Inhalt

Einleitung

EINS
Familien in Zeiten der Pandemie

ZWEI
Was das kindliche Gehirn für eine gesunde Psyche und ein gutes Lernvermögen braucht

Babys im Fokus

Kleinkinder und Vorschulkinder im Fokus

Grundschulkinder im Fokus

Ältere Kinder und Jugendliche im Fokus

DREI
Welche Erfahrungen unsere Kinder in der Pandemie gemacht haben und was das für ihre Entwicklung bedeutet

Eltern im Fokus

Babys im Fokus

Kleinkinder und Vorschulkinder im Fokus

Grundschulkinder im Fokus

Ältere Kinder und Jugendliche im Fokus

VIER
Was unsere Kinder jetzt brauchen und wie wir seelische Folgen verhindern können

Erholung fürs Gehirn

Soforthilfe für uns alle

Soforthilfe für Babys

Soforthilfe für Kleinkinder und Vorschulkinder

Soforthilfe für Grundschulkinder

Soforthilfe für ältere Kinder und Jugendliche

FÜNF
Warum wir besonders belastete Kinder nicht aus dem Blick verlieren dürfen und wie wir sie angemessen unterstützen

Angemessen fördern

Mit Blick nach vorn: Generation Coronakids

Ausblick

Nachwort

Anmerkungen

Einleitung

Es ist Mai 2021, 21:48 Uhr. Ich war bei Freunden zum Essen eingeladen und rase nun mit gerade noch vertretbarer Geschwindigkeit nach Hause, bevor die Ausgangssperre in Kraft tritt. Mir geht durch den Kopf, was meine Freunde von ihren letzten Monaten erzählt haben. Wie schön es gewesen sei, mit der ganzen Familie zu Hause zu sein, Zeit füreinander zu haben, sich nahe zu sein. Sie hatten Gesellschaftsspiele gespielt, mit den Kindern gekocht. Und das Homeschooling sei zwar ein wenig anstrengend gewesen, aber irgendwie hatten sie auch das gut bewältigt. Dennoch sind sie verunsichert. Haben ihre Kinder die Lockdown-Phasen tatsächlich unbeschadet überstanden? Phasen, in denen sie ständig Menschen mit Maske um sich hatten, kaum mit Gleichaltrigen gespielt und allerlei Lerninhalte verpasst haben? Wir sprachen darüber und ich erzählte ihnen von der kindlichen Entwicklung, vom Gehirn und davon, was Kinder jetzt brauchen. Und konnte sie beruhigen.

Ich fahre vorbei an Einfamilienhäusern, die hell erleuchtet sind und wohlige Gemütlichkeit ausstrahlen. Und ich frage mich, wie es drinnen wohl aussehen mag. Nicht alle Familien haben eine so schöne Lockdown-Zeit wie meine Freunde erlebt, ohne Zweifel. Ob die Kinder hinter den Fenstern wohl schon schlafen? Ist alles ruhig und beschaulich? Oder sind die Familien gestresst? Haben sie einen anstrengenden Tag hinter sich?

Ich stelle mir vor, wie Eltern hinter dem einen oder anderen Fenster versuchen, ihr Baby zur Ruhe zu bringen. Todmüde und erschöpft, wie es Eltern kleiner Kinder häufig sind, darauf hoffend, bald selbst einen Moment Ruhe zu finden. Und ich erinnere mich daran, wie es für mich selbst war, mit meinen Zwillingen. Auch ohne Pandemie ein fast unmögliches Unterfangen.

Spätestens in der dritten Welle sind auch die resilientesten unter uns Eltern an ihre Grenzen gekommen. Die Pandemie hat das Leben vieler Familien auf den Kopf gestellt und Eltern müssen alles unter einen Hut bekommen: Kinderbetreuung, Arbeit, Haushalt. Vielleicht plagen sie darüber hinaus Ängste und Sorgen. Angst davor, selbst zu erkranken, Angst vor einer Erkrankung der eigenen Eltern oder anderer Familienmitglieder. Vielleicht haben sie existenzielle Sorgen und Zukunftsängste. Was, wenn ich meinen Job verliere? Was, wenn meine berufliche Existenz an der Pandemie zerbricht?

