Über den Autor
Dr. Reinhard Winter, geboren 1958, arbeitet seit über 20 Jahren in der Jungen- und Männerberatung und in der Jungenforschung. Der Vater einer Tochter und eines Sohnes ist Diplompädagoge und in der Leitung des Sozialwissenschaftlichen Instituts Tübingen (SOWIT). Er arbeitet in der Qualifizierung von Lehrern und Fachkräften der Sozialarbeit zu Jungenthemen und führt Projekte in Schulen, in der Jugendarbeit und mit Eltern zu den Themen Lebensplanung/Beruf, Aggression/Gewalt, Körper/Gesundheit/Sexualität durch. Außerdem ist er Mitherausgeber eines Handbuches zur Jungengesundheit und Autor verschiedener anderer Bücher zu Jungenthemen.
Impressum
Besuchen Sie uns im Internet
www.beltz.de
Dieses Buch ist auch als Printausgabe erhältlich:
(ISBN 978-3-407-85931-0)
Wichtiger Hinweis
Die im Buch veröffentlichten Ratschläge wurden mit größter Sorgfalt und nach bestem Wissen vom Autor erarbeitet und geprüft. Eine Garantie kann jedoch weder vom Verlag noch vom Verfasser übernommen werden. Die Haftung des Autors bzw. des Verlages und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- oder Vermögensschäden ist ausgeschlossen. Wenn Sie sich unsicher sind, sprechen Sie mit Ihrem Arzt oder Therapeuten.
Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52 a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt und in ein Netzwerk eingestellt werden. Dies gilt auch für Intranets von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen.
© 2011 Beltz Verlag, Weinheim und Basel
Umschlaggestaltung: www.anjagrimmgestaltung.de, Stephan Engelke (Beratung)
Umschlagabbildung: © Andre Zelck
E-Book: Beltz GmbH Bad Langensalza, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-22333-3
3 4 5 15 14 13
Inhalt
Einführung
1 Jungen erklären und verstehen
Was ist eigentlich ein Junge?
Jungen sind etwas Besonderes
Jungen verstehen
Männlichwerden und -sein. Die Bedeutung frühkindlicher Bindungen
Der Junge und seine Mutter: Muttersöhne
Der Junge und sein Vater: Vatersöhne
Mutter, Vater, Sohn – der Junge im familiären Dreieck
Aufgabenbeziehung – wie Jungen in Beziehung sind
Das Männliche im Jungenkörper
Testosteron – ein Stoff, der es in sich hat
Einblicke ins Jungengehirn
Jungen und Gefühle
Männlichkeit und Jungesein – eine gesellschaftliche Perspektive
Was ist Männlichkeit?
Jungen lernen das Männliche
Jungen in der Schule
2 Zehn Tipps zum Umgang mit Jungen
Die Gebrauchsanweisung für die Gebrauchsanweisung
Gebrauchsanweisung Nr. 1:
Nehmen Sie wahr, was für ein Junge dieser Junge ist
Neugierig sein!
Was Ihre Wahrnehmung über Sie selbst verrät
Anerkennung
Gebrauchsanweisung Nr. 2:
Machen Sie sich Ihre Jungen- und Männerbilder klar
Männlichkeitsbilder ins Bewusstsein holen
Gutes Männlichsein
Gebrauchsanweisung Nr. 3:
Nehmen Sie sich Zeit für Ihren Jungen
Alltagszeiten und besondere Zeiten
Jungenzeit haben und sich einrichten
Gebrauchsanweisung Nr. 4:
Tun Sie was mit dem Jungen
Tun ist gut – und wird leider oft ausgebremst
Varianten des Tuns
Sie tun mit!
Tun und Körper
Mit Jungen reden
Gebrauchsanweisung Nr. 5:
Interessieren Sie sich für Ihren Jungen und für das, was Jungen interessiert
Die Qualität von Interesse
Interessieren und interessieren lassen
Gebrauchsanweisung Nr. 6:
Lassen Sie die Kräfte spielen – suchen und bieten Sie Arenen der Konkurrenz
Risiken und Nebenwirkungen
Die Kräfte spielen lassen!
Sieger und Verlierer und …?
Nicht nur kämpfen
Gebrauchsanweisung Nr. 7:
Setzen Sie Grenzen und bleiben Sie in Kontakt
Den Boden für Grenzen bereiten
Grenzen setzen aus Liebe
Grenzen begründen
Grenzen setzen – nicht ganz einfach
Strafe muss nicht sein
Grenze am Ende?
Gebrauchsanweisung Nr. 8:
Nehmen Sie die Kompetenzen des Jungen wahr
Probleme und Inkompetenz als Männlichkeitskonflikt
Der kritische Blick auf Jungen
Kompetenz wahrnehmen und mitteilen
Gebrauchsanweisung Nr. 9:
Stellen Sie dem Jungen Aufgaben
Aufgabenqualitäten
Größere Aufgaben
Wie sag ich’s meinem Jungen?
Gebrauchsanweisung Nr. 10:
Nehmen Sie die Themen Ihres Jungen wahr
Themen wahrnehmen und Jungen unterstützen
Jungenthemen
Nachwort
Zum Weiterlesen
Adressen und Internet-Links
Einführung
Wir beglückwünschen Sie zum Erwerb Ihres Jungen und wünschen Ihnen schöne Stunden mit ihm. Bitte machen Sie sich vor dem Gebrauch mit seinen Besonderheiten und seiner Bedienung vertraut. Beachten Sie unbedingt die Hinweise, die wir Ihnen auf den folgenden Seiten geben. Sollte es trotzdem Probleme geben, schalten Sie sich auf den Geduldmodus.
Gebrauchte Jungen können leider nicht zurückgenommen werden. Auch wenn Sie die Gebrauchsanweisung genau befolgen, können wir keine Garantie für Ihren Jungen übernehmen.
Brauchen Sie, brauchen Väter und Mütter eine solche Gebrauchsanweisung für Jungen? Wohl kaum. Selbstverständlich ist der Begriff »Gebrauchsanweisung« in Anführungszeichen zu lesen: Jungen sind keine Geräte oder Maschinen, sie werden nicht in Betrieb genommen, benutzt und abgeschaltet. Und dennoch: Wäre es manchmal nicht gut, eine genaue Anleitung für die Jungenerziehung, eine Art Rezeptbuch mit Erfolgsgarantie zu besitzen? Vielleicht schon – aber glücklicherweise gibt es das nicht. Erziehung ist immer ein abenteuerliches und offenes Unterfangen, ein Versuch. Ob er wirkt und erfolgreich ist, zeigt sich erst nach Jahren.
