PETER MERTENS

AUFSTIEG AUS DER BLECHLIGA

So hat unsere Autoindustrie
eine Zukunft

CAMPUS VERLAG

FRANKFURT/NEW YORK

Über das Buch

Wenn Europas Autobauer überleben wollen, müssen sie sich radikal umstrukturieren – sowohl mental als auch real. Ex-Audi-Vorstand Peter Mertens ist überzeugt: Zukunftsfähig sind nur die Unternehmen, die mehr Nachhaltigkeit wagen, die sich stark machen für mehr europäische Souveränität in der globalen Automotive Industrie und sich öffnen für Kooperationen innerhalb und außerhalb der Branche. Dabei ist ein Zusammenschluss von Wirtschaft, Politik und Wissenschaft ebenso nötig wie ein neues Verständnis dessen, was ein Auto überhaupt ist. Dies wird allein schon erforderlich durch die neue Vielfalt der Fahrenden: als Owner, User oder Gamer. Start-up-Investor Mertens blickt auf das Auto von morgen. Sein Buch ist ein leidenschaftliches Plädoyer für eine europäische Evolution der Mobilität.

Vita

Peter Mertens, zuletzt Technik-Vorstand bei Audi, investiert heute in Start-ups und die Zukunft des Autos. Er beteiligt sich an Firmen wie Recogni (autonomes Fahren), VHOLA (Elektrosmogkontrolle) oder Circunomics (Recycling von Autobatterien). Der promovierte Ingenieur blickt auf eine internationale Karriere in leitenden Positionen bei Daimler, Opel, GM sowie Volvo zurück und kennt die Automobilbranche wie kein Zweiter.

Inhalt

Einleitung: Und sie bewegen sich doch

Der iPhone-Moment für die Autoindustrie

»Der Rahmen ändert sich, nicht nur das Bild«

Kampf der Welten: Davids gegen Goliaths

I.KLIMA

Warum klimagerechte Autos eine gute Idee für Deutschlands Autobauer sind

II.WELTMARKT

Warum Deutschlands Autobauer in China gewinnen – und wie sie dabei unter die Räder kommen können

III.WERTSCHÖPFUNG

Warum unsere Zulieferketten vor der Zerreißprobe stehen

IV.DIGITALISIERUNG

Warum wir mit Open Source gemeinsam weiterkommen

V.AUTO

Warum wir Auto und Fahrer komplett neu denken müssen

AUSBLICK

Anmerkungen

Quellen

Einleitung: Und sie bewegen sich doch

Es war knapp. Ganz kurz vor Aufprall. Noch im Frühjahr 2020 sah es bei Deutschlands Autobauern zappenduster aus. Digitale Transformation? Zu langsam. Elektromobilität? Kam nicht in die Gänge. Umsätze, Absätze, Gewinne? Horror. Und dann auch noch Corona. Ein Jahr später, im Frühjahr 2021, sind Deutschlands Autobauer zurück. Volkswagen, Daimler und BMW zeigen beeindruckende Geschäftsergebnisse und, wichtiger noch: Sie rollen gigantische E-Offensiven aus, bieten dem kalifornischen Rivalen Tesla die Stirn. Endlich! Lange Zeit schien es fast so, als hätte Deutschlands Benzin-im-Blut-Branche zu lange zu gute Zeiten gehabt, um erkennen zu können, dass es blutig wird.

Einige konnten es nicht sehen. Etliche wollten es nicht sehen und bauten einfach weiter am noch besseren Verbrennungsmotor, transportierten Kabelbäume um den Globus und zauderten mit zukunftsweisenden Partnerschaften, während sich das Auto andernorts längst in ein Device verwandelt hatte, das elektrisch, vernetzt und autonom durch smarte Städte steuert.

Ein Device, das man nicht besitzen muss, um es zu nutzen. Dass man nicht fahren muss, wenn man sich fahren lassen will. Das immer weniger Auto ist – und immer mehr mobiler Möglichkeitsraum zum Arbeiten und Erholen, ein Raum für Information, Kommunikation und Entertainment. Mechanisch einfach, softwareseitig hochkomplex und komplett fokussiert auf den wichtigsten Part der Wertschöpfungskette, den Deutschlands Autobauer kaum kennen, und mit dem längst andere Player Geschäfte machen: den User.

