Sternburg, Wilhelm von

Die Geschichte der Deutschen

 

 

 

 

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Copyright © 2005. Campus Verlag GmbH

E-Book ISBN: 978-3-593-40040-2

|5|Für Carla

 

|9|Warum über Geschichte nachdenken?

Geschichte ist öde. Die Mehrheit der Schüler in aller Welt hat dieses Verdammungsurteil zweifellos schon vor Urzeiten gefällt. Zahlenfriedhöfe, pathetische Schlachtengemälde, nervige Statistiken, in unverständlicher Sprache abgefasste Dokumente, staubige Grabfunde, Tonscherben und abgegriffene Münzen oder die endlosen Beschreibungen von Domschätzen und Herrschaftsinsignien – wer soll da nicht einschlafen?

Geschichte ist faszinierend. Sie erzählt von unserem Herkommen und dem Werden unserer Umwelt. Sie erklärt uns unendlich vieles: warum unsere Vorfahren immer wieder Krieg führten, warum Elend und Hunger die Völker heimsuchten, warum die Eisenbahn, der Telegraf oder der Computer die Welt veränderten, warum die Frauen in Europa um ihre Gleichberechtigung so lange kämpfen mussten, warum Deutschland erst so spät eine Demokratie wurde, warum es wichtig war, die Europäische Union zu gründen. Geschichte löst längst nicht alle, aber doch manche Rätsel unseres gesellschaftlichen Alltags.

Mein Interesse an der Vergangenheit begann im Religionsunterricht. Ich war in der siebten Klasse und wir lasen den Roman Quo vadis?, in dem der polnische Autor Henryk Sienkiewicz aus der Zeit der Christenverfolgungen im Römischen Reich erzählt. Mich fesselte weniger der religiöse Hintergrund dieses Romans als vielmehr die Schilderung des Lebens im alten Rom. Mein Vater wies mich wenig später auf die Jugendbuchausgabe von Felix Dahns Ostgoten-Saga Ein Kampf um Rom und Gustav Freytags Epos Die Ahnen hin, in dem die Geschichte der Deutschen seit den Tagen der Germanen romanhaft dargestellt wird. Zugegeben: Heute, gut 50 Jahre später liest kaum noch einer diese beiden Wälzer. Nicht nur die Jugendlichen greifen lieber zu den Asterix-Comics, in denen die Kelten und Germanen als rauf- und saufwütige Gesellen durch die Lande ziehen. Oder sie kaufen eine Kinokarte, um die Abenteuer von König Artus, seiner schönen Frau Guinevere und den Rittern der Tafelrunde auf der Leinwand zu verfolgen. Mir aber eröffnete sich damals Buchseite |10|um Buchseite eine neue Welt. Ich begann, über mein eigenes kleines Leben hinauszublicken.

Bald entdeckte ich auch, wie widersprüchlich Eltern und Lehrer, Mitschüler und Freunde über die Berichte in den Zeitungen oder im Radio (Fernsehen gab es damals noch nicht) die Welt deuteten, wie sie über das Heute sprachen und sich dabei häufig überaus einseitig auf das Gestern beriefen. Ihre Urteile über die Vergangenheit und damit auch die Gegenwart basierten in der Regel weniger auf Fakten als auf ideologischen Vorurteilen, denen sie durch den Einfluss ihrer Umgebung erlegen waren. Für meine Eltern und ihre Bekannten beispielsweise war der Erste Weltkrieg aus deutscher Sicht ein Verteidigungskrieg, zu dem die neidischen Nachbarn uns im August 1914 angeblich gezwungen hätten. Über Hitler und den Nationalsozialismus sprachen die Erwachsenen in meiner Jugend kaum. Wenn diese Zeit überhaupt thematisiert wurde, dann wiesen sie entschuldigend auf die soziale Not und die hohe Arbeitslosigkeit in den Jahren vor der Errichtung der Diktatur hin. Und natürlich hatten sie fast alle nichts von den Untaten der Nazis gewusst.

Als ich dann in den nächsten Jahren die Arbeiten der Historiker las, wurde ich immer misstrauischer. Die häufig aggressive und sehr einäugige Betrachtung der Ereignisse und der Menschen, die sie bewirkt hatten, ließ mich ahnen, dass die Wirklichkeit komplizierter ist, als es uns die Schlagzeilen der Medien oder die Wahlkämpfer der Parteien zu suggerieren versuchen. Historische Schuld und Unschuld, die Opfer und die Täter der Geschichte – das war und ist offensichtlich nicht so einfach, wie es die nationalen Propagandisten des Ruhmes der Deutschen (oder Engländer, Franzosen, Italiener, Russen, Amerikaner ...) immer wieder verkünden.