Die Sache mit der Erziehung ist schwierig genug. Viele Eltern sind verunsichert darüber, wie sie mit Jungen umgehen sollen, ob und wie sie sie erziehen können. Die Jungen selbst wirken in Bezug auf ihr Jungesein manchmal irritiert und sehnen sich nach Orientierung und Klarheit. Die Ursache dafür liegt weder bei den Eltern selbst noch bei ihren Söhnen. Das Bild von Jungen und der Blick auf sie haben sich innerhalb weniger Jahrzehnte gravierend verändert. Im gleichen Maß fehlt es Eltern an Orientierung.
Seit etwa 20 Jahren nimmt das Interesse an Jungen ständig zu. Nachdem die Medien das Phänomen der »benachteiligten Jungen« geschaffen haben, hat sich das Interesse an Jungenthemen nochmals verstärkt. Mittlerweile sind bereits Rückkoppelungseffekte festzustellen: Die Berichterstattung heizt die Problematisierung an; normale, kompetente, gut entwickelte Jungen geraten zunehmend aus dem Blick. Das Gerede von der Jungenkrise stürzt Jungen erst in sie hinein. Die armen, benachteiligten Jungen werden nur noch bedauert. Jungen, die Verlierer? Die Jungenkatastrophe? Jungen, das schwache Geschlecht? Das ist ja schrecklich! Medien verallgemeinern und dramatisieren gerne die Extreme. Phasenweise wird jeder Junge potenziell als Krimineller, als Schläger oder Attentäter gesehen, dann wieder als durchgängig Kranker, psychisch Labiler oder sicherer Schulversager ohne jede Zukunft. Dazwischen gibt es nicht viel, vor allem keinen Platz für eine realistische und einfühlsame Sichtweise auf Jungen. Bei Eltern werden durch solche Dramatisierungen Ängste geschürt. Sie befürchten, dass ihr Junge chancenlos bleibt oder abgleitet. Und dass sie am Ende dafür zur Verantwortung gezogen werden.
Die armen Jungen, wie können wir ihnen nur helfen? Eines ist sicher: So nicht. Die problematisierende Sichtweise auf Jungen schadet ihnen. Mitleidige Blicke von Eltern, Lehrerinnen und Lehrern und anderen Erziehenden machen Jungen nicht glücklicher, sondern wehleidig und passiv: Als Benachteiligte müssen sie ja keine Verantwortung für ihr Elend übernehmen. Wenn sie sowieso Versager sind, gibt es keinen Anlass, etwas anderes anzustreben.
Also genug gejammert und geklagt. Es ist Zeit für eine andere Perspektive. Glauben Sie es nicht, dass alle Jungen es besonders schwer haben und dass es für Eltern mit Jungen so außerordentlich schwierig ist. Das ist Unsinn. Es funktioniert eher umgekehrt: Die Annahme, Jungenerziehung sei schwierig, kann zur Folge haben, dass sich Probleme einstellen. Unweigerlich machen sich bei Eltern Befürchtungen, Konfusion und Verspannungen breit. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Jungen, die mit solchen Erwachsenen zu tun haben, problematisch werden.
Die Sache kann entspannter angegangen werden. Generell gilt: Jungen sind nicht schwierig, weil sie Jungen sind. Es ist umgekehrt: Jungen in schwierigen Situationen reagieren mit problematischen Formen des Männlichseins. Natürlich hat sich das Jungesein verändert. Selbstverständlich sind alte Männlichkeitsvorstellungen überholt – ja und? Das ist ein großer Vorteil, kein Grund zu jammern. Veränderung und Offenheit schaffen Platz für Neues. Diese Freiräume gilt es in der Jungenerziehung zu nutzen. Verunsicherungen bei Eltern und ihr Bedürfnis nach Orientierung gehören unbedingt dazu: Sie sind Belege dafür, dass sich etwas verändert hat. Aber mit diesen Veränderungen kann umgegangen werden!
Um die aufgeregte Problemsicht auf Jungen zu verlassen, muss die Blickrichtung geändert werden: weg von Ausnahmen und dramatisierten Zuspitzungen hin zu den »wirklichen« Jungen. Dieser Perspektivwechsel hat allerdings einen Nachteil: Je genauer Jungen in den Blick genommen werden, desto vielschichtiger zeigt sich das Thema. Anders als reduzierte Darstellungen in den Medien wird es also etwas komplizierter. Dafür braucht es eben den Raum eines Buches.
Zu diesem Buch
Mit »Gebrauchsanweisung« ist hier etwas anderes gemeint, als bei einem technischen Gerät notwendig wäre. Ziel des Buchs ist es vielmehr, eine Art Wegweiser zu Jungen und durch die Jungenerziehung zu sein. Es soll Ihnen Antworten geben auf die Fragen: Warum sind Jungen so? Was brauchen Jungen? Was brauchen sie von mir? Wie mache ich es als Vater oder Mutter richtig?
Eines ist dabei sicher: Jungen brauchen Sie! Damit dreht sich der Spieß um: Diese Gebrauchsanweisung wird zu einer Anleitung für Sie selbst, damit Sie dem Jungen nützen und damit er Sie (ge)brauchen kann. Als Vater oder Mutter dienen Sie der Entwicklung des Jungen. In diesem Sinne können Sie das Buch als Be-Dienungsanleitung lesen. Selbstverständlich sollen Sie nicht der Diener Ihres Jungen werden (sondern Vater oder Mutter); aber das Buch soll Sie darin unterstützen, Ihrem Sohn zu nützen.
Eigentlich braucht es nur zwei Dinge, um Jungen gut erziehen zu können: Jungen müssen verstanden werden, und Erziehende brauchen Ideen dafür, was sie praktisch tun können und wie sie das machen. Dementsprechend hat das Buch zwei Teile mit eben diesen Schwerpunkten:
-
Im ersten Teil erfahren Sie, was im Jungen steckt, wie er »funktioniert«, was ihn geschlechtlich ausmacht: also Erklärungen, um Jungen zu verstehen, warum Jungen so sind und warum es ihnen guttut, wenn sie nach der »Gebrauchsanweisung« behandelt werden. Dieser Teil hilft Ihnen, zu begreifen, auf welche Art Jungen männlich sind, was die Konflikte und Herausforderungen »als Jungen« sind, denen sie sich stellen müssen.