Um diesen User geht es. Und wenn Deutschlands Autobauer überleben wollen, müssen sie sich weiter radikal umstrukturieren, sowohl mental als auch real. Sie müssen mehr tun, und sie müssen es schneller tun. Zukunftsfähig werden nur diejenigen sein, die mehr Nachhaltigkeit wagen – damit ihr User überhaupt eine Zukunft hat. Die sich stark machen für mehr europäische Souveränität in der globalen Automotive-Industrie und sich öffnen für Kooperationen innerhalb und außerhalb der Branche, um ihrem User smarte und sichere Mobilität bieten zu können.

Es braucht einen Zusammenschluss von Wirtschaft, Politik und Wissenschaft für eine europäische Automotive-Open-Source-Strategie, damit Autobauer für ihre User genau die Autos bauen können, die sie sich wünschen, und das zu marktfähigen Preisen. Es braucht ein neues Verständnis dessen, was ein Auto überhaupt ist. Und es braucht einen neuen Blick auf die neue Vielfalt der Fahrer, die in Stuttgart andere Bedürfnisse haben als in Shanghai, die als junge Städter eine andere Mobilität brauchen als ältere Eigenheimbesitzer auf dem flachen Land, und nicht zuletzt auf die Fahrerinnen mit ihren oft hochkomplexen Mobilitätsprofilen und Wünschen an das, was ein Auto leisten muss.

Dabei ist es nicht so, dass Deutschlands Autobauer alle völlig blind in die Zukunft stolpern. Im März 2021 überraschte VW mit neuen Plänen für eine noch höhere E-Auto-Quote, für sechs Batterie-Gigafabriken in Europa und neuen Ideen zur Ladeinfrastruktur. VW-Chef Herbert Diess will Europas größtes Industrieunternehmen in einen IT-Konzern verwandeln, die VW-Softwaresparte Cariad auf 10 000 Mitarbeiter aufstocken und sie damit auf Platz zwei der Softwarehäuser setzen – direkt hinter SAP. Audi und Daimler stoppen die Verbrennerentwicklung, um mehr Ressourcen in die Elektromobilität fließen zu lassen, und BMW bringt fünf neue Fahrzeuge mit elektrifiziertem Antriebsstrang an den Start. Die nachhaltige Trendwende zur Elektromobilität in Europa ist da – und Deutschlands Autobauer sind dafür gut aufgestellt. Zumindest die großen Marken.

Schon vor Jahren sahen viele Hersteller klar, dass sie sich ändern müssen, wenn sie aus der Liga der Blechbieger aufsteigen wollen. Viel wurde geredet von Veränderungsfähigkeit und Zukunftssicherheit (ein Paradoxon), von Ambidextrie (effizient und flexibel!) und der Notwendigkeit der tiefgreifenden digitalen Transformation, von Disruption und von Tesla, Tesla, Tesla.

Immer wieder Tesla, die legendäre Elektroauto-Company, die erst 2003 gegründet wurde und die aktuell mehr wert ist als die drei großen Autobauer Deutschlands zusammen. Genauer: mehr als doppelt so viel. Das, schreibt Ullrich Fichtner im Spiegel, sei so unglaublich, dass man es drei Mal lesen müsse. »Und erst nach der dritten Lektüre dämmert es einem, dass die Welt, in der die Deutschen die längste Zeit so gemütlich lebten, bereits untergegangen ist.«1

Halt, nicht so schnell. Die Rede vom »Untergang« stimmt so nicht: Die Gewinne fließen, wenn auch nur deshalb, weil man weiter Verbrenner verkauft und weil das Geschäft mit China blüht. Doch man pendelt zwischen dem guten alten Gefühl, als deutscher Dauermeister bei den ganz Großen mitzuspielen und der unguten neuen Erfahrung, im Spiel um das Auto abgehängt werden zu können. Mit dem Umsteuern tut sich mancher Hersteller immer noch schwer, die vielen Zulieferer noch viel schwerer, und das hat etwas mit der langen Geschichte der deutschen Automobilindustrie zu tun. Stichwort Pfadabhängigkeit.

