Staffel I
Die verlassene Stadt (Band 1)
Ein verborgener Feind (Band 2)
Gefährliche Freunde (Band 3)
Die finstere Gefährtin (Band 4)
Der Düstere See (Band 5)
Sturm der Hunde (Band 6)
Staffel II – Dunkle Spuren
Ein Rudel in Aufruhr (Band 1)
In tiefster Nacht (Band 2)
Ein namenloser Verräter (Band 3)
Lauernde Gefahr (Band 4)
Alle Abenteuer auch als Hörbücher (Staffel I)
und Printausgabe bei Beltz & Gelberg
www.survivordogs.de
Hinter dem Namen Erin Hunter verbirgt sich ein ganzes Team von Autorinnen. Gemeinsam konzipieren und schreiben sie die erfolgreichen Tierfantasy-Reihen WARRIOR CATS, SEEKERS, SURVIVOR DOGS und BRAVELANDS.
Mit besonderem Dank an Gillian Philip
Sweet: kleine Schnellhündin mit kurzem grauem Fell; Rang im Rudel: Alpha
Lucky: Männchen mit dichtem gold-weißem Fell; Rasse: Sheltie-/Retriever-Mischling; Rang im Rudel: Beta
Mini, Knabber, Flocke, Purzel: Welpen von Sweet und Lucky
Jäger:
Schnapp: kleine Hündin mit braun-weißem Fell
Bruno: großes Männchen mit braunem dichtem Fell und ernstem Gesicht; Rasse: Schäferhund-/Chow-Chow-Mischling
Mickey: schlankes Farmhund-Männchen mit schwarz-weißem Fell; Rasse: Border Collie
Sturm: schwarz-braunes Scharfhundweibchen
Patrouillenhunde:
Zuck: brauner Hatzhund mit schwarzen Flecken und nur drei Beinen; Rang im Rudel: Dritter Hund
Mond: schwarz-weiße Farmhündin, Mutter von Käfer und Dorn
Daisy: kleine Hündin mit weißem Fell und braunem Schwanz; Rasse: Westie-/Jack-Russell-Mischling
Fächel: kleines braunes Weibchen mit breiten Ohren und kurzem Fell
Hatz: kleine Hündin mit gelbem Fell
Käfer: schwarz-weißes Männchen mit struppigem Fell
Dorn: schwarzes Weibchen mit struppigem Fell
Sunshine: kleine Hündin mit langem weißem Fell; Rasse: Malteser; Rang im Rudel: Omega
Bella: Hündin mit dichtem gold-weißem Fell, Luckys Wurfschwester; Rasse: Sheltie-/Retriever-Mischling
Pfeil: schwarz-braunes Scharfhundmännchen
Flitz: schlanke Hatzhündin mit braun-weißem Fell
Kraus: kleines schwarzes Weibchen
Woody: stämmiges braunes Männchen
Hark: dürres Männchen mit drahtigem Fell und vernarbter Schnauze
Dicht und zäh lag die Dunkelheit in der Mulde, nur blass drang ein Schimmer von Mondlicht durch den Eingang. Leck versuchte, nicht zu zittern, als kurz ihre Lider flatterten. Ja, hier in der Mulde roch es warm und wohlig, aber so ganz kalt und einsam konnte es da draußen im silbernen Funkeln der Mondhündin doch auch nicht sein … oder?
Grunz lag noch neben ihr und schnarchte, und Wackel quietschte im Schlaf leise vor sich hin, seine Lefzen zuckten, als träumte er von Beute. Wie konnten ihre beiden Wurfbrüder nur schlafen? Sie hatten doch etwas vor, alle drei – und das konnte nicht warten!
Mit der Nase stupste Leck ihre Brüder an, und als Wackel nur raunzte und liegen blieb, schüttelte sie ihn fester.
»Wach auf«, flüsterte sie. »Komm jetzt. Wir müssen los!«
Ganz leise stöhnte Grunz unwillig auf, aber als er richtig wach war, zwinkerte er heftig mit den Augen und rappelte sich auf. Dann knabberte er an Wackels Ohr, um ihn zu wecken.
»Beeil dich, Wackel«, knurrte er. »Leck hat recht. Es ist so weit!«
Sie machten schrecklichen Lärm, fand zumindest Leck, aber die erwachsenen Hunde aus ihrem neuen Rudel rührten sich nicht. Sie hörte sie schnarchen und schläfrig grummeln, manchmal kratzte auch einer mit den Krallen über den Boden, wenn er vom Jagen träumte, und sie sah nur Bäuche, deren Fell sich in der Dunkelheit ruhig hob und senkte. Wir schaffen das da draußen. Wir müssen es schaffen!
Leck spürte ein seltsames Ziehen im Bauch, als sie zum letzten Mal zu Lucky, Martha und Mickey hinüberspähte … all die Hunde, die sich um sie gekümmert hatten, die sie gefunden und mitgenommen hatten, nachdem ihre Hundemutter eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht war. Dieses Rudel war freundlich zu ihnen gewesen und Leck würde sich viel lieber richtig verabschieden.
Aber wenn wir sie wecken, lassen sie uns nicht gehen.