-
Im zweiten Teil geht es um die praktischen Ansätze, die Frage, was bei der »Bedienung von Jungen« zu beachten ist. Damit werden Ihnen konkrete Handlungsideen und -vorstellungen geboten, um mit Jungen gut umgehen zu können und um das Richtige zu tun.
Hinter der Frage »Was soll ich denn tun?« verbirgt sich oft das Interesse am Grund: »Warum soll ich es tun?« Wenn Ihnen das nicht so wichtig ist: Überspringen Sie die Passagen im ersten Teil, die Sie jetzt nicht interessieren. Vielleicht lesen Sie diese dann später einmal, vielleicht nie. Andererseits helfen Verstehen und Erklären oft dabei, das Richtige zu tun: ganz spontan, aus sich heraus. Aus beiden Teilen können Eltern Orientierung ziehen und ihre Positionen entwickeln. Sie haben damit nicht die Wahrheit, aber Standpunkte; Sie können Jungen Leitlinien und Angriffsflächen bieten.
In diesem Buch geht es um Jungen hauptsächlich im Alter von null bis etwa dreizehn Jahren. Danach ist Pubertät angesagt, und das heißt oft Ablösung, Distanz, Beziehungsveränderung. Viele Informationen in diesem Buch helfen Ihnen wahrscheinlich auch über die Pubertät hinweg. An einigen Stellen gehe ich direkt auf dieses Thema ein, aber im Wesentlichen geht es eher um das, was vor der Pubertät stattfindet.
Die Wirklichkeit von Jungen ist vielfältig und komplex. Normalität gibt es praktisch nicht. Dennoch beschränke ich mich in der Hauptsache auf Jungen in relativ gewöhnlichen Situationen: Ich beziehe mich auf Jungen mit einer Mutter, einem Vater, auf Eltern und ihren Sohn. Ich beschreibe eher Verhältnisse in der Mittelschicht. In dieser tendenziellen Normalität sind Vater und Mutter heterosexuell orientiert. Weitergehende Differenzierungen wie etwa Jungen in schwulen oder lesbischen Paarbeziehungen oder die Situation von Jungen aus Migrantenfamilien wären sicher wichtig und interessant. Sie müssen hier aber ausgeblendet bleiben – aus Platzgründen, aber auch deshalb, weil mir dazu die fachliche Kompetenz fehlt.
Nebenbei: Vieles, worum es bei Jungen geht, gibt es auch bei Mädchen. Wenn es für Jungen und das Jungesein wichtig ist, steht es in diesem Buch. Dass es für Mädchen auch bedeutsam sein kann, schreibe ich nicht dazu. Vieles, was Jungen guttut, bekommt auch Mädchen. Im Mittelpunkt dieses Buchs steht jedoch das auf Jungen Bezogene.
Natürlich gibt es bereits Bücher zu Jungen und über Jungenerziehung. Bei Vorträgen, Seminaren oder in Beratungen fragen mich Väter und Mütter häufig danach, was ich zum Weiterlesen empfehlen kann. Das, was mir wichtig ist, finde ich nirgends umfassend wieder. Bisher gab es auch kein Buch, das ich guten Gewissens empfehlen konnte; zu jedem Titel musste ich etwas Einschränkendes hinzufügen (»Das ist nicht schlecht, aber dieses oder jenes stimmt einfach nicht«). Und meistens ging die Richtung des Buches zu stark in die eine, die traditionelle, oder in die andere, die »Arme Jungen«-Richtung; oder es war als fast beliebige Anhäufung von Erziehungstipps speziell für Jungen unbrauchbar.
Die Idee zu einer »Gebrauchsanweisung für Jungen« entstand bei Vorträgen, die ich vor Eltern gehalten habe. Anfangs habe ich mich davor gedrückt, Hinweise darauf zu geben, was konkret getan werden soll. Wenn Jungen verstanden werden, so dachte ich, wird von selbst deutlich, was zu machen ist. Allerdings kamen im Anschluss dann immer Fragen: »Was mache ich, wenn …?« Und dann habe ich doch konkrete Vorschläge gemacht. Allmählich stellte sich heraus, dass es genau diese Kombination aus Verstehen und Handelnkönnen ist, die Eltern bei der Jungenerziehung die nötige Orientierung geben kann.
Vielleicht fragen Sie sich beim Lesen, woher das kommt, was da geschrieben steht. Selbstverständlich beruht nicht alles, worüber ich hier schreibe, auf meinen eigenen Erkenntnissen. Indirekt wirkten so gesehen viele an dem Buch mit: meine Kollegen aus der Jungenarbeit und -forschung, Fachleute aus Psychologie, Pädagogik und Soziologie. Der besseren Lesbarkeit halber verzichte ich auf jegliche Quellenangaben und Zitate; im Anhang finden Sie aber Bücher zum Weiterlesen. Daneben speist sich das Wissen, aus dem heraus dieses Buch entstand, vor allem aus meinem Erfahrungshintergrund:
-
Da ist zunächst meine über 20-jährige berufliche Erfahrung in der Arbeit mit Jungen (einige davon sind mittlerweile selbst Väter): in der Jungenberatung, in der Jugendarbeit und auch in der Schule – obwohl ich kein Lehrer bin; deshalb stammen meine schulischen Erfahrungen eher aus thematischen Projekten mit Jungen zu den Themen Sexualpädagogik, Aggressionskultivierung, soziale Kompetenz.
-
Seit vielen Jahren arbeite ich auch mit Männern und Frauen, die ihrerseits mit Jungen arbeiten: Ich berate und qualifiziere Lehrerinnen und Lehrer, Jugendarbeiterinnen und Jugendarbeiter, Beraterinnen und Berater. Bei diesen Menschen reichert sich viel gebündeltes Wissen an, von dem ich und alle Teilnehmenden in den Weiterbildungen profitieren.
-
Immer wieder habe ich auch mit Eltern zu tun, in der Elternbildung und bei Vorträgen. Für dieses Buch habe ich Eltern auch gezielt gefragt: Was würden Sie gern über Jungen wissen? Welche Themen müssten in so einem Buch auftauchen? Viele der Fragen und Antworten sind ins Buch eingeflossen. Danke für Ihre Beiträge!
