Für Helko – den besten großen Bruder,
den man sich wünschen kann.

@stefnhs

 Bitte, meine liebe Schwester. Du kannst etwas von mir abhaben.

  Oh danke, du bist der beste Bruder der Welt!

Mist. Jetzt habe ich die falschen Kinder vom Spielplatz mitgenommen.

Inhalt

Einleitung

Entthronte Erstgeborene

Provozierendes Verhalten hat immer einen Grund

 Der erste Liebeskummer

Die nachgeburtliche Geschwisterkrise

Hauen, Beißen, Nörgeln – was steckt dahinter?

Eine Krise mit vielen Gesichtern

 Das Erstgeborene auffangen

Hilferufe beantworten

Wir alle brauchen Aufmerksamkeit

Spielen nach Aletha Solter

Aktives Zuhören nach Thomas Gordon

 Geschwisterliebe anbahnen

Und was ist mit dem Baby?

Wie Bindung ensteht

Das Band zwischen Geschwistern

Wie Bonusfamilien zusammenwachsen

Geschwisterliebe erhalten

Bedingungslos lieben

Machthierarchien vermeiden

Keine Verantwortung aufzwingen

Bevorzugung bringt Streit

Bedürfnisse abwägen

Die Verantwortung für Harmonie liegt bei uns

Wettbewerb ist kein Erziehungsmittel

Rollenzuschreibungen umgehen

Klarheit durch Familienleitlinien

Gemeinsames Spiel wirkt Wunder

Freiräume schaffen

Für klare Besitzverhältnisse sorgen

Auch negative Gefühle zulassen

 Geschwister außerhalb der Norm

Das schwer beeinträchtigte Geschwisterkind begleiten

Was Eltern tun können

Zuneigung, Liebe und Dankbarkeit

 Geschwisterstreit liebevoll begleiten

Geschwister können um alles streiten …

Streit um die Aufmerksamkeit der Eltern

Der Platz am Fenster

Erster sein

»Ich bin der Entscheider«

»Das ist so ungerecht!«

Kognitive oder körperliche Unreife

Gar nicht so gemeint ….

Grenzüberschreitungen

Minderwertigkeitsgefühle 

»Mir ist laaangweilig!«

  Geschwisterhass auflösen

Mobbing unter Geschwistern

Neue Autorität: Stärke statt Macht 

 Streit fair zu begleiten ist schwer

Eltern sind nicht immer neutral

Die ewige Zweite

Geister der Vergangenheit

Wutanfälle im Supermarkt

Eigene Ängste und der Bann der Medien

»Der beste Bruder der Welt«

Epilog: Wisst ihr eigentlich, wie lieb wir euch haben?

Anmerkungen

Literatur

Die Autorinnen

Einleitung

Ein paar Wochen, nachdem unser kleiner Sohn Josua geboren wurde, holten meine Frau und ich gemeinsam unsere beiden damals dreieinhalbjährigen Töchter Carlotta und Helene von der Kita ab. Wir spazierten zum nahe gelegenen Spielplatz. Schon kurz nachdem wir das Kita-Gebäude verlassen hatten, begann Helene wegen einer Kleinigkeit laut zu weinen. Weil ich das schlafende Baby im Tuch vor der Brust hatte, kümmerte sich meine Frau um unser untröstliches Kind. Sie weinte und weinte, wurde immer lauter, obwohl sie in den Arm genommen und gestreichelt wurde. Meine Frau bemühte sich redlich. Sie erzählte ihr ablenkende Geschichten und ging wirklich liebevoll auf sie ein.

