Inhalt

Vorwort 

JanuarMetta-Meditation oder: ein Freund, ein guter Freund!

FebruarSlow Art oder: Was wäre, wenn du ein Kunstwerk wärst?

MärzStricken, Backen und Co oder: Dann mach’s doch selber!

AprilAchtsam Arbeiten oder: im Wesentlichen entspannt

MaiBewusst Träumen oder: wenn dir nachts ein Licht aufgeht

JuniWeniger ärgern oder: Ich bin nicht meine Gefühle, aber was bin ich dann?

JuliIntuitiv Essen oder: noch mal mit Gefühl!

AugustLust auf Neues oder: Und jetzt lass los!

SeptemberFilme zur Stärkung des Selbstmitgefühls oder: akute Verkopfung

OktoberNatur intensiv erleben oder: Stadt, Land, Fluss

NovemberKontaktfasten oder: meine unsichtbaren Freunde

DezemberGroßzügig und dankbar sein oder: Wie ich dir, so ich mir

Vorwort

wann haben Sie zuletzt einen richtigen Brief bekommen? Auf Papier, über mehrere Seiten, mit Anrede am Anfang und lieben Grüßen am Schluss? Für uns beide, Anne Otto und Verena Carl, ist das jedenfalls ein seltenes Vergnügen. Mit Ausnahme der letzten zwölf Monate, denn da hat sich unsere Freundschaft zu einer veritablen Brieffreundschaft weiterentwickelt. Und weil uns das so viel Vergnügen und Inspiration bereitet hat, möchten wir dies auch Ihnen nicht vorenthalten: Dieser erste Brief geht nämlich an Sie. Er enthält eine Gebrauchsanweisung für die kommenden zwölf Kapitel.

Das Buch, das Sie hier in den Händen halten, ist sozusagen zwei Bücher in einem. Erstens ist es eine Einladung zum Selbermachen und Ausprobieren: Verteilt auf die Monate eines Jahres bekommen Sie von mir, der Psychologin und Autorin Anne, sehr unterschiedliche Anregungen, wie Sie auf spielerische Art und mit einfachen Methoden mehr Nähe zu sich selbst aufbauen, sich selbst freundlicher und mitfühlender behandeln können. Zweitens ist es eine Art Tagebuch, in dem meine Freundin Verena, Journalistin und Schriftstellerin, beschreibt, wie es ihr mit meinen Vorschlägen ging, warum manches besser funktioniert hat und manches nicht so gut.

Vielleicht möchten Sie gern wissen, wie es überhaupt zu diesem Selbstversuch kam. Ich beginne mal mit einem wuchtigen Statement: Ich bin davon überzeugt, dass Selbstfürsorge etwas Wesentliches ist und jeder und jedem von uns zusteht. Diese Haltung hat sich bei mir allerdings erst nach und nach entwickelt. Vor einigen Jahren, als ich bei Recherchen zu Artikeln, auf Seminaren und in Gesprächen im Hausflur und auf Partys vermehrt über den Begriff stolperte, mochte ich ihn zunächst gar nicht: »Fürsorge« klang für mich nach Erziehungsmethoden in einer altmodischen staatlichen Institution, »selbst« war für mich ziemlich nah an »egozentrisch« oder »selbstgerecht«. Darüber hinaus hatte ich den Verdacht, dass »Selbstfürsorge« wieder eines dieser Buzzwords sein könnte, das plötzlich das Heilmittel für alles sein soll.

Doch schon bald bekam ich den Eindruck, dass hinter dem sperrigen Wort etwas stecken könnte, was mich und auch viele Menschen in meinem Umfeld etwas angeht. Eine Art Anker in sich selbst, der es ermöglicht, sich weniger von äußeren Gegebenheiten unter Druck setzen zu lassen; der hilft, tiefer zu spüren, was eigentlich im Augenblick mit einem los ist. Ein alter Schulfreund, der nach einem Burn-out aus einer Rehaklinik kam, erzählte mir beispielsweise, dass er früher nie darauf geachtet hatte, was Seele und Körper brauchen könnten. Jetzt nähme er sich die Zeit, auf sich zu achten, und es ginge ihm tatsächlich besser. Die Professorin Kristin Neff, eine der führenden Forscherinnen auf dem Gebiet, beschrieb in einem Interview, dass Selbstmitgefühl auch die Verbindung zu anderen stärkt. Die Beziehung zu ihrem autistischen Sohn sei intensiver und friedvoller, seit sie sich und andere mit Mitgefühl betrachte und behandle.

Mich selbst fasziniert die Idee von Selbstfürsorge als alltägliche Erinnerungshilfe, die es ermöglicht, sich selbst wenigstens nicht schlechter zu behandeln als andere. Denn meiner Beobachtung nach ist ein gesundes »Ich bin auch wichtig«-Denken nicht gerade verbreitet. Bei Kolleginnen, Freunden und auch bei mir selbst gibt es immer wieder Phasen, in denen man sich vollkommen verliert, weit über die eigenen Grenzen hinausgeht und sich erschöpft und verausgabt.