-
Jungen interessieren mich seit längerer Zeit auch als Forschungsgegenstand. Deshalb finden sich auch Ergebnisse unserer eigenen Jungenforschung im Buch wieder.
-
Schließlich gibt es da noch Erlebnisse und Erfahrungen mit Jungen im privaten Umfeld, nicht zuletzt mit unseren eigenen Kindern, mit deren Freunden, mit Patensöhnen und Söhnen von Freundinnen oder Freunden.
Bei allen, mit denen ich Erfahrungen machen durfte, und bei den vielen, die das Entstehen des Buches unterstützt haben, möchte ich mich an dieser Stelle von Herzen bedanken.
TIPP: MACHEN SIE FEHLER!
Glauben Sie bitte nicht, man könne im Zusammenleben oder auch beim Arbeiten mit Jungen alles richtig machen (auch mir passieren laufend Fehler und ich bemerke es meist zu spät). Einen Jungen zu erziehen bietet ein unerschöpfliches Reservoir an Möglichkeiten, etwas falsch zu machen. Manche Väter und Mütter, denen ich Teile des Buchs vorab zum Lesen gab, bekamen ein schlechtes Gewissen und den Eindruck, bisher nur Fehler gemacht zu haben. Das ist Unsinn. Wenn Ihnen solche Gedanken beim Lesen des Buchs kommen: Vergessen Sie das schnell. Denn umgekehrt haben Sie jede Menge Chancen, etwas richtig zu machen.
Ganz sicher werden Sie auch Fehler machen. Das ist sehr schön, denn worüber soll sich Ihr Sohn aufregen, wenn Sie perfekt sind? Was sollte er später besser machen wollen, wenn Sie alles schon bestens erledigen? Also bitte: Machen Sie Fehler!
Erlauben Sie es sich, dass Fehler vorkommen. Und lernen Sie aus Fehlern, dazu sind sie da. In den meisten Fällen überwiegt aber das richtig Gemachte, und die Fehler verlieren dabei an Gewicht. Durch richtiges Verhalten und durch Fehler können Sie viel zum Gelingen der Entwicklung Ihres Sohnes beitragen. Machen Sie es in der Erziehung Ihres Jungen einfach so gut Sie können!
Teil01
Was ist eigentlich ein Junge?
Das Phänomen »Junge« werden wir aus drei unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten:
-
aus einer psychodynamischen Perspektive, die sich im Dreieck von Mutter, Vater und Junge bewegt;
-
mit einem Blick auf Körper und Biologie, besonders auf das Hormon Testosteron und das, was im Jungengehirn von Bedeutung ist;
-
und im Hinblick auf gesellschaftliche Aspekte der Männlichkeit.
Diese drei Perspektiven sind im wirklichen Leben überlagert. Sie bilden einen gemeinsamen Zwirn des Jungeseins. An vielen Stellen ist der Zwirn so verfilzt, dass nicht mehr erkennbar ist, welcher Faden dabei ursprünglich an welcher Stelle lag. Darin liegt eine Ursache dafür, dass das Jungenthema nicht ganz einfach ist. Außerdem gibt es leicht Streit, wenn eine Perspektive als alleinige Wahrheit betrachtet wird. Die Kunst, Jungen zu verstehen, liegt darin, sich in den verschiedenen Ansichten bewegen zu können, Jungen mal von dieser, mal von jener Seite zu betrachten – und dabei nicht zu vergessen, dass das Jungesein zwar etwas alle Jungen Verbindendes ist, aber trotzdem jeder Junge anders und individuell ist. Etwas verwirrend für den Anfang? Kein Grund zur Beunruhigung, es lässt sich auflösen und ist gar nicht so schwierig.
Stellen Sie sich vor, ein Alien aus dem Weltraum besucht Sie. Er erfährt, dass Sie mit einem Jungen zusammenleben, und fragt interessiert: Ein Junge? Was ist das? Wenn ich in der Arbeit mit Eltern oder Erziehenden diese Frage stelle – »Was ist eigentlich ein Junge?« –, erhalte ich meist Antworten darauf, wie Jungen erlebt werden oder wie sie angeblich sind, also zum Beispiel aktiv, draufgängerisch, hippelig, ängstlich und lebendig oder zart und unsicher. Vielleicht sind solche Antworten Hinweise darauf, wie Erwachsene Jungen wahrnehmen oder wie sie vermuten, dass Jungen sind. Denn meistens ergänzt dann auch eine Mutter oder ein Vater: »Aber mein Junge ist ganz anders.« Also reicht diese Antwort nicht aus, und die spannende Frage nach dem Jungesein ist damit nicht beantwortet. Also: Was sind Jungen?
Es gibt drei Merkmale, die – sofern sie alle zutreffen – den Begriff »Junge« von allem anderen abgrenzen:
-
JUNGEN SIND MENSCHEN
Zunächst gehören sie zu einer bestimmten Gattung: Jungen sind Menschen. Diese Feststellung ruft bisweilen Erheiterung hervor, es ist ja doch selbstverständlich. Für unser Verständnis von Jungen hat diese Eigenschaft aber Bedeutung. Jungen sind weder Tiere, die dressiert, Pflanzen, die gezüchtet, oder Maschinen, die programmiert werden können. Sie funktionieren nicht über ein Input-Output-Schema, es passiert etwas in ihnen selbst. Zum Menschsein gehört die Individualität, das Menschliche ist immer etwas Persönliches, Individuelles. Das beinhaltet auch Besonderes, was diesen einzelnen Menschen mit anderen verbindet; als Individuen gehören wir zum Beispiel zu einer Nation, wir sprechen mit anderen eine Sprache, es gibt Gemeinsamkeiten in der Hautfarbe oder im Lebensumfeld, wo wir wohnen usw. – und auch im Geschlechtlichen. Menschen haben viel Gemeinsames mit anderen Menschen, Jungen zum Beispiel auch mit Mädchen oder mit erwachsenen Männern. In diesem Buch geht es um Jungen als Jungen. Weil Jungen aber (auch) Menschen sind, gibt es vieles, was bei Jungen und Mädchen gleich ist: Sie haben Hunger und Durst und brauchen etwas zu essen oder zu trinken; sie brauchen Liebe, Aufmerksamkeit, Anerkennung, Zärtlichkeit. Sie nehmen über ihre Sinne wahr, können hören, sehen, riechen, tasten. Sie müssen sauber gemacht werden und lernen, wie sie sich selbst waschen. Sie sind fähig zu kommunizieren, Botschaften in Worten, Bildern oder Buchstaben zu verstehen. Sie können sich in andere einfühlen. Um diese ganze Menge des Allgemeinen soll es hier nicht oder nur am Rande gehen.
