Carl Hiaasen begann im Alter von sechs Jahren zu schreiben, als sein Vater ihm eine Schreibmaschine schenkte. Er studierte Journalismus und begann seine journalistische Laufbahn beim Miami Herald, für den er nach wie vor Kolumnen schreibt, die zahlreich ausgezeichnet wurden. Er lebt mit seiner Familie und seinen Schlangen in den Florida Keyes. In Deutschland wurde Hiaasen durch seine Romane für Erwachsene bekannt, die in insgesamt einundzwanzig Sprachen übersetzt wurden; Eulen ist sein erstes Buch für jüngere Leser. Bei Beltz & Gelberg erschienen von ihm ebenfalls die Umwelt-Krimis Fette Fische, Panther, Echte Biester und Einäugige Echse.
Weitere Informationen zum Autor auf seiner Homepage unter www.carlhiaasen.com.
Für Carly, Ben, Samantha, Hannah
und natürlich für Ryan.
Roy hätte den fremden Jungen gar nicht bemerkt, wenn Dana Matherson nicht gewesen wäre. Normalerweise schaute Roy während der Busfahrt nämlich nie aus dem Fenster. Lieber las er Comics oder Detektivgeschichten auf dem Weg zur Trace Middle School.
Doch an diesem Tag, einem Montag (Roy würde das nie vergessen), packte Dana Matherson ihn von hinten am Kopf und presste ihm die Daumen in die Schläfen, als würde er einen Fußball quetschen. Die älteren Schüler sollten eigentlich im rückwärtigen Teil des Busses bleiben, aber Dana hatte sich angeschlichen und Roy aus dem Hinterhalt überfallen. Als Roy versuchte freizukommen, drückte Dana ihn mit dem Gesicht gegen das Fenster.
In diesem Moment, als er so durch das verschmierte Glas blickte, entdeckte Roy auf dem Gehweg den fremden Jungen. Er rannte, und es sah so aus, als wollte er den Schulbus noch erwischen, der an einer Ecke angehalten hatte, um weitere Schüler einsteigen zu lassen.
Der Junge war strohblond und drahtig, seine Haut nussbraun von der Sonne. Sein Gesichtsausdruck war ernst und entschlossen. Er trug ein verwaschenes Basketball-Sweatshirt mit dem Aufdruck Miami Heat und schmutzige, khakifarbene Shorts. Das Merkwürdige aber war: Er hatte keine Schuhe an. Seine Fußsohlen sahen so schwarz aus wie Grillkohle.
An der Trace Middle School war man nicht besonders streng, was Kleidung anging, aber irgendwelche Schuhe sollten die Schüler wohl doch anhaben, glaubte Roy. Man hätte vermuten können, dass der Junge seine Turnschuhe im Rucksack hatte, aber dafür hätte er erst einmal einen Rucksack haben müssen. Keine Schuhe, kein Rucksack, keine Bücher, und das an einem Schultag – wirklich merkwürdig!
Roy war überzeugt, dass der Barfüßige Probleme kriegen würde mit Dana und den anderen großen Jungs, sobald er in den Bus stieg, aber dazu kam es nicht...
Der Junge rannte nämlich immer weiter – vorbei an der Ecke, vorbei an den Schülern, die an der Haltestelle anstanden, vorbei am Bus. Roy wollte schon rufen: »He, schaut euch mal den Typ da an!«, aber sein Mund wollte nicht so recht. Dana Matherson hatte Roy noch immer von hinten im Griff und presste ihn mit dem Gesicht gegen die Scheibe.
Als der Bus wieder anfuhr, hoffte Roy, weiter unten an der Straße noch einmal einen Blick auf den Jungen werfen zu können, doch der war inzwischen vom Gehweg abgebogen und lief jetzt über ein Privatgrundstück. Wahnsinnig schnell rannte er, viel schneller, als Roy rennen konnte, vielleicht sogar schneller als Richard, Roys bester Freund zu Hause in Montana. Richard konnte so schnell laufen, dass er schon mit dem Team der High School trainieren durfte, als er erst in der Siebten war.
Dana Matherson grub seine Fingernägel in Roys Kopfhaut und hoffte, Roy würde aufschreien. Aber der spürte kaum etwas, so gebannt sah er zu, wie dieser Junge durch einen gepflegten Garten nach dem anderen rannte und mit zunehmender Entfernung zwischen ihm und dem Schulbus immer kleiner wurde.
Roy sah, wie ein großer Hund mit spitzen Ohren, vermutlich ein deutscher Schäferhund, vor einer Haustür aufsprang und sich auf den Jungen stürzen wollte. Es war unglaublich, aber der Junge änderte die Richtung nicht. Er machte einen Satz über den Hund, schoss durch eine Hecke und war verschwunden.
Roy schnappte nach Luft.
»Na, Cowgirl, was ist? Schon genug?«
Das war Dana, der Roy voll ins Ohr zischte. Als Neuer im Schulbus erwartete Roy nicht, dass die anderen ihm helfen würden. Und dass Dana ihn »Cowgirl« genannt hatte, war harmlos, darüber musste man sich nicht aufregen. Dana war ein Blödmann, das war allgemein bekannt, und außerdem wog er mindestens fünfzig Pfund mehr als Roy. Sich auf einen Kampf einzulassen, wäre totale Energieverschwendung.
»Reicht’s? Wir können dich nicht hören, Tex.« Danas Atem stank nach abgestandenem Zigarettenrauch. Qualmen und jüngere Schüler zusammenschlagen waren seine größten Hobbys.
»Ja, okay«, sagte Roy ungeduldig. »Es reicht.«
Sobald er frei war, schob Roy das Fenster runter und streckte den Kopf hinaus. Der fremde Junge war nicht mehr zu sehen.
Wer war das? Wovor rannte er weg?
Roy fragte sich, ob außer ihm jemand im Bus den Jungen auch bemerkt hatte. Einen Moment lang fragte er sich, ob er selbst ihn überhaupt gesehen hatte.
Am selben Morgen wurde der Polizeibeamte David Delinko zu dem Grundstück geschickt, auf dem eine neue Filiale der Restaurantkette Mama Paulas Pfannkuchenhaus gebaut werden sollte. Es handelte sich um ein leeres Grundstück am Ostrand der Stadt, an der Ecke East Oriole Avenue und Woodbury Street.
