Lisa Krusche, geboren 1990, studierte Kunstwissenschaft und Literarisches Schreiben. Sie lebt als freie Schriftstellerin in Braunschweig. 2020 erhielt sie den Deutschlandfunk-Preis bei den 44. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt und wurde für »Das Universum ist sehr groß und super- mystisch« mit dem Hans-im-Glück-Preis ausgezeichnet.

EINS

Ich habe eine Wasserpflanze bekommen. Eigentlich wollte ich einen Hund. Ich starre die Tüte mit Wasser an, die auf dem Tisch steht und in der die Pflanze mit ihren tentakeligen Stielen herumwabert. Der Mann hat sie mir geschenkt. Er kam in die Küche, in dem Bademantel meiner Mutter, die kinnlangen Haare standen in alle Richtungen ab, er hatte die Hände hinter dem Rücken und grinste dumm.

»Hab da was für dich, Gustav«, sagte er. Für eine klitzekleine Sekunde dachte ich: Welpe! Aber dann hat er die Tüte auf den Tisch gestellt. Ich starrte sie an. Er ging um den Tisch und klopfte mir von hinten auf die Schulter.

»Ziemlich cool, was?«, sagte er. Lily, die am Toaster stand, lächelte ihn an. So als hätte er was richtig Tolles gemacht. Dabei weiß sie genau, dass ich einen Hund will.

»Zu viel Arbeit«, hatte sie gesagt, »ich schaff das nicht, zwei Jobs und dann noch ein Hund.« Nur, dass es ja mein Hund wäre und ich mich kümmern würde. Aber das glaubt sie mir einfach nicht. 

»Wenn’s gut läuft, kriegst du einen Fisch dazu«, sagte der Mann und zwinkerte mir zu.

»Mal sehen«, sagte Lily.

»Das Leben ist ein großer Scherz«, sagt Opa manchmal. Ich glaube, ich weiß jetzt, was er meint.

»Dann bist du auch nicht ganz so allein, wenn wir wegfahren. Du kannst der Wasserpflanze ein Aquarium einrichten und was darüber lesen und so. Du liest doch voll gerne, oder?«, sagt der Mann jetzt und setzt sich an den Tisch. Was ich überhaupt nicht mag, ist, wenn Leute Sachen nachfragen, die sie längst wissen. Insgesamt mag ich eigentlich nichts von dem, was der Mann macht. Zum Beispiel mit Lily in den Urlaub fahren. Das war sein Vorschlag gewesen.

»Das erste Mal wegfahren seit zehn Jahren«, hatte Lily gesagt und war total aufgeregt. Sie wollen an die Ostsee. Nicht mit mir! Es ist keine gute Idee. Es läuft jedes Mal so: Ein Mann kommt, Lily ist kurze Zeit froh, der Mann geht wieder, Lily wird noch trauriger als vorher. Je länger der Mann da war, umso trauriger wird sie. Ein ganzer Urlaub kann nur noch mehr Traurigkeit bedeuten. 

»Vergiss es«, habe ich gesagt und: »Wenn du mit dem wegfährst, rede ich nie wieder ein Wort mit dir!« Lily ist dann ziemlich sauer geworden. Ich auch, weil sie es nicht kapiert. Dass ich den Mann nicht leiden kann. Dass er dumme Witze macht und dumme Geschenke. Dass sie jedes Mal aufseiten der Typen steht und irgendwie vergisst, dass ich auch noch da bin. Dass wir, wenn überhaupt, jemanden brauchen, der bleibt. Ich habe noch Ich will keinen Ersatzvater in mein Handy getippt und es ihr unter die Nase gehalten.

»Gustav!«, sagte Lily. Dann sagte keiner mehr was. Und irgendwann Lily: »Na gut, dann passt meine Freundin Nadiah auf dich auf. Ich fahre auf jeden Fall.« Ich zuckte mit den Schultern. Soll sie doch. Ich mache dann, was ich immer mache. Zum Kanal gehen, Schiffe beobachten, Sachen sammeln. Wir haben eigentlich nie was gemacht in den Sommerferien. Lily hat immer gesagt: »Besser nicht wegfahren, sonst passt man am Ende nicht mehr in seine Welt.« Und jetzt fährt sie doch, und alles ist anders als sonst, aber nicht auf die gute Art.