-
JUNGEN SIND IN ENTWICKLUNG
Das zweite Merkmal des Begriffs »Jungen« bezieht sich auf die Lebensphase: Jungen sind Kinder oder Jugendliche oder anders gesagt, sie sind noch nicht erwachsen. Wenn Jungen nicht ausgewachsen sind, sollten und können wir nicht Maßstäbe für Verhaltensweisen anlegen, die wir bei Erwachsenen erwarten. Jungen sind noch nicht »fertig«. Sie sind aber auch nicht nur unreif – sie können ja schon viel –, sondern jeweils altersbezogen in Entwicklung begriffen. Diese Entwicklung ist an manchen Stellen gleich, an anderen anders als die der Mädchen (so beginnt beispielsweise der pubertäre Schub bei Jungen im Durchschnitt ein bis zwei Jahre später als bei Mädchen). In Kindheit und Jugend haben Jungen Bedürfnisse, die wir Erwachsenen befriedigen müssen, damit sie sich gut entwickeln können. Gleichzeitig sind Jungen in Kindheit und Jugend nicht nur passiv, sondern in erheblichem Maß auch selbst aktiv, sie sind (Mit-)Gestaltende dieser Lebensphasen. Das bedeutet, dass der Einfluss von Eltern und Erwachsenen zwar groß, aber dennoch beschränkt ist. Jungen haben ihren Eigensinn, ihre Eigenarten und ihr je Spezielles, mit dem sich Erwachsene zumindest zum Teil einfach abfinden müssen (mehr dazu in der Gebrauchsanweisung Nr. 1: Wahrnehmen). Mit dem Aspekt des »Nicht-Erwachsenen« lässt sich der Blick auf Jungen mit einer optimistischen Perspektive verknüpfen: Es ist grundsätzlich möglich, dass der Prozess des Mannwerdens gelingt. Natürlich sind das Jungesein und Mannwerden auch schwierig, sicher gibt es auch problematische Aspekte. Aber am Ende werden aus den allermeisten Jungen tatsächlich »gute Männer«, wenn Kindheit und Jugendphase überstanden sind.
-
JUNGEN SIND MÄNNLICH
Der dritte Gesichtspunkt schließlich ist die Geschlechtszugehörigkeit: Jungen sind männlich. Es wird viel darüber diskutiert und gestritten, was dieses »Männliche« ausmacht. Deshalb ist es notwendig, sich damit zu befassen, und deshalb braucht es ein Buch über Jungenerziehung. Das Männliche ist der zentrale Pol dieses Buches.
ES GIBT NICHT »DIE« JUNGEN – JUNGEN SIND VERSCHIEDEN!
Wenn Sie einen wilden Jungen haben, freuen Sie sich: Sie haben einen wilden Jungen. Ist Ihr Junge zurückhaltend und vorsichtig, haben Sie Glück, denn Ihr Junge ist ein zurückhaltender und vorsichtiger Junge. Wenn Ihr Junge eher sensibel ist, seien Sie froh: Sie haben einen sensiblen Jungen …
Hier stellt sich sofort die nächste Frage: Was ist denn überhaupt »männlich«? Nicht nur Aliens, auch Erwachsene und Kinder fragen sich das. Wieder sind es drei Aspekte, die das Männliche ausmachen oder die ins Männliche hineinwirken: Zunächst ist »Geschlecht« eine wesentliche Seite der Persönlichkeit; das Männliche hängt mit der Person des Jungen zusammen, mit seiner Identität und seinem Selbstgefühl: Diese psychischen Themen des Jungeseins sind das eine Element des Männlichen. Darüber hinaus hängt das Männliche mit dem Körper zusammen, also zum Beispiel mit den Geschlechtsorganen sowie mit Genen und Hormonen. Wer sich für Jungen interessiert, muss sich demnach mit den körperlichen oder biologischen Bedingungen befassen. Drittens ist das Männliche auch etwas Soziales. Es hat beispielsweise mit Erwartungen zu tun, wie Jungen oder Männer sein sollen, mit männlichen Bildern und Idealen oder mit den Formen, wie Jungen darstellen, dass sie männlich sind. Also müssen wir uns den sozialen Fragen des Männlichen ebenfalls zuwenden. Kurz: Drei Dinge machen das Männliche des Jungen aus, nämlich Psyche, Körper und Soziales.
Alle drei Aspekte wirken nicht isoliert, sondern bedingen einander und beeinflussen sich wechselseitig. Jungesein und Mannwerden sind durch diese verschiedenen Stränge etwas Vielschichtiges. Wichtig ist: Jeder ausschließliche Blick auf den einen oder anderen Aspekt ist beschränkt. Einseitig und eingeschränkt kann man keinem Jungen gerecht werden. Denn Jungesein und Mannwerden, aber auch das Verstehen von Jungen sind komplex und bisweilen auch kompliziert. Beruhigend ist, dass es dennoch die allermeisten Jungen schaffen. Sie werden später recht annehmbare Männer, auch wenn das phasenweise undenkbar scheint. Andererseits gibt es Jungen, die große Probleme haben, die sich und anderen heftige Schwierigkeiten machen. Hier kann noch manches verbessert werden – sofern man weiß, wie und wo. Auch dazu will dieses Buch beitragen.
Jungen sind etwas Besonderes
Mit den drei genannten Kriterien haben wir (und der Alien) eine Antwort auf die Frage, was Jungen sind: Jungen sind männliche Menschen in den Lebensphasen von Kindheit und Jugend. Das Männliche entsteht dabei in einem Dreiklang aus psychischen, körperlichen und sozialen Anteilen. In dieses großzügige Raster passt allerhand hinein. So gilt es, den Blick zu schärfen. Je genauer wir hinsehen, desto mehr fällt auf, dass jedes dieser Merkmale enorme Variationen beinhalten kann: Menschen sind verschieden, allein von ihrem Aussehen her oder in ihrem Charakter, ihren Potenzialen, ihrer Biografie usw. Jungen und Männer unterscheiden sich in ihren Körpern, in der Statur und in der Muskelmenge, im Testosteronspiegel; auch in der Art, wie sie das Männliche definieren, was ihnen wichtig ist, wie ihre psychische Gestalt als Junge oder Mann ist usw. Auch die soziale Umgebung, die auf Jungen wirkt, ist ausgesprochen heterogen, denken wir nur an unterschiedliche soziale Schichten, Einkommens- und Bildungsniveaus, ländliche oder großstädtische Strukturen, religiöse Traditionen etc., die alle auch auf Vorstellungen des Männlichen und damit auf Jungen einwirken. Wichtig ist es deshalb, diesen doppelten Blick im Hinterkopf zu behalten: Es gibt unter Jungen Gemeinsames, aber es gibt ebenfalls eine schier unendliche Bandbreite von Variationen.