Mit Pfadabhängigkeit meine ich die in gut 100 Jahren gewachsenen Beharrungskräfte der einstmals glänzenden und nun quasi in den eigenen Lieferketten gefangenen Automobilbranche. Ich meine Hersteller mit technisch ausgereiften Produkten, mit brillanter Produktionskompetenz und hoher Relevanz für den Industriestandort Deutschland. Ich meine gut 800 000 Führungskräfte und Ingenieurinnen, Mitarbeitende bei Zulieferern, in Autohäusern und Werkstätten, die sich mit ihrer Branche und ihrem Verbrenner durch und durch identifizieren. Ich meine Autofahrerinnen und Autofahrer, die ihre Lebensgewohnheiten und ihr Selbstbild über Dekaden eng verknüpft haben mit dem Besitz von Autos – Stichwort »Heilig’s Blechle«. Und ich meine eine Politik, die ebenfalls über Dekaden Hand in Hand mit der Automobilindustrie gearbeitet hat: mit Beteiligungen, Subventionen, Prämien. Wir haben es mit einem langsam gewachsenen und hochkomplexen Feld zu tun, das sich nicht einfach über Nacht neu beackern lässt.

Dazu kommen kognitive Verzerrungen (englisch: bias). Um nur wenige Beispiele zu nennen: Manch ein Entscheider schätzt jede Veränderung des Status quo als Verlust ein (Status-quo-Bias), schreckt aus Kostengründen vor radikalen Kurswechseln und Abschreibungen zurück (Sunk-Cost-Bias) und hält die Produkte für besonders wertvoll, die das eigene Unternehmen produziert hat (IKEA-Effekt). Das gilt auch für neue Services: Wenn man diese überhaupt anbietet, dann bevorzugt unter der eigenen Marke, möglichst exklusiv, am besten allein.

Wie stark Pfadabhängigkeiten und Biases wirken, zeigt sich an diversen Stilblüten der Technikgeschichte, häufig unmittelbar vor einer bevorstehenden Disruption: Eines der großartigsten Segelschiffe erlebte seinen Stapellauf in dem Moment, in dem Dampfschiffe den Markt übernahmen; die imposantesten und besten Dampfloks wurden am Ende des Dampfzeitalters gebaut und die gigantischsten Öltanker Mitte der Siebzigerjahre, als der Suezkanal wiedereröffnet wurde – durch den sie ihrer Größe wegen nicht manövrieren konnten. Es lässt sich noch nicht sagen, welches Verbrennermodell rückblickend in dieser Reihe stehen wird.

Der iPhone-Moment für die Autoindustrie

Sicher: Die großen Hersteller sind aufgewacht und starten jetzt mit neuen Konzepten durch. Für viele wird es trotzdem blutig, und das quer durch die Bank. Große Player tun sich schwer mit der Fahrzeugvernetzung, kleinen Playern fehlt für die digitale Transformation das Geld und neue Player aus angrenzenden Tech-Branchen reiben sich längst die Hände. Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis er kommt: der entscheidende Kipp-Moment, an dem für Deutschlands Autobauer nichts mehr geht außer Blechbiegen. Die Branche spricht schon vom iPhone-Moment für die Autoindustrie, der genauso gut Kodak- oder Nokia- oder Blackberry-Moment heißen könnte. Das Prinzip ist immer das gleiche: Jede Disruption macht wenige Vorreiter zu Gewinnern und alle zu Verlierern, die für den Sprung ins nächste Zeitalter zu spät Anlauf genommen haben.

Dass jetzt höchste Zeit ist, um Anlauf zu nehmen, das hat sich unter Deutschlands Autobauern herumgesprochen. Dass die globale Automotive-Branche radikal aufbricht, und das entlang aller Stufen der Wertschöpfungskette, liegt auf der Hand. Die Nervosität ist hoch. Der Überlebenswille sowieso. Nur: Wohin springen wir, um den Abstieg zu verhindern? Das ist alles andere als klar.