In so einem selbstentfremdeten Zustand saßen meine Freundin Verena und ich an einem Herbsttag in einer Bar in unserem Hamburger Viertel zusammen. Obwohl es ein lauer, fast noch sommerlicher Abend war, hockten wir beide ziemlich abgekämpft und ratlos vor unseren Weingläsern: Gefühlte fünfundzwanzig Mal hatten wir bereits unsere Verabredung verschoben, weil immer etwas dazwischenkam. Aufträge und Abgabetermine, ein Kind mit Mathe-Nachholbedarf, runder Geburtstag der Eltern, Lesereise, Seminare. Kurz: Wir waren ständig mit Verpflichtungen beschäftigt, mit allem, was man halt so tun »muss«. An diesem Abend sprachen wir viel darüber, wie wir unser Leben so drehen könnten, dass wir mehr durchatmen können, mehr Zeit fürs Alleinsein haben oder für gute Freunde, wenn uns gerade danach ist. Verena erzählte mir, sie habe manchmal den Eindruck, unter einer Decke zu liegen, die an allen Ecken und Enden zu kurz ist. Auch, weil da, bildlich gesprochen, so viele andere einen Zipfel abhaben wollen – die Kinder, der Mann, die Auftraggeber. Auch deshalb brachte ich an diesem Abend irgendwann das Thema Selbstfürsorge ins Spiel. Für Verena. Aber auch für mich selbst. Denn: Wäre es nicht hilfreich, etwas konsequenter bei sich selbst zu sein, statt sich permanent aus dem Blick zu verlieren?

An diesem Abend beschlossen wir: Schluss mit Konjunktiv, wir wollen da jetzt hin, und zwar ernsthaft. Nicht immer nur davon träumen wie von einer Weltreise, die man dann doch nie macht, sondern uns auf den Weg begeben. Wir wollten einen Selbstversuch starten, hin zu mehr Selbstfürsorge. Und da ich auch als Coach arbeite und Verena Neues am liebsten einfach ausprobiert, waren die Rollen für unser Langzeitprojekt schnell verteilt. Mit Beginn des nächsten Jahres würde Verena zwölf verschiedene Reiserouten zu sich selbst testen und überprüfen, ob sie ans Ziel führen oder wenigstens auf einen Kurs, der sich richtig anfühlt. Ich würde sie unterstützen, erklären, worauf es ankommt, wie sie bestimmte Übungen für sich nutzen kann und welche wissenschaftlichen Erkenntnisse es zu den einzelnen Ansätzen gibt. Denn ganz gleich, ob es um Mikroabenteuer, um die Beschäftigung mit Träumen, um achtsames Zeitmanagement oder um Großzügigkeit geht, zu allen hier gemachten Vorschlägen für Auszeiten gibt es wissenschaftliche Erkenntnisse oder gute Erfahrungen aus der psychologischen Praxis.

Sie bekommen bei der Lektüre wahrscheinlich schnell einen Eindruck, welche der Auszeiten für Sie hilfreich sein könnten, welche Ihren eigenen Vorlieben oder Bedürfnissen entgegenkommen – und welche gar nichts für Sie sind. Denn auch das ist uns bei all den hier angebotenen Anregungen wichtig: Es gibt keine Garantien. Für jeden Menschen passen andere Wege zu sich selbst, jeder profitiert von anderen Ideen und Aktivitäten. Damit Sie gleich herausfinden, welche der zwölf Auszeiten für Sie geeignet sein könnten, stelle ich am Ende jedes Kapitels eine kleine Übung vor, die Sie sofort selbst ausprobieren können. So schlagen Sie die Brücke vom Lesen zum Machen – und dieser Schritt ist entscheidend.

Wenn Sie sich erst einmal umfassend informieren lassen wollen, können Sie gern alle Kapitel hintereinander lesen und sich dann die Aufgaben oder Übungen herausgreifen, die Ihnen spannend erscheinen. Wenn Sie sehr enthusiastisch sind, können Sie die Auszeiten auch hintereinander, Monat für Monat, wie eine achtsame Reise durch das Jahr gestalten. Falls Sie ungeduldig sind, ist es aber genauso passend, bereits beim Durchblättern des Buches gezielt in die Themen zu springen, die Ihnen auf Anhieb zusagen. Die zwölf Selbstversuche sind als Inspiration gedacht und keinesfalls als striktes Trainingsprogramm. Die Rückbesinnung auf Sie selbst sollte sich nie nach Arbeit anfühlen, sondern Ihnen vor allem Freude machen. Denn auch darum geht es bei der Selbstfürsorge: Sie entsteht oft allein dadurch, dass man eine Haltung von Verbissenheit, Pflichterfüllung und Unerbittlichkeit beiseitelässt und sich schlicht fragt, was einem eigentlich als nächstes Freude bereiten könnte.

Vielleicht haben Sie jetzt Lust bekommen, sofort anzufangen. Vielleicht sind Sie aber auch noch skeptisch und haben Zweifel, ob Ihnen solche Auszeiten, wie wir sie vorschlagen und vormachen, überhaupt in Ihrem Alltag helfen können. Sehr häufig hört man in dem Zusammenhang auch, dass es sich bei der Suche nach Selbstfürsorge, Achtsamkeit oder Selbstmitgefühl, was ja in den letzten Jahren für viele Menschen wichtiger geworden ist, um ein Luxusproblem handelt, um eine Art Egotrip für wohlhabende und beinah schon ignorante Zeitgenossen. Doch so ganz stimmt das nicht. Studien von Kristin Neff und Natasha Beretvas von der University of Texas belegen, dass Menschen, die Mitgefühl mit sich selbst entwickeln, nicht egoistischer werden, sondern – im Gegenteil – auch mehr Mitgefühl, Verständnis und Geduld für ihre Partner und ihr Umfeld aufbringen. Dass es einen Zusammenhang zwischen einer wohlwollenden Haltung sich selbst und anderen gegenüber gibt, weiß jeder, der sich selbst in alltäglichen Situationen ein bisschen beobachtet. Dann findet man nach dem erholsamen Urlaub die nervige Chefin gar nicht mehr so übel. Oder kann sich nach einer morgendlichen Yoga-Stunde ruhiger und gelassener von Forderungen der Kinder, Kollegen oder Kunden abgrenzen. Auch fürs Zusammenleben mit anderen lohnt es also, sich immer mal wieder gut um sich selbst zu kümmern.