Kein Junge entspricht dem Durchschnittsfall, jeder ist besonders. Und doch gibt es Verwandtes, Verbindendes unter Jungen.
Auch die fachliche Geschlechterdiskussion ist mittlerweile bei einer einfachen Formel angelangt: Mädchen sind etwas Besonderes und Jungen sind etwas Besonderes. Je genauer dann hingesehen wird, desto eher kommt man zum Ergebnis: Jungen sind von Fall zu Fall verschieden. Wer von »den« Jungen spricht, läuft Gefahr, diese Vielfalt zu übergehen, das Komplexe zu vereinfachen. Bei Pauschalisierungen – also immer, wenn es heißt: »die« Jungen oder gar »alle« Jungen – ist größte Vorsicht geboten; hier werden Unterschiede verschwiegen. Dazu gehört auch die Idee, es gäbe einen Weg des Mannes, die eine und standardisierte Entwicklung vom Jungen zum Mann. Das ist Unsinn. Das einzige wirklich allen Jungen Gemeinsame ist, dass sie sich unterscheiden. Und doch gibt es innerhalb dieser Verschiedenheiten auch verwandte oder gleiche Themen und Aspekte, durch die sich manche oder viele Jungen ähneln. Hier pendeln wir also zwischen einem Blick aufs Verbindende zwischen Jungen und dem Individuellen.
Jungen verstehen
»Ich verstehe den Jungen einfach nicht!«, so klagen viele Eltern und andere Erwachsene, die mit Jungen zu tun haben. Mit zunehmendem Alter scheinen Jungen immer häufiger »anders« zu sein. Wie sie »ticken«, wirkt befremdend. Viele Erwachsene haben den Eindruck, dass sie ihnen entschwinden, weil sie Jungen nicht spontan verstehen können. Und mit dem Beginn der Pubertät wird der Junge noch rätselhafter; konnte er bis dahin gerade noch verstanden werden, dann jetzt anscheinend überhaupt nicht mehr. Hier geben viele Eltern zu schnell auf, indem sie sich darauf fixieren, dass sie den Jungen nicht verstehen.
Kann man Jungen überhaupt verstehen? Aber sicher! Selbstverständlich ist das Verstehen manchmal mühsam, es gelingt nicht aus dem Stand. Und es ist auch beschränkt: Wir können Menschen eben nur bis zu einem gewissen Grad erfassen. Je näher oder ähnlicher sie uns sind, desto mehr haben wir den Eindruck, sie begreifen zu können. Und doch gibt es zwischen Menschen immer einen Punkt, bei dem dieses Verstehen hakt und abreißt. Hier hilft auch gegenüber Jungen Gelassenheit: Es ist weder nötig noch möglich, alles zu verstehen! Aber Jungen in ihrem Jungesein grundsätzlich zu verstehen, das ist erreichbar und gar nicht so schwer. Albern wird es, wenn diese normale Distanz mit Geschlechterklischees überladen und festgeklopft wird, etwa in der Art: »Jungen sind vom Mars, deshalb kann ich sie nicht verstehen.« Vergessen Sie das. Jungen kommen genauso von der Erde wie Sie selbst (sonst wüsste ja der Alien bereits Bescheid!). Sie können verstanden werden, wenn Sie Jungen verstehen wollen.
Aus einem Nichtverstehenkönnen oder -wollen heraus wird leicht über Jungen geurteilt. Oft ist das eher ein Verurteilen: »Jungen sind sexistisch oder gewalttätig«, »Jungen reden nicht über sich«, »Jungen können gar nicht reden«, »Sie können ihre Gefühle nicht zeigen, schon gar nicht, wenn sie Angst haben«, »Jungen machen immer Probleme«. Vielleicht können Sie das noch erweitern? Was Jungen nicht brauchen können, sind derartige Verurteilungen. Sie kommen nicht aus der Verbindung mit Jungen, sondern von oben herab, von einer wertenden oder moralischen Warte. Solche pauschalen Urteile verhindern es, Jungen verstehen und sich auf sie einlassen zu können. Ein Indianersprichwort verdeutlicht dies bildhaft: »Bewahre mich davor, über einen Menschen zu urteilen, ehe ich nicht eine Meile in seinen Mokassins gegangen bin.« In diesem ersten Teil des Buches bewegen Sie sich zwar nicht in den Schuhen Ihres Jungen. Aber Sie begegnen Jungen, indem Sie ihre Situation, ihre Einstellungen und Haltungen verstehen wollen.
Um Jungen gut begleiten zu können, ist es hilfreich, ja notwendig, sie auch in ihrem Jungesein zu verstehen. Das Individuelle erschließt sich Ihnen, wenn Sie den Jungen als Einzelperson kennen. Um Jungen in ihrem Jungesein zu verstehen, hilft es, mehr über Jungen, über ihr Geschlechtliches zu wissen und sich mit diesem Wissen auf Jungen einzuschwingen. Dieses bessere Verstehen erleichtert es, in Verbindung mit Jungen zu sein, Mitgefühl zu empfinden und zu zeigen und Jungen zu lieben.
Wir beginnen mit dem Blick auf die Jungenpsyche, die sich aus der Beziehung zu Mutter und Vater heraus entwickelt.
Männlichwerden und -sein.
Die Bedeutung frühkindlicher Bindungen
Bei den Erfahrungen mit Geschlecht haben in der ersten Lebenszeit des Jungen ganz besonders seine Eltern Bedeutung. Sie legen die Grundsteine für sein geschlechtliches Selbstverständnis, für sein Männlichsein. Um Jungen zu verstehen, ist es deshalb wichtig, diese Beziehungen genauer unter die Lupe zu nehmen. Hilfreich sind dabei Erkenntnisse aus der Psychologie. Wir folgen hier einem psychodynamischen Verständnis, das sich auf erste Beziehungen und Bindungen bezieht und Entwicklungen und Fantasien von Jungen aufnimmt.