Es wurde mir immer klarer, dass das Denken und Handeln der Völker im Alltag des Heute tief geprägt ist von ihrer Vergangenheit. Sitten- und Moralansprüche, wirtschaftliche und technologische Entwicklungen, Arbeitsethos und Religion, Gesetze und gesellschaftliche Tabus, Sprache und kulturelle Eigenarten – vieles davon beruht auf jahrhundertealten Traditionen. Die Vergangenheit ist vielfach höchst lebendige Gegenwart.

Allmählich wurde mir auch bewusst, dass die Helden meiner Jugend – Cäsar, Karl der Große, Napoleon, Bismarck – für Krieg, Mord und Elend verantwortlich waren. Der Heroismus der Geschichtsschreibung rechtfertigte nur allzu häufig die Taten der gesellschaftlichen Eliten und vergaß darüber die unzähligen Opfer des Handelns von Königen und Fürsten, Feldherren und Kirchenführern. Cäsar hinterließ in Gallien eine verbrannte Region. Karl der Große befahl die Hinrichtung |11|von über 4 000 Sachsen. Die mittelalterlichen Päpste dachten in der Regel nicht an Gott, sondern an die Vermehrung von Macht und Reichtum. Luther, der große Reformator, war ein Judenhasser. Die goldgierigen Konquistadoren Hernando Cortez und Francisco Pizarro vernichteten mit Feuer und Schwert und unter dem Zeichen des Kreuzes die Azteken- und Inkareiche in Mexiko und Peru. Der Dreißigjährige Krieg wurde vom Habsburger Kaiser Ferdinand II. und dem Schweden-König Gustav Adolf, von den Generälen Wallenstein und Tilly im Namen der Religion geführt, aber es ging in erster Linie um Geld und Macht und der Krieg verwüstete Mitteleuropa. Als Napoleon seine Eroberungspläne realisierte, mussten Hunderttausende Franzosen, Italiener, Engländer, Russen, Österreicher, Bayern und Sachsen sterben. Bismarck führte drei verlustreiche Kriege, um die Demokratie in Deutschland zu verhindern und die Herrschaft der Hohenzollern im von ihm neu gegründeten Deutschen Reich zu sichern. Im 20. Jahrhundert verblutete Europas Jugend während des Ersten Weltkriegs in den Schützengräben vor Verdun und auf den Schlachtfeldern Flanderns. Dreißig Jahre später starben Hunderttausende im eisigen Stalingrad, weil Hitler die Welt erobern wollte. Die sozialistische Utopie, auf die sich der Kommunismus berief, mündete im terroristischen Stalinismus. Der deutsche Nationalsozialismus gebar das Unvorstellbare, die Ermordung des europäischen Judentums.

Ich musste es erst lernen: Geschichte ist Chaos. Der Weg des Fortschritts, den wir uns optimistisch als große Menschheitsleistung anrechnen, bleibt weitgehend eine Illusion. Triumph und Fall der Völker und ihrer Lenker stehen dicht nebeneinander. Goethes Graf Egmont, der im 16. Jahrhundert zur Rebellion der Niederländer gegen ihre spanischen Unterdrücker aufrief und dafür mit seinem Leben bezahlen musste, wusste um die Hilflosigkeit des Menschen und der Mächte: »Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch; und uns bleibt nichts, als mutig gefasst die Zügel festzuhalten und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da, die Räder wegzulenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam.«

In meiner Jugend glaubte ich, die Völker seien fähig aus der Geschichte zu lernen, zeigte sie doch, dass vor allem Krieg und Elend die vergangenen Jahrhunderte bestimmt hatten. Die Sieger von heute waren fast immer die Verlierer von morgen. Weltreiche entstanden und vergingen. Die kurzen Perioden des Friedens bescherten den Menschen in der Regel sehr rasch Wohlstand. Der Krieg dagegen machte stets wenige reich und ließ die Massen verarmen. Wissen wir das nicht alles, wenn wir zurückblicken auf das, was war?

|12|Hoffnungsschimmer hat es in der Geschichte immer wieder gegeben. Im Westeuropa unserer Tage genießen wir die längste Friedensperiode und trotz des viel beschworenen wirtschaftlichen Niedergangs eine Zeit des Wohlstands, die es für uns so in der Geschichte noch nicht gegeben hat. Und sind da nicht die großen Ideen eines Platon, Aristoteles, Spinoza oder Kant? Die Bücher von Ovid, Dante, Cervantes, die Dramen und Komödien Shakespeares oder der europäischen Klassiker des 18. und 19. Jahrhunderts? Die unsterblichen Kunstwerke der griechischen Dramatiker und Bildhauer? Die Bilder Michelangelos, Botticellis, van Goghs oder Kandinskys? Gibt es nicht die herrliche Musik von Bach, Beethoven, Gustav Mahler ? Hat die Welt nicht Pest und Cholera, Tuberkulose und Diphtherie weitgehend besiegt? Haben die Dampfmaschine, die Elektrizität und die moderne Technik nicht Millionen Arbeiter von den Härten schwerster Handarbeit befreit, die in den vergangenen Jahrtausenden das Leben ihrer Vorfahren bestimmte? Geschichte ist janusköpfig. Sie hat immer zwei Seiten. Verbrechen und menschliche Größe stehen eng beieinander.