Als Neurowissenschaftlerin weiß ich, was Stresshormone mit dem Gehirn machen und ich weiß, wie schwer es gestressten Eltern fällt, feinfühlig auf ihr Kind einzugehen. Ich weiß auch um den Teufelskreis, der sich daraus ergeben kann, wenn es gestressten Eltern nicht gelingt, ihr gestresstes Baby zu beruhigen, wenn der Stress der Eltern das Baby stresst und der Stress des Babys die Eltern: Das Miteinander mit dem Baby treibt seine Eltern in die Verzweiflung. Das betrifft nicht nur Eltern von Babys, sondern auch Eltern von Kleinkindern. Die Kinder sind trotzig und wütend und die ohnehin mit ihren eigenen Anforderungen überforderten Eltern reagieren ungehalten. Alles zusammen schaukelt sich immer weiter hoch. Die Nerven liegen blank.

Dabei wollen Eltern auch während der Pandemie nur das Beste. Sie tun, was sie tun müssen. Und werden dabei mitunter fast wahnsinnig. Weil sie arbeiten müssen, aber nicht dazu kommen. Und sich die Zeit, die sie damit verbringen, es zu versuchen, unendlich auszudehnen scheint. Weil sie, wenn sie arbeiten, kaum noch Zeit für ihre Kinder haben. Die Pädagogin aus der Nachbarwohnung, ob aus Hilfsbereitschaft oder aus Eigeninteresse angesichts des Lautstärkepegels, empfiehlt eine klare Struktur: morgens arbeiten und sich nachmittags aktiv und zugewandt mit dem Kind beschäftigen. Aber wie soll das gehen, wenn das Kind sich nicht an die vorgesehene Tagesstruktur hält, morgens im Ein-Minuten-Takt im Wechsel Bauklotzsuppe serviert, quengelt, mit dem Traktor über die Tastatur fährt und dabei fast die E-Mail an den Chef vorzeitig abschickt, und zwischendurch immer wieder einen Trotzanfall bekommt? Nicht auszudenken, wenn man nicht nur ein, sondern zwei oder gar drei Kinder hat und zu den Unterbrechungen durch die einzelnen Kinder auch noch deren Konflikte untereinander hinzukommen. Bye bye Homeoffice.

Als würde es nicht reichen, dass man selbst nicht zum Arbeiten kommt, dass sich die unbeantworteten E-Mails sammeln, die To-do-Liste immer länger und länger wird, die Küche und die Wäsche beginnen, ungewollte Assoziationen hervorzurufen, und sich der Stress vom Gehirn in den Brustkorb auszudehnen beginnt, haben Eltern auch noch ein schlechtes Gewissen. Und das sitzt üblicherweise ziemlich schwer und störend im Nacken: Geh mit deinen Kindern raus, spiel gefälligst mit ihnen, sie brauchen das für ihre Entwicklung! Sie sind arm dran, so ganz ohne Kontakte! Sie brauchen das Spielen unbedingt und sie brauchen liebevolle Kommunikation! Sei nicht so garstig, rede ruhig und besonnen mit ihnen, sie haben dir nichts getan!

Der Pandemie-Alltag aber lässt das nicht zu. Er scheint Eltern vor eine Entweder-oder-Entscheidung zu stellen: Verliere deinen Job und kümmere dich um dein Kind – oder: Halte durch und hoffe inbrünstig, dass dein Kind keinen Schaden nehmen wird.

Auch die Obergeschosse der Häuser sind hell erleuchtet. Sind sie das immer zu dieser Uhrzeit? Ich frage mich, ob die Grundschulkinder, die in den nächsten Tagen keine Schule haben werden, bereits schlafen – wie sie es wohl in Prä-Corona-Zeiten bereits getan hätten. Ist der Alltag so wie immer? Oder liegen die Kinder bis in die Puppen in ihren Betten, mit dem Smartphone in der Hand? Weil am nächsten Morgen kein Wecker klingelt und auch die Eltern froh sind, wenn die Kinder ein wenig länger schlafen, damit sie in Ruhe arbeiten können. Arbeiten, ohne dass im Minutentakt jemand etwas Unaufschiebbares verlangt: ein Kind, das etwas essen möchte, und zwar am liebsten Pfannkuchen; ein anderes, das das blaue T-Shirt, das gerade in der Wäsche liegt, tragen will, am besten gebügelt; eines, das das Spielzeug vom Bruder haben möchte, und zwar nicht gleich, sondern jetzt sofort; während die Schwester ihre Haarspange, die hinters Sofa gefallen ist, für ihr Outfit braucht, und zwar die und keine andere.