Was die Reise in zwölf Auszeiten zu sich selbst bei Verena (und auch bei mir) verändert hat, können Sie in einem abschließenden Kapitel lesen. Eins sei schon mal verraten: Auch Verena glaubt heute nicht mehr, dass Selbstfürsorge ein Luxusproblem ist. Und sie ist keine Frau, die sich leicht überzeugen lässt: Bei aller Neugier auf neue Erfahrungen ist sie auch misstrauisch gegenüber schnelllebigen Trends, hat eine handfeste Allergie gegen substanzloses Wohlfühl-Wellnessgesäusel und simple Glücksversprechen.

Und nun wünsche ich Ihnen viel Freude beim Lesen und hilfreiche Inspirationen für den Weg zu sich selbst.

Herzliche Grüße

Anne Otto

Januar

Metta-Meditation oder: ein Freund, ein guter Freund!

Annes Aufgabe

Wer sich selbst fürsorglich begegnen will, dem helfen Meditationen, bei denen man mit sich selbst in Kontakt kommt. Zunächst einmal gebe ich dir die klassische Metta-Meditation an die Hand. Sie wird auch Liebende-Güte-Meditation genannt und stammt aus dem Buddhismus. Hier geht es darum, innezuhalten, sich selbst alles Gute zu wünschen und Mitgefühl mit sich selbst aufzubauen – aber auch mit anderen Menschen, die einem nah sind, mit solchen, die einem fremd sind oder sogar mit Menschen, die man gar nicht mag.

Von dieser Grundmeditation gibt es viele unterschiedliche Ausführungen. Zum einen klassische Ansätze, zum anderen haben Psychologen wie zum Beispiel die Autorin und Psychotherapeutin Christine Brähler moderne, zeitgemäße Variationen von Selbstgefühlsmeditationen zusammengestellt. Probiere die unterschiedlichen Varianten aus, und beobachte, wie du dich fühlst, welche dir zusagt und ob sich etwas verändert in deinem Gefühl zu dir selbst. Wirst du ruhiger? Spürst du eher, was für dich wichtig ist? Ach so, eins noch: Probiere möglichst jeden Tag eine der Meditationen aus. Möge es dir Freude machen!

Liebe Anne,

kennst du das: den Panikmoment ganz am Anfang einer längeren Reise? Wenn man zwischen zwei Autobahnausfahrten plötzlich überzeugt ist, dass man etwas Wichtiges vergessen hat, wie Ladekabel, EC-Karte oder Socken? Auch wenn das gar nicht stimmt? Auf der ersten Station meiner Reise zu mir ist mir das auch passiert. Und zwar nach drei Minuten und dreiundzwanzig Sekunden, in der ersten Sitzung mit dieser Meditations-App, die du mir geschickt hast.

Stell dir Folgendes vor: Ich hatte mich bequem hingesetzt, und eine freundliche Frauenstimme aus dem Lautsprecher meines Smartphones forderte mich auf, einen Satz zu wiederholen: »Möge ich friedvoll, glücklich und leicht in Körper und Geist sein.« Sofort schaltete etwas in mir auf Protestmodus um: Wie, ich soll hier mitarbeiten? Und kann ich das überhaupt? Hast du vielleicht irgendwo eine versteckte Kamera installiert und lachst dir ins Fäustchen? Während meine Stimme bei den ersten Worten krächzte und quietschte wie ein schlecht geöltes Türschloss, war ich schon nicht mehr bei der Sache und fragte mich stattdessen: Was mache ich hier – und wenn ja, wozu ist das gut?

Ich verstehe schon: aktiviere ich durch Meditation mein zwischenmenschliches Verbindungssystem, soll ich in der Lage sein, im Alltag gelassener auf Misstöne, schlechte Stimmung und Konflikte zu reagieren. Also keine Einbahnstraße, auch kein simpler Highway to Heaven, sondern ein Licht im Herzen, das immer an ist und sich stufenlos nach oben regeln lässt. Kann ich sicher gut gebrauchen, wenn mir der Alltag als Freiberuflerin mit unplanbaren Arbeitszeiten mal wieder über den Kopf wächst, meine Kinder altersgemäß muffelig sind oder ich auf der nächsten To-do-Liste wieder einmal mich selbst vergesse.

Gedankenspiele auf der Metta-Ebene

Dass ich zuerst nicht »Metta-«, sondern »Meta-Meditation« verstanden habe, ist zwar Zufall, passt aber: Tatsächlich bildet diese Übung sozusagen die Metaebene für alle folgenden. Weil es so zentral ist, diesen Kontakt zu mir und anderen zu stärken, soll ich diese Erfahrung auch während der nächsten zwölf Stationen immer wieder Revue passieren lassen und wiederholen. Zum Üben hast du mir eine Reihe von empfehlenswerten Audiodateien geschickt und mich vor anderen gewarnt. Ich soll mich fernhalten von Lifestyle-Varianten, die Glück auf Knopfdruck versprechen oder einem erklären, man bräuchte es nur beim Universum zu bestellen. So wie einen Putzroboter im Internetversand.

Das neue Jahr bricht an, und ich bin dann mal reisefertig für den Trip zu mir selbst. Umso besser, dass die Zeit zwischen Weihnachtsfeiertagen und Schulbeginn die einzige des Jahres ist, in der es ernsthaft still wird in mir und um mich. Weil alle mit Gänsebraten oder Festtags-Tofu so beschäftigt sind, dass wirklich niemand etwas von mir will, wenigstens beruflich. Zeit also, mir eine gemütliche Ecke für mich allein zu suchen und reinzuhören.