Hier wird die Geschichte der Deutschen erzählt. Wir sollten aber nie vergessen, dass es eine isolierte nationale Geschichte im Grunde nie gab. Immer war diese eingebettet in die Geschichte ihrer Nachbarn, ja in die Weltgeschichte. Die Wanderungen der germanischen und slawischen Stämme, die Ende des 2. Jahrhunderts verstärkt einsetzten, um dann immer wieder dramatische Völkerverschiebungen in Europa auszulösen, hingen eng miteinander zusammen. Sie wirkten auf das Leben im untergehenden Rom ebenso ein wie auf das der Menschen in Gallien, Germanien, Skandinavien, Britannien oder östlich der Elbe. Das Reich Karls des Großen umfasste das heutige Frankreich, Belgien, Holland, Deutschland und große Teile Italiens. Nationalstaaten, wie wir sie heute kennen, gab es damals noch nicht. Die Reformation war trotz des Wittenberger Mönches Martin Luther kein isoliert deutsches, sondern ein die gesamte christliche Welt aufrührendes Ereignis. Als Friedrich der Große im 18. Jahrhundert Preußens Truppen in Schlesien einmarschieren ließ, löste er einen langen Krieg aus, dessen Beben bis in die nordamerikanischen Kolonien zu spüren war, weil sich dort Franzosen (Friedrichs Feinde) und Engländer (Friedrichs Verbündete) verlustreiche Schlachten lieferten, die über das Schicksal Preußens mitentschieden. Die Französische Revolution von 1789 hat die deutschen Länder, England oder das zersplitterte Italien kaum weniger tief verändert als Frankreich selbst. Die Wurzeln der industriellen Revolution liegen zwar in England, aber sie verbreitete sich im Laufe des 19. Jahrhunderts über ganz Westeuropa und den aufstrebenden nordamerikanischen Kontinent. Die zwei Weltkriege des |13|20. Jahrhunderts – an deren Ausbruch Deutschland einen unheilvollen Anteil hatte – veränderten nicht nur unser Land, sondern die Welt.

Aber jedes Volk, jeder Staat hat zugleich seine ganz eigene Entwicklung durchgemacht. Das gilt auch für Deutschland. Die geografische Lage, das Klima, die natürlichen Rohstoffreichtümer, die Kultur und die gesellschaftlichen Strukturen bestimmen Leben, Denken und Handeln einer Nation. So haben sich beispielsweise in England schon sehr früh mit der Magna Charta von 1215 und in Frankreich nach der Revolution von 1789 erste demokratische Strukturen herausgebildet. Und das hatte entscheidenden Einfluss auf die politischen und gesellschaftlichen Verhaltensweisen dieser Völker. Die Deutschen dagegen hielten bis 1945 mehrheitlich am obrigkeitsstaatlichen Denken fest, das seit den Tagen des frühen Mittelalters die Herrschaft einer kleinen Oberschicht sicherte. Nicht zuletzt an dieser antidemokratischen Mentalität scheiterten die Revolution von 1848 und Anfang der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts die Weimarer Republik. Schließlich wurde sogar ein Diktator und Massenmörder wie Adolf Hitler möglich.

Erzählt wird in diesem Buch ausführlich von den Persönlichkeiten, die die Geschichte der Deutschen auf besondere Weise bestimmt haben. Dies, obwohl die Historiker schon lange darüber streiten, ob es denn tatsächlich die Männer (von Frauen sprachen sie in diesem Zusammenhang eigentlich nie) sind, die Geschichte machen, oder ob nicht umgekehrt die wirtschaftlichen, kulturellen und mentalen Entwicklungen das Leben der Menschen verändern. Beides gilt wohl. Die geschichtsmächtigen Persönlichkeiten bleiben immer auch abhängig von den Ereignissen und Abläufen, die ihr Handeln motivieren und begrenzen. Aber Cäsar oder Napoleon haben mit ihren politisch-militärischen Entscheidungen zweifellos die Epoche, in der sie lebten, geprägt. Die Gründung des Deutschen Reiches im Jahr 1871 ohne Bismarck ist kaum weniger vorstellbar als das Dritte Reich ohne den Verbrecher Adolf Hitler.