»Komm jetzt, Leck«, raunte Grunz dicht vor ihrem Ohr. »Du kannst jetzt nicht mehr zurück! Dieses Rudel hält uns für Böse Hunde. Tja, aber wir sind echte Scharfhundwelpen und wir werden sehr gut ohne sie zurechtkommen!«
»Ich weiß«, seufzte Leck leise. »Ich weiß, es ist nur …«
»Sie sind nur jetzt freundlich zu uns, weil wir klein sind.« Grunz schüttelte sich wütend und zischte: »Wenn wir erst große Scharfhunde sind und sie Angst vor uns haben, sind sie ganz sicher nicht mehr so freundlich!«
»Ja, klar. Wir werden nie wirklich zu diesem Rudel gehören.« Leck stieß ihren Bruder schnell an. »Gehen wir. Aber versucht, leise zu sein!«
Wackel bebte vor Angst, als die Welpen vorsichtig über den blanken Boden zum Muldeneingang hinaufkrochen, aber Leck und Grunz stupsten ihren kleineren Bruder an und kniffen ihn vorsichtig, um ihn anzutreiben. Als sie in das blasse Mondlicht traten, blieben sie alle drei kurz wie erstarrt stehen. Das Gras unter Lecks Pfoten war feucht vom Tau und die Nachtluft drang ihr scharf durch die schnuppernden Nüstern. Für Wackel musste sie stark aussehen und dadurch fühlte Leck sich tatsächlich selbst ein bisschen tapferer.
Aber die Welt hier draußen ist ganz schön groß …
Langsam, ganz leise tasteten die Welpen sich vorwärts, drängten sich aneinander und duckten sich, so tief sie konnten. Das nasse Gras kitzelte Leck am Bauch und am Kinn und sie musste eigentlich dringend niesen. Aber das geht jetzt nicht!
Da vorne glitt ein großer Schatten über die Baumstämme und Leck zuckte zusammen. Gemeinsam mit ihren Brüdern hielt sie die Luft an, während sie die Patrouillenhündin Mond an der Lagergrenze entlangschleichen sah, die Ohren aufgestellt und mit erhobener Nase, um möglichen Ärger für das Rudel zu wittern.
Doch nach drei kleinen Welpen innerhalb des Lagers suchte Mond ja gar nicht. Ihre Gestalt versank im Schatten und Leck seufzte erleichtert auf. Schnell flitzten die drei Scharfhunde zu den Bäumen, die die Lagergrenze markierten, und Leck fand, dass ihre Pfoten entsetzlich laut stampften.
Schon die Mulde war ihr dunkel erschienen, aber der Wald jenseits des Lagers wirkte irgendwie noch schwärzer. Überall im Gras raschelte kleines Getier, das die Welpen aufschrecken ließ, und wenn über ihren Köpfen ein Nachtvogel kreischte, fuhr Wackel entsetzt zusammen und geriet fast ins Straucheln. Grunz hielt den Kopf hoch erhoben und das Maul fest geschlossen, und obwohl Leck seine Furchtlosigkeit ein bisschen aufgesetzt fand, wollte sie selbst daneben auf keinen Fall wie ein Feigling aussehen. Wackel drängte sich so eng an ihre Flanke, dass sie fast sicher war, nur das hielt seinen zitternden kleinen Körper überhaupt aufrecht.
»Wo ist der Felsen?«, fragte Wackel weinerlich, als sie schon eine gefühlte Ewigkeit schweigend vor sich hin getrippelt waren.
»Nicht mehr weit.« Doch in Wirklichkeit kamen Leck selbst gerade Zweifel – und sie meinte zu spüren, dass auch Grunz ins Grübeln kam, so verärgerte Blicke warf er ihr zu. Wenn sie doch nur diesen seltsam geformten grauen Felsen finden würden, der aussah wie ein hockender Riesenpelz, dann wüsste sie haargenau, wo sie waren, und dann brauchten sie nur noch flussaufwärts weiterzugehen … »Wir sind so oft mit Martha an dem Riesenpelzfelsen vorbeigekommen. Es kann gar nicht mehr weit sein bis zum Fluss.«
»Wenn wir überhaupt in die richtige Richtung gehen«, murrte Grunz.
»Vielleicht sind wir ja auch schon daran vorbei?«, wagte sich Wackel ängstlich vor.
»Ich glaube nicht.« Zögernd blieb Leck stehen, eine Pfote in der Luft.
Grunz spähte nach rechts und links und leckte sich die kleinen Lefzen. »Ich glaube, du hast uns in die falsche Richtung geführt, Leck.«
»Aber du hast doch gesagt, wir müssen von dem großen Baum aus windabwärts gehen!«, fauchte Leck.
»Und du hast gesagt, wir müssen über den kleinen Bach!«
Leck öffnete schon das Maul, um weiter zu streiten, als sie Grunz’ rasselnden Atem hörte. Seine Vorderläufe zitterten, und sie machte sich klar, dass er genauso viel Angst hatte wie sie.
»Ist doch egal, wer schuld ist«, winselte sie traurig und ließ die Ohren hängen. »Wir haben uns verlaufen, und wir sind ganz allein, und ich weiß nicht, was wir jetzt machen sollen!«
Wackel fiepte verzweifelt, sank auf den Boden und legte den Kopf auf die Pfoten. »Wir haben uns verlaufen!«, wiederholte er.
»Wir schaffen das schon.« Leck versuchte, ihn zu trösten; aber nicht einmal sie selbst fand, dass sie dabei überzeugend klang. Wir können uns nicht verlaufen haben. Das ist doch Unsinn! Entschlossen hob sie den Kopf und schnupperte. »Da lang, ich bin mir sicher … vielleicht …«
Die anderen beiden starrten sie nur an und schienen kaum willens, ihr zu glauben.
»Kommt!« Leck zwang sich, die Ohren aufzustellen, entschied sich für eine Richtung, die einigermaßen gut aussah, und hob eine Pfote an. Doch wie schwer die sich anfühlte! Außerdem taten ihr die Beine weh. Elend ließ sie die Pfote wieder sinken und die Ohren hängen. »Ich weiß nicht«, murmelte sie. »Ich weiß nicht, wo es langgeht.«
Rund um die drei Welpen wurde es still und sie starrten einander in einsamem Jammer und Schrecken an. Sogar die Schatten der Bäume schienen sich enger um sie zu schließen.