Nach einer Weile wurde Helene ruhiger, doch im Laufe des Nachmittags kam es mehr als einmal vor, dass sie wegen einer Nichtigkeit zusammenbrach. Wieder und wieder brauchte sie intensive Zuwendung, die sie auch jedes Mal bekam, auch wenn uns Großen bei der Lautstärke ihres Weinens und Greinens die Ohren schlackerten. Wir wussten zwar nicht, warum sie so viel weinte, aber wir trösteten sie. Endlich hatte sie sich so weit beruhigt, dass sie sich in den Sand setzen und buddeln konnte. Ihre Schwester Carlotta hatte sich in der gesamten Zwischenzeit relativ gut selbst beschäftigt. Sie war geklettert und gerutscht und hatte von Weitem immer wieder beobachtet, wie Helene von meiner Frau auf den Schoß genommen und bekuschelt wurde. Als Helene sich nun in den Sand setzte, wollte ich gerade erleichtert aufatmen und mich mit dem immer noch schlafenden Baby auf eine Bank setzen, da kletterte Carlotta vom Gerüst und steuerte mit wütendem Gesicht auf ihre Schwester zu. Ohne für uns Erwachsene sichtbaren Anlass fing sie an, mit dem Fuß Sand in ihre Richtung zu kicken und ihr Eimer und Schippe zu klauen. Sofort begann Helene wieder zu weinen. Ich ging zu Carlotta und sagte noch relativ freundlich, dass ihre Schwester die Buddelsachen zuerst hatte und diese gern zurückhaben möchte. Carlotta aber dachte gar nicht daran, mir zuzuhören. Scheinbar frech grinsend rannte sie mit dem Eimer und der Schippe davon. Sie fing aber nicht an, damit am anderen Ende des Sandkastens zu buddeln, sondern rannte nur ein paar Meter, stellte sich dann in gebührendem Abstand zu uns auf und winkte aufreizend mit dem Eimer.

Ich spürte die vermeintlichen Blicke der anderen Eltern auf dem Spielplatz im Rücken, mein Herz begann vor Aufregung und Wut zu pochen. Josua begann sich im Tuch unruhig zu winden. Ich wurde furchtbar wütend auf Carlotta, rannte ihr aber nicht hinterher, sondern blieb stehen. Ich sagte auch nichts zu ihr, schaute sie nur an. Da ich nicht auf ihre Provokation einging, schaltete meine Tochter einen Gang höher. Sie nahm sich eine Handvoll Sand, rannte auf uns zu, warf ihn mit Karacho auf ihre Schwester und rannte dann wieder weg, um nicht von mir eingefangen zu werden. Lauteres Heulen von Helene, die sich nun lamentierend über die sandigen Haare fuhr. Meine Frau ging zu ihr, um sie zu trösten. Das Baby vor meiner Brust öffnete verwundert ein Auge. Ich registrierte es genervt. Josua sollte eigentlich noch eine weitere Stunde schlafen! Aber es half alles nichts, er musste da jetzt durch und ich auch. Hier ging es offenbar um einen Machtkampf zwischen Carlotta und mir. Wie zwei Cowboys mit den Händen an den Holstern standen wir uns gegenüber. Wer würde zuerst die Waffe ziehen? Ich schaute ihr ernst in die Augen, strahlte die große Wut aus, die ich gerade empfand. Ich bildete es mir in dem Moment nur ein, aber ich hatte das Gefühl, die fremden Eltern hinter mir entsetzt murmeln zu hören: »Also, das ist doch nicht zu glauben … frech … und grinst auch noch …«. Mein Puls war auf 180. Carlotta wagte einen erneuten Angriff. Sie rannte wieder auf ihre Schwester zu, doch diesmal waren wir Eltern ganz dicht bei ihr und schützten unsere weinende Tochter. Der Eimer flog auf uns zu, danach die Schippe. Ich fing beides mit den Händen ab. Wieder rannte Carlotta aus meiner Reichweite, nur, um sofort danach wieder zu Helene zu rennen. Diesmal trampelte sie mit aller Macht ihre gebaute Sandburg kaputt. Ich schaffte es, sie am Arm zu packen, bevor sie wieder weglief, und hielt sie fest. Eigentlich wollte ich in Ruhe mit ihr reden, aber Carlotta gebärdete sich wie ein wildes Tier. Mein Griff an ihrem Arm schien ihre Wut zu verdreifachen, sie begann, auf mich loszugehen, nach mir zu treten und mit ihrer freien Hand auf meinen festhaltenden Arm zu trommeln. Aua, tat das weh! Aber ich ließ sie nicht los. Kurz blickte ich zu den fremden Eltern – ein böser Fehler. Ich dachte, ich könnte ihre Gedanken lesen. In mir machte es »Klick«, und eine Wut breitete sich in meinem Inneren aus, wie ich sie selten erlebt habe. Wie eine Feuersbrunst walzte sie über meine rationalen, deeskalierenden Gedanken hinweg und ließ mich nur noch fühlen. Ich konnte nur noch einen klaren Gedanken fassen: Das Kind muss bestraft werden! Mich so zu blamieren, was fiel ihr denn ein! Ich zog Carlotta unsanft zu meiner Frau und keuchte zwischen zusammengepressten Zähnen hervor: »Sie bleibt mit dir zu Hause. Ich mache mir mit Helene und dem Baby einen schönen Nachmittag. Wir werden viel Spaß haben!« Damit wandte ich mich ab und ging. Ich wusste, dass ich meiner Tochter damit wehtat.