Entscheidend für die biografischen Abschnitte in diesem Buch war für mich aber vor allem der Wunsch, die Geschichte der Deutschen für den Leser spannend zu erzählen. Spiegelt sich doch im Leben des Einzelnen jenseits aller abstrakten Erklärungen und Deutungen besonders eindrucksvoll und verständlich wider, dass der Mensch im Zentrum des Geschehens steht – heute ebenso wie vor über 2 000 Jahren.

|14|In den Wäldern der wilden Germanen

Obwohl die nationalen Verkünder im 19. und 20. Jahrhundert etwas ganz anderes behaupten, ist es eine Realität: Die Deutschen als Volk treten erst sehr spät in die Geschichte ein. Im Vergleich zu den Hochkulturen der Ägypter, Griechen oder Römer geht es in West-, Mittel- und Nordeuropa noch lange urzeitlich zu. Schrift, Baukunst, Wissenschaften, Bodenbearbeitung und Alltagstechnologie erleben im Nahen Osten und in Asien bereits eine Blütezeit, als die Menschen nördlich der Alpen unter primitivsten Bedingungen zu überleben versuchen. Die erste ägyptische Dynastie ist rund 3 000 Jahre vor der neuen Zeitrechnung, die für das Abendland mit der Geburt Christi beginnt, entstanden. Da hockten die Bewohner unserer Breitengrade noch unter den Blätterdächern ihrer schützenden Bäume und suchten nach Pflanzen oder fingen mit Schlingen Kleintiere und Rehwild, um nicht zu verhungern.

Die Region, die von den Römern Germanien genannt wird und von der die Deutschen heute nur noch einen kleinen Teil bewohnen, bietet eine bedrohliche, zum ständigen Überlebenskampf herausfordernde Umwelt. Riesige, fast undurchdringliche Wälder überziehen das Land zwischen Maas und Elbe, zwischen den Alpen und dem Nordmeer. Wölfe, Auerochsen und Bären leben in ihnen, Regen und Nebel bestimmen das Klima. Die römischen Legionäre, die in den Norden geschickt werden, um Kastelle und Grenzwälle zu bauen und das Weltreich gegen die Einbrüche der ruhelos umherziehenden germanischen Völkerschaften zu schützen, sehnen sich zurück in ihr sonniges Italien. Der erste Römer, der im Jahr 98 n. Chr. ausführlicher von den Germanen erzählt, der Historiker Publius Cornelius Tacitus, spricht seinen im unwirtlichen Norden dienenden Landsleuten zweifellos aus dem Herzen: »Wer würde schon ohne Gefahr Asien, Afrika oder Italien aufgeben, um nach Germanien zu ziehen, in jenes abstoßende Land mit seinem rauen Klima, seiner unfreundlichen Kultur und Erscheinung!«

Es sind nicht Germanen, erst recht nicht Deutsche, die das Land als Erste besiedeln|15|. Die bäuerlich-kriegerischen Stämme, die in der Steinzeit in West- und Mitteleuropa leben, kommen vermutlich aus Zentralasien und sie wandern über Südosteuropa ein. In einem langen Zeitabschnitt führt sie ihr Weg über die Donau und den Rhein in das Pariser Becken und nach Mitteldeutschland. Einige Stämme erreichen sogar die Britischen Inseln. Diese Ursiedler roden die Waldgebiete, auf denen sie ihre Wanderung unterbrechen. Sie bauen einfache Häuser und bestellen die Felder. Ihre Werkzeuge sind Steingeräte, die sie mit den neuen Techniken des Schleifens und Bohrens verbessern. Sie halten Ziegen und Schafe, Hausrinder und Hausschweine, später auch Pferde. Jäger sind sie nicht. Der Boden, auf dem sie Leinen- und Hülsenfrüchte und Einkorn pflanzen, wird rücksichtslos ausgebeutet, um die Ernährung der Stammesangehörigen sicherzustellen. Sie wandern weiter, wenn die intensiv bepflanzten und durch die Rodungen bald weggeschwemmten Ackerböden nichts mehr hergeben. Das kann nach einigen Generationen der Fall sein, oder schon nach wenigen Jahrzehnten. Ihre Sprache ist bis heute unbekannt. Wir nennen sie »indogermanisch«, ein Begriff, in den Herkunfts- und neues Siedlungsgebiet einfließen.

Die Kelten im Süden ...

Wahrscheinlich wird Europa in diesen Frühzeiten seiner Geschichte von unentwegten Wanderungsbewegungen bestimmt. So erscheinen während der Bronze und Eisenzeit, also etwa in den letzten zwei Jahrtausenden vor Christus, immer wieder neue Völker an den Rändern des europäischen Kontinents, die rasch die Oberhand über die Altsiedler gewinnen. Im südlichen Mittel- und in Westeuropa sind das die Kelten, im Norden die Germanen. Hunger, Beutegier, militärische Niederlagen und dramatische Klimaveränderungen haben sie aus ihren angestammten Siedlungsgebieten vertrieben.