Officer Delinko wurde von einem Mann in einem dunkelblauen Pick-up erwartet. Dieser Mann, der so kahl war wie ein Ball, stellte sich selbst als Curly vor. Ein Glatzkopf, der auf den Spitznamen »Lockenkopf« hörte, fand Officer Delinko, müsse einen ausgeprägten Sinn für Humor haben, aber darin täuschte er sich. Curly war grantig und verzog kein einziges Mal das Gesicht zu einem Lächeln.
»Sie sollten mal sehen, was die angerichtet haben«, sagte er zu dem Polizeibeamten.
»Wer?«
»Kommen Sie mal mit«, sagte der Mann, der sich Curly nannte.
Officer Delinko lief hinter ihm her. »Unser Einsatzleiter hat mir gesagt, hier hätte jemand auf dem Grundstück gewütet und Sie wollten Anzeige erstatten wegen Vandalismus.«
»So ist es«, brummte Curly über die Schulter.
Dem Polizisten war nicht ganz klar, was es auf diesem Grundstück zu beschädigen gab – im Grunde handelte es sich nur um ein großes Stück Land, auf dem Unkraut wucherte. Curly blieb stehen und zeigte auf einen kurzen Holzstab auf der Erde. Eine grellrosa Plastikbanderole war an einem Ende festgebunden. Das andere Ende war angespitzt und lehmverkrustet.
»Sie haben sie rausgezogen«, sagte Curly.
»Ist das ein Vermessungspfosten?«, fragte Officer Delinko.
»So ist es. Sie haben sie rausgerissen, jeden einzelnen.«
»Kinder vermutlich.«
»Dann haben sie die Stöcke in die Gegend geschmissen«, erzählte Curly weiter, während er mit seinem fleischigen Arm herumwedelte, »und die Löcher wieder mit Erde gefüllt.«
»Das ist allerdings etwas seltsam«, bemerkte der Polizist. »Wann ist das passiert?«
»Heute Nacht oder ganz früh am Morgen«, antwortete Curly. »Sie denken jetzt vielleicht, das ist keine große Sache, aber es dauert ganz schön lange, bis so ein Gelände wieder markiert ist. Und vorher können wir nicht roden, nicht planieren, gar nichts. Die Raupen und Bulldozer sind schon gemietet, und jetzt stehen sie hier rum für nichts. Ich weiß, es sieht nicht gerade wie das größte Verbrechen des Jahrhunderts aus, aber trotzdem –«
»Ich verstehe«, sagte Officer Delinko. »Wie hoch schätzen Sie den Sachschaden?«
»Sachschaden?«
»Ja. Für meinen Bericht.« Der Polizist hob den Vermessungsstab auf und untersuchte ihn. »Der ist ja nicht wirklich kaputt, oder?«
»Na ja – das nicht.«
»Sind von den anderen welche kaputtgemacht worden?«, fragte Officer Delinko. »Was kosten diese Dinger denn pro Stück? Einen Dollar? Zwei?«
Der Mann namens Curly verlor langsam die Geduld. »Kaputtgemacht haben sie keinen«, sagte er unfreundlich.
»Nicht einen einzigen?« Der Polizist runzelte die Stirn. Er überlegte, was er wohl in seinen Bericht schreiben könnte. Vandalismus ganz ohne Sachschaden gab es einfach nicht, und wenn auf dem ganzen Grundstück nichts beschädigt oder unbrauchbar gemacht worden war...
»Aber das versuch ich doch die ganze Zeit Ihnen zu erklären«, sagte Curly gereizt. »Es geht nicht darum, dass jemand mit den Vermessungsstäben rumgemacht hat, es geht darum, dass unser ganzer Zeitplan im Eimer ist. Und das kostet echt Geld.«
Officer Delinko nahm die Mütze ab und kratzte sich am Kopf. »Lassen Sie mich mal nachdenken«, sagte er.
Auf dem Weg zurück zum Streifenwagen stolperte der Polizist und fiel hin. Curly packte ihn am Arm und half ihm auf die Füße. Beiden Männern war dies etwas peinlich.
»Dämliche Eulen«, sagte Curly.
Der Polizist wischte sich Erde und Kletten von der Uniform. »Haben Sie Eulen gesagt?«
Curly zeigte auf ein Loch im Boden. Es hatte etwa den Durchmesser von Mama Paulas berühmten Buttermilchpfannkuchen. Am Eingang war ein Häufchen aus losem weißem Sand zu sehen.
»Darüber sind Sie gestolpert«, informierte Curly Officer Delinko.
»Da unten leben Eulen?« Der Polizist bückte sich und untersuchte das Loch. »Wie groß sind die denn?«
»Etwa so groß wie eine Bierdose.«
»Und das ist kein Witz?«
»Also, ganz ehrlich, gesehen hab ich selbst auch noch keine.«
Beim Streifenwagen nahm der Beamte ein Klemmbrett zur Hand und fing an, seinen Bericht zu schreiben. Es stellte sich heraus, dass Curly mit richtigem Namen Leroy Branitt hieß. Er sagte, er sei »Überwachungsingenieur« auf der Baustelle. Als er sah, dass der Polizist »Wachmann« hinschrieb, machte er eine finstere Miene.
Officer Delinko erklärte Curly, wieso es nicht so einfach war, eine Anzeige wegen Vandalismus aufzunehmen. »Der Sergeant legt mir das Papier gleich wieder auf den Schreibtisch, weil streng genommen ja nichts wirklich kaputtgemacht worden ist. Irgendwelche Kinder sind aufs Grundstück gekommen und haben ein paar Stöcke aus dem Boden gerissen.«
»Und woher wollen Sie wissen, dass es Kinder waren?«, knurrte Curly.
»Na ja, wer sonst macht denn so was?«
»Und dass sie die Löcher wieder gefüllt und die Stöcke in der Gegend rumgeschmissen haben, bloß damit wir wieder von vorn anfangen müssen mit der Vermessung von dem Grundstück – was ist damit?«
Das allerdings verwirrte den Polizisten auch. Wenn Kinder einen Streich spielten, machten sie sich normalerweise nicht solche Mühe.