Ich ahnte, dass sie gerne Zeit mit mir allein verbracht hätte, doch in diesem Moment wollte ich sie verletzen. Ich wollte sie bestrafen, obwohl ich mir eigentlich fest vorgenommen hatte, niemals Strafen anzuwenden. Weil sie mich mit ihrem Verhalten vor den anderen hatte schlecht dastehen lassen, weil sie ihre Schwester derart geärgert und ihren Babybruder geweckt hatte. Tief in mir drin spürte ich, dass ich das Falsche tat, doch ich wischte den Gedanken beiseite. Ich wollte jetzt nicht vernünftig und erwachsen sein. Ich wollte bockig reagieren und verletzen, weil ich selbst verletzt worden war …

Entthronte Erstgeborene

Bis hierher klingt diese Geschichte wie ein ganz normaler Geschwisterstreit, oder? Vielleicht hätte ich das Ganze auch als solchen abgespeichert und vergessen, wenn mir nicht kurz darauf ein riesengroßes Licht aufgegangen wäre. Meine Töchter waren beide gerade in der nachgeburtlichen Geschwisterkrise, mit der wir uns ausführlich im ersten Kapitel unseres Buches befassen werden. Sie waren von ihrem Brüderchen »entthront« worden. Sie liebten ihn, ohne Frage, aber neben der Liebe war da noch etwas anderes, das rausmusste. Sie waren wütend und traurig, verletzt und verunsichert. Sie hatten das Gefühl, wir würden sie mit dem neuen Brüderchen irgendwie betrügen. Plötzlich durfte er die ganze Zeit an mir kleben, im Tuch und an der Brust, und die Momente, in denen sie nah bei mir sein konnten, wurden durch ihn arg beschnitten. Ich konnte nicht mehr vorlesen, wann immer sie das wollten, ich konnte nicht mehr spontan gemeinsam mit ihnen kochen oder Gesellschaftsspiele spielen. Wir Eltern waren beide müde und gereizt, ich stillte oder wir mussten Windeln wechseln. Abends lag ich stundenlang mit dem Baby im Bett, um es in den Schlaf zu begleiten, während meine Töchter von ihrer anderen Mami ins Bett gebracht wurden. Unser Familiengefüge hatte sich verschoben, und wir alle wussten plötzlich nicht mehr, wer wo hingehört und wie wir uns verhalten sollten. Das verunsicherte meine Töchter über alle Maßen, und das zeigten sie uns auch. An diesem Nachmittag auf dem Spielplatz wollten uns beide mit ihrem Verhalten mitteilen, dass es ihnen nicht gut geht und sie unsere uneingeschränkte Liebe und Aufmerksamkeit brauchen.