Dann plötzlich hörte man durch die Stille das Rascheln und Knistern von aufgewirbeltem Laub.
Unwillkürlich jaulte Leck auf und fuhr herum, um der bleichen Gestalt entgegenzusehen, die durch das Unterholz auf sie zukam. Eine schwarze Nase schob sich aus dem Gebüsch, zuckende Barthaare und dann plötzlich ein helles, freundliches weißes Gesicht.
»Daisy!«, quietschte Leck. Die schmerzende Angst wich einer fast unerträglichen Erleichterung und plötzlich fühlten sich ihre Beinchen schwach und zittrig an.
»Leck! Grunz, Wackel – was macht ihr denn hier draußen mitten in der Nacht?« Die kleine weiße Hündin starrte sie an, die dunklen Augen voller Sorge. »Euch hätte etwas zustoßen können!«
Leck und Grunz tauschten schuldbewusste Blicke, während Wackel betreten auf seine Pfoten sah.
»Wir wollten weglaufen«, stieß Leck schließlich hervor.
»Wie bitte?« Daisy riss ungläubig die Augen auf. »Warum das denn?«
»Keiner im Rudel mag uns.« Grunz sah plötzlich bockig und verbittert aus. »Wir sind besser dran, wenn wir auf uns gestellt sind.«
»Ach, ihr lieben Himmelshunde, das stimmt doch überhaupt nicht, keines von beidem!« Auf ihren kurzen Beinen setzte Daisy nach vorn und fing an, sie alle frenetisch abzulecken. »Natürlich wollen wir euch im Rudel haben, Welpen – und natürlich seid ihr bei uns besser dran! Jeder Hund braucht ein starkes Rudel, seit der Große Knurrer die Welt so verändert hat!«
»Aber die Rudelhunde mögen uns nicht«, grummelte Grunz.
»Also, jetzt aber schnell zurück ins Lager, kommt.« Daisy überhörte Grunz’ Murren und leckte ihm die Nase, bis er niesen musste. »Lucky will euch im Rudel haben, und Mickey auch. Und Martha und ich. Und wenn irgendein Hund euch nicht mag, wird er es sich schon bald anders überlegen. Macht euch keine Sorgen, Welpen!«
Leck tauschte einen Blick mit Grunz. Wackel wollte sichtlich nichts anderes, als mit Daisy heimzugehen; seine Augen schimmerten plötzlich heller und seine aufgestellten Ohren zitterten in gespannter Hoffnung. Grunz sah zu müde aus, um noch weiter zu streiten. Und wenn Leck ganz ehrlich war, war sie wirklich erleichtert, dass jemand sie gefunden hatte.
»In Ordnung, Daisy.« Vergeblich versuchte sie, ein Gähnen zu unterdrücken, und riss so weit das Maul auf, dass die Augen sich zu Schlitzen verengten. Schnell schüttelte sie sich und blinzelte. »Wir kommen mit. Aber es ist so weit bis nach Hause …«
»Ach, mein Kleines.« Daisy gluckste liebevoll. »Nicht halb so weit, wie du meinst. Ihr seid kaum über den ersten Jagdgrund hinaus.«
Leck ließ die Ohren sinken und sackte in sich zusammen. So viel also zu unserer ersten großen Flucht. Kein Wunder, dass wir den Riesenpelzfelsen nicht gefunden haben. Der ist noch ganz, ganz weit weg.
Trotz allem wurde ihr das Herz etwas leichter, als sie Daisy auf der Pfote folgte. Erschöpft, wie sie war, wollte sie nichts anderes mehr, als sich wieder in dieser gemütlichen Mulde zusammenzurollen, und nicht einmal Grunz’ aufsässiges Gemaule konnte sie davon abbringen.
Und ich will doch zu diesem Rudel gehören. Vielleicht hat Daisy recht. Sie werden sich schon an uns gewöhnen und uns am Ende doch noch mögen.
Ich will zu meiner Hundemutter, aber die ist für immer eingeschlafen.
Ich will irgendwo dazugehören. Ich will ein Rudel.
Ach, Himmelshunde, dachte Leck und blickte in schmerzvoller Sehnsucht zum Himmel hinauf. Ich will einfach nur dazugehören …
Schläfrig und zufrieden lag Sturm draußen im Licht des Sonnenhundes. Den Frieden auf der Lichtung störte nur das Piepsen und Jaulen der vier Welpen, die unter dem Blick ihrer Hundeeltern Alpha und Lucky vor ihrer Mulde rangelten und spielten. Mit einem Auge und einem aufgestellten Ohr verfolgte Sturm ihre Balgereien. Sie hatte ein seltsam warmes Gefühl in der Brust. Irgendwie, stellte sie verwundert fest, machte es sie schon glücklich, den Welpen nur beim Spielen zuzusehen.
Die kleinen Hunde waren so fröhlich und arglos, als hätten sie den Schrecken, dass sie im Düsteren See fast ertrunken wären, schon völlig vergessen. Sturm war froh, dass das Ereignis sie nicht zu sehr mitgenommen hatte, und sie wusste auch, warum das so war: Lucky, der Beta im Rudel, konnte noch dem winzigsten Welpen ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit geben …
… sogar wenn es gar nicht sein eigener Welpe ist. Dankbarkeit überkam Sturm, als sie an ihre eigene turbulente Welpenzeit zurückdachte. Sie und ihre Brüder hatten nirgends sonst hingekonnt, kein Hund kümmerte sich um sie; bis Lucky gekommen war und den Platz ihrer Hundeeltern eingenommen hatte. Doch trotz Luckys Liebe und Fürsorge, dachte sie traurig, waren ihre Brüder am Ende nicht durchgekommen …
Aber ich schon. Ich habe überlebt und jetzt lebe ich für uns alle drei. Und das verdanke ich Lucky.