Die ersten Völkerschaften, von deren Kultur und Zusammenleben uns die Grab- und Siedlungsfunde, die Berichte der griechischen und römischen Geschichtsschreiber etwas mehr erzählen, sind die Kelten. Sie bestimmen etwa vom 6. Jahrhundert v. Chr. bis zum 1. Jahrhundert n. Chr. die Geschichte Westeuropas. Auch ihre Anfänge liegen weitgehend im Dunkeln. Aber wir wissen immerhin, dass sie aus dem Voralpenraum in den Westen und Süden des Kontinents ausschwärmen und schließlich die Normandie und die Bretagne, die Britischen Inseln, Teile Italiens und der Iberischen Halbinsel und sogar die heutige |16|Türkei erreichen. Die Städte Budapest und Turin gehen auf keltische Siedlungsgründungen zurück. In Deutschland sind ihre Spuren hauptsächlich im Süden zu verfolgen. Ein Vordringen nach Norden über Hessen hinaus haben die germanischen Stämme verhindert.

Ein kriegerisches Volk sind die Kelten. Ihre adligen Führer leben in Burgfestungen. Ihre Weisen, die Druiden, erforschen den Ratschluss der Götter. Sie betreiben Astronomie, überliefern die religiösen Riten, vollziehen die Opferhandlungen und schneiden die Misteln – jene heiligen Zweige, die im Glauben der Kelten Krankheiten heilen und Fruchtbarkeit bringen sollen. Und ihre Kämpfer sind berüchtigt. Für die Römer ist deren Brauch, die Schädel der Besiegten zu balsamieren und bei Gelagen stolz herumzuzeigen, die reine Barbarei. Doch bei aller Grausamkeit und allem Kampfesmut sind die Kelten auch ein handwerklich geschicktes Volk. Von den Griechen und Römern übernehmen sie die Geldwirtschaft. Bald wird das Eisen, das sie vor allem in Gallien verhütten, für sie zum wichtigsten Metall. Die Werkzeuge und Kultgegenstände aus diesem Material sind mit hoher Kunstfertigkeit hergestellt, wie die zahlreichen Funde in den ausgegrabenen keltischen Kultstätten zeigen – das fein gearbeitete und vergoldete »Kultbäumchen von Manching« aus dem 3. Jahrhundert vor Christus beispielsweise, das in den Überresten einer großen keltischen Siedlung nahe Ingolstadt gefunden wurde und heute in der Archäologischen Staatssammlung in München aufbewahrt wird, ist eines von vielen Kunstwerken, die uns erhalten geblieben sind.

Die Kelten schenken Mitteleuropa den Mahlstein und die Töpferscheibe. Deutliche Spuren ihrer Sprache sind noch heute in Irland, Schottland, der Schweiz und Nordfrankreich zu finden, wo nach wie vor von einer Minderheit Gälisch, Rätoromanisch und Bretonisch gesprochen wird. Viele Namen von Flüssen, Bergen und Städten sind wahrscheinlich keltischen Ursprungs: Rhein, Taunus oder Bonn. Im Namen des Flusses Main klingt die keltische Siedlung Menosgada an; die Stadt Paris verdankt ihren Namen den keltischen Parisii; die Kelten haben sich hier einen Stützpunkt eingerichtet.

Die keltische Sagenwelt hat die Fantasie der modernen Menschen auf besondere Weise angeregt. Die Fantasy-Autoren erobern seit Jahren mit dem Kampf um Gerechtigkeit und Liebe in der Welt des Nebels, der dunklen Bergseen und der Felsenkliffs, an denen die schäumenden Wellen zerschellen, die Bestsellerlisten, und Der Herr der Ringe hat die Menschen scharenweise ins Kino gelockt. Aber die Welt, die uns dort begegnet, ist nicht die wirkliche Welt der Kelten. Ihren Alltag können die Archäologen anhand der Ausgrabungsfunde nachvollziehen|17|. Ihre Denkweise, Geschichte und religiösen Vorstellungen finden wir in den Legenden und Sagen, die irische und britische Mönche im 5. Jahrhundert zu sammeln beginnen. Sie sind es, die das Leben der Menschen in Erinnerung gehalten haben, die an der Wiege Europas stehen. Die Geschichte des Rinderraubs von Cuailuge handelt zum Beispiel davon, wie der Held CúChulainn und die anderen Krieger von Ulster sich gegen Angreifer aus Connaught verteidigen, die im Auftrag ihrer Könige den berühmten Bullen von Cuailuge (Cooley) rauben sollen. Nur CúChulainn ist nicht durch einen Fluch geschwächt und kann den Gegnern standhalten. In den Schwanenkindern des Lir werden die geliebten Kinder eines Königs von der Stiefmutter in Schwäne verwandelt. Auch die Erzählungen über den legendären König Artus und seine Tafelrunde stammen aus dem keltischen Sagenkreis: Der Herrscher mysteriöser Herkunft schlägt erfolgreich viele Schlachten und steht dabei unter dem besonderen Schutz des Zauberers Merlin. Schließlich wird er im Kampf gegen seinen Neffen Modrod, welcher ihn um Reich und Gattin betrogen hat, schwer verwundet und zur Heilung auf die Feeninsel Avalon gebracht. In der Dichtung des Mittelalters wird der Artus-Hof, dessen Mitglieder stets an einem runden Tisch sitzen, damit keiner einen besseren Platz haben kann als ein anderer, zum Ideal des Rittertums.