Doch während wir auf das Weinen von Helene tröstend eingingen, auch wenn wir den wahren Grund nicht kannten, reagierten wir auf die Strategie ihrer Schwester absolut ablehnend. Wir stießen sie von uns, als sie eigentlich ebenfalls Trost gebraucht hätte. Dass es falsch ist, mich von Carlotta abzuwenden und ihr unter die Nase zu reiben, dass ich etwas »Schönes« mit den anderen beiden unternehmen würde, ahnte ich damals schon, doch das volle Ausmaß meines Fehlers wurde mir erst Wochen später bewusst, als ich endlich verstanden hatte, was sie wirklich von mir brauchte.

Provozierendes Verhalten hat immer einen Grund

Ich bin Sonderpädagogin und habe schon im Studium gelernt, dass jedes (auffällige) Verhalten von Kindern auf seine Art und Weise sinnvoll ist. Sie toben, trotzen, hauen oder weinen normalerweise nicht willkürlich oder irrational – es gibt immer einen guten Grund! Möchte man, dass das unschöne Verhalten aufhört, sollte man versuchen, den Grund zu entschlüsseln: Helene war gerade in der nachgeburtlichen Geschwisterkrise. Sie ging mit den widersprüchlichen Gefühlen und Ängsten in ihrem Inneren um, indem sie viel weinte und sich so unsere vermehrte Aufmerksamkeit sicherte. Carlotta war in derselben Lage. Doch sie ließ ihre widersprüchlichen Gefühle und Ängste in ihrem Inneren raus, indem sie provozierte, haute und kniff und sich so unsere besondere Aufmerksamkeit sicherte. Keine positive Aufmerksamkeit, nein, aber das ist einem Kind in diesem Moment egal. Es nimmt, was es kriegen kann.

Dass ein Kind von uns Trost und Streicheleinheiten bekam und das andere Kind (für die gleichen Gefühle!) jedoch Ärger und Strafen war einer der größten Fehler, der uns Eltern unterlaufen konnte. Mit dem heutigen zeitlichen Abstand kann ich das gut erkennen. Denn die Strategien, mit denen uns unsere Kinder mitteilen, dass es ihnen im Inneren nicht gut geht, wählen sie sich nicht bewusst aus. Sie sind abhängig vom Charakter des Kindes. Die einen weinen, die anderen hauen, manche werden wieder selbst zum Baby, andere jammern vermehrt, wieder andere knabbern an ihren Fingernägeln, um den inneren Stress abzubauen. Mehr noch, unseren Kindern ist nicht einmal bewusst, dass sie reagieren, wie sie reagieren, weil sie eifersüchtig und unsicher ob der neuen Situation sind. Sie fühlen nur ein unbestimmtes Unwohlsein in sich, ein unbewusstes Nagen am Herzen, das sie loswerden wollen. Sie wissen nicht, warum sie weinen. Sie wissen nicht, warum sie hauen und kneifen. Sie wissen nicht, warum sie plötzlich Bücher zerreißen, Kleider zerschneiden oder Wände mit Filzstiften anmalen. Sie wissen nicht. Sie fühlen nur. Sie dafür zu bestrafen, dass sie eine in unseren Augen falsche Strategie nutzen, um uns ihren Schmerz mitzuteilen, ist ungünstig. Wir bestrafen sie für etwas, was sie sich nicht aktiv ausgesucht haben. Wir bestrafen sie für ihren Charakter. Wir bestrafen sie dafür, dass sie noch keine ausgereifte Impulskontrolle, keine ausgereifte Empathie, kein ausgereiftes Verständnis für den Blick aus den Augen eines anderen haben – kurz, wir bestrafen sie dafür, dass sie sich absolut altersgemäß verhalten. Und ja – wir sehen natürlich auch, dass Kinder lernen müssen, dass manche Dinge, wie Hauen, unangebracht sind. Sie müssen lernen, sich gesellschaftlichen Normen anzupassen. Sie müssen lernen, ihre Konflikte friedlich zu lösen. Sie müssen es aber nicht ausgerechnet dann lernen, wenn ein Geschwisterkind geboren wurde. Die nachgeburtliche Geschwisterkrise ist die erste große emotionale Krise unseres Erstgeborenen – es hat Liebeskummer. Es ist eifersüchtig. Es ist so verletzt wie nie zuvor in seinem Leben. Unser Kind will uns nur mitteilen – auf seine ganz individuelle Art –, dass es Herzschmerz hat und dass es uns braucht. Unsere Aufmerksamkeit. Unsere Zuwendung. Unsere Liebe. Unseren Trost.