Die friedliche Stimmung im Lager war beruhigend. Es war gut zu sehen, dass all ihre Rudelgefährten, die jungen und die alten, so zufrieden wirkten. Das ganze Lager schien durchzogen von Glück und gutem Willen. Das Rudel brauchte eine Pause von den Verdächtigungen und der Angst, die ihnen so lange zugesetzt hatten. Doch an diesem Sonnenhoch schien jeder Hund beschlossen zu haben, das Problem ganz weit nach hinten im Kopf zu verschieben. Viele von ihnen glaubten, der Verräter in ihren Reihen – der Böse Hund, der so viel Schreckliches angestellt hatte – wäre Pfeil gewesen, ein Scharfhund wie Sturm, der das Rudel mit Bella verlassen hatte. Sie dachten, jetzt, wo Pfeil weg war, wären sie in Sicherheit.
Natürlich war das ein verlockender Gedanke … Aber Sturm war absolut sicher, dass Pfeil unschuldig war. Und wenn das stimmte, dann war der Böse Hund, der den Beutehaufen mit Lichtsteinsplittern durchsetzt und die treue Patrouillenhündin Mond des Beutediebstahls bezichtigt hatte, noch immer nicht gefunden. Und der Mord an Raschel war immer noch nicht aufgeklärt.
Beim Gedanken an Raschels Tod unterdrückte Sturm ein Zittern. Die Bedrohung war noch da – sie wusste es, so gern sie es auch verdrängt hätte. Vielleicht plante der Böse Hund genau in diesem Moment seinen nächsten Angriff. Doch selbst wenn: Sie jedenfalls freute sich jetzt gerade unwillkürlich an der neuen friedlichen Stimmung unter ihren Rudelgefährten.
Wenn ich doch nur glauben könnte, dass es vorüber ist …
Sturm hob den Kopf und ihr Blick fiel auf Schnapp. Die Jagdhündin trottete auf sie zu, im Maul ein Bündel weiches Moos. Sie hatte die Ohren aufgestellt und wedelte mit dem Schwanz.
»Sturm!« Sachte legte Schnapp das Moos neben ihr ab. »Das habe ich dir mitgebracht – es sah aus, als hättest du es ein bisschen unbequem. Hier, leg das unter deine Vorderpfoten.«
Ebenso dankbar wie überrascht blickte Sturm auf. Es war ihr selbst gar nicht aufgefallen, aber ihre Vorderbeine lagen tatsächlich ganz ungünstig auf dem harten Stein. Sie richtete sich halb auf, schob das Moos auf den flachen Felsen neben sich und legte sich wieder. Jetzt fühlten sich ihre gestreckten Pfoten an, als schwebten sie. »Danke, Schnapp, das war sehr aufmerksam.«
Und unerwartet freundlich, dachte sie, als Schnapp nickte und davontrippelte. Mickeys Partnerin konnte ziemlich jähzornig sein – und obendrein war Schnapp einer der Hunde gewesen, die überzeugt waren, dass der Verräter ein Scharfhund sein musste. Seit Pfeil gegangen war, war der Verdacht dieser Hunde direkt auf Sturm zurückgefallen. Jetzt aber schien Schnapp Sturm als Heldin zu verehren. Jeder Hund hier wusste, dass sie es gewesen war – die Scharfhündin! –, die in den Düsteren See gesprungen war und Mini herausgezogen hatte; den Trick, mit dem sie dem kleinen Welpen das Leben gerettet hatte, hatte ihr vor langer Zeit Martha beigebracht.
Das ist wirklich mal angenehm, dachte Sturm. Mir war gar nicht klar, wie sehr mir ihr Misstrauen zugesetzt hat, bis sie mir langsam wieder Vertrauen geschenkt haben.
Zufrieden seufzend ließ sie die Augen zufallen. Vor ihren Lidern tanzten helle Lichtpunkte, und träumerisch sah sie ihnen nach, bis sie sich in Dunkelheit auflösten. Von da an stellten sich langsam auch die weniger angenehmen Gedanken ein: Aber ich weiß, dass wir uns dieses Gefühl von Ruhe und Frieden nicht leisten können. Nach allem, was der Verräterhund getan hat … Blut und Panik im Lager zu säen, diesen Fuchswelpen zu töten, um einen Krieg zwischen Hunden und Füchsen heraufzubeschwören …
Wie gerne würde sie glauben, dass diese furchtbaren Verbrechen von einem der Hunde begangen worden waren, die das Rudel bereits verlassen hatten. Bella oder Pfeil konnten es natürlich nicht gewesen sein – Sturm wusste, dass sie zu so etwas Bösem nicht in der Lage waren, obwohl viele der anderen Hunde ihnen misstrauten.