»Haben Sie jemanden in Verdacht?«
Das hatte er nicht, musste Curly zugeben. »Aber okay, nehmen wir mal an, es waren Kinder. Würde das heißen, es ist nicht strafbar?«
»Doch, natürlich«, antwortete Officer Delinko. »Ich sage ja nur, rein technisch gesehen, ist es kein Vandalismus. Es handelt sich um unerlaubtes Betreten eines Grundstückes und um einen bösartigen Streich.«
»Das reicht«, meinte Curly achselzuckend. »Hauptsache, ich krieg eine Kopie von Ihrem Bericht für die Versicherung. Damit wir wenigstens Entschädigung bekommen für die verlorene Zeit und die zusätzlichen Kosten.«
Officer Delinko gab Curly eine Karte mit der Adresse des Verwaltungsbüros der Polizeiwache und dem Namen des zuständigen Sachbearbeiters. Curly steckte die Karte in die Brusttasche seines Overalls.
Der Polizist setzte die Sonnenbrille auf und schwang sich ins Auto, das so heiß war wie ein Backofen. Schnell drehte er die Zündung an und stellte die Klimaanlage auf die höchste Stufe. Während er sich anschnallte, sagte er: »Mr. Branitt, eins würde mich noch interessieren. Nur so aus Neugier.«
»Schießen Sie los«, sagte Curly und wischte sich mit einem großen gelben Taschentuch über die Stirn.
»Es ist wegen der Eulen.«
»Ja – und?«
»Was passiert mit denen?«, fragte Officer Delinko. »Ich meine, wenn die Bulldozer hier loslegen?«
Der Wachmann lachte leise. Der Polizist wollte ihn wohl auf den Arm nehmen.
»Was für Eulen?«, fragte er.
Den ganzen Tag lang ging Roy der rennende Junge nicht aus dem Kopf. Zwischen den Stunden, auf dem Weg von einem Unterrichtsraum zum anderen, schaute er sich die Gesichter der Mitschüler ganz genau an – vielleicht war der Junge ja erst später zur Schule gekommen. Vielleicht war er ja nach Hause gerannt, um andere Klamotten und vor allem Schuhe anzuziehen.
Aber Roy konnte niemanden entdecken, der dem Jungen glich, der über den großen Hund mit den spitzen Ohren gesprungen war. Vielleicht rannte er ja immer noch, dachte Roy beim Mittagessen. Florida war ideal zum Laufen – nie zuvor hatte Roy eine so flache Gegend gesehen. In Montana, wo er herkam, gab es steile, zerklüftete Berge, die über dreitausend Meter hoch in den Himmel ragten. Hier dagegen waren die einzigen Erhebungen die künstlichen Brücken über die Highways – sanft gewölbte Hügel aus Beton.
Aber dann dachte Roy an die Hitze und die hohe Luftfeuchtigkeit, die einen an manchen Tagen völlig lahm legte. In der Sonne Floridas weite Strecken zu laufen wäre eine einzige Quälerei. Jemand, der so was machte, musste wirklich zäh wie Leder sein.
Ein Junge setzte sich Roy gegenüber an den Tisch. Er hieß Garrett und nickte Roy zu. Roy nickte Garrett zu und dann aßen beide die verkochten Makkaroni vor sich auf den Tabletts. Als Neuer in der Schule saß Roy beim Essen jedes Mal allein, ganz am Ende des Tisches. Was das betraf, war Roy ein alter Profi: Trace Middle war die sechste Schule, die er seit seiner Einschulung besuchte, und Coconut Cove die zehnte Stadt, in der seine Familie lebte, seit Roy sich erinnern konnte.
Roys Vater arbeitete für die Regierung. Roys Mutter sagte, sie müssten deswegen so oft umziehen, weil Roys Vater seine Arbeit (was immer das war) so gut machte und häufig befördert wurde. Anscheinend war das die Belohnung, die man von der Regierung für gute Arbeit erhielt – dass man ständig umziehen musste.
»Hey«, sagte Garrett, »hast du ein Skateboard?«
»Nee – aber ein Snowboard.«
Garrett lachte spöttisch. »Was willst du denn damit?«
»Wo ich früher gewohnt hab, da gab’s viel Schnee«, sagte Roy.
»Du solltest mal lernen, Skateboard zu fahren, Mann. Das ist das Größte überhaupt.«
»Ich kann Skateboard fahren. Ich hab bloß keins.«
»Dann solltest du dir schleunigst eins besorgen. Meine Freunde und ich, wir gehen immer in die großen Einkaufszentren und fahren da. Du kannst ja mal mitkommen.«
»Cool.« Roy bemühte sich, begeistert zu klingen. Einkaufszentren gefielen ihm überhaupt nicht, aber Garrett wollte nett zu ihm sein, und darüber freute er sich.
Garrett war ein ziemlich schwacher Schüler, aber er war allgemein beliebt, weil er viel Blödsinn im Unterricht machte und jedes Mal, wenn er von den Lehrern aufgerufen wurde, Furzgeräusche von sich gab. Garrett war der König der falschen Fürze an der Trace Middle. Sein berühmtester Trick war der, die erste Zeile des feierlichen Treueversprechens der Schüler mit Furzgeräuschen zu imitieren.
Das wirklich Verrückte war, dass Garretts Mutter pädagogische Beraterin an der Schule war. Roy nahm an, dass sie ihre pädagogischen Fähigkeiten in der Schule aufbrauchte und zu Hause viel zu müde war, um sich auch noch mit Garrett zu befassen.
»Ja, wir skaten so lange durch die Gänge, bis die Sicherheitsleute uns rausschmeißen«, erzählte Garrett. »Dann machen wir auf den Parkplätzen weiter, bis sie uns auch da verjagen. Das ist absolut Spitze.«
»Stark«, sagte Roy, obwohl er es sich ziemlich langweilig vorstellte, den Samstagmorgen damit zu verbringen, durch ein Einkaufszentrum zu skaten. Er freute sich schon auf seine erste Fahrt mit einem Luftkissenboot durch die Everglades. Sein Dad hatte ihm versprochen, das an einem der nächsten Wochenenden mit ihm zu unternehmen.
»Gibt es hier irgendwelche anderen Schulen?«, fragte Roy.
»Wieso? Stinkt es dir hier schon?« Garrett kicherte und hieb mit dem Löffel in ein klebriges Apfeltörtchen.