Unstrittig ist zwar, dass weltweite Trends zu schnellem Umdenken und konsequentem Handeln zwingen. Doch wie jeder einzelne Trend einzuschätzen ist, darüber wird auf eine Weise gestritten, die so emotional aufgeladen ist wie wohl selten in der gesamten Geschichte der Automobilindustrie. Globalisierung oder Deglobalisierung, Urbanisierung oder Zurück-aufs-Land, SUVs zwischen Absatzboom und öffentlicher Anfeindung, der Elektromotor als Heilsbringer oder Mogelpackung, Carsharing als Geschäftsmodell der Zukunft oder rollender Virus-Superspreader. Nicht nur auf Kundenebene, sondern auch auf der Ebene der Unternehmer und sogar in der Wissenschaft stehen sich polarisierte Interessengruppen und Überzeugungsfilterblasen zunehmend feindselig gegenüber. Das macht die gemeinsame Reflexion schwer bis unmöglich, und mehr noch: So lassen sich keine gemeinsamen Lösungen für die zunehmend drängenden Probleme entwickeln. Dabei kommt es genau jetzt genau darauf an: klimaverträglichere Autos, Autos aus lokaler europäischer Produktion, neue Zuliefer- und Partnernetzwerke, softwarebasierte Fahrzeugkonzepte auf der Basis von Open Source, neue Infrastrukturen für Mobilität und eine grundlegend neue Idee von Mobilität.

»Der Rahmen ändert sich, nicht nur das Bild«

Vernetzung, Elektrifizierung, Automatisierung und »Sharing« sind erst der Anfang einer neuen Ära der Autoindustrie: Eine Ära, in der Autos nicht mehr vom Motor her gedacht werden, sondern ausgehend von Bits und Bytes. Eine Ära, in der Unternehmen nicht mehr von ihrem Standort aus gedacht werden, sondern ausgehend von ihren Beziehungen über Zulieferer und Start-ups, Branchen und Kontinente hinweg. Eine Ära, in der Städte nicht mehr von der Straße aus gedacht werden, sondern ausgehend vom vernetzten Menschen mit all seinen ökonomischen und ökologischen, seinen singulären und sozialen Bedürfnissen.

Bits und Bytes, Beziehungen, Bedürfnisse – so geht Business heute, so läuft Mobilität heute. Es geht darum, größer zu denken. Weiter zu denken. Für andere längst Realität. Beispiel Consumer Electronics Show, Las Vegas 2020:

  • Deutschlands Autobauer stellten Konzeptfahrzeuge vor, boten Ausblicke auf Designs und Antriebe der Zukunft und zeigten schöne Meilensteine auf dem Erfolgskurs des eigenen Unternehmens. Fokus: das Auto.

  • Toyota dagegen präsentierte den Prototyp einer neuen Stadt, in der autonome Autos sicher fahren, in der Gebäude und Menschen miteinander vernetzt sind und wasserstoffbetriebene Brennstoffzellen Energie liefern. Fokus: der User.

Schon diese Gegenüberstellung spricht Bände. In der Vergangenheit haben wir nicht nur etliche Züge verpasst, wir standen auch manches Mal am falschen Bahnhof. Oder, wie es der legendäre Technikkritiker Marshall McLuhan schon 1964 formulierte: »Der Rahmen selber ändert sich mit einer neuen Technik und nicht nur das Bild im Rahmen.«

Kampf der Welten: Davids gegen Goliaths

Der Strukturwandel der Branche ist radikal, und so wird er auch beschrieben. Von einem »Kampf der Welten« spricht etwa Wirtschaftsprofessor Stefan Bratzel, Direktor des Center of Automotive Management (CAM). Andere beschwören den Kampf zwischen »David und Goliath« hinauf, wobei mit dem klugen und wendigen David Deutschlands Autobauer gerade nicht gemeint sind.2

Mit ihren teuren Fabriken, ihren kompetenten Entwicklern und Hunderten Steuergeräten, komplexen Marketingaktionen und ihrem riesigen Geflecht an Vertriebshäusern und After-Sales-Services hielten sich die großen OEMs (Original Equipment Manufacturer) lange Zeit für unbesiegbar, und damit lagen sie nicht einmal falsch.

Doch dann verrutschte der Rahmen. Plötzlich stand nicht mehr die Kompetenz rund um den Verbrenner im Zentrum, nicht mehr die perfekten Spaltmaße der Karosserie, nicht mehr die unzähligen präzise verschweißten Teile und das gigantische Händlernetz.