Doch wie stand es um die Hunde in Terrors altem Rudel? Um Kraus etwa oder Woody oder Hark? Oder sogar um Flitz, die zwar von Anfang an zum Wildrudel gehört, sich aber mit diesen drei Deserteuren aus dem Staub gemacht hatte? Ja, sie waren längst weg, als das Kaninchenblut über die ganze Lichtung verschmiert worden war, aber vielleicht hatten sie sich ja auch irgendwie noch einmal eingeschlichen, um es überall zu verteilen …
Sie spürte eine warme Flanke an ihrer und schlug die Augen auf: Mickey und Schnapp hatten sich in ihrem Sonnenfleck neben sie gelegt. Sofort wurde sie ruhiger. Sturm spürte kleine Pfoten auf ihrem Rücken und wandte den Kopf, als Luckys und Alphas Welpen anfingen, auf ihr herumzuklettern, ihr auf den Schwanz klopften und an ihren Ohren knabberten. »Mini!«, kläffte sie die Kleinste von ihnen an.
Mini beachtete sie gar nicht und kaute glücklich an ihrem Ohr, als der größere, zotteligere Purzel herunterrutschte und sich an Sturms Hinterlauf zu schaffen machte. Die beiden anderen weiblichen Welpen Knabber und Flocke kämpften an Sturms Wirbelsäule offenbar um Leben und Tod, und als sie sie abschüttelte, kletterten sie sofort wieder hinauf und gingen erneut aufeinander los.
»Wenn ich du wäre, würde ich mich ergeben«, lachte Mickey neben ihr.
Sturm rollte sich auf die Seite und schlug träge nach Mini, die begeistert aufjaulte. Knabber und Flocke vergaßen ihr Pfotengemenge, warfen sich ebenfalls an Sturms Kehle und bissen knurrend und kichernd mit ihren weichen kleinen Mäulern zu. Sturm stöhnte übertrieben auf und winkte ergeben mit den Pfoten. Purzel sprang auf ihre Schulter und kläffte, den kleinen Kopf triumphierend hochgereckt.
»Hilfe, Welpen, ich gebe mich geschlagen!«
»Grrrrr!« Mini hielt eine von Sturms Pfoten fast vollständig im Maul.
»Wir haben den Scharfhund erho…erhobert!«, verkündete Purzel lautstark.
»Hurra!«, bellten Flocke und Knabber.
Hilflos lag Sturm unter ihnen und ächzte vor Lachen. Tief in der Magengrube spürte sie diese ungewohnte Wärme und Zuneigung. Sie haben nicht einmal mehr ein bisschen Angst vor mir. Nicht, seit ich sie aus dem Düsteren See gerettet habe. Ja, ich glaube, sie mögen mich wirklich …
»Sturm, Sturm! Erzähl uns eine Geschichte!« Knabber hüpfte direkt vor ihrer Nase auf und ab.
»Ja, eine Geschichte!«, fielen Flocke und Mini ein.
»Sonst bekämpfen wir dich wieder!«, knurrte Purzel direkt vor Sturms Ohr, sodass sie erschrocken auffuhr.
»Oh, mit Vergnügen, Welpen …« Sturm richtete sich halb auf und schüttelte sich. Vor allem, seit ihr endlich alle ›Sturm‹ und nicht mehr ›Turm‹ sagt! »Aber – stopp, Purzel, beiß mich nicht! – mir fällt keine ein … Wartet …«
»Dann erzähle ich euch eine Geschichte.« Alphas freundliche Stimme kam von hinten. »Solange ihr Sturm nur in Ruhe lasst, Welpen. Lasst sie ein bisschen ausruhen!« Die gut aussehende Schnellhündin leckte Sturm liebevoll am Maul und legte sich dann ins Gras. Endlich ließen die Welpen von Sturm ab und kuschelten sich an ihre Hundemutter – bis auf Mini, die unbeirrt zwischen Sturms Pfoten sitzen blieb. Sturm leckte ihr sanft über den Kopf.
Feierlich blinzelte Alpha Sturm zu und Sturm schlug dankbar mit dem Schwanz. »Wenn ihr wollt, erzähle ich euch noch eine Geschichte von den Windhunden, Welpen.«
»Oh ja, die Windhunde!«, bellte Flocke aufgeregt und stellte die struppigen braunen Ohren auf. Die vier liebten Alphas Geschichten von ihren liebsten Geisterhunden. Wie alle Schnellhunde war Alpha eng verbunden mit den Windhunden. Und damit hatten auch die Welpen eine besondere Beziehung zu ihnen.
»Also«, fing Alpha an, schlug ihre Vorderpfoten übereinander und machte es sich bequem, »ihr alle wisst, dass immer zum Wechsel der vier Jahreszeiten die Windhunde die Goldene Hirschkuh um die Welt jagen. Und dass jedes Jahr, wenn die Goldene Hirschkuh gefangen wird, Langlicht stirbt und Rotblatt beginnt, während die Erdenhündin sich für Eiswind vorbereitet.«
»Ja, ja. Das wissen wir noch.« Aufgeregt kletterte Purzel auf Knabber hinauf, um besser hören zu können, aber sie schüttelte ihn ab.
»Wenn alles geordnet zugeht, erhebt sich die Goldene Hirschkuh mit Baumblüte und einem neuen Langlicht wieder. Einmal aber, vor vielen Jahren, ging Langlicht zu Ende, ohne dass die Windhunde die Goldene Hirschkuh gefangen hatten.«
Flocke riss die Augen auf. »Wieso das denn?«
»Das weiß kein Hund, Welpen. Doch weil die Goldene Hirschkuh frei herumlief, wurde es nie Rotblatt und niemals Eiswind. Zwar jagten die Windhunde die Hirschkuh weiter, verfolgten sie wild und verzweifelt, aber sie waren müde – so müde –, und sie fürchteten, diesmal würden sie sie nie fangen. Doch wenn die Hirschkuh für immer frei herumlief, würde sie die ganze Welt aus dem Gleichgewicht bringen!«
Die vier Welpen konnten ihre Hundemutter nur mit geweiteten Augen anstarren. Belustigt sah Sturm ihnen zu.