»Überhaupt nicht. Ich frag nur, weil ich heute Morgen einen seltsamen Jungen gesehen hab, an einer der Haltestellen. Aber er ist nicht eingestiegen, und gesehen hab ich ihn hier auch nirgends«, sagte Roy. »Deshalb hab ich gedacht, vielleicht geht er woandershin.«
»Also, ich kenn niemand, der nicht auf der Trace Middle ist«, sagte Garrett. »Es gibt noch eine katholische Schule in Fort Myers, aber das ist ziemlich weit weg. Hatte er eine Schuluniform an, der Typ? Bei den Nonnen müssen nämlich alle Uniform tragen.«
»Nee, ganz bestimmt nicht.«
»Und du bist sicher, dass er Mittelschüler war? Sonst kann es ja sein, dass er auf der Graham ist.« Graham war die staatliche High School, die am nächsten bei Coconut Cove lag.
»Für die High School war er nicht groß genug«, sagte Roy.
»Vielleicht war er ein Zwerg.« Garrett grinste und machte ein Furzgeräusch mit einer seiner Wangen.
»Eher nicht«, sagte Roy.
»Du hast gesagt, er wär irgendwie seltsam gewesen, oder?«
»Er hatte keine Schuhe an«, antwortete Roy, »und er ist gerannt wie verrückt.«
»Vielleicht war einer hinter ihm her. Sah er aus, als ob er Angst hätte?«
»Eigentlich nicht.«
Garrett nickte. »Ich wette, der war von der High School. Fünf Dollar.«
Roy war nicht überzeugt. Der Unterricht an der Graham High fing fünfundfünfzig Minuten früher an als der an der Trace Middle, deshalb waren die Schüler von der High School längst nicht mehr auf der Straße, wenn die Busse der Mittelschule ihre Runden beendeten.
»Dann schwänzt er eben. Ist doch normal«, sagte Garrett. »Willst du deinen Nachtisch noch?«
Roy schob sein Tablett über den Tisch. »Hast du schon mal geschwänzt?«
»Na logo«, sagte Garrett spöttisch. »Zig Mal.«
»Und schwänzt du dann alleine?«
Garrett dachte einen Moment nach. »Nee. Immer mit meinen Freunden zusammen.«
»Siehst du, genau das meine ich.«
»Vielleicht ist der Junge ein Psychofall. Was soll’s?«
»Oder er hat was angestellt und ist auf der Flucht – ein Outlaw«, überlegte Roy.
Garrett schaute skeptisch drein. »Ein Outlaw? Du meinst, so ein Geächteter, wie Jesse James?«
»Na ja, nicht wirklich«, sagte Roy, obwohl – der Junge hatte durchaus was Wildes in den Augen gehabt.
Garrett lachte wieder. »Ein Outlaw – das ist echt komisch, Eberhardt. Du hast eine ziemlich irre Phantasie.«
»Ja«, sagte Roy, aber in Gedanken war er schon dabei, einen Plan zu entwerfen. Er war fest entschlossen, den rennenden Jungen zu finden.
Am nächsten Morgen tauschte Roy mit einem anderen Schüler im Bus die Plätze, um näher bei der Fahrertür zu sitzen. Als sie in die Straße einbogen, wo er den rennenden Jungen gesehen hatte, setzte Roy seinen Rucksack auf und spähte gespannt aus dem Fenster. Sieben Reihen hinter ihm quälte Dana Matherson gerade einen Sechstklässler namens Louis. Louis stammte aus Haiti und Dana kannte keine Gnade.
Als der Bus an der Kreuzung anhielt, steckte Roy den Kopf zum Fenster hinaus und schaute die Straße auf und ab. Niemand rannte. Sieben Schüler stiegen in den Bus ein, aber der fremde Junge ohne Schuhe war nicht dabei.
Am nächsten Tag war es dasselbe und auch am übernächsten. Am Freitag hatte Roy im Grunde schon aufgegeben. Er saß zehn Reihen von der Tür entfernt und las gerade einen X-Man-Comic, als der Bus um die bekannte Ecke bog und langsamer wurde. Eine Bewegung, die er aus dem Augenwinkel wahrnahm, ließ Roy aufsehen – und da war er, auf dem Gehweg, und wieder rannte er! Dasselbe Basketballhemd, dieselben schmutzigen Shorts, dieselben schwarzen Fußsohlen.
Die Bremsen des Schulbusses quietschten, Roy schnappte sich seinen Rucksack und sprang auf. Im selben Moment legten sich zwei große, verschwitzte Hände um seinen Hals.
»Wo willst’n hin, Cowgirl?«
»Lass mich los«, keuchte Roy und versuchte freizukommen.
Der Griff um seinen Hals wurde fester. Roy spürte Danas Aschenbecheratem an seinem rechten Ohr: »Wieso haste denn deine Stiefel heute nicht an? Hat man schon mal von ’nem Cowgirl in Air Jordans gehört?«
»Das sind Reeboks«, quiekte Roy.
Der Bus war zum Stehen gekommen und die ersten Mädchen und Jungen stiegen ein. Roy war wütend. Er musste es zur Tür schaffen, bevor der Fahrer sie wieder schloss und der Bus losrollte.
Aber Dana machte keine Anstalten, ihn loszulassen, sondern bohrte seine Finger in Roys Luftröhre. Roy kriegte kaum noch Luft, und je mehr er strampelte, desto schlimmer wurde es.
»Du solltest dich mal sehen«, spottete Dana hinter ihm. »Rot wie ’ne Tomate!«
Prügeln im Bus war streng verboten und Roy kannte die Regel ganz genau, aber er wusste nicht, was er sonst tun sollte. Er ballte die rechte Faust und führte sie mit aller Kraft über seine Schulter, ohne zu sehen, wohin. Der Hieb landete auf etwas Feuchtem, Gummiartigem.
Ein erstickter Schrei – dann rutschten Danas Hände von Roys Hals. Roy schnappte nach Luft und stürzte zur Tür, gerade in dem Moment, als ein großes Mädchen mit blonden Locken und einer roten Brille die Stufen hochkam. Roy drängte sich an ihr vorbei und sprang auf den Gehweg.
»Sag mal, was soll das?«, rief das Mädchen.
»He, hier geblieben!«, brüllte der Busfahrer, aber Roy war kaum noch zu sehen.