Zwar fährt im Grundschulalter der Kinder kein Traktor mehr über die Tastatur, während man verzweifelt versucht, eine seit Tagen überfällige E-Mail zu formulieren, zwar wird das Quengeln differenzierter ausgedrückt, aber das Problem der Vereinbarung von Arbeit, Haushalt und der zugewandten Beschäftigung mit dem Kind bleibt. Und dann ist da noch der persönliche Favorit vieler Eltern für das Unwort des Jahres: Homeschooling. Auch das will noch beachtet werden. Als würde man versuchen, einen Wintermantel in den ohnehin schon übervollen Koffer zu stopfen, möchte das Homeschooling ebenfalls noch ein paar Stunden vom Tag. Vielen Dank auch.

Ich fahre vorbei an den Häusern und frage mich, was die Jugendlichen, die nun eigentlich mit ihren Freundinnen und Freunden zusammen sein sollten, die entspannt gemeinsam abhängen sollten – schließlich gehört das zur Jugend dazu –, wohl gerade machen. Sitzen auch sie hinter den beleuchteten Fenstern? Vermutlich. Bestimmt nicht besonders glücklich. Der eine oder die andere hat vielleicht gerade Streit mit den Eltern. Wie soll man sich auch abnabeln, wenn man nicht aus dem Haus darf? Und wem soll man sich anvertrauen, wenn man sich einsam fühlt? Die Eltern sind schließlich gerade nicht für alles die richtigen Ansprechpartner. Doch die Gleichaltrigen sind aufgrund der Kontaktbeschränkungen nicht verfügbar. Das ist kein Leben für Jugendliche. Ob sie immerhin ein wenig soziale Verbundenheit mit ihren Freundinnen und Freunden in den sozialen Medien herstellen können? Reicht das, um sich wohl und einander nahe zu fühlen? Um die Einsamkeit zu durchbrechen?

Ich frage mich, was wohl herauskommen mag, wenn all das Stresspotenzial in den Familien zusammenkommt. Wenn sich ein Teufelskreis an den anderen reiht: im Miteinander mit Baby, Kleinkind und Grundschulkind. Wenn die Jugendlichen sich immer weiter zurückziehen und die Eltern Sorge haben, dass ihre so empfindliche Psyche ganz ohne Kontakte all dem nicht standhalten könnte. Wenn sich der Stress und die Sorgen beider Elternteile vermischen und sie dünnhäutig und gereizt miteinander in Konflikt geraten. Und ihnen dann aufgrund der Kontaktbeschränkungen keine Freundinnen und Freunde zur Verfügung stehen, die sie einmal kurz in den Arm nehmen. Ihnen bei einem vertrauten Gespräch versichern können, dass alles besser werden wird. Kein Lichtblick, kein Grillabend am Wochenende, kein Auspowern im Fitnessstudio, das den Stress ein wenig schrumpfen lässt.

All das kann zu ständigen Eskalationen führen. Besonders dann, wenn zusätzlich zu den beschriebenen Schwierigkeiten beengte räumliche Verhältnisse hinzukommen. Es keinen Garten zum Herumtoben gibt, während die Spielplätze nicht zur Verfügung stehen. Finanzielle Sorgen, die schon vor der Pandemie existierten, wiegen noch schwerer. Und auch sprachliche Schwierigkeiten, nicht genügend soziale Kontakte, die man um Unterstützung bitten kann und die wissen, wo Hilfe erreichbar wäre, verschärfen die eigene Situation in der Pandemie.