»Bedank dich mal«, sagt Lily und setzt sich bei dem Mann auf den Schoß. Ich nicke dem Mann zu.

»Gustav!« Lily guckt mich böse an. »Es ist ja nicht so, dass du nicht reden kannst.« Ich beiße von meinem Toast ab.

Ich habe es mir geschworen und ich werde das durchziehen. 

»Ist schon o.k.«, sagt der Mann und das kann man ihm nicht übel nehmen. »Ist echt schade, dass du nicht mitkommst. Ich weiß, du bist nicht der Gesprächigste.« Der Mann lacht, was auch immer es da zu lachen gibt. »Aber wir würden bestimmt dicke Freunde werden.« Als ob. Ich zucke wieder mit den Schultern. Ist ihm egal. Er redet immer weiter, wie toll es dort sei, wo sie hinfahren, und die schönen Strände und so weiter, und Lily guckt ihn an, als würde er gerade die klügsten Dinge der Welt sagen. Ich stupse mit dem Finger gegen die Wasserpflanzentüte. Sie wackelt hin und her.

»Denkst du dran, heute Opa zu besuchen?« Lily küsst den Mann auf die Wange und steht auf. Ich nicke. Ich bin für Opa zuständig. Weil Lily morgens arbeitet und abends auch und danach darf man keine Besuche mehr im Altersheim machen. Zumindest behauptet Lily das. Ich stehe auf und nehme mir die Tüte. Die Pflanze schwappt hin und her. Ich werde sie Agatha nennen. »Du heißt Agatha, obwohl du null wie eine Agatha aussiehst«, werden die Leute sagen und »Was ist das überhaupt für ein komischer Name?« werden sie fragen. Und Agatha wird nichts antworten und mich stattdessen angucken und wir werden uns wissend zunicken. Ich gehe mit Agatha auf den Balkon.

So, guck. Hier lebst du jetzt, sage ich zu ihr in Gedanken. Ich halte sie hoch, damit sie über das Geländer gucken kann. Ich zähle am liebsten die Leute, die aus der S-Bahn-Haltestelle kommen, oder die S-Bahnen, die ankommen und abfahren, oder die Autos, die von morgens bis abends die Hauptstraße entlangfahren, oder wie viele Menschen in den umliegenden Hochhäusern ihre Balkone zum Wäschetrocknen benutzen. Ganz schön viele. Wäsche trocknen und rauchen, das machen die meisten Leute auf ihren Balkonen. Manche lagern auch ihr Altglas oder sonst irgendwelchen Müll da draußen. Nur hin und wieder gibt es mal einen Plastikstuhl oder einen Tisch. Alles ist irgendwie grau, obwohl die Sonne scheint. Es ist der erste Tag der Sommerferien und nichts ist gut. Ich nehme den Arm wieder runter.

Genug gesehen, oder? Agatha sagt nichts, schwappt nur hin und her. Ich glaube, ich mag sie. Aber den Mann mag ich deswegen noch lange nicht.

Der Mann muss weg, sage ich zu Agatha im Kopf.

Aber wie, fragt Agatha. Und da weiß ich, dass sie sehr klug ist, denn das ist eine verdammt gute Frage.

ZWEI

Ich kicke einen Stein. Er klackert über die Waschbetonplatten und bleibt vor dem alten Friseursalon liegen. Er steht schon lange leer, wie die meisten Läden hier. Ich stecke den Stein in die Hosentasche. Ich sammle alle Sachen, die einfach so rumliegen und so klein sind, dass sie in meine Hosentasche passen. Als ich klein war, dachte ich, dass irgendwie alle Sachen, die so rumliegen, eine Spur zu meinem Vater bilden. Dass er sie verloren hat. Deswegen wollte ich alles behalten. Als Erinnerung, und vielleicht, dachte ich, wenn ich genug gesammelt habe, würden sie mir Hinweise darauf geben, wer er ist und wo er sich aufhält. Jetzt bin ich groß und weiß schon, dass das Quatsch war. Aber Sachen sammeln mag ich trotzdem. Auch wenn sich mein Vater damit niemals finden lässt.