Der rennende Junge hatte einen großen Vorsprung, aber Roy glaubte, er könne nah genug dranbleiben, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Der andere würde dieses Tempo nicht die ganze Zeit beibehalten können, so viel war Roy klar.
Er folgte ihm an mehreren Häuserblocks vorbei – über Zäune, durch Gebüsch, zwischen kläffenden Hunden und Rasensprengern und Schwimmbecken hindurch. Mit der Zeit merkte Roy, wie er müde wurde. Der Junge ist wirklich erstaunlich, dachte er. Vielleicht trainiert er ja für eine Mannschaft.
Einmal hatte Roy den Eindruck, als hätte der Junge kurz über die Schulter geschaut, als wüsste er, dass jemand hinter ihm her war, aber sicher war Roy sich nicht. Der andere hatte immer noch einen großen Vorsprung und Roy schnappte schon nach Luft wie eine Forelle an Land. Sein Hemd war klatschnass und der Schweiß lief ihm über die Stirn und brannte in den Augen.
Das letzte Haus in der Siedlung war noch im Bau, doch der schuhlose Junge rannte unbekümmert weiter, obwohl Holz und lose Nägel auf dem Grundstück herumlagen. Drei Männer, die gerade dabei waren, Fertigbauwände einzusetzen, brüllten ihm etwas hinterher, aber der Junge wurde nicht langsamer. Einer der Arbeiter versuchte, Roy am Arm festzuhalten, erwischte ihn aber nicht.
Plötzlich fühlte Roy wieder Gras unter den Füßen – das grünste, weichste Gras, das er je gesehen hatte. Er begriff, dass er auf einem Golfplatz war und dass der blonde Junge eine lange, saftig grüne Spielbahn hinunterrannte.
Auf der einen Seite des Rasens stand eine Reihe hoher australischer Kiefern, auf der anderen Seite gab es einen künstlichen See. In einiger Entfernung sah Roy vier Menschen in heller Kleidung, die gestikulierend auf den barfüßigen Jungen zeigten, der gerade an ihnen vorbeirannte.
Roy biss die Zähne zusammen und lief weiter. Seine Beine fühlten sich an wie nasser Zement und seine Lungen brannten. Knapp hundert Meter vor ihm bog der andere auf einmal scharf nach rechts ab und verschwand zwischen den Kiefern. Verbissen schlug Roy dieselbe Richtung ein.
Ein wütender Schrei ertönte, Roy sah, dass die Leute auf der Spielbahn aufgeregt winkten, doch er rannte weiter. Im nächsten Moment blitzte etwas auf, wie Sonnenlicht auf Metall, gefolgt von einem dumpfen Plopp. Roy sah den Golfball erst, als er etwa zwei Meter vor ihm angeflogen kam. Er hatte keine Zeit mehr, sich zu bücken oder auszuweichen. Er konnte nur noch den Kopf wegdrehen und sich auf den Aufprall gefasst machen.
Der Ball traf ihn direkt über dem linken Ohr und im ersten Moment tat es nicht einmal weh. Doch dann fühlte Roy, wie er schwankte, während in seinem Schädel ein grelles Feuerwerk losging. Dann fiel er, aber dieses Fallen kam ihm sehr lang vor, sehr sanft, wie wenn ein Regentropfen auf Samt fällt.
Als die Golfer angerannt kamen und Roy mit dem Gesicht nach unten im Sandbunker liegen sahen, dachten sie, er sei tot. Roy hörte ihr aufgeregtes Geschrei, aber er bewegte sich nicht. Der zuckrige Sand fühlte sich angenehm kühl an unter seinen brennenden Wangen, und außerdem war er furchtbar schläfrig.
Dass sie ihn Cowgirl nannten, hatte er sich selbst zuzuschreiben, dachte er. Er hatte seinen Mitschülern erzählt, dass er aus Montana kam, einem Staat, in dem es sehr viel Rinderzucht gab. Zur Welt gekommen war er aber in Detroit im Staat Michigan. Von dort waren Roys Eltern weggezogen, als er noch ein Baby war, und deswegen fand er es blöd, Detroit als seine Heimatstadt zu bezeichnen. Im Grunde, so kam es ihm vor, hatte er gar keine Heimatstadt – seine Familie war nie so lange irgendwo geblieben, dass Roy sich dort zu Hause gefühlt hätte.
Von allen Orten, an denen die Eberhardts gelebt hatten, hatte es Roy am allerbesten in Bozeman gefallen, im Staat Montana. Die Berge mit ihren wild gezackten Gipfeln, die gewundenen, grünen Flüsse, der blaue Himmel, der aussah wie gemalt – Roy hatte sich vorher nie vorstellen können, dass es so etwas Schönes wirklich geben könnte. Zwei Jahre, sieben Monate und elf Tage hatten die Eberhardts dort gelebt; Roy wäre gern für immer geblieben.
An dem Abend, als sein Vater ihm mitteilte, dass sie nach Florida ziehen würden, schloss Roy sich in seinem Zimmer ein und weinte. Seine Mutter erwischte ihn, als er gerade aus dem Fenster klettern wollte. Er hatte sein Snowboard dabei und einen Plastikkoffer, in den er Unterwäsche, Socken und ein dickes Fleece-Hemd gepackt hatte sowie ein Sparbuch mit hundert Dollar, das ihm sein Großvater zum Geburtstag geschenkt hatte.
Seine Mutter versicherte Roy, er würde von Florida begeistert sein. Alle Amerikaner wollten nach Florida ziehen, weil es dort so warm sei und überhaupt ganz toll. Roys Vater hatte den Kopf zur Tür hereingestreckt und mit etwas künstlicher Begeisterung gesagt: »Und vergiss nicht Disney World.«
»Disney World ist ein Loch«, hatte Roy matt geantwortet, »verglichen mit Montana. Ich will hier bleiben.«
Wie immer wurde er überstimmt.
Als nun der Klassenlehrer an der Trace Middle den neuen Schüler fragte, wo er her sei, da stand er auf und sagte stolz: »Bozeman, Montana.« Dieselbe Antwort gab er auch im Schulbus, als Dana Matherson ihn ansprach, und von da an war Roy entweder Tex oder Cowgirl.
Es war seine eigene Dummheit – wieso hatte er auch nicht Detroit gesagt!