Menschen mit psychischen Erkrankungen, die bereits vor der Pandemie von einem Netz aus beratenden und therapeutischen Händen nur bedingt aufgefangen werden konnten, geht es in der Pandemie unter Umständen noch schlechter. Ihnen kommt die notwendige Unterstützung in dieser Zeit vielfach ganz abhanden. Und damit nehmen ihre Schwierigkeiten zu. Für viele Kinder mit Eltern, die psychisch erkrankt sind, war das Familienleben bereits vor der Pandemie belastend. Wie sieht es aus, wenn die Psyche der Eltern noch stärker leidet und die Familien den ganzen Tag zusammen sind? Was passiert in der Pandemie mit Kindern aus Familien, in denen es kaum Ressourcen gibt, die schwierige Situation zu meistern?

Die Bedürfnisse nach Ruhe, Sicherheit, Nähe und sozialem Miteinander einen uns Menschen. Sie bilden die Grundlage dafür, dass wir in dieser Welt zurechtkommen. Erst wenn sie erfüllt sind, können wir Neues lernen, unserer Arbeit nachgehen und selbstgesetzte Ziele verfolgen.

Wenn wir unseren Babys und Kleinkindern nach den Phasen des Lockdowns gute Eltern sein wollen, müssen wir für uns selbst sorgen, unser Bedürfnis nach Ruhe, Sicherheit und Nähe stillen. Nur dann können wir so feinfühlig und wertschätzend mit unseren Kindern umgehen, wie es ihre jeweilige Lebensphase erfordert. Es liegt in der Verantwortung von uns als Gesellschaft, diejenigen zu unterstützen, die das nicht allein bewältigen können – sei es aus finanziellen Gründen, weil sie alleinerziehend oder auf andere Weise besonders belastet sind.

Blicken wir auf die Grundschulkinder und die definitionsgemäß in diesem Lebensabschnitt anstehende Anforderung, in der Schule zu lernen, dürfen wir nicht vergessen, dass das Gehirn nicht in jedem Zustand nachhaltig lernen kann. Langfristig wirksames Lernen funktioniert nicht, wenn Kinder gestresst sind, und auch nicht, wenn die vorhandene Aufmerksamkeit der Kinder nach Monaten des Lockdowns allein darauf ausgerichtet ist, die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, wozu auch das Eintauchen in Fantasiewelten, in Rollenspiele sowie das unbeschwerte Herumtoben mit Freundinnen und Freunden gehört. Diese Bedürfnisse der Grundschulkinder dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren.

Und ebenso dürfen die Jugendlichen nicht aus unserem Fokus geraten. Wie sollen sie ihren Weg finden? Wie sollen sie am Ende ihrer Schullaufbahn oder ihrer Ausbildung alles geben, wenn ihr Gehirn nach Monaten in der Enge der elterlichen Wohnung vor lauter Bedürfnis nach Ablösung laut schreit? Wenn es fordert, rauszugehen, sich unbeschwert mit Gleichaltrigen zu treffen und mehrstündiges Sitzen am Schreibtisch für Folter hält?

Für alle Bedürfnisse der unterschiedlichen Altersgruppen muss Zeit und Raum geschaffen werden. Nur dann ist das Gehirn auch bereit, sich auf das einzulassen, was von ihm verlangt wird. Doch auf politischer Ebene scheint hinsichtlich der Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen Ratlosigkeit zu herrschen. Im Mittelpunkt steht vor allem die Frage: Wie kann es uns gelingen, den verpassten Lernstoff möglichst effizient in die Gehirne unserer Kinder zu füllen? Einige Stimmen fordern Lernferien, andere eine Fokussierung auf die Hauptfächer. Aber kennen diese Stimmen die Bedürfnisse der Kinder? Wissen sie, wie sich das Gehirn und die Psyche eines Kindes entwickeln und welche Erfahrungen Kinder benötigen, um Neues erlernen zu können?

Erste Studienergebnisse, die einen Anstieg psychischer Auffälligkeiten bei Kindern als Folge der Pandemie nahelegen, werden zwar zur Kenntnis genommen, die Diskussion hinsichtlich eines möglichen Handlungsbedarfs wird jedoch nur begrenzt oder gar nicht geführt. Es macht den Eindruck, als wolle man zunächst auf weitere Studien warten. Doch diese Notwendigkeit des Wartens ist ein Trugschluss. Denn Studien über die Folgen der Pandemie erfordern, dass die Folgen bereits eingetreten, analysiert und veröffentlicht worden sind. Bis wir einen umfassenden Überblick haben, werden also Monate, womöglich Jahre vergehen.