»Irgendwann waren die Windhunde außer Atem, und es sah aus, als würde die Hirschkuh für immer weiterlaufen. Was aber sollte ohne Rotblatt und Eiswind aus dem Land werden? Ohne die kalten Jahreszeiten können Pflanzen und Bäume nicht ausruhen und neu wachsen! Genau da, Welpen, trat die erste Schnellhündin aus ihrer Mulde. Sie war entsetzt, die Goldene Hirschkuh immer noch frei herumlaufen zu sehen. Doch sie wusste, was zu tun war.« Alphas Blick verklärte sich. »Sie sprang auf die Pfoten und lief neben den Windhunden her – dass sie mithalten konnte, lag daran, dass sie im Unterschied zu ihnen frisch und ausgeruht war. Seht doch, sagte sie, wie leicht mein Körper ist, wie lang und dünn meine Beine. Ich kann laufen und ich bin nicht müde. Lasst mich die Jagd übernehmen! Nun, die Windhunde waren inzwischen so müde, dass sie einverstanden waren, es die Schnellhündin probieren zu lassen. Und bald schon sahen sie, dass sie recht hatte: Ihr Körper war so leicht und regsam wie ein Vogel in der Luft und ihre langen Beine verschlangen nur so den Boden. Die Goldene Hirschkuh war weit und schnell gelaufen, Welpen – doch auch sie war jetzt müde. Als sie einen lang gezogenen Hügel erklomm, holte die tapfere Schnellhündin allmählich auf. Und als sie beide am Gipfel waren, setzte die Schnellhündin zu einem mächtigen Sprung an – und erlegte die Goldene Hirschkuh!«
Die Welpen waren außer sich vor Erregung, sie kläfften und jaulten. »Hurra! Die erste Schnellhündin!«
»Und so wurde das Gleichgewicht in der Welt wiederhergestellt. Die Windhunde waren sehr zufrieden mit der ersten Schnellhündin, sie waren stolz auf ihren Mut und ihre Entschlossenheit. Und so schworen sie, fortan jeden sterblichen Hund, der die Goldene Hirschkuh – oder einen ihrer Schatten – fing, mit langem Leben und Glück für ihn, seine Welpen und sein Rudel zu belohnen.«
»Hurra!«, bellte Purzel und tanzte vor Begeisterung. »Eines Tages werde ich sie fangen!«
»Nein, ich fange sie!«, kläffte Flocke und schubste ihn mit der Pfote.
»Nein, ich! Ich!«, quietschte Mini, und alle lachten.
Sturm verkniff es sich mitzulachen, so freundlich auch alle waren. Sie stupste den kleinen Welpen sanft an. Ich würde sie nie brüskieren wollen. »Warum auch nicht, Mini? Schließlich bist du sehr mutig und entschlossen.«
Voller Bewunderung blickte Mini zu ihr auf. »Danke, Sturm!«
Ein paar Hunde im Rudel hielten die Goldene Hirschkuh einfach nur für erfunden, ein Märchen für die Welpen. Aber ich weiß es besser, dachte Sturm, und Aufregung und Vorfreude durchzuckten sie. Ich habe sie gesehen. Vor nicht allzu langer Zeit hat Lucky sie fast gefangen. Er war schon in Sprungnähe zu ihrem Schatten …
Sturm beobachtete, wie die Welpen anfingen zu gähnen und sich am Boden zu rekeln. Wenn es im Rudel so ruhig bleibt, könnte ich vor dem Ende von Langlicht zur Jagd auf sie ausziehen. Und das nicht nur für Purzel, Knabber, Flocke und Mini; ich könnte es auch für das Rudel tun … zum Beweis, wie dankbar ich bin, dass sie mich aufgenommen haben. Und es würde ihnen endgültig zeigen, dass ich genau hier dazugehöre.
Sturm fühlte sich plötzlich voller Energie und sprang auf die Pfoten. »Alpha, ist es in Ordnung, wenn ich jetzt laufen gehe – ganz allein? Von dieser Geschichte habe ich Lust bekommen, mir die Beine zu vertreten!«
Alpha wirkte leicht überrascht, aber sie nickte. »Natürlich, Sturm. Ich weiß genau, was du meinst. Mir geht es auch so: Übers Laufen zu reden macht mir Lust darauf!« Mit einem Seitenblick auf ihre Welpen seufzte sie munter auf und schüttelte den Kopf. »Jetzt gerade allerdings nicht …«
Ein letztes Mal stupste Sturm Mini an der Schulter, dann wandte sie sich um und sprang aus dem Lager. Die Goldene Hirschkuh werde ich wahrscheinlich nicht sehen, aber wer weiß? Vielleicht ist sie immer noch in der Gegend. Versuchen kann ich es jedenfalls. Und wenn ich sie nur einmal wittere …
Doch es war kein Hirschgeruch, der ihr in die Nase stieg, als sie durch das Unterholz rannte. Es war der Geruch eines vertrauten Hundes, und erst, als sie schon fast an ihm vorbei war, kam sie rutschend zum Stehen.
»Bruno!«
Sturm war sofort ein bisschen mulmig zumute. Bruno hatte sie als Rudelmitglied nie ganz richtig akzeptiert und er hegte ein tiefes Misstrauen gegen alle Scharfhunde. Auch in den letzten Tagen, als das übrige Rudel so nett zu Sturm gewesen war, hatte Bruno sich immer noch zurückgehalten. Sie hatte nicht damit gerechnet, dem großen Hund hier zu begegnen, aber er war natürlich auf Patrouille. Das Rudel war derart geschrumpft, dass selbst Jäger jetzt manchmal bei der Patrouille mit anpacken mussten. Sturm erstarrte und legte die Ohren an, während sie auf eine abfällige Bemerkung wartete.