Auch wenn diese erste große Lebenskrise die Gefühle unserer Kinder gehörig durcheinanderwirbelt, ist es dennoch eine Phase, in der sie eine innige Beziehung zu ihrem Geschwisterchen aufbauen können. In diesem Buch wollen wir Ihnen zeigen, wie Sie das nun plötzlich große Kind liebevoll begleiten und welche Klippen es dabei zu umschiffen gilt. Dabei werden wir darauf eingehen, wie wir es schaffen, dass sich alle Kinder gleichermaßen geliebt fühlen, warum es günstig ist, Machthierarchien zu vermeiden, und wie das gemeinsame Spiel Kinder zusammenschweißen kann. Wir beschreiben, wo sich im Zusammenleben mit mehreren Kindern Freiräume öffnen können, die wir Eltern für Vertrautheit mit jedem einzelnen Kind nutzen können. Die Bindung zu unseren Kindern steht dabei immer im Mittelpunkt. Es liegt uns am Herzen, dass sich jedes Kind in der Familie gesehen fühlt, aber wir wünschen uns auch, dass wir Erwachsenen uns im Alltagschaos nicht selbst verlieren.

Dass es in unserem Buch nicht nur um Konflikte mit neugeborenen Geschwistern, sondern auch unter größeren Kindern geht, wird sowohl in vielen Beispielen als auch in den Erklärungen zur Konfliktlösung deutlich. Bei alldem greifen wir nicht nur auf unsere eigenen Erfahrungen, Erlebnisse und Überlegungen zurück, sondern auch auf die vielen Beiträge aus unserem Blog »Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn«, der auch diesem Buch seinen Titel gegeben hat. Die Namen in den Beispielen haben wir geändert und Begebenheiten auch mal zusammengefasst, um unsere Thesen zu untermauern.

Seit wir unseren Blog im Jahr 2013 gründeten, sind wir mit unseren Lesern und Leserinnen in Verbindung (200 000 sind es aktuell pro Monat), die unser Leben jeden Tag mit vielen großen und kleinen Sorgen, Anekdoten und Geschichten, berührenden und nachdenklich machenden Beobachtungen und Erlebnissen aus ihren Familien bereichern. Von Anfang unseres Blogs an waren viele Beiträge zum Thema Geschwister dabei, und nachdem wir in unserem ersten Buch über kleine Wutwichtel in Trotzphasen und im zweiten über Wackelzahnrebellen im Alter zwischen 5 und 10 Jahren geschrieben hatten, kam bald auch die Bitte: Schreibt doch darüber mal ein Buch. Keines meiner Kinder kriegt die Aufmerksamkeit, die es verdient, und außerdem streiten sie den ganzen Tag. Auch bei uns zu Hause merkten wir: Es liegt nahe, dass das Thema sich verschärft, wenn die Wunschkinder Verstärkung bekommen. Genug Liebe ist für jedes Kind da, aber das Zeitvolumen und die Aufmerksamkeit wachsen nicht mit. Es ist schwer, jedem Geschwisterkind gerecht zu werden.

Wir, das sind Katja und Danielle, deren Leben täglich bereichert – na ja, manchmal auch ganz schön verkompliziert – wird durch insgesamt fünf Kinder im »besten Alter«: Der Jüngste ist Katjas Sohn, geboren 2014, dann kommt Danielles Sohn, der 2011 geboren wurde. Katjas Töchter kamen 2010 auf die Welt, und die älteste ist Danielles Tochter, die 2009 geboren wurde. Wir sind dankbar für den ständigen Kontakt, den wir mit anderen Eltern durch unseren Blog haben, und für unsere gegenseitige Verbindung, die über die Jahre im fast täglichen Kontakt und auch durch das gemeinsame Schreiben unserer ersten zwei Bücher und nun unseres dritten Buches zu einem stabilen, bereichernden Faktor in unser beider Leben geworden ist