Wenn der Aber-Teufel aus der Schachtel springt

Und nun sitze ich also hier und soll diese Worte wiederholen: »Möge ich friedvoll, glücklich und leicht …« – ich breche den ersten Versuch ab. Erst mal will ich verstehen, warum es mich so irritiert, dass ich diese Formel nachsprechen soll. Warum es mir so schwerfällt, mir laut und deutlich etwas für mich selbst zu wünschen. Es gibt eigentlich keinen Grund: Keiner stört mich, keiner hört mich. Und ich habe auch kein Problem damit, an Weihnachten in der Kirche mitzusingen oder beim Refrain aus dem Autoradio. Also warum hier und jetzt?

An diesem verpatzten ersten Metta-Nachmittag werden mir zwei Dinge klar. Erkenntnis Nummer eins: Offenbar hat sich mein kleiner »Aber!«-Schachtelteufel wieder gemeldet, der grundsätzlich aus der Box hüpft, wenn mir jemand etwas vorschlägt. Und sei es noch so sinnvoll und gut gemeint. Du machst ja seit Jahren Scherze darüber, wie viel Geld zusammenkäme, wenn ich für jedes »Aber« einen Euro in ein Sparschwein einzahlen würde. Wohl so eine Art antiautoritärer Reflex aus meiner linksliberalen Siebziger-Jahre-Kindheit: Alles erst mal prüfen, kritisieren, analysieren, nicht ungefragt hinnehmen. Aber den bekomme ich noch in den Griff, wenn ich mir selbst geduldig erkläre, dass ich das hier freiwillig tue.

Erkenntnis Nummer zwei bringt mich ins Grübeln. Denn die hat mit dem Intro der Meditation zu tun: »Setz dich aufrecht hin, und nimm dir Zeit, deinen Atem zu beobachten. Erinnere dich an einen Menschen, der dich geliebt hat. Oder stelle dir einen Menschen vor, von dem du dich genau so geliebt fühlst, wie du bist.« Während ich liebevoll vor mich hinschnaufe, lasse ich mir verschiedene Möglichkeiten durch den Kopf gehen. Partner, Kinder, Mutter. So weit, so schön.

»Nimm wahr, wo du dieses Feld der Liebe wahrnimmst und wo du das in deinem Körper spüren kannst. Stell dir vor, zugleich die Quelle und das Objekt von Liebe zu sein. Spüre dein Herz und wie du langsam dieses Feld der Liebe vergrößerst.« In diesem Moment funkt plötzlich ein kleiner Störsender dazwischen, eine innere Stimme mit unangenehmen Fragen. »Ernsthaft? Jemand, der dich liebt, genau so, wie du bist? Mit allen Macken? Ist nicht jede Liebe an Bedingungen geknüpft, irgendwie?« Ich fand, die Stimme hatte nicht ganz unrecht. Würde mein Sohn mich nicht noch ein bisschen mehr lieben, wenn ich nicht manchmal so ungeduldig wäre? Und ich ihn, wenn er nicht alle zwei Monate sein Spanischbuch und seine Fußballstutzen verlieren würde? Geht das überhaupt, bedingungslose Liebe? Oder ist das ein rosaroter Hollywoodtraum? Damit bin ich raus aus dem Herzen und drin im Kopf. Und gebe auf.

Bedingungslose Liebe – im Kern

Möglicherweise zeigt sich an diesem Punkt schon eines der Hindernisse, die es mir oft schwer machen, liebevoll mit mir umzugehen. Ich bin ehrgeizig und anspruchsvoll, mir selbst gegenüber noch mehr als anderen. Und deshalb mir selbst oft nicht gut genug.

Wahrscheinlich, denke ich weiter, geht es in der Meditation aber weniger um ein makelloses Gefühl, wie es Frischverliebte oder Eltern beim Anblick ihres neugeborenen Babys empfinden. Sondern vielmehr um eine bestimmte Haltung. Eine Bereitschaft, sich und andere anzunehmen, auch wenn die Realität immer wieder dazwischenfunken wird. Eine Art Kernverbindung, die ja nicht davon beeinträchtigt wird, dass man gelegentlich sauer auf sich selbst und andere ist, enttäuscht, unzufrieden. So, wie man zu seinen Kindern sagt: »Auch wenn Mama mal wütend ist, sie hat dich immer lieb, egal, was du tust.«

Was mich auf den ersten Blick auch noch irritiert hat, mir beim zweiten aber immer besser gefällt: die Formulierung der Sätze. Es hat ja seinen Grund, dass sie nicht lauten: »Ich will glücklich sein« oder »Ab sofort werde ich um zweiundneunzig Prozent glücklicher sein als im letzten Quartalsdurchschnitt«. Stattdessen lauten sie ganz bescheiden: »Möge ich glücklich sein«. So viel Demut bin ich nicht gewohnt in einer Welt, die mir rundum Erfolgsprogramme verspricht, für eine noch bessere Ehe, für noch gesündere Ernährung, noch mehr Erfolg im Job. Die Annahme, dass wir nicht alles selbst in der Hand haben und es nicht unser persönliches Versagen ist, wenn wir einmal nicht glücklich sind, empfinde ich als entlastend.

Und mir gefällt, dass zwischen den Zeilen noch etwas anderes durchschimmert: die Möglichkeit von Transzendenz, von einer höheren Macht, etwas Göttlichem, wie auch immer man es nennt. An wen ich diese »Möge ich«-Wünsche richte, steht mir frei – an das Leben, das Schicksal, eine spirituelle Gestalt, mit der ich mich verbunden fühle, oder einen christlichen Gott. Mit dieser Überlegung beginne ich die Meditation am nächsten Tag noch mal von vorn. Diesmal bin ich besser vorbereitet und willens, die Formeln nachzusprechen und in mir nachhallen zu lassen.