Plötzlich war Auto einfach: ein einziger Zentralcomputer im Kern, unten ein Chassis mit Batterie, vorne ein Bildschirm, Karosserie obendrauf, fertig. Der US-amerikanische Hersteller Tesla buchstabiert seit fast 15 Jahren das Auto in diesem Sinne neu: als Smart Device und Datensammelplattform. Und es geht weiter: Heute bietet der taiwanesische Konzern Foxconn, bekannt als Fertigungsbetrieb für Apple-Produkte, komplette »Skateboards« für jeden an, der ein Auto bauen will. Verschiedene Längen, verschiedene Leistungsklassen, ganz nach Wunsch. Die Kosten sind niedrig, die Entwicklungszeit kurz, sind 100 Jahre Autokompetenz überflüssig geworden?

Was nun entbrennt, ist ein völlig neuer Kampf: der Kampf um die Kundenschnittstelle. Es ist der Kampf um das aus Apps, Abos und Accounts bestehende, virtuelle Ökosystem jedes einzelnen Users. Sprich: der Kampf um die Daten. Und an dieser Stelle drängen Player aus anderen Games ins Spiel.

  • Die Google-Mutter Alphabet hat das Betriebssystem »Android Automotive« entwickelt, das über das Infotainment hinaus auch Klimaanlage oder Sitze steuert. Dieses System bietet Google für Hersteller kostenlos an. PSA, General Motors, Renault-Nissan und Volvo machen mit wegen der hohen Einsparungen – Kundendaten und Geschäfte mit digitalen Services gehen so allerdings an Google. Parallel dazu schickt Google über seine Tochterfirma Waymo autonome Autos auf die Straße.

  • Apple geht möglicherweise 2024 mit einem eigenen Auto an den Start. Unter den Zulieferern wird mit hoher Wahrscheinlichkeit der etablierte Apple-Partner Foxconn sein. Apple selbst hat sich zu seinem »Project Titan« noch nicht offiziell geäußert.

  • Amazon mischt sich mit den beiden Töchtern Rivian und Zoox in den Wettbewerb um das neu gedachte Auto ein. Darüber hinaus lässt der Online-Handelsriese seine digitale Assistentin Alexa über die Connected Services bei mehreren Markenherstellern auftreten und bietet jedem Fahrer die Möglichkeit, sein Auto mit dem Zusatzmodul »Echo« nachzurüsten.

  • Microsoft kooperiert mit verschiedenen Autobauern in den Bereichen Produktion, Data Insights für Customer Experience, Clouddienste und Autonomes Fahren.

So viel zur US-amerikanischen Riege. Im Osten hat sich die gleiche Mannschaft spiegelbildlich aufgestellt:

  • Der Baidu-Konzern – das chinesische Google-Äquivalent – kooperiert mit dem Software-Unternehmen Blackberry. Ziel ist, die hochauflösenden Karten von Baidu auf dem Betriebssystem von Blackberry laufen zu lassen. Baidu nutzt die sogenannte QNX-Technik als Basis für seine offene Plattform für autonomes Fahren.3

  • Huawei plant die Produktion von Elektrofahrzeugen unter seiner eigenen Marke. Grund ist ein durch US-Sanktionen ausgelöster Strategiewechsel des weltgrößten Telekommunikationsausrüsters.4

  • Der chinesische Internethändler Alibaba hat bereits 2016 den Smart-SUV Roewe RX5 von SAIC mit YunOS ausgestattet, einer Betriebssystem- und Applikationsplattform, die Navigation, Entertainment und darüber hinaus das Bezahlen via Alipay ermöglicht.

Vom chinesischen Microsoft-Pendant Red Flag Linux sind meines Wissens keine Pläne in Richtung Automotive bekannt – aber wer weiß schon, was hier noch kommt? Facebook und das chinesische Pendant Tencent könnten in Richtung Automotive vorstoßen, Mobilitätsanbieter wie Uber und Didi haben es bereits getan – Uber baut ein eigenes E-Shuttle mit dem britischen Spezialisten Arrival;5 Didi lässt von BYD Autos für die eigene Flotte bauen.