Der Junge und seine Mutter: Muttersöhne
Wenn Sie das Wort »Muttersöhnchen« hören, wird Ihnen vor allem eines einfallen: Es ist ein Schimpfwort, mindestens aber ein abwertender Begriff. Jungen sollen damit angestachelt werden, sich von der Mutter und vom Weiblichen abzunabeln und sich nicht zu lange umsorgen zu lassen. In »Muttersöhnchen« ist die Befürchtung gespeichert, ein Junge könnte nicht männlich genug sein, gar »weibisch« werden. Solche Vorstellungen sind heute zwar auf dem Rückzug, aber dennoch bedeutsam: Das Schimpfwort Muttersöhnchen zeigt auch heute noch Wirkung.
Den Gegenbegriff »Vatersöhnchen« gibt es dagegen gar nicht – viel Mutter, das scheint schlimm zu sein, zu viel Vater nicht. Dass jeder Junge ein Muttersohn ist, scheint im Zusammenhang mit Männlichkeit bedrohlich zu sein. Wenn der Sohn das abwertende »Muttersöhnchen« zu hören bekommt, trifft ihn das in seinem Geschlechtlichsein. Meist verweist es auf zu enge Vorstellungen, was Männlichkeit angeht. Nicht nur Jungen oder Männer, auch manche Mütter befürchten, dass ihr Sohn ein Muttersöhnchen werden könnte, wenn sie ihn zu sehr »verhätscheln«. Deshalb bremsen sie sich in ihrer Liebe zu ihrem Sohn. Dazu eine kleine Entwarnung: Zu viel Liebe gibt es nicht! Jede Mutter soll und kann ihren Sohn lieben, so viel und so lange sie will. Allerdings ist überschwängliche Fürsorglichkeit kein Ausdruck von Liebe! Fürsorglichkeit, die den Jungen unselbstständig bleiben lässt, die sich in Sorge und Ängstlichkeit der Mutter äußert oder ihn mästet: Das dient nicht dem Jungen, das ist nicht Ausdruck von Liebe, sondern von Bedürftigkeit der Mutter, die den Jungen benutzt.
Muttersohn von Anfang an
Sobald sich das Ei kurz nach der Zeugung eingenistet hat, ist der Junge mit der Mutter körperlich verbunden. Diese Verbindung ist lebensnotwendig. Sie bleibt es bis zur Geburt, bis die Nabelschnur durchtrennt wird. Ab dem Zeitpunkt seiner Entstehung ist jeder Junge zuerst ein Muttersohn. Er ist auf die Mutter angewiesen, ohne sie gibt es keinen Sohn. Aber ohne die allmähliche Lösung von der Mutter auch nicht: Denn dann bliebe er ja Teil der Mutter. Sich von seiner Mutter abzulösen ist also tatsächlich eine Lebensaufgabe für jeden Sohn. Jungen beschäftigt das in der Kindheit und Jugend mehr oder weniger heftig. Die meisten Jungen und Männer bewältigen die Ablösung spätestens in der Jugendphase; manche Männer schaffen das aber nie, sie bleiben auch als erwachsene Männer emotional mit ihrer Mutter verstrickt.
IM MUTTERBAUCH EIN GENIE ZÜCHTEN?
Pränataler Leistungsstress ist für Mutter und Sohn überflüssig! Sie können sicher sein: Ihr Sohn wird auch (vielleicht sogar eher) ein guter Junge, wenn Sie ihn während seiner Entwicklung im Bauch nicht mit Englischvokabeln oder Bachkantaten belästigen.
Wird die Geschlechtsbestimmung des Jungen vor der Geburt vorgenommen, etwa durch Ultraschall oder mittels Fruchtwasseruntersuchung, ist eine Überraschung durch die Beantwortung der Geschlechter-Kernfrage (Was bist denn du?) ausgeschlossen. Eltern können sich länger auf das Geschlecht des Kindes einstellen, beginnen vielleicht schon in der Schwangerschaft und während der Geburt mit den Zuschreibungen, z. B. »typisch Junge«, wenn sich das Kind heftig bewegt. Allerdings sind die Einflüsse auf das Geschlecht des Kindes nach der Geburt so groß, dass es kaum ins Gewicht fällt, ob Eltern schon vor der Geburt wissen, dass es ein Junge wird.
Die körperliche Verbindung zwischen Mutter und Sohn wirkt auch auf ihre Beziehung. Das Verbundensein zwischen Mutter und Sohn bleibt auch nach der Geburt bestehen. Durch die Zeit im Bauch der Mutter ist ihre Beziehung besonders intensiv – eine innige Bindung zwischen der Mutter und dem kleinen Säugling. Dieser Zustand des engen Zusammenlebens wird als Symbiose bezeichnet. Über seine Mutter ist der Junge auch mit dem Weiblichen verbunden – enger als mit dem Männlichen. Das bleibt so, bis sich der Junge von seiner Mutter ablöst. Aus der Perspektive des Jungen ist während der Schwangerschaft das Männliche weit weg. Es befindet sich in einem viel größeren Abstand als das Weibliche, das ihn ja umgibt. Vielleicht ist das Männliche in seinem Erleben gar nicht vorhanden. Auch nach der Geburt ist dem Jungen das Männliche meistens nicht so nah wie das Weibliche. Deshalb ist für den Jungen und für das Verstehen von Jungen die Frage entscheidend, wie der Junge zum Männlichen kommt.
Das Grundlegende dieser Entwicklung passiert in der frühen und mittleren Kindheit, im Alter zwischen der Geburt und etwa sieben Jahren (Altersangaben sind hierbei schwierig zu bestimmen, weil es um Konstellationen und Entwicklungsaufgaben geht, die sich über längere Zeiträume erstrecken). Das bedeutet nicht, dass in späteren Phasen nichts mehr von Bedeutung ist. Aber wenn sich die Grundstrukturen der Persönlichkeit entwickelt haben, sind Veränderungen und Gegenentwicklungen nur noch bedingt möglich. Vieles in der frühen Kindheit geschieht unbewusst und unreflektiert – seitens der Eltern und erst recht beim Kind. Was in dieser Lebensphase des Kindes stattfindet, lässt sich nur durch Beobachtung des Verhaltens und durch Einfühlung erschließen. Würde man ein Kind fragen, was es beim Spielen fühlt oder was es gerade bewältigt, wäre es überfragt.