In einigen Kapiteln unseres Buches beschäftigen wir uns ausführlich mit dem Thema, das den meisten Eltern – und uns selbst – die Nerven raubt: Geschwisterstreit. Wir haben unsere Leser*innen gefragt, welche Themen in ihren Familien immer wieder zu Konflikten führen. Dabei – sowie in der Auseinandersetzung mit unserem eigenen Erleben – haben wir herausgefunden, dass es viele verschiedene Arten von Streit gibt. Ob um die elterliche Aufmerksamkeit, aus Langeweile oder darüber, wer entscheiden darf, gestritten wird – für jede Art von Streit sind unterschiedliche Handlungsoptionen für uns Eltern sinnvoll. Die Kernfrage lautet letztlich immer: »Soll ich eingreifen oder nicht?« Wir geben Ihnen einen leicht verständlichen Leitfaden an die Hand, mit dem Sie in jeder Situation entscheiden können, ob es sich um einen Streit handelt, den ihre Kinder allein austragen sollten, um ihre sozialen Fähigkeiten weiterzuentwickeln, oder ob elterliches Handeln notwendig und angebracht ist. Wir werden uns außerdem damit beschäftigen, warum es uns Eltern manchmal so schwerfällt, den Streit unserer Kinder fair zu begleiten. Es kommt vor, dass wir uns innerlich doch auf die Seite des einen oder anderen Kindes schlagen und dann nicht mehr paritätisch handeln. Das wiederum hat direkten Einfluss auf die Harmonie unter unseren Kindern.

Dieses Buch soll für Sie ein praktischer und hilfreicher Begleiter sein, wenn Sie Ihr zweites oder drittes Kind erwarten oder schon mitten im Geschwisterstreit-Chaos stecken. Es ist eine Herausforderung, mehrere Kinder durchs Leben zu begleiten, aber neben all den Momenten, in denen Tränen fließen oder die Fetzen fliegen, bleibt doch das Wichtigste bestehen: eine starke Gemeinschaft, verbunden durch Liebe.

Der erste Liebeskummer

Die nachgeburtliche Geschwisterkrise

Wir sind die erste große Liebe unserer Kinder. Niemanden lassen sie so nah und so bedingungslos in ihr Herz. Sie müssen das, es liegt in ihrem Instinkt, weil sie ohne eine Bindungsperson, die sich kümmert, nicht überleben würden. Eine Zeit lang sind wir ihre Supermänner und Superfrauen. In ihren Augen können wir alles, wissen wir alles. Wir lassen ihre Schmerzen mit einem Pusten verschwinden, wir kuscheln ihre Ängste weg. Bei uns fühlen sie sich geborgen und vollständig. Sie fühlen sich geliebt; mehr noch, sie sind, weil wir sie lieben. 

Und dann kommt der Bruch. Ein anderes Kind kommt auf die Welt und wird plötzlich von den Eltern ebenso geliebt wie das Erstgeborene. Wie fühlt sich das vermutlich an? Die meisten Kinder können es uns noch nicht sagen. Manche, vor allem sehr viel ältere Kinder als das Neugeborene, freuen sich, sind aufgeregt und gespannt. So wie mein sechs Jahre älterer Bruder, der die Ankunft seiner kleinen Schwester freudig begrüßte:

Beispiel

Als ich geboren wurde, war mein Bruder bereits sechs Jahre alt. Mir wurde erzählt, dass ich ihm, als er und mein Vater meine Mutter und mich aus dem Krankenhaus abholten, in einem großen Kopfkissen in den Arm gelegt wurde und er sich sofort verliebte. Ab da ließ er mich nicht wieder los. Mein Bruder und ich, wir waren als Kinder ein Herz und eine Seele und sind es als Erwachsene noch. Ich hatte immer einen Beschützer und Tröster an meiner Seite, einen Ratgeber, einen Taschengeldborger, einen Hausaufgabenhelfer. Nachts krabbelte ich in sein Bett, wenn mir die Nacht zu dunkel erschien, und er erzählte mir flüsternd Märchen, bis ich wieder einschlief. Vielleicht lag es daran, dass er schon so alt war, als ich auf die Welt kam – zwischen uns gab es keine Eifersucht, keine Konkurrenz und wenig Streit.