Auch wenn die Studien zweifelsohne wichtig sind, um aus ihnen Erkenntnisse für das politische und gesellschaftliche Handeln in einer eventuell erneut auftretenden, vergleichbaren Situation abzuleiten – sie müssen über einen längeren Zeitraum durchgeführt und sorgfältig analysiert werden. Doch unsere Kinder spüren die Folgen der Pandemie bereits deutlich. Und dieser Umstand erfordert ein unverzügliches Handeln. Wir können nicht warten. Wir müssen jetzt gegensteuern. Und das können wir auch ohne einen vollständigen Überblick über die Studienlage. Psychologie, Pädagogik, Soziologie und Neurobiologie versorgen uns seit Jahrzehnten mit Erkenntnissen über die kindliche Entwicklung. Wir wissen, was Kinder und Jugendliche brauchen, um eine gesunde Psyche zu entwickeln und ein gutes Lernvermögen aufzubauen. Und mit ein wenig gesundem Menschenverstand können wir beurteilen, ob unsere Kinder notwendige Erfahrungen während der Pandemie tatsächlich machen konnten. Und wenn wir zusätzlich Expertinnen und Experten aus der Praxis befragen, diejenigen, die tagtäglich mit besonders belasteten Familien arbeiten, erhalten wir ein aussagekräftiges Bild darüber, was die Kinder der Pandemie wirklich benötigen. Es gilt also, keine Zeit zu verlieren. Damit unsere Kinder die Chance haben, die verpassten Entwicklungen nachzuholen.

EINS

Familien in Zeiten der Pandemie

Masken. Eine Welt voller Masken. Im Supermarkt, in den öffentlichen Verkehrsmitteln, beim Arztbesuch. Wir sehen nicht mehr fröhliche, ängstliche, zornige, nachdenkliche, bedrückte oder erstaunte Gesichter der Menschen – wir sehen Masken. Gelegentlich begegnet uns eine hochgezogene Augenbraue oder ein leichtes Stirnrunzeln, ob das aber von einem Gefühl herrührt oder lediglich eine Reaktion auf die beschlagene Brille ist, wissen wir nicht genau.

Abstand. Bloß den anderen Menschen nicht zu nahekommen. Ein Meter fünfzig, zwei Meter, kein Händeschütteln, kein In-den-Arm-Nehmen, bloß kein herzliches An-die-Brust-Drücken. Vorlesen auf dem Schoß des Erziehers, der Nachbarin, des Großvaters oder der Patentante? Unmöglich. Nähe? Nein danke. Die zugrundeliegende Einstellung, dass andere Menschen eine Gefahr für uns selbst darstellen, scheint in immer tiefere Schichten unseres Bewusstseins vorzudringen. Wenn wir auf Netflix sehen, wie Menschen ohne Maske in Bussen sitzen, sind wir irritiert, glauben, wir sitzen vor einem Finde-den-Fehler-Bild. Sehen wir, wie sich Menschen liebevoll umarmen, schlägt etwas in unserem Inneren Alarm. Wir haben bereits beim Zusehen das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun.

Kontaktbeschränkungen. Kein gemeinsames Essen, kein fröhliches und ausgelassenes Miteinander mit Freundinnen und Freunden, kein unbeschwertes Lachen. Stattdessen: Beschränkung auf die Kernfamilie. Kein Vereinssport, kein Schwimmbadbesuch, keine Geburtstagsfeiern. Sondern: Digitale Medien überall und für alles – Unterricht, Meetings, soziales Miteinander, Spiel und Sport.

Was macht all das, was macht diese veränderte Welt mit unseren Kindern? Wundertüte Corona-Kindheit. Konnten unsere Kinder die Erfahrungen machen, die ihr Gehirn so dringend braucht, um seelische Gesundheit und ein gutes Lernvermögen zu entwickeln? Unterscheidet sich ihre Kindheit von denjenigen anderer Generationen? Werden sie für immer belastet sein? Werden sie aufgrund der Pandemie ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen aufweisen?

Wir sind verunsichert.

