Stefanie Höfler, geboren 1978, studierte Germanistik, Anglistik und Skandinavistik in Freiburg und Dundee/Schottland. Sie ist Lehrerin und Theaterpädagogin und lebt mit ihrer Familie in einem kleinen Ort im Schwarzwald. Von ihr erschienen bei Beltz & Gelberg die Romane Mein Sommer mit Mucks, Tanz der Tiefseequalle und zuletzt Der große schwarze Vogel, die alle drei für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert wurden.

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Männliche Elefanten sind Einzel·gänger. Jedenfalls die, die in Afrika leben. Genau wie Giraffen, Igel und Streifen·hörnchen. Sogar der Blauwal ist ein Einzel·gänger. Also, warum nicht auch ich?

Meistens denke ich, meine Eltern sind daran schuld. Wer nennt sein Kind schon Zonja. Mit Z. Wer Zonja heißt, muss einfach einsam wie ein Blauwal umherziehen.

Der Name Sonja ist eine liebevolle Form von Sophia. Sophia bedeutet weise Frau. Aber Zonja, mit Z: Das klingt nach einer Prinzessin aus einer fernen Galaxie.

Vielleicht liegt mein Leben als Einzel·gänger auch an mir selbst. Meine Haare sind blond, schulter·lang und zu dünn. Meine Augen sind zu klein. Und ich habe Angst vor zu großen Hunden und zu lauten Mitschülern. Ich fürchte mich vor wütenden Lehrern und vor Opas Mundgeruch. Vor allem aber bin ich unglaublich neugierig.

Ich interessiere mich für alles. Ich liebe Sta·tis·tik und schwierige Wörter. Ich sammle Fragen, auf die ich eine Antwort finden will. Jeden Tag. In meiner Hosentasche habe ich eine Liste mit Fragen. Habe ich eine Antwort gefunden, streiche ich die Frage durch. Diese Woche sieht meine Liste so aus:

Was ist der wertvollste Stein der Welt?

Wie viele Haare hat ein Mensch in seinem ganzen Leben?

Wie alt wird ein Löwe?

Welche Tiere sind Einzel·gänger?

Ich will ständig Antworten auf meine Fragen erhalten. Vor allem frage ich Menschen, die Antworten haben könnten. Zum Beispiel meine Mutter. Ich nenne sie

Mati. Ihr Opa stammte aus Kroatien und Mati ist das kroatische Wort für Mama.

Mati hat sehr viele Bücher. Manche braucht sie als Apo·the·ke·rin, aber sie hat auch Tausende andere Bücher. Meinen Vater nenne ich einfach Papa. Er ist Ma·the·ma·ti·ker, also ist er für Zahlen·fragen zuständig. Außerdem für alles, was mit Essen zu tun hat. Er kann sehr gut kochen. Meine Deutsch·lehrerin Frau Knör weiß alles über Opern. Herr Martinovic ist der Hausmeister meiner Schule. Er kennt alle wichtigen Jahres·zahlen. Die besten Antworten schreibe ich in ein kleines Buch.

Da steht zum Beispiel:

Ein Mensch ist auf dem Mond sechsmal leichter als auf der Erde. Wiegt jemand 60 Kilogramm, wären es auf dem Mond nur 10 Kilogramm. Das liegt an der Anziehungs·kraft. Weil der Mond kleiner ist als die Erde, zieht er andere Körper nicht so stark an.

Die meisten Leute in meiner Klasse halten mich für eine Spinnerin. Weil ich einfach zu neugierig bin. In den Pausen bin ich allein. Aber in der Schule gibt es genug zu sehen und zu zählen. Langweilig wird mir nicht. Meistens setze ich mich ans große Aquarium in der Schule. Wenn ich dort sitze, kommt immer Paul aus der neunten Klasse vorbei. Wahrscheinlich fragt er mich, ob ich einen Euro spenden möchte. Paul organisiert immer mal wieder irgendwas, zum Beispiel eine Spenden·sammlung für eine neue Schule in Afrika. Wenn ich die Euros einsammeln würde, dann würde die Schule vermutlich nicht einmal ein Dach bekommen. Das liegt an der Anziehungs·kraft. Wäre Paul ein Himmels·körper, wäre er wegen seiner Anziehungs·kraft völlig zugemüllt von Weltraum·schrott. Jeder mag ihn. Er hat ständig gute Ideen. Ideen, die alle einfach gut finden müssen. Er nennt sie »Einfälle für eine bessere Welt«.

Seit Tagen ist es heiß. Wir sind schlapp und kleben auf unseren Stühlen. Aber alle in meiner Klasse haben gute Laune, denn heute ist der letzte Schultag. Frau Knör verteilt die Zeugnisse feierlich. Dann ruft sie: »Schöne Ferien!«, und schwebt aus der Tür. Die anderen stürmen gleich hinterher, aber ich lasse mir Zeit.

Wir fahren in diesem Jahr nicht in den Urlaub. Aber das ist nicht das Problem. Das Problem sind die Ferien selbst. Denn in den Sommer·ferien fehlen mir viele, die Antworten geben könnten. Überhaupt passiert in den Ferien viel weniger. Vermutlich werde ich jeden Tag im Freibad verbringen. Leute beobachten. Einfach, weil dort die meisten Leute sind.

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In einem Liter Wasser im Schwimm·becken befinden sich 0,5 bis 2 Milligramm Chlor. Das Chlor tötet Bakterien und Algen ab, die im Wasser schwimmen. Das ist wichtig bei so vielen Leuten, die ins Schwimm·becken steigen. An einem sehr heißen Tag habe ich mal 204 Menschen gezählt. Und jeder hat vorher geschwitzt, sich mit Sonnenmilch eingecremt oder seine Haare mit Gel verschönert. Nicht nur Kinder bleiben im Schwimm·becken, wenn sie mal müssen. Blätter von Bäumen fallen ins Bad und oft landet eine Pommes im Wasser.

Diesmal sehe ich im Schwimm·becken auf Anhieb:

1 an·gebissenen Apfel

1 verlorenen Schlüssel

1 pink·farbenes Haargummi

1 rote Kinder·badehose.

Im Freibad kann man unbemerkt Leute beobachten. Ich gucke den Leuten beim Pommes·essen zu. Dabei zähle ich mit, wie viele den Mund beim Kauen im Kreis bewegen wie ein Kamel. Andere bewegen den Mund nach vorne. Der Rest kaut unauffällig. Und ich schreibe auf, wie viele sich vor dem Baden nicht duschen.

Natürlich sehe ich den Leuten beim Schwimmen zu. Manche schwimmen krumm und schräg. Andere paddeln wie ein Hund. Und die kleinen Kinder gehen beim Schwimmen·lernen fast unter.

Heute ist nicht viel los. Da steht ein Junge am Beckenrand, dünn und groß. Er ist weiß wie eine Birke. Mit grasgrüner Badehose und rotblonden Haaren, die wild vom Kopf abstehen. Aber nicht nur die Haare stehen vom Kopf ab, auch seine Ohren. Solche Absteh·ohren habe ich noch nie gesehen. Ich sehe ihn von hinten. Die Sonne durch·leuchtet seine Ohren orangerot. Das sieht so aus, als hätte er zwei kleine unter·gehende Sonnen an seinem Kopf. Deshalb wirkt er wie ein Außer·irdischer. Auf dem linken Schulter·blatt hat er einen großen blauen Fleck. Er ist wohl so alt wie ich. Aber ich habe ihn noch nie hier gesehen.