Dabei könnte ich ihn jetzt ganz gut brauchen, sage ich zu Agatha. Sie sagt nichts und schwimmt nur rum. Es ist nicht besonders viel los heute. Ein paar Kinder, die auf dem Spielplatz kicken, und die verrückte Frau Nowak auf ihrer Bank, die immer vom Messias erzählt. Oder Altpapier sammelt. Irgendwer müsse doch all diese Informationen bewahren, hat sie mir einmal erklärt. Sie hat wohl noch nie etwas vom Internet gehört.

»Hallo, Gustav«, sagt sie. Ich nicke ihr zu und setze mich neben sie und ihre vielen Tüten. Wir sitzen hier oft nebeneinander. Wenn Lily arbeitet und die Wohnung ganz still ist, bis auf das Ticken der Küchenuhr. Wenn Lily da ist und traurig vor dem Fernseher rumhängt. Wenn Lily und Nadia Mädelsabend machen. Wenn Lily sagt: »Geh doch mal raus und spiel mit deinen Freunden.« Wenn Lily und der Mann da sind und sich, so wie jetzt, darüber unterhalten, was sie alles einpacken wollen.

»Ein schlafender Fuchs fängt kein Huhn«, sagt Frau Nowak. Ich nicke, als hätte ich eine Ahnung, was sie meint. Sie reicht mir ein Stück Schokolade in Goldpapier eingewickelt aus ihrer Jackentasche. Ich stecke es in meine Hose. Die Schokolade von Frau Nowak schmeckt, wie sich das meiste hier anfühlt: zerbröselt und fade. Alles müsste anders sein.

»Ein Ziel ohne Plan ist auch nur ein Wunsch«, sagt Frau Nowak, und ich stehe auf, weil es mir manchmal so vorkommt, als könne sie meine Gedanken lesen, und das ist creepy. 

»Tschüss, tschüss«, sagt sie und ich winke ihr zum Abschied zu.

DREI

Es stinkt in Opas Heim. Dieser komische Geruch. Irgendwie süß, aber nicht auf die gute Art schmackofatzsüß, sondern faulig süß. Es sticht einem in der Nase. Keine Ahnung, warum Opa hier unbedingt leben will. Er ist ja noch keine hundert oder so. Er ist schon hier, seit ich denken kann. »Als Oma verschwunden ist, ist Opa ein bisschen durchgedreht. Und als er damit fertig war, wollte er ins Heim.« So hat Lily das gesagt. Altersheim, Tierheim, Kinderheim. Warum gibt es eigentlich kein Heim für Erwachsene, wo man sie abgeben kann, wenn man sie nicht mehr will oder sich nicht mehr um sie kümmern kann oder sie einem keinen Hund kaufen?

»Hallo, Gustav«, sagt die Pflegerin Martha, die ich von allen am liebsten mag. »Dein Opa ist in seinem Zimmer.« Das überrascht mich nicht. Opa ist immer in seinem Zimmer. Er sitzt da und sitzt und sitzt. Noch schlimmer ist nur sein Zimmernachbar. Der schläft die ganze Zeit. Das Einzige, was man manchmal mitbekommt, ist ein leises Schnarchen.

Ich schließe die Tür vorsichtig hinter mir. Die Sonne scheint durch die Fenster und lässt das Graubraun der Wände, der Möbel und der Menschen ein bisschen goldgelb erscheinen. Opa sitzt am Esstisch, seine Hände liegen auf der Tischplatte, die Fingerkuppen direkt an der Kante einer gehäkelten Decke. Er ist so blass wie immer, seine Haut wirkt fast durchsichtig. Ich nicke ihm zu und setze mich ihm gegenüber. Die Adern unter seiner Haut führen wie kleine Straßen durch sein Gesicht.

