Schluss damit, sich an den gedeckten Tisch zu setzen und seinen Hunger zu stillen.‘

Nach diesen Worten brach Aladdins Mutter in Tränen aus. Und der Magier sagte:

‚Das ist nicht gut, mein Neffe! Du musst Dich selbst aus dem Sumpf der Arbeitsscheuen und Nichtsnutze herausziehen. Du selbst hast es in der Hand. Kein anderer wird es für Dich tun. Also denk darüber nach, ehe es zu spät ist. Denn es gibt jede Menge Arbeit für Dich. Interessante Arbeit, bei der Du viel Geld verdienen kannst, während Deine Freunde auf der Straße ihre Zeit vergeuden. Vielleicht ist Dir die Arbeit als Schneider, mit der Euch mein Bruder ernährte, zuwider und du möchtest etwas anderes tun.

Ich werde Dir helfen, etwas anderes zu finden. Wenn Dir ein Handwerk nicht zusagt, werde ich Dir ein Geschäft einrichten, mit unzähligen Sorten von Leinen und wertvollen Stoffen. Solltest Du Erfolg damit haben, könntest Du Deine Geschäfte erweitern und zum Beispiel auch mit frischen Obst- und Gemüseangeboten handeln.‘

‚Auf diese Weise hättest Du die Chance, ein ehrenvolles Leben zu führen. Ich würde mich freuen, wenn Du auf meinen Vorschlag eingehen würdest. Vielleicht sagt er Dir zu. Vielleicht möchtest Du aber auch lieber etwas anderes tun. Zum Beispiel, einfach nur dasitzen und zuschauen, wie die anderen arbeiten. Wenn Du Dir einbildest, Du könntest ohne Arbeit reich werden – ja, dann versuch’s! Aber ohne mich! Auf mich kannst Du nur zählen, wenn Du das tust, was ich Dir sage. Im Gegenzug findest Du bei mir immer ein offenes Ohr. Und verlass Dich darauf, dass ich mein Versprechen immer halten werde.

Der Vorschlag des Magiers gefiel ihm. Einerseits dachte er an den Reichtum, der ihn wie ein Magnet anzog. Andererseits hasste er die Arbeit. Wie aber jeder weiß, muss auch ein Händler die Ware einkaufen, sie lagern und im Schaufenster ausstellen und anbieten, vielleicht den Kunden beraten und ihm freundlich begegnen, damit er wiederkommt. Aladdin sagte dem Magier, dass er gerne als Kaufmann arbeiten würde. Wenn er ihm dabei helfen würde, werde er ihm immer dankbar sein.

‚Nun,‘ sagte der afrikanische Magier, ‚wenn Du Dich entschieden hast, werde ich Dich morgen abholen. Kleide Dich gut, wie die besten Kaufleute der Stadt! Anschließend werden wir das Geschäft eröffnen, wie ich es Dir versprochen habe.‘

Die Witwe zweifelte auch nicht mehr länger, dass der Magier der Bruder ihres Mannes war, nachdem sie gesehen hatte, wie er sich um ihren Sohn kümmerte. Sie dankte ihm dafür und für seine Hilfe, die er ihm anbot. Als sie ihrem Sohn noch einmal ans Herz gelegt hatte, sie und seinen Onkel nicht zu enttäuschen und ihm zu zeigen, dass er seine Gunst wohl verdient hätte, servierte sie endlich das Abendessen, bei dem sie dann über andere Themen sprachen. Der Magier verabschiedete sich und dankte, bevor er mit eiligen Schritten das Haus verließ.

Am nächsten Tag war er wieder da. Er nahm Aladdin zu einem Kaufmann mit, der alle Arten von Bekleidungsstücken anbot. Er bat Aladdin, sich etwas auszusuchen. Als er sich im Spiegel betrachtete, dankte er ihm noch einmal für seine Großzügigkeit. Der Magier erwiderte: