Über den Autor
Micha Brumlik, geboren 1947 in Davos, Schweiz, lebt heute in Frankfurt am Main. Seit 2000 ist er Professor am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Universität Frankfurt am Main. Neben seiner vielfältigen schriftstellerischen und journalistischen Tätigkeit leitete er von 2000 bis 2005 als Direktor das Fritz Bauer Institut, Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust.
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© 2006 Beltz Verlag · Weinheim und Basel
Biographie & Kontext:
Herausgegeben von Sabine Andresen und Claus Koch
Umschlaggestaltung: Federico Luci, Odenthal
Umschlagillustration: akg-images, Berlin
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-22291-6
Inhalt
Einführung
1. Mensch werden
2. Tiefenpsychologie nach der Romantik
3. Traum und Sinn
4. Geschlecht, Erziehung und Verführung
5. Vatermord und Urhorde
6. Der Drang, zu töten und zu sterben
7. Masse und Faschismus
8. Kritik des Kommunismus – das Ende der letzten Illusionen
9. Eine jüdische Wissenschaft?
10. Schlußbetrachtung
Anmerkungen
Literatur
Personenregister
Einführung
Sigmund Freud teilte die größte Strecke seines Lebensweges mit jener des letzten Kaisers von Österreich-Ungarn, Franz Joseph I. Als Freud im Mai des Jahres 1856 geboren wurde, hatte Franz Joseph I. acht Jahre zuvor den Thron des Kaiserreichs übernommen; 1939, als Freud schwer krank, aber geistig ungebrochen Ende September in der Emigration in London starb, hatte der später so genannte Zweite Weltkrieg mit dem deutschen Überfall auf Polen bereits begonnen, Franz Joseph I. indessen war etwas mehr als zwanzig Jahre zuvor im November 1916 gestorben – mitten im Ersten Weltkrieg, der damals noch der »Große Krieg« genannt wurde. Sigmund Freud wurde dreiundachtzig, Franz Joseph I. sechsundachtzig Jahre alt. Ihre gemeinsame Lebensstrecke währte von 1856 bis 1916: sechzig Jahre.|7|
Beider Lebensmittelpunkt war Wien, eine internationale, heute würde man sagen, »multikulturelle« Metropole, die das geistige Zentrum der Epoche verkörperte. Während man Paris zu Recht mit Walter Benjamin als die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts bezeichnen kann, kann als die Hauptstadt des 20. Jahrhunderts, zumindest von dessen erster Hälfte, weder New York noch gar Berlin, sondern nur Wien gelten.1 Hier entstanden nicht nur mit Freud die Psychoanalyse, sondern auch mit Gustav Mahler der Ausklang der musikalischen Romantik und auf ihn folgend mit Schönberg, Berg und Webern die Zweite Wiener Schule der modernen, atonalen Musik; in Wien entstanden – um nur zwei Namen zu nennen – mit Wittgenstein und Popper zwei dem Anspruch nach wissenschaftliche, nicht mehr metaphysische, positivi|8|stische Philosophien; Wien war das Milieu einer Literatur, die im Werk Hugo von Hofmannsthals, Arthur Schnitzlers oder Robert Musils dem objektiven und subjektiven Ende sowohl der aristokratischen als auch der bürgerlichen Kultur nachging. In Wien wirkte der Sprachkritiker Karl Kraus, hier entstand mit Adolf Loos die funktionale Architektur, aber auch mit Gustav Klimt der Jugendstil. Wien aber war auch jene kunsttrunkene Großstadt, die, von einem antisemitischen, kommunalpolitisch jedoch höchst fortschrittlichen Bürgermeister gelenkt, einem erfolglosen Kunststudenten aus Linz die ersten Bildungserlebnisse in Oper und Politik bescherte: Adolf Hitler lebte von 1908 bis 1913, bevor er nach München ging, in einem Wiener Obdachlosenasyl, einem Männerwohnheim.2
Nicht zuletzt war Wien die Hauptstadt eines Vielvölkerreiches, wie es in den Romanen Joseph Roths überdauert hat, eine Stadt, in der Tschechen und Ruthenen, Ungarn und Italiener, Slowenen und Ukrainer, Polen und Slowaken, aber auch Deutsche und Juden lebten. In keiner anderen deutschsprachigen Stadt der Welt lebten so viele Juden wie in Wien – etwa 180.000 Personen, rund 8,6% der Stadtbevölkerung.
Wien war die Hauptstadt eines in vielen Zügen noch barocken Kaiserreiches und zugleich die Hauptstadt der Moderne, Hauptstadt der ersten Hälfte jenes zwanzigsten Jahrhunderts, das der Historiker Eric Hobsbawm als das kurze Jahrhundert der Extreme bezeichnet hat3 – ein Jahrhundert, das mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges im September 1914 begann und mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 endete.
Es mag übertrieben klingen, zu sagen, daß diese Hauptstadt ihre Bedeutung in jenem Augenblick verlor, als ihr Jahrhundert seinen Lauf nahm. Aber Wien war als geistiges Zentrum einer Epoche, die sie nicht nur erahnt, sondern wesentlich |9|mit geprägt hatte, um Jahrzehnte voraus und die Impulse, die dort entstanden und im guten wie im bösen weiterwirkten, sollten noch wirksam sein, als die Kraftquelle, von der sie einmal ausgingen, längst verloschen war – gerade so wie das Licht einer implodierten Sonne noch Jahrmillionen über Lichtjahre hinweg ferne Himmelskörper erreicht.
Von Wien her ist Sigmund Freud zum Theoretiker des zwanzigsten Jahrhunderts geworden, und zwar in einem mehrfachen Sinn: als Kind des frühen zwanzigsten Jahrhunderts prägte er dessen Denken ebensosehr, wie er das, was als »Mensch« gilt, aus den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts neu, und vorläufig unüberholt, deutete. Sigmund Freud schuf nicht mehr und nicht weniger als eine neue Anthropologie, eine neue Lehre vom Menschen, die – wie alle anderen Anthropologien – universale und überzeitliche Gültigkeit beanspruchen muß. Analog zu jenen klassischen Bildern vom Menschen, wie sie etwa Platon, der Apostel Paulus oder Descartes schufen, schuf auch Freud ein neues, revolutionäres Bild vom Menschen, das in seinem Reichtum, in seiner Analyse- und Deutungskraft ebenso unerschöpflich ist wie die der genannten – von Platon zu Descartes. Was Freud von ihnen unterscheidet, ist die Eigentümlichkeit der Entstehung seiner Anthropologie, von einem Ort her, der das Denken, das ihm entspringt, bis in die letzten Verästelungen mitbestimmt. So wie Platons Bild des Menschen der Krise der griechischen Polis entsprungen ist und die Anthropologie des Paulus auf die geistigen Spannungen des römischen Imperiums reagiert, so wie der radikale Neuansatz des René Descartes ohne die sich herausbildende bürgerliche Gesellschaft undenkbar gewesen wäre, so artikuliert sich im Denken Sigmund Freuds die tödliche Krise der europäischen Moderne, die in der Urkatastrophe des »Ersten« Weltkrieges ihr Signum erhielt. Heute läßt sich über die historische Distanz erkennen, daß jener »erste« Weltkrieg nur der erste Teil |10|eines dreißig Jahre währenden Krieges von 1914–1945 gewesen ist, dessen zweiter Teil – er begann offiziell als zwischenstaatlicher Krieg in Europa 1939 – all jene Schrecken, auf die der erste wie ein Menetekel wies, um ein Vielfaches und Unvorstellbares überbot. Ohne diesen Krieg, der mit der Ermordung eines österreichisch-ungarischen Thronfolgers in Serbien seinen Lauf nahm, wäre, das jedenfalls legen die kaum noch zu überblickenden Biographien zu Freud nahe4, sein Werk ein anderes gewesen: das eines nüchtern distanzierten, ärztlichen Kulturkritikers, der – wie andere vor ihm, nach ihm und gleichzeitig zu ihm – dem Rätsel der menschlichen Sexualität, einer ebenso lebensbejahenden wie zerstörerischen Leidenschaft, nachspürte und ihre Entstehung, ihre Ausdrucksformen und Erkrankungen im Lauf des menschlichen Lebens zu verstehen suchte. Anders als andere wählte er dazu freilich nicht – obgleich sein Stil stets von makelloser Reinheit war – die Mittel der Kunst, der Literatur oder der Musik, sondern den Zugang der Klinik, des ärztlichen Blicks also, der der wissenschaftlichen Hypothesenbildung ebenso verpflichtet ist wie einem diagnostischen Einzelfallverständnis und dem Ethos des Heilens.
Man hat sich – zumal in der deutschen Debatte – daran gewöhnt, den von den Nationalsozialisten in arbeitsteiliger Mittäterschaft von Hunderttausenden an sechs Millionen europäischer Juden begangenen industriellen Massenmord als »Zivilisationsbruch« (D. Diner) zu bezeichnen. Tatsächlich ist dieses Verbrechen – über seinen unauslöschlichen Platz in der deutschen Nationalgeschichte hinaus – zu einer Chiffre für den moralischen Tiefstand geworden, den rassistische und totalitäre Ideologien im zwanzigsten Jahrhundert mit ihren Mordtaten markieren. Auch läßt sich die Singularität dieses Verbrechens genau benennen, eine Singularität, die es zu Recht zum Inbegriff der mörderischen Züge des Jahrhunderts werden ließ. Dieses Verbrechen war sowohl |11|seiner politischen Ideologie als auch der Gesellschaft wegen, der die Täter entstammten, singulär. Singulär war es nicht unbedingt in Ausmaß und Intensität der Leiden, die es verursachte, wohl aber in mancher Hinsicht in seinen Formen.
Anders als die meisten nationalistischen, radikalutopistischen und totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts beschränkte sich der Geltungswille des Nationalsozialismus mitsamt dem ihm unmittelbar zugehörigen Antisemitismus nicht auf die Umgestaltung eines Territoriums, eines Staates oder einer geographischen Region, sondern auf die von Menschen bewohnte Welt im ganzen. Im Nationalsozialismus äußerte sich ein nachnationalstaatlicher Herrschaftswille, der seine Feinde, seinen wesentlichen Feind, nämlich die Juden, auf der ganzen Welt witterte und sie demgemäß im wahrsten Sinne des Wortes überall ausrotten wollte. Anders als andere Ideologien ging es ihm daher auch nicht nur um wirkliche oder mögliche Kombattanten, sondern um jeden dieser »Rasse« zugerechneten Menschen: Babys, Frauen und Greise erschienen in dieser Perspektive als ebenso bedrohlich und gefährlich wie erwachsene Männer. Dieser Totalitätsbezug mit der Identifizierung eines angeblich an seinen physiologischen oder genetischen Merkmalen kenntlich gemachten Weltfeindes ist von dem anderen politischen Paradigma des Massenmordes, dem Stalinismus, nicht erreicht worden. Zwar wurde auch hier der ganze planetarische Raum zum Bezugspunkt einer »internationalen« Politik, zwar wurden auch hier Angehörige sozialer Klassen bzw. Schichten, wie etwa der »Kulaken«, willkürlich verfolgt, wurde auch ihren Angehörigen eine Art Erbschuld unterstellt; gleichwohl ermangelte diese Willkür, die Verfolger zu Opfern und Opfer zu Verfolgern werden ließ, jener paranoiden Konsequenz, mit der die Nationalsozialisten die Juden verfolgten. Vor allem aber wurde der Mord an den europäischen Juden – und das unterscheidet ihn vom »Gulag« ebenso wie von |12|dem politischen Mord der Roten Khmer an dreißig Prozent der eigenen Bevölkerung – aus den Tiefen einer zwar von Krieg und Revolution beeinträchtigten, aber gleichwohl über lange Jahrzehnte, wenn auch nicht unbedingt demokratischen, wohl aber rechtsstaatlichen und in ihren bürgerlichen Schichten humanistisch gesonnenen Gesellschaft heraus vollzogen. Wie es kommen konnte, daß sich im Nationalsozialismus Ärzte jenseits des hippokratischen Eides, Juristen ohne Gerechtigkeitsempfinden, Beamte ohne Loyalität, Soldaten und Offiziere ohne Ehre sowie Geistliche ohne Glauben zu Raub, Verfolgung und Mord zusammentaten, beschäftigt die Forschung seit langem und wird sie noch länger beschäftigen. Daß aber diese deutschen Eliten mitsamt dem Zusammenbrechen ihrer zentralen normativen Orientierungen, dem Verlust ihres Ethos, ein gänzlich anderes soziales Phänomen darstellen, als eine – wie in Kambodscha – Handvoll studierter, totalitärer Ideologen, die sich an die Spitze einer Bauernarmee setzen, oder – wie in der Sowjetunion – eine disziplinierte Parteibürokratie, die im Schatten einer absolutistischen Monarchie, einer sich widersprüchlich modernisierenden Sklavenhaltergesellschaft und eines überaus grausamen Bürgerkrieges entstand, liegt auf der Hand. Singulär war schließlich auch die an der Stigmatisierung von Vieh und der Ungeziefervertilgung angelehnte Tötungstechnik, die über alle Grausamkeit hinaus ein Ausmaß an Erniedrigung – sowohl vor als auch nach dem Tod – exekutierte, das eine welthistorische Innovation darstellte. Die Numerierung der menschlichen Körper, die Erschießung und Vergasung sowie schließlich die ökonomische Verwertung der Leichen sind nur die äußere Seite eines totalen Vernichtungswillens, der über das auch grausame Töten von Feinden weit heraus ging.
In Sigmund Freuds Werk liegt eine Anthropologie der notwendig immer wieder verletzten menschlichen Selbstverhält|13|nisse vor, wie sie eben nur vor dem Hintergrund des zwanzigsten Jahrhunderts entstehen konnte. Auch andere Epochen kannten Anthropologien verletzter menschlicher Selbstverhältnisse: Davon zeugt die griechische Tragödienliteratur, auf die sich Freud kaum zufällig bezog, ebenso wie die paulinische Sündenlehre oder das in der Tradition Schopenhauers und Nietzsches stehende musikdramatische Werk Richard Wagners bzw. die von Marx zur Vollendung gebrachte gesellschaftstheoretische Anthropologie der Entfremdung.
Die Essenz von Freuds Denkens neu zur Debatte zu stellen kann vor dem Hintergrund einer »kaum noch zu übersehenden«, und auch definitiv nicht mehr zu übersehenden Literatur bloß als vermessen gelten und erscheint gleichwohl notwendig. Es ist eine der Freudschen Lehre selbst innewohnende, unaufhebbare Janusköpfigkeit, die diesen Versuch legitimiert, eine Janusköpfigkeit, die von Anfang an zu Mißverständnissen und Polemiken geradezu herausfordern mußte: die Janusköpfigkeit einer aller empirischen Untersuchung vorgelagerten neuen, im strikten Sinne philosophischen Idee zum Wesen des Menschen und einer den Methodologien der Natur- und Geisteswissenschaften am Beispiel der Physiologie und der Archäologie verpflichteten wissenschaftlichen Grundhaltung.
Während Freuds Werk in Kunst, Literatur und Philosophie unbestritten und unbestreitbar ihren epochalen, anerkannten Ort gefunden hat und kein vernünftiger Mensch an der Bedeutung dieser Theorie zweifeln würde, weht im Reich der Wissenschaft ein anderer Wind. Dort toben erbitterte Grabenkämpfe5 um Meßmethoden, wissenschaftstheoretische Grundannahmen6 und angemessene Verfahren der theoretischen Modellierung seelischer Vorgänge – innerhalb der wissenschaftlichen Schulen und auch zwischen ihnen.
Auf einer weiteren Ebene, der Ebene gesellschaftlicher Praxis |14|in den Bereichen der Medizin, der Psychotherapie und der Erziehung, Praxisformen, die in modernen Gesellschaften beruflich und professionell verfaßt und in ihren Leistungen finanziell zu entgelten sind, schlagen sich die ohnehin unversöhnlichen Schulauseinandersetzungen in Form eliminatorischer Feldzüge nieder: So verdrängen im Schatten der Übermacht der Pharmakonzerne in den USA und mittlerweile auch in Deutschland die Vertreter einer strikt biologisch orientierten Theorie psychischer Erkrankungen nach und nach die meisten Formen der Psychotherapie zugunsten rein medikamentöser Behandlungen von den Lehrstühlen. Psychotherapie gilt dann nur noch als Zubrot.7 Dazu gehört auch die Verdrängung der Psychosomatik aus der Klinik, sowie der Umstand, daß wissenschaftlich bedeutsame Katamnese- und Effizienzstudien8 in der Psychotherapieforschung häufig nur dem Zweck des Ein- oder Ausschlusses der Psychoanalyse aus dem Krankenversicherungswesen gelten bzw. daß, wie jüngst an einer westdeutschen Großstadtuniversität geschehen, eine wissenschaftliche Evaluation sonderpädagogischer Einrichtungen zu der Forderung führte, einen Lehrstuhl auf keinen Fall mehr mit psychoanalytischer Ausrichtung zu besetzen. Der Mangel an Generosität und das in derlei Empfehlungen offen zutage tretende Ressentiment beweisen freilich nur, daß es doch dabei um mehr und anderes als lediglich um fachliche Stellungnahmen geht.
Es geht hier um keine Immunisierungsstrategie zugunsten der Psychoanalyse. Aber so sehr dem Wissenschaftstheoretiker Karl Popper, um nur den bekanntesten unter den Verächtern der Psychoanalyse9 zu nennen, darin recht zu geben ist, daß Reaktionen auf Kritik an der Psychoanalyse allzuoft darin bestanden, diese Einwände als Ausdruck seelischer Störungen zu denunzieren, sowenig läßt sich andererseits ausschließen, daß die Einwände gegen diese Wissenschaft – wie übrigens gegen jede andere Wissenschaft auch – nicht immer |15|rein sachlicher Natur sind: Man denke nur an die nationalsozialistische Polemik gegen Einsteins Relativitätstheorie, die stalinistische Zurückweisung der Genetik oder die evangelikal fundamentalistische Abwertung der Evolutionstheorie.
Die Janusköpfigkeit der Psychoanalyse, in einem ein neues Menschenbild geschaffen zu haben und zugleich falsifizierbare, fehlbare und überprüfungsbedürftige Einzelwissenschaft zu sein, sollte nicht als Schwäche und Gebrechen, sondern – im Gegenteil – als besondere Stärke gewertet werden. Die unaufhebbare Asymmetrie zwischen philosophischem Anspruch und einzelwissenschaftlicher Bewährung oder Widerlegung wirkt als belebende Irritation, als jene Impulsquelle, die, wie die Unruhe einer mechanischen Uhr, einen hochkomplexen Mechanismus am Laufen hält. Alle Versuche, diese Asymmetrie nach der einen oder anderen Seite aufzuheben, können nur zum Stillstand führen: Verminderte man die Psychoanalyse um ihre philosophischen und kulturtheoretischen Fundamente, so blieben eine bestreitbare Entwicklungspsychologie und ein stark bestreitbares psychotherapeutisches Programm übrig; verzichtete man indes auf klinische Praxis und die Beobachtung menschlicher Entwicklung, so behielte man zwar beeindruckende Perspektiven und tiefgründige Versicherungen zum Wesen des Menschen übrig, verbliebe aber zugleich im Unverbindlichen.