Die Themen in der frühkindlichen Zeit bestimmen die Beziehung zwischen Mutter und Sohn auch weiter, sie begegnen dem Sohn und der Mutter in der späten Kindheit und in der Jugendphase immer wieder – bei manchen Jungen lebenslang.
Das Männliche ist das Andere
In der Wahrnehmung des Sohnes ist die ganze Welt zu Beginn eins. Die Mutter ist die Welt, sie ist zunächst einfach Mutter, er nimmt keine oder allenfalls eine unwichtige, minimale Grenze zwischen sich und ihr wahr. Im nächsten Entwicklungsschritt erkennt der Junge im ersten Lebensjahr allmählich Unterschiede, Berührungslinien in der Welt. Dabei ist die Mutter genauso anders und fremd, wie dem Mädchen die Mutter anders und fremd wird, indem es sich selbst erkennt. Das ist ein gesunder Prozess der Ich-Werdung, der Individuation.
DER TIPP FÜR DIE SOHN-MUTTER
In dieser Phase der ersten beiden Lebensjahre ist wichtig, dass Sie dem Jungen möglichst wenig zuschreiben, in ihn hineinsehen. Bleiben Sie in Verbindung mit dem Jungen. Sehen Sie ihn weniger als »männlich«, sondern mehr als Person, in seiner Einzigartigkeit; einfach als Ihren Sohn. Wenn Sie im Kontakt mit Ihrem Sohn den Eindruck haben: »Oh, er ist ja ganz anders«: Konzentrieren Sie sich darauf, wo er gleich oder ähnlich ist wie Sie. Versuchen Sie einfach, ihn durch sein Anderssein »hindurchzulieben«.
Damit kommt auch das Geschlecht ins Spiel. Denn die Mutter sieht sich selbst als weiblich und den Jungen als männlich – unabhängig davon, wie der Junge wirklich ist. Dadurch entsteht eine besondere Art der Trennung. Die Mutter definiert den Sohn als »anders«; sie klebt ihm, bildlich gesprochen, ein besonderes Etikett auf. Dieses geschlechtliche Anderssein wird von der Mutter in den Sohn »hineingesehen«. Das kann vom Aussehen oder vom Temperament des Sohnes inspiriert und verstärkt sein. Besonders hart kann diese Sichtweise sein, wenn es mit dem leiblichen Vater des Kindes Konflikte, etwa aufgrund einer problematischen Trennung gibt; dann sieht die Mutter im Jungen leicht das Negative des Vaters.
Aber auch unabhängig davon kann es die Mutter beunruhigen, dass es im Jungen etwas gibt – das Männliche –, das sie nicht kennt. Ihre Vorstellung, was männlich ist, leitet sie davon ab, welche Erfahrungen sie bisher mit allen möglichen Jungen und Männern gemacht hat – und die können gut, aber auch problematisch gewesen sein.
In dieser frühen Lebensphase des ersten Lebensjahrs ist die Mutter von lebenswichtiger Bedeutung für den Jungen. Was sie sieht, empfindet und bestimmt, empfängt der Sohn, als sei es sein Eigenes. Deshalb übernimmt der Junge sein Anderssein, weil seine Mutter in ihm das Andere sieht. Erst indem die Mutter dem Sohn vermittelt: »Du bist anders«, empfindet der Sohn einen Unterschied und antwortet gewissermaßen mit: »Ja, ich bin anders.«
Natürlich erfindet die Mutter diese Botschaft nicht selbst. In ihrer Haltung schwingt die gesellschaftliche Sicht des Geschlechtlichen mit, und das können durchaus die sehr traditionellen Einstellungen zum Männlichen und Weiblichen sein: Männlich ist völlig anders als weiblich; der Mann ist wichtiger und bedeutungsvoller als die Frau; das Männliche ist besser als das Weibliche; das Weibliche ist wenig wert usw. Die entgegengesetzte Sichtweise, bei der die Betonung auf den Vorzügen des »Weiblichen« liegt, ist ebenfalls möglich. Aber auch die eigenen Erfahrungen der Mutter können hier bedeutsam sein: mit ihrem Vater, mit Jungen und Männern in ihrer bisherigen Biografie.
Geschlechtlich ist der Junge in den Augen der Mutter von ihr verschieden, er ist »anders«. Die Perspektive »Ich bin anders« nimmt der Junge auf. Er leitet daraus einen Teil seines Männlichseins ab.
Dem Jungen wird im Geschlechtlichen der Unterschied aufgeprägt. Damit geht ihm sehr früh eine wichtige Erfahrung verloren, das verbindende Gefühl der Gleichartigkeit, also »Du bist gleich wie ich (deine Mutter)«. Im Gegensatz zu der Tochter betont die Mutter: »Du bist anders«; die Botschaft »Du bist gleich« wird zurückgestellt. Ein Thema des Jungen ist deshalb, das »Ich-Gleich« zu finden – was unter anderem auch Einfluss auf die Fähigkeit zu Mitgefühl und Beziehung hat. Der Unterschied zur Tochter liegt in der Qualität dieser Unterscheidung: Die Tochter wird von der Mutter geschlechtlich als »nah-anders«, der Sohn dagegen als »distanziert-anders« erlebt.
Irgendwann entdeckt der Sohn, dass er auch körperlich anders ist als die Mutter: Er hat einen Penis! Das geschieht aber viel später, im zweiten oder dritten Lebensjahr. Dann jedoch wird der Penis als Symbol des Andersseins gesehen und damit aufgeladen. Lange vor seiner eigenen Erkenntnis, dass er durch ein körperliches Merkmal geschlechtlich anders ist, wird dem Sohn die Idee des Fremden, Anderen von der Mutter mit auf den Weg gegeben. Dieses »Anderssein« muss nicht automatisch negativ gemeint sein, im Gegenteil. Mütter beziehen ja auch einen Gewinn daraus, dass sie das Andere, das Männliche »gemacht« haben. Die Botschaft der Mutter lautet also einfach: »Du bist anders« (und nicht: »Du bist anders, und das ist schlecht«). Der Sohn übernimmt dieses Motiv des Andersseins. Damit macht er sich auf die Suche nach seiner eigenen Geschlechtlichkeit. Er verbindet diese erste Geschlechtserkenntnis allmählich mit seinen beiden Männlichkeitsaufträgen, die da lauten: »Sei Geschlecht« und »Sei männlich«.