Gelegentlich erreichen uns positiv gestimmte Berichte. Familien erzählen, dass die Pandemie für sie eine Chance gewesen ist. Die veränderte Situation habe ihrem Familienleben gutgetan, habe sie auf das Wesentliche zurückgeworfen. Nie zuvor haben sie so viel wertvolle Zeit miteinander verbringen und selbstbestimmt ihre Freizeit gestalten können. Diese Familien scheint zu einen, dass sie über viele sie schützende und stabilisierende Ressourcen verfügen. Dazu gehören gute Fähigkeiten zur Stressbewältigung, keine übermäßig schwierigen Temperamente in der Familie, ein unterstützendes soziales Netzwerk, finanzielle Sicherheit sowie günstige räumliche Bedingungen, wie ein eigenes Haus mit Garten. Diese Familien erlebten die Pandemie als wahren Segen.

Dr. Herbert Renz-Polster, wie erleben Kinder und Jugendliche die Pandemie?

»Sehr unterschiedlich, sogar in der gleichen Familie. Für manche war es leicht tragbar, andere sind daran traurig und ängstlich geworden, einige wenige sind von der Last schwer heruntergedrückt worden, um die müssen wir uns ganz besonders kümmern.«

Dr. Herbert Renz-Polster, Kinderarzt,
Wissenschaftler und Autor

Andere Familien werden einwenden, dass diese segenbringende Chance an ihrer Tür nie geläutet hat, sie werden diese Überhöhung der Pandemie als blanken Hohn empfinden – angesichts der eigenen Lebenssituation, in der zwar viel gemeinsame Zeit, aber wenig Ressourcen vorhanden sind. Mit der Folge, dass das eigene Familienleben nicht als wertvoll wahrgenommen werden kann.1 Über allem schwebt eine Stresswolke, getragen von zahlreichen Sorgen um die eigene Existenz und um die Zukunft der Kinder. Und die Freizeitgestaltung ist vor allem eines nicht: selbstbestimmt.

Gleichzeitig überschlagen sich in den Medien die Schlagzeilen. Es ist davon die Rede, dass immer mehr Kinder Verhaltensauffälligkeiten zeigen, sie ihr angeborenes Bedürfnis nach Nähe im Laufe der Pandemie verlieren und davon, dass die Tatsache, dass Kinder nur noch ihre Kernfamilie ohne Masken sehen, schwerwiegende Folgen haben wird.

Ängstlich blicken wir auf die ersten Studien, die wie eingangs erwähnt noch kein umfassendes Bild zeichnen können. Eine verminderte Nachhaltigkeit in der Verankerung von Lernstoff mag erst Jahre später offenbar werden und auch psychische Erkrankungen entwickeln sich nicht zwangsläufig unmittelbar. Dennoch liefern sie erste Erkenntnisse, und die sind besorgniserregend. In einer Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf wurden 1586 Familien während der ersten Welle im Mai/Juni 2020 befragt. Ihre Aussagen wurden anschließend mit solchen verglichen, die vor der Pandemie erhoben wurden. Es zeigte sich, dass sich zwei Drittel der Kinder durch die Pandemie stark belastet fühlen. Psychische Probleme traten gehäuft auf und auch die Angst der Kinder nahm zu. Darüber hinaus ging aus der Studie deutlich hervor, dass Kinder, die in Armut aufwachsen, einen Migrationshintergrund haben und in beengten räumlichen Verhältnissen leben, am stärksten von den negativen Folgen der Pandemie betroffen sind.2

In einer im Januar 2021 abgeschlossenen, weiteren Befragung gaben 80 Prozent der Kinder an, dass sie sich belastet fühlen. Ihre Ängste, Sorgen und psychosomatischen Beschwerden haben noch einmal zugenommen.3 Auch aus anderen Ländern erreichen uns Studienergebnisse, aus denen hervorgeht, dass bei allen Altersgruppen von den Grundschulkindern bis hin zu den Jugendlichen ein erheblicher Anstieg von Depressionen und Angststörungen erkennbar ist.4 Neben den Kindern und Jugendlichen aus benachteiligten Familien waren vor allem diejenigen betroffen, die bereits vor der Pandemie psychische Probleme hatten. Ihr Zustand verschlimmerte sich. Sie waren zusätzlichen Ängsten ausgesetzt, während Therapieangebote kaum mehr verfügbar waren.5

All das sind Ergebnisse der ersten und zweiten Welle der Pandemie. Bis wir Ergebnisse über die Folgen der dritten Welle vorliegen haben, wird es dauern. Und noch länger wird es dauern, bis wir Aussagen über Langzeitfolgen treffen können, also darüber, ob die gegenwärtigen Belastungen und Ängste einen bleibenden Effekt auf unsere Kinder haben.