»Sturm.« Auch Bruno sah einigermaßen überrascht aus, aber seine braunen Augen wurden wärmer, als er sie betrachtete. »Bist du auch auf Patrouille?«
»Ich laufe nur«, stotterte sie. »Dann will ich mal weiter …«
»Warte, Sturm.« Bruno trat einen Schritt vor. »Ganz kurz. Ich muss dir etwas sagen. Ich – es tut mir leid … wie ich mich verhalten habe.«
Vor Verblüffung stand Sturm das Maul auf. Sie konnte Bruno nur ungläubig anstarren.
»Ich meine das ernst«, fuhr er fort. »Ich war ungerecht zu dir und dafür entschuldige ich mich. Ich glaube nicht, dass du der Böse Hund bist, wirklich nicht.«
Sturm setzte sich und kratzte sich mit einem Hinterbein am Ohr, um Zeit zu gewinnen. Habe ich da eben richtig gehört? »Aber du magst doch keine Scharfhunde …«
»Ich glaube immer noch, dass Pfeil Raschel getötet haben muss«, nuschelte Bruno. »Das heißt, entweder er oder einer der Füchse. Du bist ein guter Hund, Sturm. Es tut mir leid, dass ich dir nicht vertraut habe. Und es tut mir leid, wie viel Ärger ich dir gemacht habe.«
Sturm schaute geradewegs in dieses traurige, reumütige Gesicht. Wie oft hatte sie darin Gemeinheit und Misstrauen gesehen? Doch so genau sie es jetzt auch musterte, sie konnte nicht erkennen, ob hinter diesen schuldbewussten Augen noch etwas Härteres stand. Wie soll ich ihm vertrauen?
Sturm stellte sich wieder auf ihre vier Pfoten. »Aber du beschuldigst immer noch Pfeil. Du glaubst immer noch, dass alle Scharfhunde böse sind. Wir haben nicht darum gebeten, als Scharfhunde geboren zu werden.«
»Pfeil ist anders.« Jetzt blickten seine Augen flehentlich. »Ja, ich verdächtige ihn immer noch. Wir kennen ihn nicht, nicht wirklich, wir haben ihn nie gekannt. Und jetzt hat er das Rudel verlassen und Bella mitgenommen. Aber es geht gar nicht darum, dass er ein Scharfhund ist, Sturm. Ich werde dir daraus nie wieder einen Vorwurf machen. Ich weiß jetzt, wie dumm das war.«
Sturm leckte sich die Lefzen. Bruno sah ehrlich betroffen aus. Konnte sie angesichts dieser unglücklichen Miene wirklich weiter streiten? »Wenn das so ist, Bruno, dann … kann ich deine Entschuldigung wohl annehmen.«
»Es ist so, Ehrenwort. Hör mal, Sturm, ich muss wieder zu meiner Patrouille.« Vor Eifer richtete der große Hund die Ohren auf, doch plötzlich kuschte er, streckte die Beine vor und legte den Kopf fast auf den Boden. »Aber bitte glaub mir, wenn ich sage, dass mir das alles leidtut.«
So eine Unterwerfung würde er doch nie vorspielen, oder? Er hat schon immer genau das gesagt, was er dachte. Sturm legte die Ohren an, sie war überrumpelt, fühlte sich aber auch irgendwie geschmeichelt. Ich hätte nie erwartet, dass Bruno sich darum kümmert, wie es mir geht. Aber so schwer ich es glauben kann, ich denke, er meint es ehrlich. Zögerlich begann sie, mit dem Schwanz zu wedeln.
»Schon in Ordnung … Schon in Ordnung, Bruno. Und danke. Ich freue mich, dass du das sagst.«
»Gut.« Bruno reckte den Kopf vor, bis ihre Nasen sich berührten. »Danke, Sturm. Das bedeutet mir sehr viel.«
Während sie Bruno noch nachsah, setzte Sturm sich wieder. Sie war verwirrt, aber zunehmend auch fröhlich. Ich kann es kaum glauben. Bruno meinte das ehrlich, ganz sicher. Er hasst mich nicht mehr. Das ganze Rudel akzeptiert mich.
Alles wird wirklich besser. Hier gehöre ich dazu.
Das Grab war so ein friedlicher Ort. Schattig von den Bäumen, eingehüllt in die Düfte des Waldes, besprenkelt von warmem Sonnenlicht. Still blickte Sturm hinab auf das Stück Erde, auf das das Rudel Raschel gebettet hatte, damit er zur Erdenhündin heimkehren konnte. Der Boden wirkte nicht mehr frisch aufgeworfen; es wuchsen schon Moos und Gras und winzige lila Blümchen darauf. Raschel wurde wieder ein Teil der Erde, ein Teil des Waldes, genau so, wie die Erdenhündin es allen Hunden versprach.
Es fühlte sich richtig an. Sturm neigte den Kopf und wandte sich zum Gehen.
Da schreckte sie zurück, ihr Herz begann zu rasen. Raschel stand vor ihr: Er war doch kein Teil der Erde, sondern wieder er selbst, seine Augen leuchtend und gleichzeitig ängstlich, die Ohren eng angelegt.