»Warum hast du Dana Matherson geschlagen?«, fragte Viola Hennepin. Sie war die Stellvertretende Schulleiterin der Trace Middle und Roy saß in ihrem düsteren Minibüro und wartete auf sein Urteil.
»Weil er mich fast erwürgt hat.«
»Dana Matherson sagt aber etwas ganz anderes, Roy.« Miss Hennepin hatte ein ausgesprochen spitzes Gesicht. Sie war groß und knochig und setzte immer eine strenge Miene auf. »Er sagt, du hättest ihn ohne jeden Anlass angegriffen.«
»Klar«, sagte Roy, »ich suche mir immer den größten und gemeinsten Schüler im Bus und geb ihm eins auf die Nase, nur so aus Jux.«
»Sarkasmus schätzen wir nicht bei unseren Schülern«, ermahnte ihn Miss Hennepin. »Ist dir klar, dass du ihm das Nasenbein gebrochen hast? Wundere dich nicht, wenn deine Eltern demnächst eine Rechnung vom Krankenhaus bekommen.«
»Der Idiot hat mich regelrecht stranguliert«, sagte Roy.
»Tatsächlich? Dein Busfahrer, Mr. Kesey, sagt, er habe nichts bemerkt.«
»Kann ja sein, dass er ausnahmsweise mal auf den Verkehr geachtet hat.«
Miss Hennepin lächelte dünn. »Du bist ganz schön scharfzüngig, Roy. Was meinst du, was wir mit einem so gewalttätigen Jungen wie dir machen sollten?«
»Wenn hier einer gefährlich ist, dann Matherson! Der schikaniert doch alle jüngeren Kinder im Bus.«
»Es hat sich aber noch nie jemand beschwert.«
»Weil alle Angst vor ihm haben«, sagte Roy. Aus demselben Grund hatte sich auch niemand gefunden, der Roys Version des Vorfalls bestätigt hatte. Niemand traute sich, Dana zu verpetzen und ihm dann am nächsten Tag im Bus zu begegnen.
»Aber wenn du nichts gemacht hast – wieso bist du dann weggerannt?«, fragte Miss Hennepin.
Roy bemerkte ein einzelnes, tiefschwarzes Haar über der Oberlippe der Schulleiterin. Er fragte sich, wieso sie es wohl nicht entfernte – konnte es sein, dass sie es mit Absicht wachsen ließ?
»Roy, ich habe dich etwas gefragt.«
»Ich bin weggerannt, weil ich auch Angst vor ihm habe«, antwortete Roy.
»Oder vielleicht hattest du Angst, was dir passieren würde, wenn der Vorfall gemeldet würde.«
»Das ist nicht wahr.«
»Nach den Regeln unserer Schule könnten wir dich vom Schulbesuch suspendieren.«
»Er hat mich gewürgt. Was sollte ich denn sonst tun?«
»Steh bitte auf.«
Roy tat es.
»Tritt näher«, sagte Miss Hennepin. »Wie geht es deinem Kopf? Hat dich hier der Golfball getroffen?« Sie berührte die blauviolette Schwellung oberhalb von Roys Ohr.
»Ja, Ma’am.«
»Du hast ganz schönes Glück gehabt, junger Mann. Es hätte viel schlimmer kommen können.«
Roy spürte, wie Miss Hennepins knochige Finger den Kragen seines Hemdes herunterbogen. Im nächsten Moment wurden die kühlen grauen Augen der Schulleiterin ganz schmal und ihre wächsernen Lippen spitz. Sie schien entsetzt.
»Hmm«, sagte sie und beäugte ihn wie ein Bussard.
»Was ist los?«, fragte Roy und machte einen Schritt außer Reichweite.
Miss Hennepin räusperte sich und sagte: »Wenn ich mir die Beule an deinem Kopf anschaue, dann nehme ich an, dass du nun aus Erfahrung klug geworden bist. Hab ich Recht?«
Roy nickte. Mit einem Menschen, der ein langes, ölig glänzendes Haar züchtete, konnte man nicht argumentieren. Roy fand Miss Hennepin einfach gruselig.
»Deshalb habe ich beschlossen, dich nicht vom Schulbesuch zu suspendieren«, sagte sie und klopfte dabei mit dem Bleistift auf ihr Kinn. »Aber du wirst vorerst nicht mit dem Schulbus fahren.«
»Echt?« Roy musste fast lachen. Was für eine geniale Strafe! Kein Schulbus – kein Dana!
»Zwei Wochen lang nicht«, sagte Miss Hennepin.
Roy bemühte sich, erschrocken auszusehen. »Zwei ganze Wochen?«
»Außerdem möchte ich, dass du Dana Matherson einen Brief schreibst, in dem du dich entschuldigst. Und zwar aufrichtig.«
»Okay«, sagte Roy, »aber wer liest ihm den Brief vor?«
Miss Hennepin schlug ihre spitzen gelben Zähne aufeinander. »Du solltest dein Glück nicht herausfordern, Roy.«
»Nein, Ma’am.«
Sobald er das Büro verlassen hatte, ging Roy schnurstracks zu den Toiletten. Er kletterte auf eines der Waschbecken, über denen ein Spiegel hing, und bog seinen Hemdkragen hinunter. Er wollte gern sehen, worauf Miss Hennepin so gestarrt hatte.
Roy grinste. Auf beiden Seiten seines Adamsapfels waren vier rote Fingerabdrücke zu sehen. Er rutschte auf dem Waschbeckenrand weiter und verrenkte sich fast den Hals, bis er hinten im Nacken zwei passende Daumenabdrücke entdeckte.
Danke, Dana Dummkopf, dachte er. Wenigstens weiß Miss Hennepin jetzt, dass ich die Wahrheit gesagt habe.
Na ja, im Großen und Ganzen jedenfalls.
Die Sache mit dem rennenden Jungen hatte er ausgelassen. Er war sich nicht sicher, wieso, aber irgendwie kam es ihm so vor, als gehörte das zu den Dingen, die man nicht unbedingt einer Stellvertretenden Schulleiterin erzählt, wenn es nicht absolut sein musste.
Er hatte den Vormittagsunterricht verpasst und den größten Teil der Mittagspause. Schnell ging er durch die Cafeteria und fand einen leeren Tisch. Er setzte sich mit dem Rücken zur Tür, schlang einen Chiliburger hinunter und kippte einen Karton lauwarmer Milch hinterher. Zum Nachtisch gab es einen halb verbrannten Keks mit Schokochips, der etwa so groß war wie ein Hockey-Puck und auch nicht viel besser schmeckte.