Daneben haben sich Player der »alten« Automotive-Garde zusammengeschlossen, um gemeinsam IT-Systeme zu entwickeln: zum Beispiel Mazda, Ford und Toyota rund um »SmartDeviceLink«. Und neue Anbieter wie der Karten- und Navigationsanbieter HERE, der Grafikprozessor- und Chip-Entwickler Nvidia oder der Roboterauto-Experte Aurora bauen an Komponenten und Plattformen für automatisiertes Fahren.

Sony hat schon 2020 ein Auto vorgestellt – und es spricht nichts dagegen, dass es in Zukunft weitere Anbieter geben wird, an die wir heute noch nicht denken. Jeder technische Umbruch bringt neue Player ins Feld – in der Automobilindustrie geschieht das nicht zum ersten Mal: Die Polyphon Musikwerke, seit 1893 in Wahren, hatten 1905 auf der Leipziger Messe den Motorwagen »Polymobil« neben ihrer Schreibmaschine »Polygraph«, Sprechapparaten und Schallplatten ausgestellt. 1907 schon präsentierten sie das weiterentwickelte »Polymobil Nr. 2« mit Komplettausstattung für die Reise, inklusive Hupe, Laternen und Werkzeug für 3 330 Mark.6 Was zeigt: Entertainment, Office und Autos waren schon vor 100 Jahren in einer Hand. Und in Umbruchzeiten gewinnt oft der Schnellste. Nicht der Perfekte. Siehe Tesla.

In der Spitzenliga spielen heute jedenfalls IT-Giganten und Hersteller aus den USA, aus China, Taiwan, Korea und Israel, die uns mehrere Jahre voraus sind. Und Deutschlands Autobauer sind trotz der jüngsten Erfolge nicht davor gefeit, in der Versenkung zu verschwinden. Wenn Auftragsfertiger wie Magna auf der Plattform von Foxconn massenhaft Autos für Apple oder Sony bauen, wer braucht dann noch BMW, Daimler, VW oder gar einen Opel? Ist das das Ende?

Ich sage: Nein. Deutschlands Autobauer sind zurück im Spiel: Volkswagens E-Modelle ID.3 und ID.4, Audis Q4 E-Tron und A6 E-Tron, BMWs i3 und i8 und Mercedes EQS – um nur einige wenige zu nennen – erregen wieder weltweit Aufmerksamkeit. Europäische Hersteller wie Renault, der schon mit dem Modell Zoe Maßstäbe gesetzt hatte, haben neue Markenzeichen auf den Weg gebracht. Und das Volvo-Geely Joint Venture Polestar hat mit seinem Elektroauto Polestar 2 einmal mehr das gezeigt, wofür die europäische Autoindustrie für mich schon immer stand: die optimale Balance von technischer Innovation und perfekter Proportion.

Trotzdem steht die Autobranche vor gigantischen Herausforderungen: Profite werden immer noch mit alten Konzepten gemacht und viele elektrische Fahrzeugmodelle sind negative Business Cases. Entscheidende Komponenten wie etwa die Feststoffzelle sind zwar in der Entwicklung, aber immer noch sehr teuer. Strategisch wichtige Produktionskapazitäten – Halbleiter, Batterien, grüner Wasserstoff – werden zwar aktuell aus dem Boden gestampft, sind aber vielerorts noch nicht wettbewerbsfähig.

Ich arbeite seit mehr als 30 Jahren in der Autoindustrie und nenne mich mittlerweile selbst einen Automotive Industry Veteran. Und ich habe in meiner ganzen Laufbahn noch nie eine Zeit erlebt, in der sich die Ereignisse in der Branche, in der Wirtschaft und in der Weltpolitik derartig überstürzt haben wie in den Monaten zwischen Dezember 2020 und Mai 2021, als dieses Buch entstanden ist. Die Veränderungen waren so tiefgreifend, dass ich meine ursprüngliche Einschätzung – »Es wird blutig« – revidiert habe und jetzt sage: »Das Imperium schlägt zurück.« Mit einer gigantischen Kraftanstrengung sind unsere Autobauer nun wieder da. Es knirscht zwar noch in vielen Bereichen, und wie man in der Zukunft Geld verdient, wissen wir erst in vier bis fünf Jahren. Aber die neuen Strategien sind da. Eine neue Denke. In allen Dimensionen.