»Vergiss mich nicht, Sturm, ja?«
Ihre Kehle fühlte sich ganz trocken an, doch Sturm schüttelte den Kopf und krächzte: »Natürlich vergesse ich dich nicht, Raschel! Aber wir müssen auch weiterkommen … Das ganze Rudel muss in die Zukunft blicken.«
Über die Augen des grauen Hundes zogen sich traurige Schatten und er schüttelte den Kopf. »Ach, Sturm.«
Sturm hatte einen kalten Knoten im Bauch und zitterte. Sie konnte den Blick nicht von Raschel abwenden.
»Ihr könnt noch nicht weiter, Sturm. Bitte.« Er wandte den Kopf. »Zuerst müsst ihr zurückschauen.«
Sie wollte nicht hinter sich blicken, aber sie konnte nicht anders. Mit prickelndem Fell drehte sie sich langsam um.
Zwei Gräber.
Zwei Gräber.
Raschels Grab war genau wie eben, es fügte sich in das Leben des Waldes ein und das Unterholz machte sich allmählich auf seinem Ruheplatz breit.
Doch daneben lag ein frisch ausgehobenes Grab mit schwarzer feuchter Erde.
»Wer?«, bellte Sturm stockend, mit rauer Stimme. »Von wem ist das, Raschel?«
Sie hörte nur die Stille. Als sie über die Schulter sah, war Raschel verschwunden. Wie besessen begann Sturm zu graben, schürfte mit den Krallen den Boden auf, schob ihn mit den Hinterläufen zur Seite. Sie grub und grub in wachsender Verzweiflung. Die Erde war locker und leicht abzutragen, und nach kurzer Zeit stand sie tief unten im Grab, viel tiefer, als sie Raschel begraben hatten. Weiter und weiter schürfte sie, und immer noch war da keine Leiche, kein Hund.
Wo ist der Leichnam? Wie tief muss ich noch graben? Sturm warf den Kopf in die Luft und heulte laut in den schattigen Wald.
»Wem gehört dieses Grab? Wem?!«
Sie fuhr aus dem Schlaf hoch. Sie war in ihrer Mulde und schüttelte sich heftig. Entsetzt sah sie auf ihre Pfoten. Sie war erleichtert, dass sie keinen Dreck an den Krallen hatte – sie hatte im Schlaf nicht gegraben.
Aber sie fühlte sich genau so. Sie stellte sich den körnigen Boden zwischen den Pfotenballen vor; sogar den Geschmack hatte sie im Maul. Und sosehr sie auch spuckte und sich schüttelte, sie wurde ihn nicht los.
Es war früher Morgen; der Sonnenhund hatte noch nicht sein leuchtendes Fell durch die Bäume hindurch gezeigt, obwohl eine Andeutung seines Glanzes schon den Rand des Himmels hatte erbleichen lassen. Sturm schüttelte sich und versuchte, nicht zu winseln. Ich habe keinen anderen Hund aufgeweckt mit meinem Gezappel. Dank sei den Himmelshunden. Wie hätte ich diesen furchtbaren Traum nur erklären sollen?
Der Geschmack der geträumten Erde und das Gefühl, Schmutz in den Krallen zu haben, ließ sie den ganzen Sonnenauf nicht los; sie konnte den Anblick des frischen Grabes neben Raschels Ruheplatz nicht vergessen. Ich habe zwar keinen Leichnam gefunden, aber Raschel hat versucht, mir etwas zu sagen, das weiß ich.
Wird noch ein Hund sterben? Und wer?
Ich?
Sie hatte ihre Angst immer noch nicht ganz abgeschüttelt, als sie sich für die Frühpatrouille zu Käfer und Dorn gesellte. Die beiden Hunde begrüßten sie mit freundlichem Eifer, aber Sturm selbst hatte Mühe, fröhlich auszusehen. Gegen alle Vernunft war sie sicher, dass ihr Fell von Graberde strotzte.
»Was ist los mit dir, Sturm?« Käfer legte die Stirn in Falten.
Sie schüttelte sich zum zigsten Mal, obwohl es gar nichts abzuschütteln gab. Es war nur ein Traum, ihr Himmelshunde noch mal. »Nichts. Gehen wir.«
Die Wurfgeschwister tauschten skeptische Blicke, doch Sturm ließ ihnen nicht die Zeit, weiter nachzufragen. Sie führte sie auf ihre gewohnte Runde, in einem weiten Bogen auf die Langpfotenstadt zu. In der verlassenen Siedlung war in letzter Zeit mehr Bewegung gewesen, und Alpha wollte, dass alle Hunde genau beobachteten, was dort vorging.
Die drei Hunde wurden langsamer, als eine zerstörte Reihe niedriger Gebäude in Sicht kam. Sturm nickte Dorn und Käfer zu, zog die Schultern ein und kroch durch das hohe Gras, die Ohren vor Wachsamkeit zitternd. Plötzlich drang ihr ein scharfer Geruch in die Nase: kräftig und harzig wie von einem frisch abgebrochenen Ast.
Alpha hat recht. Die Langpfoten sind zurück. Und sie waren nicht untätig.
Da standen neue Zäune aus bleichem Holz, mit scharfen Langpfotenwaffen vor Kurzem erst geschnitten. Der Boden war in langen, dunklen Streifen eingeebnet worden. Neben diesen platten Streifen waren große viereckige Löcher gegraben und an ihren Kanten weitere frisch geschnittene Holzpflöcke in den Boden getrieben worden. In der Nähe schliefen die großen gelben Lärmkästen, mit denen die Langpfoten gruben und glätteten und Dinge zertrümmerten.
»Weckt nicht die Lärmkästen auf«, flüsterte Käfer; sein steifer Schwanz bebte.
»Ich glaube, da ist nichts zu befürchten«, raunte Sturm. »Man sieht ja, wie schwer sie gearbeitet haben.«