»Baah«, machte Roy. Mit einem dumpfen Geräusch landete der ungenießbare Keks auf dem Teller. Roy nahm sein Tablett und stand auf. Im nächsten Moment zuckte er zusammen – jemand hatte ihm eine schwere Hand auf die Schulter gelegt. Er traute sich kaum, sich umzuschauen. Was, wenn es Dana Matherson war?
Das vollkommene Ende eines vollkommen grässlichen Tages, dachte Roy düster.
»Setz dich«, sagte jemand hinter ihm, und die Stimme war definitiv nicht Danas.
Roy schüttelte die Hand ab und drehte sich um.
Ihm gegenüber stand, mit verschränkten Armen, die große Blonde mit der roten Brille – die vom Schulbus.
»Du hast mich heute Morgen um ein Haar umgerannt«, sagte sie.
»Tut mir Leid.«
»Wieso bist du so gerannt?«
»Nur so.« Roy versuchte an ihr vorbeizukommen, aber sie machte einen Schritt zur Seite und blockierte ihm den Weg.
»Du hättest mir echt weh tun können«, sagte sie.
Roy fand die Situation ziemlich ungemütlich. Er wollte lieber nicht, dass die anderen Jungen mit ansahen, wie er von einem Mädchen zur Rede gestellt wurde. Und was noch schlimmer war – sie schüchterte ihn tatsächlich ein. Das lockige Mädchen war größer als er, breitschultrig und hatte braun gebrannte, muskulöse Beine. Sie sah wie eine Sportlerin aus – er tippte auf Fußball oder Volleyball.
»Hör mal«, begann er, »ich hatte einem Jungen im Bus eins auf die Nase gegeben –«
»Das weiß ich auch«, sagte das Mädchen abfällig, »aber deswegen bist du doch nicht weggerannt, oder?«
»Klar doch.« Roy fragte sich, ob sie gleich behaupten würde, er hätte noch was anderes gemacht – ihr das Essensgeld aus dem Rucksack geklaut oder so was.
»Du lügst.« Das Mädchen griff entschlossen nach der anderen Seite seines Tabletts, so dass er nicht weglaufen konnte.
»Lass los«, sagte Roy scharf, »ich bin schon spät dran.«
»Immer mit der Ruhe. Noch sechs Minuten bis zum Läuten, Cowgirl.« Sie sah aus, als hätte sie nichts dagegen, ihm in die Magengrube zu boxen. »Und jetzt sag die Wahrheit. Du warst jemandem hinterher, stimmt’s?«
Roy war erleichtert, dass sie ihm nicht irgendwas Schlimmes vorwarf. »Hast du ihn auch gesehen? Den ohne Schuhe?«
Das Mädchen machte einen Schritt nach vorn. Das Tablett hielt sie noch immer fest, so dass Roy gezwungen war, rückwärts zu gehen.
»Ich geb dir einen guten Rat«, sagte sie mit leiser Stimme.
Roy sah sich ängstlich um. Außer ihnen war niemand mehr in der Cafeteria.
»Hörst du mir zu?« Das Mädchen schob ihn noch ein Stück vor sich her.
»Ja.«
»Gut.« Sie hörte erst auf, ihn zu schubsen, als er zwischen seinem eigenen Tablett und der Wand eingeklemmt war. Mit einem finsteren Blick über ihr rotes Brillengestell sagte sie: »Von jetzt an kümmerst du dich verdammt noch mal um deinen eigenen Kram.«
Roy hatte Angst, das musste er zugeben. Die Kante des Tabletts bohrte sich in seine Rippen. Dieses Mädchen war echt brutal.
»Du hast den Jungen auch gesehen, stimmt’s?«, flüsterte er.
»Ich hab keine Ahnung, wovon du redest. Aber kümmer dich in Zukunft um deinen eigenen Kram, das ist gesünder.«
Sie ließ Roys Tablett los und drehte sich auf dem Absatz um.
»Warte!«, rief Roy ihr nach. »Wer ist der Junge?«
Aber das lockige Mädchen antwortete nicht. Sie drehte sich nicht einmal um. Im Weggehen hob sie nur ihren rechten Arm und wedelte vorwurfsvoll mit dem Zeigefinger.
Officer Delinko legte zum Schutz vor der grellen Mittagssonne die Hand über die Augen.
»Sie haben ganz schön lange gebraucht«, sagte der Wachmann.
»Ich musste erst noch zu einer Karambolage, nördlich von hier. Vier Autos sind ineinander gekracht«, erklärte der Polizeibeamte. »Es hat Verletzte gegeben.«
Curly schnaufte. »Meinetwegen. Aber jetzt schauen Sie sich mal an, wie die wieder gewütet haben.«
Auch dieses Mal hatten die Eindringlinge systematisch alle Vermessungsstäbe entfernt und die Erdlöcher zugeschüttet. Officer Delinko war kein großes Licht, aber so langsam kam ihm der Verdacht, dass das hier nicht das zufällige Werk von Jugendlichen war, die einfach einen Streich spielen wollten. Vielleicht gab es jemanden, der auf Mama Paula und ihre weltberühmten Pfannkuchen schlecht zu sprechen war.
»Aber dieses Mal gibt’s tatsächlich eine Anzeige wegen Vandalismus«, bemerkte Curly anzüglich. »Dieses Mal haben die Kerle nämlich tatsächlich Privateigentum beschädigt.«
Er führte Officer Delinko in die südwestliche Ecke des Grundstücks, wo ein Kleinlaster geparkt war. Alle vier Reifen hatten einen Platten.
Curly hob die Hände und sagte: »Da haben Sie’s. Jeder von den Reifen da kostet hundertfünfzig Kröten.«
»Was ist denn passiert?«, fragte der Polizist.
»Sie haben die Reifen aufgeschlitzt!« Curly nickte entrüstet mit dem glänzenden Schädel.
Officer Delinko kniete sich hin und untersuchte die Reifen des Lastwagens. Er konnte keine Messerspuren im Gummi entdecken.
»Ich glaube, da hat einfach jemand die Luft rausgelassen«, sagte er.