Die Janusköpfigkeit der Psychoanalyse als Philosophie und Wissenschaft wiederholt sich dort, wo sie sich als Wissenschaft versteht. Immer wieder ist der Psychoanalyse vorgeworfen worden, sich nicht entscheiden zu können oder zu wollen, ob sie denn nun Geistes-, Sozial- oder Naturwissenschaft sein wolle, über keine geklärte Methodologie zu verfügen; entsprechend zahlreich und ebenfalls kaum noch zu übersehen sind die Reaktionen auf diesen Vorwurf. Wenn die Psychoanalyse indes eine neue Anthropologie im Lichte des zwanzigsten Jahrhunderts darstellt, dann erweist sich |16|auch dieser Vorwurf als haltlos, da ja der Gegenstand dieser Wissenschaft, der »Mensch«, eben beides ist: einerseits als Ergebnis der Evolution unaufhebbar der Naturgeschichte und ihren mehr oder minder strikten Gesetzen verhaftet, andererseits als Kultur- oder Geisteswesen ebenso notwendig auf die Verwendung von nur symbolisch generierbarem und nur durch Verstehen zugänglichem Sinn verwiesen zu sein. Auch hier gilt, daß es das scheinbar entgegengesetzte Miteinander zweier ganz unterschiedlicher Perspektiven auf den Menschen ist, die Forschung und Kultur am Leben erhalten: Eine Reduktion des Menschen auf die ihm evolutionär überkommenen Verhaltensprogramme würde seiner eben auch evolutionären Einzigartigkeit ebensowenig gerecht, wie es alle Versuche sind, sein aus der Naturgeschichte überkommenes Erbe an Verhaltensweisen durch die Annahme eines ausschließlich kulturbestimmten Handelns zu ersetzen, das nur durch meist illegitime gesellschaftliche Zwänge eingeschränkt sei.
Sigmund Freud – davon zeugt die nach wie vor anhaltende Debatte etwa um den »Trieb«, der doch mehr und anderes bezeichnen soll als lediglich eine generalisierte und verfestigte, letztlich auch wieder verlernbare Verhaltensdisposition – hat nicht nur aus den kontingenten Gründen seiner wissenschaftlichen Ursprünge an der Idee einer »Naturwissenschaft vom Menschen« und auch keineswegs nur aus Not oder Verlegenheit an einer verstehenden Psychologie, wie sie in der »Traumdeutung« beispielhaft entfaltet ist, festgehalten. Eben darin, daß der Weg zur Erkenntnis des Naturwesens Mensch nur der des Verstehens sein kann, eröffnet sich die Eigentümlichkeit dieses Erkenntnisgegenstandes, der wiederum in einer eigentümlichen Doppelung gegeben ist: Wie in allen Sozial- und Kulturwissenschaften – darin unterscheidet sich die Psychoanalyse überhaupt nicht von anderen Wissenschaften dieses Typus – gilt, daß die erkennenden |17|Subjekte und die von ihnen zu erkennenden »Objekte« im Grundsatz miteinander identisch sind. Diese bereits in der idealistischen Reflexionsphilosophie, hier freilich aufs Individuum bezogen, angelegte Identität führt zu einer grundsätzlichen Asymmetrie. Da jedes Wissen weitere Fragen aufwirft und auch im Bereich der Selbsterkenntnis und Selbsterforschung ein abschließendes Wissen schon deshalb nicht möglich ist, da das sich vollziehende Denken und Wissen immer nur auf seine Ergebnisse und bereits getätigten Vollzüge, aber nicht auf sein aktuelles Prozedieren Bezug nehmen kann, bleibt sich die Selbsterkenntnis individuell wie gesellschaftlich stets hinterher – konstitutive Nachträglichkeit und Offenheit in einem.
Nicht zuletzt ist und war die Psychoanalyse aber auch seelische Heilkunst, ist Psychoanalyse als Erkenntnis des Seelischen zugleich Heilung seelischer Probleme in einem – eine weitere Asymmetrie, die zumal in den gesundheitspolitischen Auseinandersetzungen der Gegenwart eine wesentliche Rolle spielt: Es scheint, als ob in der Psychoanalyse ein altes philosophisches Ideal überdauert, wonach Selbsterkenntnis heilt, während doch die moderne Philosophie spätestens seit Nietzsche und allerspätestens seit dem psychologischen und sozialwissenschaftlichen Konstruktivismus zu wissen meint, daß Gesundheit und wahre Selbsterkenntnis einander geradezu ausschließen.
Die genannten vier Asymmetrien: zwischen Philosophie und Wissenschaft, zwischen natur- und geisteswissenschaftlichen Verfahren sowie zwischen abgeschlossenen Erkenntnissen und einem sich prinzipiell verfehlenden Selbstbezug im Wissen, zwischen Selbsterkenntnis und Heilung treten in der Psychoanalyse nicht nur deutlicher hervor als in den meisten anderen Wissenschaften vom Menschen, sondern motivieren auch ihre interne Entwicklung. Schon alleine daraus dürfte klar werden, daß die je nachdem vorwurfsvollen oder stolzen |18|Anklagen gegen eine vermeintliche Orthodoxie der Psychoanalyse an der Sache vorbeigehen müssen. Jede Anthropologie wird sich an jenen Vorgaben ausrichten müssen, die den Lebensvollzug der menschlichen Gattung, die ja auch ein Ergebnis der Evolution darstellt, charakterisiert: das »Zurweltkommen«, die Entwicklung zum Angehörigen einer Gattung, deren Lebensvollzug durch Symbolverhalten und normative, nicht mehr instinktregulierte Regeln gekennzeichnet ist, die in Geschlechtlichkeit und Begehren ebenso zerrissen ist, wie sie sich in intergenerationalen Zusammenhängen reproduziert, eine Gattung, die in Feindseligkeit und Zuneigung zu ihresgleichen lebt, sich an fundamentalen Eigeninteressen orientiert und doch zugleich mit Angst und Furcht ebenso begabt ist wie mit einem begrenzten Vermögen von Vernunft und Realitätsbezug.
Freuds Anthropologie ist – so die hier vertretene These – eine Anthropologie im Lichte des zwanzigsten Jahrhunderts und hat deshalb den Verlust religiöser Gewißheit, wie ihn das späte neunzehnte Jahrhundert erfahren mußte, ebenso in sich aufgenommen wie die Erfahrungen massenhaften Sterbens und Tötens und der auf sie folgenden unheilbaren individuellen und kollektiven seelischen Verwundungen. Als Anthropologie im Lichte des zwanzigsten Jahrhunderts setzt sie die abendländische Tradition klassischer Antike, von Judentum und Christentum ebenso voraus wie die stets krisenhafte Geschichte des europäischen Judentums seit der Emanzipation mitsamt dem Grauen der Massenvernichtung. Die vorliegende Darstellung liest die Psychoanalyse als Anthropologie – dem entspricht der systematische Zugang sowie der weitere Gang der Abhandlung.
»Anthropologie« ist seit geraumer Zeit wissenschaftlich, humanwissenschaftlich in Verruf geraten.10 Gegen anthropologische Überlegungen, sobald sie den engsten Umkreis rein naturwissenschaftlich-physiologischer oder paläontologi|19|scher Befunde überschreiten, wird in aller Regel eingewandt, daß sie genau das, worum es ihnen vorgeblich geht, systematisch verfehlen müssen. Denn wenn das »Wesen des Menschen« darin besteht, ein lernendes, ein kulturschaffendes und -verarbeitendes Wesen zu sein, dann muß jeder Versuch, ihm so etwas wie überzeitliche, transhistorische Gattungsmerkmale, die die rein organische Ausstattung überschreiten, zuzuschreiben, fehlschlagen. Was »der Mensch« wirklich ist, läßt sich demnach gar nicht positiv aussagen, allenfalls läßt sich sagen, als was und wie Menschen sich in einer je spezifischen historisch-kulturellen Epoche verstanden haben. Darüber hinaus steht jede Anthropologie im Verdacht, das doch gerade angestrebte Ziel, nämlich die Differenz zwischen Tier und Mensch, zu erläutern, letztlich doch wieder zugunsten der nichtmenschlichen Ausstattung zu vernachlässigen. Bezüglich der dem Werk Sigmund Freuds zugrundeliegenden Anthropologie ist darum zwei in den letzten fünfzig Jahren erhobenen Generaleinwänden zu entgegnen.
In seinem 1955 auf Englisch erschienenen Buch »Eros and Civilization«11 will Herbert Marcuse den Nachweis führen, daß sich ein erheblicher Teil von Freuds Metapsychologie als Ausdruck kapitalistischer Vergesellschaftung und der von ihr ausgehenden verinnerlichten Zwänge entziffern läßt: Marcuse ist davon überzeugt, »daß allen historischen Formen des Realitätsprinzips in der Kultur eine verdrängende (unterdrückende) Organisation der Triebe zugrunde liegt«12. Damit stellt Marcuse bestimmte Formationen des psychischen Apparats in ihren historisch-gesellschaftlichen Kontext, ohne indes vom Begriff des »Menschen« zu lassen. Diese Kritik der Freudschen Anthropologie wurde von Michel Foucault radikalisiert, der systematisch bezweifelte, ob sich wissenschaftlich überhaupt begründet vom »Menschen« sprechen läßt. Doch sprechen nach Foucault nicht nur wissenschaftliche, sondern auch emanzipatorisch-normative Gründe ge|20|gen eine überzeitlich angelegte Anthropologie. Seine »Absage an Sartre«, in der er 1966 begründete, warum gerade um der einzelnen Menschen willen der Begriff des »Menschen« und mit ihm der »Humanismus« als Ideologie destruiert werden müsse, endet mit einem programmatischen Aufruf: »Der Versuch, der gegenwärtig von einigen unserer Generation unternommen wird, besteht daher nicht darin, sich für den Menschen gegen die Wissenschaft und gegen die Technik einzusetzen, sondern deutlich zu zeigen, daß unser Denken, unser Leben, unsere Seinsweise bis hin zu unserem alltäglichsten Verhalten Teil des gleichen Organisationsschemas sind und also von den gleichen Kategorien abhängen wie die wissenschaftliche und technische Welt.«13 Wenn darüber hinaus eine kritische Wissenschaftsgeschichte zeigen kann, daß auch und gerade aufklärerisch gemeinte Begriffsnetze (Diskurse) allemal auch in Kontexten der Macht stehen und endlich nach Foucaults fester Überzeugung ein wissenschaftlicher Begriff vom Menschen vor dem achtzehnten Jahrhundert gar nicht bestand14, dann ist auch früher oder später wieder mit dem Verschwinden dieses Begriffs und der ihm entsprechenden Wissenschaften zu rechnen: Dann kann es sein, wie es in einer berühmten Formulierung am Ende der »Ordnung der Dinge« heißt, daß »der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand«15. Insofern war es nur konsequent, daß Foucault auch die Psychoanalyse in diese Kritik mit einbezog, indem er ihr zwar einräumt, den Begriff des »Triebs« als einer verschlungenen Einheit von Begehren und Verbot gefaßt, aber die darin enthaltene Machtkomponente vernachlässigt zu haben.16
Die im folgenden entfaltete Perspektive versucht gegen Foucault zu zeigen, daß eine Anthropologie im Bewußtsein ihrer historischen Kontingenz dennoch mehr ist als lediglich ein vom Willen zur Macht gestütztes Begriffsnetz, und teilt demnach auch nicht die grundsätzliche Kritik an den Human|21|wissenschaften. Interessanterweise hatte Foucault – im Gegensatz zu den Humanwissenschaften – eine hohe Meinung von den Naturwissenschaften, war aber offensichtlich nicht in der Lage, der Biologie, der Biologie jener Wesen, die in der Lage sind, sich Begriffe von ihrer eigenen Lebensform zu machen, eine angemessene Würdigung zukommen zu lassen.17 Bei Herbert Marcuses sozialwissenschaftlich-historischer Kritik der Freudschen Metapsychologie, die gleichwohl ihrerseits ganz unverbrämt von einem eigenen, absolut gesetzten Menschenbild ausgeht, wird zu fragen sein, ob Marcuse nicht einfach Freuds Anthropologie übernimmt, aber nicht bereit ist, den Preis gewisser pessimistischer Konsequenzen zu zahlen.
Wollte man für diese Perspektive einen Begriff suchen, so ließe sich eventuell an das Vorhaben einer »enthüllenden Anthropologie« denken, also an das Projekt einer Selbstentdeckung und -begegnung des Menschen (Arnold Gehlen) im Lauf seiner Geschichte, freilich so, daß die Ergebnisse dieser Selbstentdeckung und -begegnung wahrheitsfähig sind. Demnach hätte das zwanzigste Jahrhundert Züge des Menschen enthüllt, die ihm so nicht bekannt waren, Züge, die Sigmund Freud theoretisch zu erfassen suchte, ein Unterfangen, das schließlich durch die Zeitläufe selbst in seiner Wahrheit beglaubigt wurde. Das beginnt mit der Entdeckung und Enthüllung des Unbewußten.
Das »Unbewußte« – im trivialisierten Diskurs immer wieder als das »Unterbewußte« mißverstanden – korrigiert eine der Grundvoraussetzungen nicht nur des abendländischen Denkens: daß sich menschliche Existenz zuerst und vor allem in einer bewußten, einer sich selbst wissenden Stellungnahme zum eigenen Leben auslegt. Zwar wußten Philosophie und Kunst von Anbeginn an, daß nicht nur vernünftige Überlegungen, sondern meist auch Leidenschaften das menschliche Leben steuern, aber auch diese Einsicht war immer noch an |22|die Überzeugung gebunden, daß diese Leidenschaften den von ihnen Getriebenen – wenn auch quälend – bewußt waren. An dieser Frage setzt mit Freud ein revolutionärer Bruch ein: Von nun ab wird unterstellt, daß sowohl vernünftige Überlegungen von ihnen selbst nicht zugänglichen Motiven geleitet werden als auch Leidenschaften möglich und wirklich sind, die sich – jedenfalls zunächst – dem Wissen entziehen. Unter Hinweis auf zwei bedeutende Vorgänger, nämlich auf Nikolaus Kopernikus und Charles Darwin, hat Freud eine Dezentrierungsbewegung im Lauf der Entwicklung der menschlichen Geschichte angenommen: Ebenso, wie Kopernikus das naive Vertrauen des mittelalterlichen Weltbildes, die Erde stünde im Mittelpunkt des Kosmos, gekränkt und Charles Darwin den biblischen Auserwähltheitsglauben an die herausgehobene Rolle der letztgeschaffenen Menschen erschüttert habe, so habe er – Freud – den naiven Glauben an die bestimmende und zentrale Rolle des Bewußtseins im menschlichen Lebensvollzug in Frage gestellt: Der Mensch müsse nach der Einsicht in die bestimmende Rolle des Unbewußten erkennen, daß er nicht mehr Herr im eigenen Hause sei. Diese Annahme über die Existenz und die bestimmende Funktion des Unbewußten macht den Kern, das Zentrum der Psychoanalyse aus. Ohne sie fällt alles andere in sich zusammen. Von der Theorie des Unbewußten her wird denn auch die psychoanalytische Krankheitslehre in bezug auf Individuen und Kulturen entwickelt, die in eine psychotherapeutischen Kunstlehre bzw. eine Theorie gesellschaftlicher Reform mündet.
Das erste Kapitel des Buches unter dem Titel »Mensch werden« umreißt zunächst eine grundsätzliche, anthropologische Perspektive, vor deren Hintergrund Freuds systematischer Ansatz herausgearbeitet wird.
Dem folgt das zweite, historisch ausgerichtete Kapitel, »Tie|23|fenpsychologie nach der Romantik«, das der Erfindung des Unbewußten, der Tiefenpsychologie sowie der noch nicht reflektierten Erfindung der Psychotherapie gewidmet ist.18 Vor dem Hintergrund anderer Entwürfe schält sich die Besonderheit von Freuds Theorie heraus: psychische Krankheiten ebenso wie Träume zwar als sinnvoll anzusehen, in ihnen aber nicht »ahnende« Selbstentwürfe, sondern Texte einer beeinträchtigten Wunscherfüllung zu sehen. Die Theorie zu dieser Annahme gewann Freud aus der Analyse von Träumen, zunächst seinen eigenen.
So entfaltet das dritte Kapitel »Traum und Sinn« die Grundlagen der Psychoanalyse als einer Theorie der Zeichen und skizziert die in ihr enthaltene Theorie der Erfahrung im Vorgriff auf die dem zwanzigsten Jahrhundert eigenste Kunstform, den Film.
Das vierte Kapitel setzt sich unter der Überschrift »Geschlecht, Erziehung und Verführung« in pädagogischem Interesse mit dem auseinander, was ein breites Publikum nach wie vor an der Psychoanalyse besonders provoziert: ihrer Theorie der Sexualität. Die hier vorgetragene Lesart will überprüfen, wie weit seine Annahmen über das Babyalter, die psychische Entwicklung und die kindliche Sexualität dem gegenwärtigen Forschungsstand entsprechen und ob jene Einwände, die »orthodoxe« Psychoanalytiker gegen eine empirische verfahrende Wissenschaft von der Sozialisation aufbieten, stichhaltig sind. Bei alledem geht es um jenes Thema, das Freuds Zeitgenossen übermäßig erregte und gleichwohl inzwischen erheblich an Dramatik eingebüßt hat. Die in den neunzehnhundertsechziger Jahren stattgefundene sexuelle Revolution hat vieles, was zuvor verletzt und schockiert hat, beinahe trivialisiert19: Swingerclubs erscheinen als ebenso normal wie gesellschaftlich sanktionierte homosexuelle Ehen; wenn überhaupt, so ist als letzter Stein des Anstoßes und nach wie vor ungelöstes und zentrales Rätsel die |24|Frage nach der kindlichen Sexualität und die Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern übriggeblieben. Es fragt sich indes, ob der Überwertigkeit, die der Sexualität um die vorletzte Jahrhundertwende zugeschrieben wurde, nicht eine durch Trivialisierung verursachte Unterwertigkeit in der Gegenwart entspricht, die dem Phänomen ebensowenig gerecht wird. Sexualität und Geschlechtlichkeit sind nicht miteinander identisch: Formen und Richtungen des Begehrens gehören einer anderen Wirklichkeit an als die in einer Gesellschaft jeweils vorgegebenen Geschlechtsrollen. An der Antwort auf die Frage nach der kindlichen Sexualität wird sich schließlich entscheiden, in welchem Sinn überhaupt vom menschlichen Begehren und von der konstitutiven Differenz zwischen Erwachsenen und Kindern, kurz von Generationsrollen gesprochen werden kann. Die Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts sprechen nicht dafür, daß Begehren und Zuneigung alleine oder auch nur vor allem Triebkräfte des menschlichen Lebensvollzugs sind. Vielmehr legte dieses Jahrhundert von allem Anfang an eine eigentümliche Neigung zum Tod, zum massenhaften, gewaltsamen Töten und Sterben an den Tag.
Im fünften Kapitel »Vatermord und Urhorde« soll verdeutlicht werden, warum sich ein so genau beobachtender, nüchterner Wissenschaftler wie Sigmund Freud genötigt sah, einen wissenschaftlichen Mythos zu konstruieren. Dieser Mythos dient als Folie für eine durch die Erfahrung des Krieges belehrte Theorie der politischen Zivilisation.
Das sechste Kapitel: »Der Drang, zu töten und zu sterben«, in dem es in besonderer Weise um eine Anthropologie im Lichte des zwanzigsten Jahrhunderts geht, unternimmt daher den Versuch, Freuds Lehre vom »Todestrieb«, die inzwischen als wesentlich anstößiger und »falscher« gilt denn seine Vorstellungen über die menschliche Sexualität, so zu entfalten, daß ihr Zeitkern ebenso deutlich wird wie ihr all|25|gemeingültiger Anspruch. In diesem Zusammenhang ist dann auf die Psychologie von Angst und Furcht ebenso einzugehen wie auf ein Theorem, das in den Gründerzeiten der Psychoanalyse noch keine herausragende Rolle zu spielen schien: die Lehre von den traumatischen Neurosen, die durch äußere Gewalteinwirkungen und nicht durch innere Konflikte oder Triebschicksale verursacht wurden.
Nach einem zwanzigsten Jahrhundert, das die Erfindung von Konzentrationslagern und menschenverachtenden Verfahren der Massentötung vorzuweisen hat, ist die Sensibilität für die sich über Generationen erstreckenden Spätfolgen solcher Verbrechen gewachsen und hat sich der psychoanalytischen Traumatheorie ein neues, so von ihr ursprünglich nicht intendiertes Feld eröffnet.20
Es war Sigmund Freud, der schon früh, im Jahre 1915, unter dem Einduck des Schocks über einen neuartigen Krieg, der so nicht absehbar war, in geradezu prophetischer Weise gesehen hat, was dieser Krieg für die Menschheit bedeuten würde.
In der kurzen, erstmals 1915 veröffentlichten Studie »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« gab er dem bisher schwer vorstellbaren Neuen dieses Krieges Ausdruck: »Der Krieg, an den wir nicht glauben wollten, brach nun aus und er brachte die – Enttäuschung. Er ist nicht nur blutiger und verlustreicher als einer der Kriege vorher, infolge der mächtig vervollkommneten Waffen des Angriffes und der Verteidigung, sondern mindestens ebenso grausam, erbittert, schonungslos wie irgendein früherer. Er setzt sich« – und Freud trifft diese Feststellung vor den mörderischen Materialschlachten zwischen Deutschland und Frankreich und wohl auch vor dem ersten Einsatz von Giftgas – »über alle Einschränkungen hinaus, zu denen man sich in friedlichen Zeiten verpflichtet, die man das Völkerrecht genannt hatte, anerkennt nicht die Vorrechte des Verwundeten und des Arztes, die Unterscheidung |26|des friedlichen und des kämpfenden Teiles der Bevölkerung, die Ansprüche des Privateigentums.«21
Es war dieser Krieg, der wesentlich zur Präzisierung und Verbreitung des Begriffs des Traumas22 beitrug, ein Begriff, der bis dahin auf mindestens auch innerpsychisch verursachte, vor allem, frühkindliche Schädigungen hinwies.
Erfahrungen seelischer Verwundungen und Krankheiten unterstellen ein Substrat, genauer einen psychischen und somatischen Organismus, der erkranken kann. Die Janusköpfigkeit der Freudschen Psychoanalyse, die sowohl symboltheoretisch als auch evolutionsbiologisch verfährt, hat von allem Anfang an Wert auf eine naturwissenschaftlich-physiologische Verankerung ihrer Annahmen gesetzt. Diese lange Zeit auch vom Fach selbst belächelten und einem überholten Wissenschaftsverständnis zugeschriebenen, das eigene Vorhaben sträflich verkennenden Annahmen haben freilich inzwischen vor allem durch die neuere, evolutionspsychologische23 und gehirnphysiologische24 Forschung eine unerwartete Rehabilitierung erfahren. Wie sich von der Evolution zum sinnhaften Deuten auch und gerade der leiblichen Vollzüge gedrängte Wesen im Zusammenleben mit anderen, deren Bestrebungen den ihrigen womöglich entgegengesetzt sind, auf Formen des Nebeneinanderher- und auch Miteinanderexistierens einigen können und was geschieht, wenn ihnen diese Einigung je und je mißlingt, war ein Thema, das Freud unter der Überschrift »Das Unbehagen in der Kultur« in besonderer Weise beschäftigt hat. Diese Vermutung provozierte von allem Anfang an mindestens so viel Unglaube und Abwehr wie die Lehre vom »Todestrieb«.
Das siebte und das achte Kapitel befassen sich unter der Überschrift »Masse und Faschismus« sowie »Kritik des Kommunismus – das Ende der letzten Illusionen« mit den politischen Konsequenzen von Freuds Kulturtheorie, und versuchen Freud als politischen Theoretiker zu lesen.|27|Bei aller Anerkennung der gesellschaftsanalytischen Kraft von Freuds Kulturtheorie ist ihr von namhaften Gesellschaftstheoretikern immer wieder vorgeworfen worden, mit ihrem letztlich auf Individuen und allenfalls Gruppen bezogenen Ansatz gesellschaftliche Strukturprobleme nicht angemessen begreifen zu können.
Aber lassen sich autoritäre und totalitäre politische Bewegungen, wie die, gegen die Freud selbst sein ganzes Leben ankämpfte und unter denen er bis zum Ende seines Lebens zu leiden hatte, ohne eine Theorie des Unbewußten überhaupt erklären? Mit der Frage nach einer psychoanalytischen Theorie des Antisemitismus steht aber mehr auf dem Spiel als nur ein sozialpsychologisches Erklärungsmodell – in dieser Frage wird, wenn auch nur indirekt, eine der nach wie vor heikelsten Fragen in bezug auf die Psychoanalyse als Wissenschaft neu aufgenommen, nämlich die Frage nach ihrem jüdischen Charakter.
Unter der Überschrift »Eine jüdische Wissenschaft?« führt das neunte, das abschließende Kapitel in neuere philosophische und kulturwissenschaftliche Debatten ein, die sich der Frage stellen, in welchem Sinn ein Wissenschaftsmodell, das ja allgemeine humanwissenschaftliche Gültigkeit beansprucht, einem durchaus partikularen Kontext entstammen kann. Tatsächlich waren ja nicht nur Freud, sondern auch die überwiegende Mehrheit seiner frühen Schüler Juden. Freud selbst war dieser Umstand bewußt, und er hat sich bis zum Ende seines Lebens bemüht, den Sinn des Judentums und seiner Kulturbedeutsamkeit zu ergründen. Vor dem Hintergrund der Vernichtung des europäischen Judentums und vor allem von sechs Millionen europäischer Juden fragt sich, ob die nationalsozialistische Denunziation dieser »jüdischen« Wissenschaft, die in den Bücherverbrennungen vom Mai 1933 und der Vertreibung jüdischer Wissenschaftler aus Deutschland und dann Österreich ihren ersten Ausdruck |28|fand, mindestens in ihrer Feindansage etwas Richtiges getroffen hat.25 Es war nur zu verständlich, daß die ersten Reaktionen auf diese Barbarei darin bestanden, jenen schwer erläuterbaren jüdischen Kontext der Psychoanalyse für eine der Sache nach eher unerhebliche Randbedingung zu halten. Hier hat sich der Wind gedreht: Mindestens was seine Ursprünge – sei es der Menschenrechte oder der hermeneutischen Geisteswissenschaften – betrifft, scheut sich ein sich selbst konstituierendes europäisches Kulturbewußtsein keineswegs, selbstbewußt auf seine christlichen Ursprünge zu pochen. Ist es ebenso denkbar, daß der Beitrag des Judentums zur europäischen Kultur – das Christentum und weitere theologische Aspekte ausdrücklich ausgeklammert – nicht zuletzt in der Psychoanalyse bestand? Daß sie also in der Tat auf der jüdischen religiösen Tradition und dem Schicksal der europäischen Juden geschuldeten Fundamenten beruht? Das letzte Kapitel geht diesen Fragen und Debatten nach und beschließt damit die Darstellung der Psychoanalyse als einer Anthropologie im Lichte jenes 20. Jahrhunderts, dem das europäische Judentum einen furchtbaren Preis zu entrichten hatte. Eine kurze Schlußbetrachtung faßt den Gang der Argumentation zusammen.|29|
1.
Mensch werden
Die modernen Biowissenschaften scheinen einzulösen, was Michel Foucault in seiner »Ordnung der Dinge« schon 1966 postuliert hatte: daß nämlich der undurchschaut normative Begriff des »Menschen« eine neuzeitliche Erfindung sei und langsam verschwinden werde.1 Foucaults programmatische Abkehr vom Humanismus berührt einen Begriff vom »Menschen«, der stets normative und das heißt in letzter Instanz ethische Konsequenzen hatte.
Die Tatsache seines Verschwindens muß einer Humanwissenschaft, die sich nach Foucault noch immer nicht vom Schock einer historisch gerichteten Dekonstruktion von Alters- und Geschlechtsrollen in der Folge von Philippe Ariès, Elisabeth Badinter oder auch Judith Butler2 erholt hat, naiv erscheinen. Deren Untersuchungen, durch die scheinbar selbstverständliche ontologische Voraussetzungen wie jene, daß es Kinder, biologische Geschlechter, ja sogar Menschen gebe, über den Hinweis auf die Historizität der einschlägigen Vokabularien und die Relativität der entsprechenden Praxen erschüttert wurden, wirken als normative Verunsicherung nach. Gleichwohl zehren auch die sich herrschaftskritisch gebenden kulturrelativistischen Auflösungen lebenslaufbezogener Bezeichnungen wie »Frau«, »Mann«, »Kind« oder »Jugendlicher« in ihrer Herrschaftskritik von einem normativen, oft genug pädagogischen Substrat.3 Tatsächlich setzt – spätestens seit Rousseau – jede Reform erzieherischer Praxis stets eine normativ bestimmte, aufs biologische Substrat bezogene Perspektive voraus. Diese Perspektive muß normativ |30|sein, sonst könnte sie ihrem kritischen Anspruch nicht gerecht werden, sie muß aber auch biologisch gerichtet sein, da sie sonst ihre Phänomene verlöre.
Dieser Einsicht will sich auch die historisch verfahrende Kindheitsforschung nicht völlig zu entziehen, bleibt dabei jedoch auf halbem Wege stehen, als sie das überhistorische Substrat, den kindlichen Leib, individualisiert, anstatt ihn dort zu positionieren, wohin er der Sache nach gehört: in ein zunächst biologisch zu betrachtendes Generationenverhältnis: »Wenn die Kindheit als ein genuin soziales Phänomen betrachtet und als institutionalisiertes Konstrukt von der Wirklichkeit der Kinder unterschieden wird, ist daher die Differenz zwischen der Kindheitssemantik und der vorsprachlichen Leiblichkeit der menschlichen Neulinge als Grenze und Bezugspunkt immer mitzudenken.«4
Dieser Bezug auf die Leiblichkeit des Kindes – so argumentiert diese Forschungstradition – sei ein fruchtbarer Anknüpfungspunkt für weitere sozialwissenschaftliche Forschung.
Pädagogische Anthropologie5 hat als sachlichen Kern die Zeitlichkeit des menschlichen Lebens. In ihrer Perspektive stehen Phänomene wie Plastizität, Mündigkeit oder Bildsamkeit, Lernfähigkeit, Ausdrucks- und Kommunikationsfähigkeit im Zentrum, ein genauerer Blick offenbart indes sogleich, daß all diese Begriffe direkt oder indirekt auf das Phänomen der Entwicklung und damit auf die Zeitgestalt des Menschen bzw. auf die von ihm zu gestaltende Zeit bezogen sind. Damit scheint eine Existenzphilosophie des Lebenslaufs ins Zentrum des Interesses zu rücken, die zwischen den beiden Polen von »Sterblichkeit« im Sinne Heideggers und »Geburtlichkeit« im Sinne Arendts nicht nur vom Vorlauf ins Ende und auch nicht nur vom jeweiligen Neubeginn bzw. der Beheimatung von Neuankömmlingen in der Welt auszugehen hätte, sondern von der eigenständigen oder be|31|gleiteten Gestaltung der Einheit einer menschlichen Lebensgeschichte.
Das Substrat dieser Lebensgeschichte, das Impulse zur Veränderung des menschlichen Individuums durch dieses selbst sowie durch seine signifikanten Anderen vorgibt und damit überhaupt erst ermöglicht, ist des Menschen Körper, den er als seinen ausdruckshaften, sich auch ohne seinen Willen verändernden Leib erlebt und bewohnt. Des Menschen Körper, sein Leib, der mehr und anderes ist als sein Gehirn, hat bisher, bei aller geschichts- und kulturrelativen Unterschiedlichkeit, Phänomene der Bildung, Entwicklung und Erziehung markiert.
Ob der menschliche Leib heute, im anbrechenden Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, noch jene naive Spontaneität aufweisen wird, die bisher die Gestaltung von Leib und Leben ermöglichte und erzwang, muß derzeit mit einem Fragezeichen versehen werden. Womöglich naht mit dem Ende des »Menschen« in seinem alten Begriff auch das Ende dessen, was als »Bildung« und »Pädagogik« wir uns zu bezeichnen angewöhnt haben. Allerdings: Vor einem endgültigen Abgesang ist es sinnvoll, sich noch einmal dieser Leiblichkeit theoretisch zu versichern, dabei aber – anders als die Phänomenologie – den kindlichen Leib nicht isoliert zu betrachten, sondern ihn in jenes Verhältnis zu stellen, in dem alleine er erst seine Bedeutung gewinnt: in das Generationenverhältnis, in eine ganz besondere »Bezogenheitsstruktur«: Aus anthropologischer wie aus gesellschaftlicher Perspektive wird die generative Differenz durch die »Entwicklungstatsache« der Zweizeitigkeit der menschlichen Entwicklung konstituiert. »Groß« – so die psychoanalytische Pädagogin L. Winterhager-Schmidt – »sind diejenigen, die in der Lage sind, ›Kleine‹ zu zeugen. Das können ›Kleine‹ noch nicht … Das genealogische Generationenverhältnis ist allen anderen Generationsverhältnissen vorgelagert. Es ist |32|unlösbar verknüpft mit der körperlichen Zweigeschlechtlichkeit des Menschen. Geschlechterdifferenz ist Voraussetzung für Generativität und Generation.«6
Damit wurzelt die Geschichte einer sich selbst gar nicht anders denn historisch verstehen könnenden Menschheit in der Naturgeschichte nicht nur der eigenen Gattung, sondern mindestens in jener der warmblütigen Säugetiere. Die sexuelle und zweigeschlechtliche Vermehrung tierischer Gattungen vollzieht sich durch die Verschmelzung des Erbguts zweier sexuell differenter, zeugungs- und gebärfähiger, nicht zwittriger Partner. Dabei gilt die Sexualität auch einer strikt biologischen Betrachtungsweise inzwischen nicht mehr ausschließlich als Motor der Replikation des Erbguts, sondern als ein Verfahren für das Reparieren und Variieren individueller Erbprogramme.7