Um diese Dimensionen geht es in diesem Buch: Beginnen wir mit der globalen Dimension – Klima –, gehen wir weiter zum Thema globale Geopolitik, dann auf die Ebene der Konzerne, schauen wir uns das Thema Software näher an, die neue Vielfalt der Automodelle und schließlich die der Fahrer:

I. Klima: Der Klimawandel ist kein Wandel, sondern Krise. Steigende Temperaturen, zerstörerische Extremwetter und eine horrende Luftverschmutzung haben zu einer Situation geführt, in der die weitere Nutzung fossiler Brennstoffe nicht mehr zu verantworten ist. Im Einklang mit den Zielen der Pariser Klimakonferenz hat sich Deutschland verpflichtet, seinen CO2-Ausstoß drastisch zu reduzieren. Bis 2050 will die Europäische Union Klimaneutralität erreichen. Das heißt, dass kaum mehr CO2 in die Atmosphäre abgegeben wird, als im Gegenzug gebunden werden kann.

Das erste Kapitel zeigt, wie Elektromobilität auf das Klima wirkt. Es stellt die Alternative Wasserstoff vor, diskutiert die CO2-Preis-Frage und sagt, wie sich OEMs zum Thema E-Mobilität, Batterie und Ladeinfrastruktur aufgestellt haben.

II. Weltmarkt: Staaten reagieren mit rigiden Verboten: China reduziert die Zahl der zugelassenen Benziner ab sofort, Norwegen stoppt die Zulassung von Verbrennern im Jahr 2025, Indien und Japan ab 2030, Großbritannien voraussichtlich ab 2035, Frankreich ab 2040, zehn von 50 US-Bundesstaaten zwischen 2035 und 2050, China 2060 und Deutschland … diskutiert noch.7 Doch weil die Absatzmärkte wegbrechen, steuert auch die hiesige Industrie langsam um.

Das zweite Kapitel fragt: Wie sieht es aus mit Europas Souveränität zwischen USA und China? Und was heißt das für die Autobauer?

III. Wertschöpfung: Die Senkrechtstarter steigen woanders auf: Es war der US-amerikanische Hersteller Tesla, der nicht nur Elektromobilität und Software als Erster konsequent zum Ausgangspunkt seiner Unternehmensstrategie und Produktpalette machte, sondern der auch die Produktion radikal vereinfachte und den (Online-)Vertrieb integrierte. In jüngster Zeit sorgen Meldungen aus der IT-Branche für Nervosität unter den traditionellen Autobauern: Apple, Google und C. bauen am Auto der Zukunft. Alle haben das, was Deutschlands Autobauer nicht haben: den direkten Zugang zum smarten User, und wichtiger noch, zu dessen Daten.

Das dritte Kapitel blickt auf die Wertschöpfungsketten der Autoindustrie. Wie und wo sind neue Kooperationen mit der IT-Branche oder untereinander möglich? Warum brauchen wir mehr vertikale Integration? Und wie funktioniert Wertschöpfung via Services – die in Zukunft 30 bis 40 Prozent der Gewinne erwirtschaften sollen?

IV. Digitalisierung: Systemarchitekturen, Connectivity, Mirroring – immer mehr Kunden wollen ihr Erlebnis mit dem Smartphone aufs Auto übertragen. Das Auto wird nicht übers visuelle Design, seine PS- oder kW-Zahlen und sein Blech definiert, sondern über das Design des Nutzens. Apps eröffnen neue Geschäftsfelder. Deshalb muss sich die Software-Architektur des Autos ändern. Deshalb läuft ohne Mikroelektronik – also Chips – gar nichts mehr.

Diese neue Perspektive verändert unsere Vorstellung von der Benutzerschnittstelle zwischen Fahrer und Auto, unsere Erwartung an das Fahrerlebnis und an die Möglichkeiten der Kommunikation zwischen unserem Auto und anderen Autos, zwischen Autos und Ampeln, Straßen, Ladesäulen und Parkplätzen. Sicherheitsanforderungen (siehe kommende EU-Bestimmungen), aber auch neue Geschäftsmodelle in der Mobilität fördern das automatisierte bis autonome Fahren. Deshalb muss sich die elektrische und elektronische Architektur des Autos ändern.