Curly murmelte etwas vor sich hin, was schwer zu verstehen war.
»Aber ’ne Anzeige mach ich trotzdem«, versprach der Polizist.
»Wie wär’s denn«, sagte Curly, »wie wär’s mit ein paar zusätzlichen Polizeistreifen hier in der Gegend?«
»Ich sprech mal mit dem Sergeant.«
»Machen Sie das«, brummte Curly. »Ich hab auch so meine Leute, mit denen ich reden kann. Die Sache wird langsam komisch.«
»Sehr wohl, Sir.« Officer Delinko bemerkte, dass drei Mobilklos auf der Ladefläche des Wagens festgebunden waren. Er musste grinsen, als er den Namen auf den blauen Türen las: Der reisende Topf.
»Für die Bauarbeiter«, erklärte Curly, »wenn das hier losgeht. Falls es überhaupt jemals losgeht, sollte ich vielleicht lieber sagen.«
»Haben Sie die mal überprüft?«, fragte der Polizist.
Curly runzelte die Stirn. »Die Klos? Wozu das denn?«
»Man kann nie wissen.«
»Kein Mensch, der halbwegs bei Trost ist, würde mit einem Klo rummachen.« Der Wachmann schnaubte verächtlich.
»Kann ich mal einen Blick reinwerfen?«, fragte Officer Delinko.
»Herzlich willkommen.«
Der Polizist kletterte auf die Ladefläche. Von außen schienen die Toiletten unberührt. Die Gurte, die sie auf dem Wagen festhielten, waren festgezurrt, und die Türen waren bei allen drei Kabinen verschlossen. Officer Delinko öffnete die erste und spähte hinein. Es roch durchdringend nach Desinfektionsmittel.
»Und?«, rief Curly hinauf.
»Äh – alles okay«, antwortete der Polizist.
»Na ja, ist ja auch nicht viel kaputtzumachen an so einem Mobilklo.«
»Vermutlich nicht.« Officer Delinko wollte die Tür gerade wieder schließen, als er ein gedämpftes Geräusch hörte – war das ein Plätschern gewesen? Irritiert starrte der Polizist in das schwarze Loch unter dem Plastiksitz. Zehn Sekunden vergingen, dann hörte er es wieder.
Ein Plätschern, definitiv.
»Was treiben Sie eigentlich noch da oben?«, wollte Curly wissen.
»Ich horche«, antwortete Officer Delinko.
»Und auf was bitte?«
Officer Delinko löste die Taschenlampe von seinem Gürtel. Vorsichtig machte er einen Schritt nach vorn und leuchtete in die Toilettenschüssel.
Curly hörte einen Schrei und sah überrascht, wie der Polizist aus der Toilettenkabine geschossen kam und olympiareif von der Ladefläche sprang.
Was ist jetzt los?, fragte sich der Wachmann besorgt.
Officer Delinko stand auf und strich die Vorderseite seiner Uniform glatt. Dann hob er seine Taschenlampe auf und versicherte sich, dass die Birne nicht kaputtgegangen war.
Curly reichte ihm den Hut, der neben einem Eulenloch gelandet war. »Also, was war da los?«, fragte er.
»Alligatoren«, verkündete der Polizist grimmig.
»Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen.«
»Ich wünschte, so wär’s«, stöhnte Officer Delinko. »Man hat Ihnen Alligatoren ins Klo gesteckt, Sir. Lebendige!«
»Mehr als einen?«
»Jawohl.«
Curly war entsetzt. »Sind sie groß, diese … diese Viecher?«
Officer Delinko zuckte mit den Achseln und machte eine Kopfbewegung in Richtung Klos. »Ich denke mal«, sagte er, »wenn sie unter Ihrem Hintern rumschwimmen, sehen sie alle groß aus.«
Miss Hennepin hatte Roys Mutter benachrichtigt, und so musste er die ganze Geschichte noch einmal erzählen, als er nach der Schule nach Hause kam, und noch ein drittes Mal, als sein Vater von der Arbeit kam.
»Wieso hat dieser junge Mann dich gewürgt? Du hast ihn doch nicht irgendwie provoziert, oder?«, fragte Mr. Eberhardt.
»Roy sagt, er schikaniert alle Mitschüler«, sagte Mrs. Eberhardt. »Aber selbst dann ist Prügeln natürlich nicht die richtige Reaktion.«
»Ich hab mich nicht mit ihm geprügelt«, widersprach Roy. »Ich hab ihn bloß geboxt, damit er mich loslässt. Dann bin ich aus dem Bus gesprungen und weggerannt.«
»Und dabei hat dich der Golfball getroffen?«, fragte sein Vater. Bei dem Gedanken daran lief es ihm kalt den Rücken hinunter.
»Er ist unheimlich weit gelaufen«, sagte Roys Mutter.
Roy seufzte. »Ich hatte halt Angst.« Er log seine Eltern nicht gern an, aber jetzt war er zu kaputt, um ihnen zu erklären, wieso er so weit gerannt war.
Mr. Eberhardt untersuchte die Beule über dem Ohr seines Sohnes. »Das gefällt mir aber gar nicht. Vielleicht sollte Dr. Shulman sich das mal ansehen.«
»Nein, Dad, mir geht’s gut.« Sanitäter hatten ihn auf dem Golfplatz untersucht, und die Krankenschwester der Schule hatte ihn eine Dreiviertelstunde »zur Beobachtung« dabehalten, für den Fall einer Gehirnerschütterung.
Seine Mutter gab ihm Recht. »Mit Roy scheint alles in Ordnung zu sein«, sagte sie, »aber der andere junge Mann hat ein gebrochenes Nasenbein.«
»Ach ja?« Mr. Eberhardt zog beide Augenbrauen hoch.
Zu Roys Überraschung schien sein Vater aber nicht ärgerlich zu sein. Er strahlte ihn zwar nicht gerade an, aber in seinem Blick lag unverkennbar Zuneigung – vielleicht sogar Stolz. Roy fand, dies sei ein geeigneter Moment, seine Eltern noch einmal um Nachsicht zu bitten.
»Dad, der Kerl hat mich gewürgt! Was hätte ich denn machen sollen? Was hättest du denn gemacht?« Er bog seinen Kragen zur Seite, so dass die bläulichen Fingerabdrücke auf seinem Hals zum Vorschein kamen.