»Die Hölle ist bodenlos«, sagt Opa. Er tippt mit dem Finger auf die Tischdecke. »Das ist nicht meine. Die hat die Frau von meinem Mitbewohner gemacht, damals. Das erzählt er mir. Tag für Tag. Das ist die Geschichte, die von seinem Leben übrig ist. Furchtbar.« Opa wirft einen Blick auf das Bett und dann auf die Tischdecke. Dann starrt er wieder. Ich kann eigentlich nicht glauben, dass sein Zimmernachbar jemals wach ist. Opa und ich, wir atmen jetzt. So geht das meistens. Opa regt sich auf, dann schweigen wir und sitzen. Das war’s. Trotzdem will Lily, dass ich immer herkomme. Vielleicht hat sie ein schlechtes Gewissen, weil sie es selbst nicht macht. Vielleicht denkt sie, es wäre gut, wenn wenigstens einer von uns Kontakt zu Opa hat. Vielleicht denkt sie, es ist gut, wenn ich beschäftigt bin, damit ich keinen Mist bauen kann. Ich drehe die Filzstiftkappe (rot), die ich auf dem Weg hierher gefunden habe, in meinen Fingern. Erwachsene sind komisch. Sie fürchten sich immer vor den falschen Dingen. Sie fürchten sich, dass man Mist baut oder dass mal nichts wird aus einem oder dass man vergisst, sein Zimmer aufzuräumen. Dafür haben sie keine Angst davor, nie Freunde zu finden, oder davor, mit Trotteln in den Urlaub zu fahren oder dass uns eines Tages der ganze Sand ausgeht. Der wird nämlich knapp, das habe ich mal gelesen. Trotzdem habe ich noch nie einen Erwachsenen getroffen, der zu mir gesagt hat: »Gustav, ich bin heute ganz schön müde, weil ich so schlecht geschlafen habe. Ich hatte nämlich einen Albtraum, in dem ich an keinem Strand mehr liegen konnte, weil es keinen Sand mehr gab.«

»Ach«, sagt Opa und seufzt. »Einmal noch, Gustav. Einmal noch die laue Sommerluft, den warmen Asphalt der Straße, die sich vor einem entrollt, am Straßenrand die Lichter, die Bars und die Musik. Einmal noch eine große Reise und spannende Menschen. Solche, die mehr zu erzählen haben als von ihrer Häkeldecke. Und Miffler wiedersehen!« Miffler ist Opas Kaninchen gewesen. Als er noch beim Zirkus war. Das war, bevor Oma verschwunden und Opa ein bisschen durchgedreht ist. Und wenn Opa gerade nicht meckert, dann erzählt er vom Zirkus. Davon, wie er Seiltänzer werden wollte, aber doch immer ein Clown geblieben ist. Ich glaube nicht, dass Miffler noch lebt. Und manchmal kann ich auch das mit dem Zirkus kaum glauben, wenn ich Opa da sitzen sehe, ganz klein in seinem Stuhl. Wahrscheinlich denkt er sich das aus, ein Leben, das mehr war als Balkone mit Altpapier und dann Altersheim.

»Das waren Zeiten, Gustav. Das hättest du erleben sollen.« Er bricht ab, dreht den Kopf und schaut aus dem Fenster. Ich war noch nie in einem Zirkus. Früher, als Kind, wollte ich jedes Mal hingehen, wenn ich eines der bunten Plakate gesehen habe. Aber Lily mochte nicht. »Auf keinen Fall. Zirkus ist was für Träumer.« Lily will immer der Realität ins Auge sehen. Außer, wenn es darum geht, mit einem Großkotz in den Urlaub zu fahren. Das ist auch wie Zirkus, aber ohne Popcorn und in schlecht.

Ich stehe auf und schiebe meinen Stuhl zurück an seinen Platz.

»Ah.« Opa nickt. »Tschüss, Gustav.« Er guckt weiter aus dem Fenster, und auf einmal tut er mir leid, ohne dass ich sagen kann, warum. Ich nicke ihm zum Abschied zu.

VIER

Vor dem Altersheim hole ich Agatha aus meinem Rucksack. Sie wohnt immer noch in dem Gefrierbeutel.

Irgendwann finden wir ein besseres Zuhause für dich, sage ich zu ihr. Aber jetzt gehen wir erst mal zum Kanal. 

Okay, sagt Agatha

Ich trage den Beutel in der Hand, damit Agatha die Aussicht genießen kann. Am Kanal steht eine Weide. Ich lehne Agatha im Beutel vorsichtig an ihren Stamm und setze mich daneben. 

Das hier ist mein Lieblingsort, sage ich zu Agatha. 

Ich mag Wasser, sagt Agatha.

Logisch, sage ich. Ich mag Luft wahrscheinlich auch ziemlich gerne.

Ein Frachtschiff fährt vorbei. Ich winke. Niemand winkt zurück. Wahrscheinlich sieht man mich gar nicht. Ich bin nur ein kleiner Fleck am Ufer. Da fährt er vielleicht, mein Vater. Ist Kapitän dieses Schiffs, steht am Steuer und träumt davon, Hochseekapitän zu werden, und übersieht deswegen seinen Sohn am Ufer.

Eigentlich habe ich keine Ahnung, sage ich zu Agatha, ich kenne meinen Vater gar nicht und ich weiß auch nichts über ihn. Agatha sagt nichts. Ich schätze, Wasserpflanzen interessieren sich einfach nicht für Väter. Dabei wüsste ich gern mehr. Am besten wäre es, er würde einfach wiederkommen und die Dinge in Ordnung bringen. Der Mann würde verschwinden. Papa würde für immer bleiben und Mama müsste nie mehr traurig sein. Sie könnten beide arbeiten und jeder dafür nicht so viel. Ich wäre weniger allein und könnte einen Hund bekommen. Ich hole meine Liste der Menschen, die mein Vater sein könnten, aus meinem Rucksack. Ich schreibe Binnenschifffahrtskapitän drauf.

»Ey! Was schreibst’n da?« Neben der Weide steht ein Mädchen. Das breiteste Grinsen der Welt leuchtet mir entgegen, und ich habe das Gefühl, es riecht plötzlich nach Zimt. In ihre superlangen Haare sind bunte Bänder geflochten und um den Hals trägt sie einen riesigen, bunt gestreiften Schal. Was ein wenig seltsam wirkt mitten im Sommer. Auf ihrem sehr langen weißen T-Shirt sind lauter Farbflecken zu sehen, genau wie auf ihren Sneakers. 

»Zeig mal her!« Sie schnappt sich die Liste. »Liste der Menschen, die mein Vater sein könnten. Aha.« Sie guckt mich an und grinst wieder und irgendwie muss ich bei den Sommersprossen in ihrem Gesicht an die Milchstraße denken. »Du kennst deinen Vater nicht?«

Ich schüttle den Kopf.

»Scheiße«, sagt sie. Ich runzle die Stirn, obwohl es schon stimmt.

»Ich habe einen, aber der ist verrückt. Zumindest im Moment. Er bereitet gerade eine Einzelausstellung vor. Der ist Künstler. Deswegen schläft er nicht mehr, und je weniger er schläft, umso aufgedrehter wird er und umso weniger schläft er, und er redet die ganze Zeit nur von der Kunst. Na ja.« Sie lässt sich auf den Boden fallen. »Ich bin übrigens Charles.«

Ich nicke und lächle.

»Und du?«

Ich hole mein Handy raus und tippe: Gustav.

»Bist du bescheuert? Also, ich meine, nicht ganz dicht im Oberstübchen?« Sie tippt sich an den Kopf.

Nein, schreibe ich und halte ihr das Handy hin. Sie zieht die Augenbrauen zusammen und hebt das Kinn ein wenig.

»Okayyyy.« Sie zieht das Wort so lang wie einen Kaugummifaden. »Aber du sprichst nicht.« 

Ich habs mir geschworen.

»Du hast es dir geschworen, nicht zu sprechen? Warum?«

Weil meine Mutter mit ihrem neuen Freund in den Urlaub fahren will

»Und das darf die nicht, oder was?« Sie legt den Kopf schief. 

Er ist komisch

»Aber ist doch ihre Sache!«

Ist auch meine Sache irgendwie. Am Ende wird sie wieder traurig sein, weil er abhaut. Alle hauen immer ab. Dann wird sie immer traurig. Und mit den anderen war sie noch nicht mal im Urlaub.

»Aha«, sagt Charles und nickt, »und in echt willst du auch lieber deinen richtigen Vater finden, oder was?« Sie guckt wieder auf die Liste. »Unser Nachbar Herr Öztropak«, liest sie vor, »der Kassierer vom Kaiser’s, der Mann, der pfeifend in der Bahn saß, der Baklava-Verkäufer. Schreibst du da einfach jeden drauf?«

Ich schnappe mir die Liste und stecke sie schnell ein. 

»Okay, okay«, sagt Charles, »sorry, war unhöflich von mir.« Sie schiebt die Unterlippe über die Oberlippe und schaut auf den Kanal. 

»Was ist das?« Sie deutet auf Agatha.