Jetzt, da ich mir die zwanzigminütige Anleitung von vorn bis hinten anhöre, verstehe ich auch das Prinzip dahinter: Die bescheiden formulierte Wunschliste (etwa: »Möge ich friedvoll, glücklich und leicht in Körper und Geist sein«; »Möge ich sicher und beschützt sein«; »Möge ich frei von Ärger, Kummer, Furcht und Angst sein«; »Möge ich lernen, mich selbst mit Augen des Verstehens und der Liebe anzuschauen«) wird mehrere Male wiederholt, auf verschiedenen Schwierigkeitsstufen. Wenn die Segensrunde für mich selbst abgeschlossen ist, werde ich aufgefordert, dieselben Formeln noch einmal zu sprechen und dabei ganz konkret an verschiedene Menschen zu denken: an jemanden, der mir nah und lieb ist (einfach), an jemanden, dem ich neutral gegenüberstehe (mittelschwer), und an jemanden, mit dem ich Schwierigkeiten habe (fortgeschritten). Diese Übung leuchtet mir sofort ein, und ich habe von Tag zu Tag zunehmend Spaß daran. Schließlich habe ich genügend Kandidat*innen auch für die zweite und dritte Kategorie: etwa mein Kundenberater bei der Sparkasse oder die Auftraggeberin, mit der ich immer wieder in Streit gerate.

Besonders berührt es mich, als ich mich an dritter Stelle einem Verstorbenen zuwende. Im vergangenen Jahr haben wir meinen Vater beerdigt, und wir hatten keine einfache Beziehung. Als ich die Segensworte spreche, spüre ich zum ersten Mal echtes Bedauern darüber, dass wir keine Zeit mehr hatten für einen wirklichen Abschied und klärende Gespräche. Eine Weile bin ich ganz bei meinem Schmerz. Danach werde ich ruhiger.

Wie einst auf dem Eiffelturm

Aber ändert das etwas Grundsätzliches – für mein Alltagsleben, für meinen Blick auf meine Mitmenschen, auf mich selbst? Meine erste Zwischenbilanz nach zwei Wochen fällt gemischt aus. Auf der Positivseite: Die im wahrsten Sinne des Wortes gebetsmühlenartige Wiederholung bringt ein Bewusstsein von eigener Kleinheit und gleichzeitig eigener Größe mit sich. Das habe ich lange nicht mehr so intensiv gespürt. Genauer: seit 1986. Da hatte ich auch so einen Moment der Klarheit. Ich stand als Teenager auf einer Paris-Reise auf dem Eiffelturm, schaute auf das Häusermeer und dachte plötzlich: Wow, ich bin so ein kleines Licht, die Welt würde sich ganz selbstverständlich ohne mich weiterdrehen – und gleichzeitig bin ich der einzige von Milliarden Menschen genau an diesem Ort in diesem Moment mit diesem einzigartigen Blick.

Seitdem bin ich gedanklich immer wieder mal dorthin zurückgekehrt, wenn ich das Gefühl hatte: Niemand nimmt mich richtig wahr, niemand beachtet mich. So ähnlich geht es mir auch jetzt, während ich Wünsche ans Leben nachspreche. Weil mich diese Sätze mit allen anderen verbinden, mich zum Teil einer Gemeinschaft machen und gleichzeitig mein Ichbewusstsein schärfen: Du selbst, deine Träume und Wünsche sind wichtig. Es tut auch gut, bei alltäglichen Begegnungen innezuhalten und mir zu sagen: Von der Lehrerin meiner Tochter bis zum Busfahrer der Linie 15, jeder von euch hat seine eigenen Herausforderungen, Enttäuschungen, Glücksmomente. Ihr seid mehr als Funktionsträger in meinem Leben und ich mehr als Funktionsträgerin in eurem.

Jetzt zur Negativseite: Je häufiger ich Sätze nachspreche (»Möge ich fähig sein, die Samen des Glücks und der Freude zu erkennen und zu berühren«) und dabei an Freund und Feind denke, desto häufiger finde ich das auch ein bisschen banal, oder zumindest durchsichtig. Dass auch andere Menschen selten aus Boshaftigkeit so sind, wie sie sind, sondern weil sie in eigenen Mustern verstrickt sind, ja, manchmal völlig unabsichtlich unsere Triggerpunkte berühren, ist ja keine Überraschung.

Zu viel Verständnis bringt auch Probleme

Das gilt nicht nur für eine Chefin, die uns das Leben zur Hölle macht, sondern genauso für Menschen, die uns eigentlich nahestehen und gerade deshalb zur Weißglut bringen können. Partner*innen, Eltern, Söhne, Töchter. Deshalb habe ich mich auch vorher im Leben schon bemüht, mich eher in andere hineinzuversetzen, die Perspektive zu wechseln, statt auf Konfrontationskurs zu setzen. Aber jetzt, mit meiner täglichen Meditationserinnerung, habe ich an manchen Tagen auch das Gefühl, das geht nach hinten los. Gerade mit zweien, die mir besonders am Herzen liegen und mich zielsicher auf die Palme bringen: meinen Kindern.Seitdem ich den beiden nämlich regelmäßig lauthals Gelassenheit und Glück wünsche und mein Gütefeld mit jedem Atemzug erweitere, kann ich mich in manchen Situationen noch weniger durchsetzen als vorher. Anstatt auch mal einen Grenzzaun hochzuziehen, spätestens, wenn wieder eine halbe Stunde diskutiert wird, was es zu essen geben soll, mache ich erst recht solche Dinge wie: zwei Gerichte kochen, damit beide glücklich sind, obwohl mir keines davon schmeckt. Und das führt mich nicht zu mir hin, sondern eher noch weiter weg.