Die allermeisten Kinder jedoch, und vor allem die mit geringem Altersabstand, tun sich schwer, wie auch ich es mit unseren beiden Töchtern Carlotta und Helene erleben musste. Es gibt einen Vergleich, der ein guter Augenöffner ist: Wurden Sie schon von einem Liebespartner, einer Liebespartnerin betrogen?1 Können Sie sich noch erinnern, wie sich das angefühlt hat? Neben Trauer und Wut ist das vorherrschende Gefühl das von Wertlosigkeit. Man fühlt sich wertlos als Mensch, als Partner*in. Man denkt, man war nicht »genug«. Nicht schön genug, freundlich, unterhaltsam oder klug genug, um den Partner oder die Partnerin vollständig glücklich zu machen. Und das Schlimmste an diesen zweifelnden Gedanken ist, dass Sie die eigentlich bisher idyllische Vergangenheit im Nachhinein durchziehen. Denn wenn man jetzt nicht genug ist, dann war man es vielleicht nie? Fehlte dem Partner oder der Partnerin vielleicht schon immer etwas in der Beziehung, und all die schönen Momente, die man in der Erinnerung mit sich herumträgt, sind für den anderen gar nicht so schön gewesen? Das Verhalten vieler Kinder nach der Geburt eines Geschwisterkindes legt nahe, dass sich dessen Ankunft wie Betrogenwerden anfühlt. Seine Eltern scheinen sich neu verliebt zu haben, sie sind untreu geworden. War es, das Erstgeborene, ihnen nicht genug?

Erwachsene, die betrogen wurden, aber ihren Partner oder ihre Partnerin noch immer lieben, versuchen oft, sich »zu bessern«. Sie versuchen, unterhaltsamer oder aktiver zu werden und solche Persönlichkeitsmerkmale anzunehmen, die dem oder der Liebsten vorher vielleicht fehlten. Nicht selten entfernen sie sich dabei immer mehr von dem, was sie eigentlich ausmacht, sie verbiegen sich, um zu gefallen. Das Ziel ist es, den Partner oder die Partnerin zurückzugewinnen. Auch unsere Kinder tun das zunächst. Sie gebärden sich besonders niedlich, anschmiegsam oder rücksichtsvoll, um die Aufmerksamkeit der Eltern wiederzuerlangen. Der Psychologe Rudolph Dreikurs schreibt dazu, das Kind brauche »[…] andauernd neue Beweise dafür, dass es nicht übersehen und vernachlässigt wird. Zuerst kann es versuchen, durch sozial anerkannte und erfreuliche Mittel wie Charme, Herzigkeit, altkluge Bemerkungen oder ähnliches sein Ziel zu erreichen«.2