Das ist Agatha, meine Wasserpflanze

»Abgefahren«, sagt Charles. »Sag mal, hast du zufällig Hunger? Ich hab Megahunger!« 

Ich nicke. Charles springt auf und hält mir die Hand hin. Ich ziehe mich daran hoch und schnappe mir Agatha. Dann gehen wir los, Charles vorneweg. 

Unterwegs finde ich einen blauen Flummi und ein Haargummi. Charles beobachtet, wie ich die Sachen aufhebe, sagt aber nichts dazu. Ansonsten redet sie die ganze Zeit. Sie erzählt von sich und ihren anstrengenden Eltern und davon, dass ihre beste Freundin die Ferien über weg ist und dass sie auch dringend mal Urlaub brauchen würde oder überhaupt etwas zu tun. Als wir beim Pizzaimbiss ankommen, bestellt sie zwei Margherita mit viel Käse. Wir setzen uns auf eine der Holzbänke und warten.

»Also du redest nicht«, sagt Charles, »interessant. Und dein Vater ist weg. Und du hebst Dinge von der Straße auf, um sie zu sammeln. Gustav, ich scheine da in eine spannende Geschichte gestolpert zu sein.« Charles schließt die Augen und kräuselt die Stirn zu einer großen Denkerfalte. Die Sonne scheint uns warm ins Gesicht, Autos fahren vorbei und ein kleiner Junge mit einem Eis in der Hand läuft den Bürgersteig entlang. Agatha steht auf dem Tisch, ihr Wasser glitzert im Licht.

»Wir finden deinen Vater«, sagt Charles plötzlich. Ich muss an Segel denken, in denen sich der Wind verfängt und die sich dann mit einem Schlag aufblähen. Ich nicke. Ich gucke Agatha an und denke an Mama und den Mann und alles, was nicht gut ist, und alles, was eigentlich nie gut war.

»Zwei Mal Margherita ist fertig«, ruft der Pizzabäcker.

»Yeah«, Charles springt auf. »Pizza ist das Größte.«

FÜNF

»Ich habe noch nie einen Clown kennengelernt«, ruft Charles nach hinten zu mir. Sie ist nicht größer als ich, aber viel schneller. Ich beobachte ihre Beine, um drauf zu kommen, woran das liegt. Ob sie mehr oder besonders schnelle Schritte macht. Ich finde es nicht raus. In meiner Hand schaukelt Agatha hin und her, während ich versuche, an Charles dranzubleiben. Wir laufen zu Opa. Charles hat mich gefragt, wer uns etwas zu meinem Vater erzählen könnte, und da bleibt nur er. Mama habe ich mal gefragt, was mit Papa ist, und sie hat nur »Er ist schon lange weg« geantwortet und sich ihre Schlüssel geschnappt, um zur Arbeit zu gehen. »Dann gehen wir zu deinem Opa«, hat Charles gesagt und ich habe Können wir ja versuchen getippt und Charles hat »Das machen wir jetzt auch« gesagt. Ich glaube, sie wird enttäuscht sein. Opa ist der traurigste Clown, den ich kenne.

»Hallo, Gustavs Opa«, ruft Charles beim Betreten des Zimmers. Die Tür knallt gegen die Wand, weil Charles sie mit so viel Schwung aufgestoßen hat. Opas Zimmernachbar richtet sich kerzengerade auf. Es ist das erste Mal überhaupt, dass ich ihn wach sehe. Opa sagt nichts und zieht nur die buschigen Augenbrauen hoch.

»Reden Sie etwa auch nicht, so wie ihr seltsamer Enkel?« Charles guckt Opa interessiert an. Er sitzt immer noch so da wie vorhin. Charles geht auf Opa zu und hält ihm die Hand hin. »Ich bin Charles. Ich bin jetzt eine Freundin von Gustav, ich dachte, die kann er gebrauchen.« Sie grinst und ich grinse heimlich auch ein bisschen. Opa steht auf. Von selbst und einfach so. Er schüttelt Charles’ Hand. Er kommt mir kräftiger vor als sonst, weniger blass.

»Sehr erfreut, Charles. Ich bin Joseph Socier. Joseph, wie der weltberühmte Joseph Grimaldi.«

»Ihr habt ja alle Namen«, sagt Charles.