Es gibt noch einen weiteren, einen gesellschaftlichen Aspekt, den ich richtiggehend bedenklich finde. Denn Metta-Meditieren ist wie Muskeltraining: Man sucht sich irgendwann größere Herausforderungen, legt ein weiteres Gewicht obendrauf, versucht, es gegen wachsenden Widerstand zu stemmen. Also werde ich immer waghalsiger bei der Auswahl derer, für die ich Glück und Gesundheit erbitte, auf der Yogamatte in meinem Wohnzimmer.

Aber wenn ich, zum Beispiel, dem Mitglied einer rechtsextremen Partei oder einem autoritären Staatschef wünsche, er möge »frisch, gefestigt und frei« leben – legitimiere ich dann nicht eine Position, die ich für menschenverachtend halte? Vor allem: Lebt er nicht ohnehin schon frisch, frei und vor allem gefestigt, aber aus seiner Perspektive heraus? Mag sein, dass er (oder sie) Gründe hat für das martialische Auftreten und im Inneren auch nur ein verängstigtes Kind ist. Aber es gibt Leute, gegen die ich mich lieber wehren möchte, als ständig ihre Menschlichkeit anzuerkennen.

Der letzte Punkt auf der Negativliste ist kein moralischer, sondern hat mit meiner Persönlichkeit zu tun. Denn je häufiger ich mich zur Meditation niederlasse, desto häufiger besucht mich nun mein alter Freund, die Ungeduld, und raunt mir ins Ohr: »Möge, möge, möge – geht’s jetzt mal weiter? Gibt’s nicht so was wie eine praktische Anleitung? Etwas wie: Frisch, gefestigt und frei in zehn einfachen Schritten zum Selbermachen?«

»Coole Mamas tun so was einfach«

Schließlich erbarmt sich das Schicksal, das Leben oder das Göttliche und schickt mir meine Freundin Susanne vorbei. Mein Role Model in Sachen Selbstfürsorge: eine Frau, die genau weiß, was gut für sie ist. Sie erzählt mir von einer Motorradtour, die sie im letzten Herbst allein unternommen hat. Wie ihre jüngere Tochter anschließend anerkennend zu ihr gesagt hat: »Cool, Mama, dass du solche Dinge einfach so tust, für dich!« Innerlich flüstere ich meinem alten Freund, der Ungeduld, zu: Siehste! Es gibt eben keine zehn easy Steps, um sich ein Scheibchen von Frauen wie Susanne abzuschneiden. Aber wenn du dir täglich deine Wünsche bewusst machst, ihre Berechtigung und Wichtigkeit, dann kannst du damit eine Haltung stärken, die dem näher kommt.

Dennoch: Vielleicht gibt es noch eine Metta-Variante, die besser zu mir passt als die klassische. Denn du hast mir ja mehrere Varianten geschickt, liebe Anne. Christine Brähler, so erfahre ich, ist Psychotherapeutin und Ausbilderin in der Methode »Mindful Self Compassion«, kurz MSC – so lautet der Fachbegriff für eine säkuläre Trainingsversion des buddhistischen Klassikers. Das Kurskonzept hilft Teilnehmern, explizit Selbstmitgefühl zu üben; Hauptzielgruppe sind laut Brähler Menschen aus helfenden Berufen – und berufstätige Mütter wie wir. Und auch auf ihrer Website befinden sich angeleitete Sitzungen. Ihre Anleitung ist weniger formelhaft, es geht nicht ums Nachsprechen universeller Weisheiten, sondern eher um angeleitete Fantasiereisen zu den eigenen Bedürfnissen.

»That’s my cup of tea«, sagt man in England, wenn man meint, genau das Richtige für sich gefunden zu haben. Als ich zum ersten Mal der warmen Stimme lausche, denke ich sofort: Das ist meine Tasse Yogi-Tee. MSC nach ihrer Anleitung fühlt sich weniger nach geistigem Muskeltraining an, weniger nach Gottesdienst, sondern eher wie das Gespräch mit einer Freundin, die genau die richtigen Fragen stellt. Etwa: Welche Bedürfnisse sind in meinem Leben gerade unerfüllt? Was brauche ich gerade wirklich, was mir fehlt? Das Bedürfnis nach Verbundenheit, nach Sicherheit oder Frieden. Oder: Was sehne ich mich, von anderen zu hören? Darüber nachzudenken ist wie ein Nachmittag mit einem Ausmalbild, für das ich meine eigenen Farben benutzen kann. Besonders gut gefällt mir eine Übung mit dem Titel »Mitfühlender Freund«.

Keine Romanzen mit imaginären Freunden!

Der Zweck ist klar: sich selbst einen imaginären Gefährten – oder eine Gefährtin – an die Seite stellen, der oder die tröstet, zuhört, versteht, wenn man sich alleingelassen, überfordert, aggressiv fühlt. Nicht, um reale Kontakte zu ersetzen, sondern als psychischen Joker, jederzeit abrufbar. In schwierigen Momenten, beim Streit mit dem Partner, Konflikten am Arbeitsplatz oder einfach einer unerklärlich düsteren Stimmung. Christine Brähler nutzt damit einen psychischen Mechanismus, der mir sofort einleuchtet. Ich soll die Anteile meines eigenen Ich aktivieren, die mir wohltun. Anteile, die ich – so wie glücklicherweise die meisten Menschen – in ausreichender Menge in mir habe. Weil ich als Kind die Erfahrung von Liebe und Geborgenheit gemacht habe. Als erwachsene Frau versetzt mich das in die Lage, mir selbst zur Seite zu stehen.