Das vierte Kapitel sagt, warum diese Änderung in Europa heißen muss: »Open Source first«. Es zeigt die Entwicklungen verschiedener Hersteller, nimmt private und staatlich gesteuerte Clouds unter die Lupe und stellt die Frage nach einer europäischen Sicherheitsstrategie.

V. Auto: Unsere überkomme Vorstellung davon, was ein Auto überhaupt ist, hat sich mit der immer kreativeren Differenzierung der Fahrzeugtypen ohnehin schon aufgelöst. Das fünfte Kapitel stellt die neuesten Entwicklungen vor und skizziert das Auto als Servicemaschine, das Usern mit jedem Update neue Möglichkeiten eröffnet – und das ganz ohne Werkstattbesuch.

Der Autofahrer oder die Autofahrerin der Zukunft sind nicht mehr nur als offensiv und sportlich Lenkende eines möglichst PS-starken Rennschlittens zu sehen. Sie können genauso gut im abonnierten Wagen arbeitende Pendler sein. Oder diejenigen, die sich nach einem anstrengenden Tag von ihrem autonom und defensiv agierenden Robotaxi keimfrei und entspannt in ihr Smarthome chauffieren lassen, das ihnen die unterwegs begonnene Serie nahtlos weiter vorspielt.

Dieses Kapitel zeigt die neuen Dimensionen des Fahrvergnügens, des Mitfahrens und des Gefahrenwerdens und fragt nach den Implikationen für Deutschlands Autobauer.

Klar ist: Die Systemdynamiken der genannten Dimensionen zwingen Deutschlands Autobauer zu einer Neudefinition ihrer Geschäftsmodelle – weg von der Produktfixierung, hin zur Serviceorientierung. Dabei müssen sie nicht nur die Kundenbedürfnisse neu denken, sondern auch ökologische und geopolitische Rahmenbedingungen, ihre Wertschöpfungsketten, jegliche Facette neuer Mobilität und das, was sie als ihren Markt kannten. Wettbewerber von Daimler sind nicht mehr nur BMW und Audi, sondern auch Apple und Google. Kooperationspartner können aus der Gaming-Branche kommen oder aus der Smartphone-Zulieferindustrie. Neue Geschäftsfelder eröffnen sich möglicherweise in der Medizintechnik oder im Energiemarkt. Hier passiert schon sehr viel.

Ich sage: Es muss noch viel mehr passieren, und es muss schneller passieren. Dann haben Deutschlands Autobauer eine reale Chance. Nicht nur die Hersteller, auch die Zulieferer.

Was aus jedem Einzelnen von ihnen wird – wer weiß? Auch wenn der automobile Strukturwandel jetzt endlich in den Startlöchern steht: Es werden harte Jahre. Die meisten werden sich neu erfinden müssen. Nicht alle werden die Transformation überleben. Es wird eine Konsolidierung geben und eine Neuordnung. Und am Ende des Tages sehen wir möglicherweise Airbus als Anbieter fliegender Taxis, Toyota als Betreiber smarter Städte und entdecken Continental, Bosch und ZF im Verbund mit Nvidia und Recogni, Faurecia und Valens als neue Treiber von »Vorsprung durch Technik« mit Innovationen, die heute noch jenseits unserer Vorstellungskraft liegen. Die Zukunft ist das, was wir daraus machen. Mit der Betonung auf machen.

Mit diesem Buch möchte ich Deutschlands und auch Europas Autobauer ermutigen, neue Wege zu gehen. Wege hin zu einer digitalen, vernetzten europäischen Automobilindustrie, die sich noch stärker in Richtung Elektromobilität aufstellt. Eine Industrie, die selbstverständlich vorn mitspielt in der Liga der globalen Player und die eine klimafreundliche, individuelle Mobilität für alle möglich macht – und zwar unabhängig von brancheninternen und ideologischen Grabenkämpfen.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Vergnügen und Inspiration bei der Lektüre,

Dr. Peter Mertens

I.

KLIMA