Natürlich gelingt es Kindern nicht die ganze Zeit, auf positive Art und Weise die Aufmerksamkeit der Eltern zu halten. Viel zu schmerzhaft ist der Verlust, den sie gerade durchmachen. Wer schon einmal betrogen wurde, weiß, wie unmöglich es ist, durchgängig liebevoll auf den betrügenden Part zuzugehen, selbst wenn man es sich fest vornimmt. Ab und zu verlangt es die Verletztheit des Herzens, dass man Spitzen aussendet, um den anderen ebenso zu verletzen. Man weiß natürlich, dass solches Verhalten den anderen nur noch tiefer in die Arme der Nebenbuhlerin beziehungsweise des Nebenbuhlers treibt; dass es unsinnig und kontraproduktiv ist, zickig zu sein, doch was hilft es? Wir haben uns in solchen Momenten nicht unter Kontrolle. Die Verletztheit muss hinausgeschrien werden. Sie zeigt sich in den ungünstigsten Situationen, und es ist uns unmöglich, die kleinen und größeren Sticheleien zu stoppen. Man weiß, dass es falsch und nicht hilfreich ist, und doch tut man es immer wieder. Ähnlich geht es unseren Kindern: Der Schmerz, die Wut, die Trauer, das Gefühl der Wertlosigkeit – all das muss raus. Dreikurs erklärt weiter: »Verlieren die positiven Methoden ihre Wirkung – z. B. weil jüngere Geschwister im Mittelpunkt stehen oder weil die Erwachsenen nun von dem Kind erwarten, dass es sein ›kindisches‹ Benehmen aufgibt –, wird es jedes nur erdenkliche Mittel anwenden, um […] Aufmerksamkeit zu erregen. Unangenehme Nebenwirkungen wie Demütigung, Bestrafung oder sogar körperliche Züchtigung werden in Kauf genommen, solange der Hauptzweck erreicht wird. Ignoriert zu werden ist für Kinder schlimmer, als getadelt, bestraft und sogar geschlagen zu werden.«3 Denn wir Menschen haben ein soziales Gehirn – es setzt vor allem dann körpereigene Opioide frei, wenn wir Zuwendung und Aufmerksamkeit erfahren.4 Diese Opioide wirken auf das Emotionszentrum des Gehirns, sodass wir uns zufrieden fühlen und glücklich sind. Besonders wichtig ist jedoch, was diese Opioide noch leisten: Sie beruhigen die Amygdala (das Angstzentrum der Mandelkerne) sowie das oberste Emotionszentrum des Gehirns und reduzieren dadurch aktiv Angst und Stress in unserem Inneren.5 Fällt die Ausschüttung der Opioide nun weg, weil das neue Baby die Aufmerksamkeit der Eltern vom älteren Kind ablenkt, wird die Amygdala auch nicht mehr mit Hormonen »gestreichelt«, was bedeutet, dass diese Kinder schneller wütend und aggressiv werden. Es ist demnach eine von Natur aus in uns Menschen angelegte Strategie, durch auffälliges, provozierendes, freches Verhalten darauf aufmerksam zu machen, wenn uns etwas fehlt, nämlich Aufmerksamkeit, Liebe und, im Endeffekt, entspannende Hormone. Unglücklicherweise reagieren die meisten Erwachsenen auf solches Verhalten nicht annehmend, sondern ablehnend, was es meist noch verschärft, weil das Kind dann noch weniger Zuwendung und Liebe erhält und noch weniger Opioide ausgeschüttet werden. Der Unterschied zwischen einem betrogenen Ehepartner und einem betrogenen Erstgeborenen ist, dass es dem Kind nicht bewusst ist, dass es sich durch destruktives Verhalten immer weiter von seinen Liebsten entfernt. Es fühlt nur auf unbestimmte Weise, dass die Verbindung zu den Eltern brüchiger geworden ist, und in seiner Panik wird es mit seinen Handlungen immer »lauter«. Das Kind kann erst dann wieder leiser, freundlicher, angepasster werden, »wenn es die Mutter auf ihre vorbehaltslose Liebe getestet hat. ›Liebst du mich, wenn ich genauso wie das kleine Baby schreie? Liebst du mich auch, wenn ich nicht still bin?‹ Solche Konfrontationen können lange dauern. Und der abgründige Schmerz des Kindes zerrt an der eigenen Seele«, schreib Jirina Prekop in ihrem Buch Erstgeborene.6 Den negativen Kreislauf aus ungebührlichem Verhalten wegen Aufmerksamkeitsverlust, Ablehnung dieses Verhaltens durch die Eltern, der daraus resultierenden Verstärkung des Mangels beim Kind und seiner noch destruktiveren Antwort darauf können nur die Erwachsenen durchbrechen! Unsere Kinder senden uns ein lautes SOS mit ihrem Verhalten. Wir müssen auf dieses SOS liebevoll reagieren. Denn sie sind geradewegs in ihre erste große Lebenskrise geschlittert. Ihre große Liebe hat sie gerade betrogen.7