In der Zwischenzeit sollten wir jedoch nicht tatenlos bleiben. Vielmehr ist es dringend notwendig, unseren Blick auf die durch Psychologie, Pädagogik, Soziologie und Hirnforschung umfassend untersuchten Voraussetzungen für eine gesunde Entwicklung zu richten. Welche Bedürfnisse hat das kindliche Gehirn? Und konnten diese unter den Bedingungen der Pandemie erfüllt werden?

ZWEI

Was das kindliche Gehirn für eine gesunde Psyche und ein gutes Lernvermögen braucht

Ein Baby, ob nun Corona-Baby oder Prä-Corona-Baby, kommt relativ unwissend auf die Welt. Zum Zeitpunkt der Geburt ist sein Gehirn noch völlig unfertig, im Grunde auf die Basics reduziert, wie ein frisch aus dem Ofen geholter, weicher und empfindlicher Geburtstagskuchen, der noch nicht dekoriert ist. Lediglich diejenigen Hirnbereiche sind ausgereift und voll funktionsfähig, die dafür sorgen, dass das Baby das tut, was es tun muss, um zu überleben und sich weiterzuentwickeln. Es muss atmen, es muss verdauen, es muss mit großen, fragenden Augen seine Umwelt angucken und es muss schreien. Das Schreien gehört – meist nicht zur Freude der Eltern – auch zum Überlebensrepertoire, denn damit stellt das Baby sicher, dass es Schutz erhält, dass es vertraute Menschen herbeirufen kann, um ihnen zu zeigen, dass es Bedürfnisse hat, die es noch nicht selbst erfüllen kann.

Neben der Fähigkeit, lautstark bis ohrenbetäubend zu schreien, hat die Natur dem Baby weitere Voreinstellungen mitgegeben, die es anleiten, sich bald nach der Geburt in der Welt zurechtzufinden. So richtet es seine Aufmerksamkeit am liebsten auf Menschen, schaut in deren Gesichter, in deren Augen und auf deren Hände. Das interessiert das durchschnittliche Baby von Natur aus mehr als andere Dinge, die es umgeben (wobei es durchaus Babys gibt, bei denen das nicht so ausgeprägt ist, etwa bei Babys mit einem hohen familiären Risiko für Autismus1). Das gewährleistet, dass es sich mit seinen Bedürfnissen an Menschen richtet, von ihnen Unterstützung erwartet und nicht etwa verpasst, in die richtige Richtung zu schauen, wenn es Durst hat.

In seinem noch so unwissenden Gehirn warten zahlreiche Funktionen auf Feineinstellung. Alles ist locker miteinander verdrahtet und Millionen von Nervenzellen warten auf Erfahrungen. Erfahrungen, die darüber entscheiden, welche der zahlreichen Nervenzellverbindungen stabilisiert werden. Das ist ein grundlegendes Prinzip der Hirnentwicklung: Es werden diejenigen Verbindungen zwischen den Nervenzellen stabilisiert und gestärkt, die immer wieder genutzt werden. Und diejenigen Verbindungen, die nie durch Erfahrungen aktiviert werden, werden abgebaut. Wie nach einer großen Aufräumaktion wird nur das beibehalten, was man wirklich braucht. Die Verbindungen zwischen Nervenzellen, die das Baby immer wieder benötigt, werden sozusagen zu Autobahnen ausgebaut und die Trampelpfade, die eigentlich nie genutzt werden, wachsen irgendwann zu. Damit diese Autobahnen entstehen können, muss das Baby also Erfahrungen machen. Eine Notwendigkeit, die auch in Zeiten der Pandemie nicht wegfällt. Ob davor, währenddessen oder danach – das Baby muss Erfahrungen machen.