Bei einer angeleiteten Meditation geht das so: Ich soll mir erst einen Ort vorstellen, an dem ich mich wohlfühle, und zwar mit allen Sinnen – sehen, riechen, hören, schmecken. Dann einen Menschen oder ein anderes unendlich einfühlsames, weises und liebevolles Wesen, der oder das bei mir ist. Dem kann ich erzählen, was ich mir wünsche, und derjenige gibt mir dafür ein Geschenk, eine Art Talisman. Das Prinzip der gesprochenen Anleitungen ist »alles kann, nichts muss« – ich kann mir genauso gut vorstellen, gemeinsam mit meinem imaginären Freund zu schweigen.

Ich erwarte keine bahnbrechende Selbsterkenntnis, freue mich aber auf eine Ruhepause mit Halbwach-Bildern. Umso entspannter, weil jede Körperhaltung erlaubt ist. Aber dann passiert etwas Überraschendes: Als ich gemütlich auf meinem roten Plüschsofa liege und mich mitnehmen lasse auf Fantasiereise, beginnt oscarreifes Kopfkino! Dabei ist mein erster Tagtraum noch eher konventionell: Ich sitze in einer rustikalen Hütte vor dem Kamin. Ein junger Mann gesellt sich zu mir und hört sich geduldig an, was ich ihm zu sagen habe, denn da fällt mir einiges ein: Ich möchte gesehen werden! Ich möchte geliebt werden! Ich möchte gewürdigt werden! Achtung, Spoiler-Alarm: Das ist nicht der Beginn einer Romanze, der junge Mann in meinem Tagtraum ist wirklich nur ein guter Freund. Oder ein jüngerer Bruder, den ich nicht habe. Ein Teil meiner Seele ist also offensichtlich ein tatkräftiger, kerniger Typ, der mich unterstützen kann. Nur bei der Frage nach einem Gegenstand bin ich ratlos. Offenbar ist er mit leeren Taschen gekommen.

Erhellend, aber am nächsten Tag wird es noch viel besser. Woher nimmt mein Unterbewusstsein diese Bilder? Ich sitze in einem Zimmer mit einem großen runden Fenster, das auf eine Mittelmeerbucht zeigt, und mache mich von dort auf den Weg in einen mystischen Zypressenhain. Dort begegnet mir eine Art Priesterin, die aussieht, als sei sie einer Tarotkarte entstiegen, und setzt sich auf einen Thron. Ich habe plötzlich das dringende Bedürfnis, mich wie ein Haustier zu ihren Füßen zusammenzurollen, während sie mir eine segnende Hand zwischen die Schulterblätter legt und sagt: »Du musst nichts tun. Nur sein.«

Zum Abschluss schenkt sie mir einen roten weichen Ball, der sich in meinen Händen warm anfühlt wie ein lebendiges Wesen. Als die Meditation diesmal endet, fühlt es sich an, als wäre ich aus einem Traum aufgetaucht: Diese Gestalten und Bilder scheinen direkt vom Grund meiner Seele zu kommen, kraftvoll und wohltuend. Sagte ich, das sei kein Hexenwerk? Oh, doch: Auf mich hat es eine magische Wirkung, wirkt belebend und beruhigend zugleich.

Es ist nicht der Alm-Öhi, es ist der Fels!

Derart begeistert, probiere ich es am nächsten Tag noch ein drittes Mal, muss diesmal aber etwas länger suchen, bis ich einem Gefährten begegne. Ich befinde mich diesmal intuitiv in einer atemberaubenden Alpenlandschaft, über mir schreien die Dohlen, ein sonnenwarmer und mit Moos bewachsener Fels wärmt meinen Rücken. Schön hier, aber kein mitfühlender Freund weit und breit. Ich versuche, einen herbeizulocken, und denke dabei: Der junge Held war schon da, die Priesterin auch, eigentlich fehlt noch eine Märchenfigur vom Typ Merlin. Ein alter, weiser Zauberer. Schließlich gelingt mir ein Bild, aber das sieht aus wie die Karikatur eines Alm-Öhis, mit Lederhose und Zauselbart. Kein alter, weiser Zauberer, sondern einfach ein alter weißer Mann. Den schicke ich gleich wieder weg! Das passiert, wenn man den Kopf einschaltet, statt die Bilder einfach kommen zu lassen.

Ich sitze also noch ein wenig allein in meiner inneren Alpenlandschaft, bis ich schließlich verstehe: Mein Freund ist längst da – es ist der Fels, an dem ich lehne. Hart und schwer, aber auch warm und unerschütterlich, unzerstörbar. Der erste Teil meines Meditationsmonats kommt mir wieder in den Sinn, und ich denke: Vielleicht ist dieser Fels ein Symbol für die bedingungslose Liebe. Ein ewiger, uralter, stabiler Kern in mir, dem nichts etwas anhaben kann. Eine schöne Vorstellung, dass ich von ein paar Menschen auf dieser Welt so geliebt werde und sie wiederliebe. Egal, was kommt.

Ich stelle mir beides vor – den harten, tragenden Fels in meinem Rücken und den flauschigen, fast organischen Ball in meinen Händen, den mir die Priesterin gegeben hat – und fühle mich gut ausgestattet für die weitere Reise zu mir selbst. Die magischen Gegenstände geben mir das Gefühl, in meinem Leben auf sicherem Grund zu stehen und dabei warm und lebendig zu sein.

Zum Abschluss meines Meditationsmonats erprobe ich noch eine weitere Variante von Christine Brähler, und wie es der Zufall will, kann ich sie auch umgehend anwenden. Die Übung heißt »Weicher werden – umsorgen – zulassen«, und sie bereitet vor auf belastende Situationen, wie sie im Alltag immer wieder vorkommen. Also den Streit mit der besten Freundin, den unangenehmen Arzttermin, das komplizierte Mitarbeitergespräch. Dazu stelle ich mir eine solche Situation vor, während Christine Brählers Stimme Fragen stellt: Was für Gefühle kommen da hoch, wo spüre ich sie in meinem Körper, wie gebe ich ihnen Platz?

Gefühle nicht wegschieben, sondern zulassen

Wie passend: Gerade gestern hatte ich eine Auseinandersetzung mit meiner vierzehnjährigen Tochter, die in vieler Hinsicht ganz anders ist als ich, andere Dinge mag, andere Träume hat. Oft sind es Kleinigkeiten: Ich habe mir immer vorgestellt, was für einen Spaß wir haben könnten, wenn sie in diesem Alter ist – Nachmittage in der Umkleidekabine verbringen, ihr zeigen, wie man Mascara richtig aufträgt, die kleinen weiblichen Schönheitsrituale, die mir helfen, mich gut zu fühlen. Aber sie schminkt sich nie, und sie zerrt lieber zielstrebig zwei schwarze Jeans und ein Männer-T-Shirt vom Stapel, als modische Kleidung auszuprobieren. Ich sollte mich eigentlich freuen, dass sie einen eigenen Kopf hat, aber ein Teil von mir ist eben doch enttäuscht, dass nichts wird aus diesem gemeinsamen Spaß an einer bestimmten Art von Weiblichkeit.

Bisher bin ich bei solchen Gelegenheiten oft hart mit mir ins Gericht gegangen und habe mich angeraunzt: Was willst du, ein Abziehbild von dir selbst? Sei doch froh, dass sie weiß, was sie will und so konsumkritisch ist! Jetzt, bei der letzten Übung, denke ich noch einmal darüber nach und fühle anders in mich hinein. In meine Herzgegend, die plötzlich wie zugeschnürt ist, wie taub. Und stelle mir einen meiner imaginären Begleiter vor, der zu mir sagt: Es tut mir leid, dass du und sie nicht die Art von Nähe habt, die du dir gewünscht hast! Es ist ja auch traurig, wenn man sich das Leben mit einem Kind auf eine bestimmte Weise vorgestellt hat und dann merkt: Was mich begeistert, lässt sie kalt, und umgekehrt!

Tut doch gar nicht weh – oder doch?

Sofort löst sich ein Knoten. Wie in dem Moment, in dem der Atem ganz von allein wieder in die Lunge strömt, nachdem man lang die Luft angehalten hat. Und mir fällt ein: Was mir da gerade so gut tut, ist das Gleiche, das meinen Kindern schon immer gutgetan hat, wenn sie gerade zu kämpfen hatten. Ärger mit dem besten Freund, Knie aufgeschlagen, unangenehme Spritze beim Kinderarzt. Nicht kleinreden (»Tut doch gar nicht weh!«), sondern den Schmerz aushalten, auch den alltäglichen. Begleiten, trösten, statt fieberhaft nach einem Ausgleich suchen, der das alles zudeckt. Genau so kann ich meinem eigenen inneren Kind eine gute Mutter sein. Und damit auch die Verantwortung für meine Gefühle übernehmen, statt den Frust bei meiner Tochter abzuladen.

Die beiden Meditationsanleitungen von Christine Brähler erweisen sich noch mehrfach als alltagstauglich. Wie das fehlende Bindeglied zwischen den buddhistischen Wunschsätzen und dem, was ich mir von ihnen versprochen habe. Das Puzzleteil, dass mein Bild rund macht. Es geht eben nicht darum, negative Gefühle mit einem Lächeln wegzumeditieren, sondern um das Eingeständnis: Auch die Angst, die Wut, die Unsicherheit haben ihren Raum, dürfen ihn einnehmen und müssen nicht zugeschüttet werden. Öffnen wir ihnen die Tür, statt sie auszusperren, öffnen wir auch die Tür für das Positive, das in uns schlummert. Und das uns hilft, sie immer wieder hinter uns zu lassen.

Als ich an einem Nachmittag kurz darauf auf einmal in ein Stimmungsloch falle, scheinbar grundlos, weise ich mich nicht zur Ordnung wie ein strenger Schiedsrichter, sondern führe ein mitfühlendes Selbstgespräch: Ist es nur das Ferienende, der kleine seelische Kater, der auf die festliche Zeit um die Jahreswende folgt? Oder zeigt vielleicht die stärkere Beschäftigung mit mir selbst in den letzten Wochen deutlicher, wo’s wehtut – so wie wenn man ein Pflaster wechselt und nachsieht, ob noch was da ist von alten Wunden?

Und tatsächlich geht es mir bald besser. Als könnte ich mich wie der legendäre Baron Münchhausen auf diese Weise am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Aber in netter Form. Weil ich meine Gefühle jetzt nicht mehr einfach beiseite wische, wie sonst so oft, sondern sie ernster nehme und nicht kleinrede. Und dadurch auch besser spüre, was ich will. Nicht, dass ich es dadurch immer bekomme – aber es tut gut, sich bewusst etwas zu wünschen und loszulassen, wenn es nicht zu haben ist, als in einem diffusen Ungerechtigkeitsempfinden zu verharren.

Damit geht der erste Monat meiner Ich-Reise zu Ende. Aber nicht meine Erfahrung mit Selbstmitgefühls-Meditationen. Ich werde sie weiter in meinen Alltag integrieren. Nicht mehr täglich, aber gerade in turbulenten Zeiten, als Erdung für zwischendrin. Und um meine neuen Freunde wiederzutreffen: den jungen Helden, die Priesterin, den Felsen – und mich selbst.

Viele Grüße

Verena