Zu verdanken sind diese Überlieferungen wohl vor allem dem irischen Nationalheiligen St. Patrick. 385 in England geboren, wird er in jungen Jahren von irischen Seeräubern entführt und nach Nordirland verschleppt. Dort hütet er sechs Jahre lang die Schafe seines Herrn. Später missioniert er als Mönch die Bewohner der irischen Provinzen Connaught, Ulster, Leinster und Munster. Irische und britische Mönche werden es sein, die dann Nord- und Mitteleuropa christianisieren. Von den alten keltischen Ländern Irland und Britannien aus findet das nördliche Abendland so den Weg zum Christentum. Der heilige Patrick hat aber auch ein kleines kulturelles Wunder vollbracht. Obwohl bekennender und missionierender Christ erkennt er den Wert der nationalen heidnischen Epen und erhält sie der Nachwelt. Nur wenige Missionare haben eine solche Toleranz gegenüber dem Denken der Welt des Heidentums gezeigt.

Heute sind die Kelten aus der Geschichte verschwunden. Sie gehen auf in den Völkern, die ihre Siedlungsgebiete erobern. Das sind zunächst die Römer, die sie unter Cäsar im gallischen Krieg besiegen. Als es dem römischen Feldherrn 52 v. Chr. nach jahrelangen Kämpfen gelingt den keltischen Fürsten Vercingetorix gefangen zu nehmen, verliert dessen Volk in Gallien seine Unabhängigkeit. Dann sind es zunehmend die germanischen Stämme, die die alten keltischen Gebiete erobern.

|18|... im Norden die Germanen

Über die Herkunft der Germanen wissen wir ebenfalls nur wenig. Erstmals taucht ihr Name, der wahrscheinlich aus dem Keltischen stammt, im 4. Jahrhundert v. Chr. auf. Ihre Urheimat liegt in Nord- und Nordwestdeutschland, in Dänemark und im südlichen Skandinavien. In ihrer Frühzeit sind sie in zahlreiche, in der Regel nicht allzu große Völkerschaften zersplittert. Auch das Leben ihrer Gemeinschaft ist von einem ständigen Überlebenskampf bestimmt. Boden und Nahrung müssen der Natur unter überaus schwierigen Bedingungen abgerungen werden. Stets drohen die Überfälle der Nachbarn oder einzelne Stammeskämpfe. Die Germanen sind sich untereinander spinnefeind. Ihre Gemeinsamkeiten beschränken sich zunächst auf die kultischen Rituale und die Sprache. Erst allmählich führen die immer neuen Wanderungen zu größeren Zusammenschlüssen, die dann die Goten, Alemannen, Sachsen und viele andere Stämme zu einer wachsenden Gefahr für das Römische Imperium werden lassen.

Die Germanen leben auf Einzelhöfen oder in kleinen Dörfern. Sie treiben Ackerbau und Viehzucht, kennen aber auch die Seefahrt und den Fernhandel. Ihre Haus- oder Nutztiere sind neben dem Pferd Rinder, Schweine, Schafe und Ziegen. Adelssippen führen die germanischen Völkerschaften an. In der sozialen Hierarchie folgen dann die Freien, die Halbfreien und die Sklaven. In jährlichen Versammlungen, die bei den Wikingern Thing genannt werden, wählen sie ihren Stammesführer. Könige oder Häuptlinge sind es. Wer das werden will, muss seinen Stammesgenossen vor allem als Krieger und Heeresführer mit Mut und Stärke imponieren. Denn der Kampf steht im Zentrum des Lebens und Denkens eines Germanen. Er gibt dem Dasein seinen Sinn und stimmt die Götter gewogen. Denn nur wer mit dem Schwert in der Hand fällt, darf in die Ruhmeshalle der gefallenen Helden einziehen – in die Walhalla.

Die germanischen Götter heißen Odin (Wodan), Thor (Donar), Loki, Tyr oder Freyja. Ihre Zahl ist groß, denn sie sind für nahezu alles zuständig, was Leben und Schicksal ihrer menschlichen Verehrer bestimmt. Die sind zwar mutig im Kampf, aber furchtsam und den Göttern ergeben im Alltag. Ganz gleich ob für die Ernte und das Wetter, für den Sieg und den Tod – für alle Eventualitäten zeichnet ein Gott oder eine Göttin verantwortlich. Odin ist der Herr des Kampfes und der Toten. Er entscheidet die Schlacht und bewirtet die Krieger im Jenseits. Seine Frau Freyja ist die Göttin der Liebe, der Familie und der Fruchtbarkeit. Der stärkste aller Götter ist der Wettergott Thor, der mit seinem Hammer |19|das Chaos besiegt. Der Kriegsgott Tyr schützt die Fürsten und Herrscher. Um die Gunst ihrer Götter bitten die Germanen in heiligen Eichenhainen, wo sie nicht selten auch Menschenopfer darbringen.

Die Entstehung der Welt vollzieht sich nach ihrem Glauben in Urzeiten aus den Körperteilen des riesenhaften Ymir. Aus seinem Fleisch entsteht die Erde, aus seinem Blut das Meer, aus seinen Knochen die Berge, sein Haar wird zu Bäumen, sein Schädel formt den Himmel. Die Weltesche breitet ihre Äste über das All, ihre Wurzeln bergen die Quellen der Weisheit. Hier wohnen die Nornen, die Schicksalsgöttinnen. Aus der magischen Zeichenwelt der Runen, die in Stein oder Holz geritzt werden, lässt sich das Schicksal der Menschen deuten. Die germanischen Religionen tauchen in den großen Naturmythos ein. Die Natur ist Feind und Lebensspender zugleich. Die Götter sind schützend, aber auch furchtbar und manchmal sogar unberechenbar. Loki, ein Außenseiter unter den Göttern voller Hinterlist und Bosheit, zeugt drei Ungeheuer, den Fenriswolf, Hel und die Midgardschlange. Das ist der Anfang vom Ende der Götterwelt. Odin stirbt im Kampf mit dem Fenriswolf, Thor erschlägt die Midgardschlange, geht aber an ihrem Gift zugrunde, und ein Mistelzweig, den Loki dem blinden Hödr überreicht, tötet Odins und Freyjas Sohn Balder.

Die Germanen, davon spricht nicht nur Tacitus, trinken heftig, berauschen sich an ihrem Honigwein, genannt Met, und schrecken im Kampf vor nichts zurück. Ihre Frauen feuern hinter den Schlachtlinien die Krieger lauthals an, den Feind ohne Gnade niederzumetzeln. Für die arroganten Römer sind die aggressiven Germanen Barbaren, also rohe, ungesittete Menschen. Sie beziehen sich dabei auf einen Begriff, mit dem die Griechen einst alle nicht-griechischen Völker belegt haben. Sicher, wenn die germanischen Krieger die Siedlungen ihrer Nachbarstämme erobern, verschleppen sie die besiegten Männer als Sklaven, die Frauen werden vergewaltigt, Kinder und Alte erschlagen. Aber viel anders verhalten sich die römischen Eroberer auf ihren Feldzügen auch nicht. Überlegen sind sie den »barbarischen« Völkern und Stämmen allerdings in ihren zivilisatorischen Errungenschaften. Städtebau, Wohn- und Lebenskultur, die Künste – da geht es in Rom anders zu als in den germanischen Wäldern. Doch trotz dieser Unterschiede gilt für die gesamte Antike: Wer überleben will, muss stark und wehrhaft sein. Was die Deutschen (und nicht nur sie) noch 2 000 Jahre später zeitweise die primitive Schlussfolgerung ziehen lassen wird, auch in zivilisierten, von der Natur längst nicht mehr so bedrohten modernen Gesellschaften gelte dieses Gesetz.

Vieles aus der kultischen und begrifflichen Welt der Germanen hat sich bis |20|heute gehalten. Die Sonnenwendfeiern der Skandinavier oder die Erntefeste der Bauern, auch einige Namen unserer Wochentage leiten sich aus der germanischen Götterwelt her. So steckt im Freitag der Name der Fruchtbarkeitsgöttin Freyja, Donnerstag weist auf den Wettergott Thor oder Donar hin und Sonntag erinnert an den Tag, den die Germanen der Sonne geweiht haben.

Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. dringen germanische Stämme bis an die Weichsel, die obere Elbe, die Donau und den Rhein vor. Sie erreichen damit auch keltische Siedlungsgebiete. Die römischen Legionäre, kriegserfahren und gut gerüstet, beschleicht Schrecken und Furcht, wenn die wilden, ihre Streitäxte mit Gebrüll schwingenden germanischen Krieger aus den Wäldern hervorbrechen und über sie herfallen. Schon 113 v. Chr. ziehen die Volksstämme der Kimbern und Teutonen über die Grenzen des Römischen Reiches und schlagen dessen Heere in mehreren Schlachten. Erst zwölf Jahre nach dem Beginn ihres Kriegszuges werden sie in Oberitalien vernichtend besiegt. Dieser lange und zeitweise erfolgreiche Feldzug germanischer Stämme auf römischem Territorium bleibt ein unvergessener Schrecken für Roms Eliten.

Völlig erobert haben die Römer Germanien nie. Cäsar kann in einem achtjährigen Krieg die benachbarten keltischen Gallier (sie leben im heutigen Frankreich und Belgien und feiern als Asterix und Obelix in unseren Tagen ihre ruhmvolle Wiederauferstehung) unterwerfen. Sein Adoptivsohn, Kaiser Augustus, stärkt die römische Position an der Rheingrenze, um den Beutezügen germanischer Stämme nach Gallien entgegenzutreten. 74 n. Chr. beginnen die römischen Besatzer den Limes zu bauen, einen 6 Meter breiten Grenzgraben, hinter dem ein Palisadenwall errichtet wird. Noch heute kann der Wanderer in den Taunuswäldern die Überreste dieser Verteidigungslinie entdecken, die das Römische Reich vom »freien« (unbesetzten) Germanien trennt. Die beiden germanischen Provinzen (mit den Hauptorten Mainz und Köln), die die Römer hinter dem Limeswall gründen, können sie über Jahrhunderte halten. Trier wird im 3. Jahrhundert sogar zum römischen Kaisersitz und damit zur Metropole des Weströmischen Reiches.

Armin der Cherusker (16 v. Chr. – 21 n. Chr.)

Er ist der erste große Held der Deutschen gewesen, jubeln die Nationalisten, als sie im 19. Jahrhundert die politische Einheit ihres Volkes fordern. Mit seinem Sieg über die Legionen des römischen Statthalters Varus beim Teutoburger Wald, im fernen Norden Germaniens, habe dieser Recke in frühester Zeit den Selbstbehauptungswillen |21|der Deutschen bewiesen, und dieses Ereignis zeige, dass die Geschichte der Deutschen so alt sei wie die Geschichte der Römer. Eine hübsche Legende ist dies, mehr nicht.

Armin (Arminius) ist Stammesführer der germanischen Cherusker und gehört zu einem der vornehmen Adelsgeschlechter seines Volkes. Die Cherusker sind Verbündete der Römer und Armin besitzt das römische Bürgerrecht. Er dient als Offizier im römischen Heer. Sein Bruder Flavus bleibt zeitlebens ein enger und überzeugter Freund des Imperiums. Wie also kommt ausgerechnet dieser privilegierte Cherusker dazu, sich gegen die Römer zu wenden?

Wahrscheinlich fühlt sich Armin, der zu den Vertrauten des römischen Statthalters Varus zählt, durch die Steuerforderungen und neuen, engstirnigen Verwaltungsvorschriften der Besatzer herausgefordert. So wird er zum Aufrührer. Es gelingt ihm, die Cherusker und einige weitere Stämme zu einem Aufstand gegen die Besatzungsmacht zu vereinigen. Armin lockt die militärisch weit überlegenen Legionen des Varus in einen Hinterhalt und vernichtet die römischen Truppen in den Sümpfen nahe des Teutoburger Waldes. Die Römer verlieren in der zwei- bis dreitägigen Schlacht 30 000 Mann, und Varus tötet sich angesichts dieser militärischen Katastrophe selbst. Als Kaiser Augustus in Rom die Nachricht von der Niederlage erreicht, klagt er: »Varus, Varus – wo sind meine Legionen!«

Über mehrere Jahre hinweg wehrt sich Armin erfolgreich gegen alle römischen Angriffe. Am Ende wird er Opfer von Verrat und Intrige. Römerfreundliche Cherusker wenden sich von ihm ab, darunter auch der Vater seiner Frau Thusnelda. Armin wird von den eigenen Verwandten heimtückisch ermordet.

Den »nationalen Freiheitshelden« taufen die nach staatlicher Einheit strebenden Deutschen im 19. Jahrhundert in »Hermann der Cherusker« um. Sie bauen ihm und sich zur Ehre das protzige Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald. Im wirklichen Leben jedoch ist Armin schlicht den Weg zahlreicher Germanenfürsten gegangen. Wo es den eigenen Interessen nutzt oder die aktuellen Machtverhältnisse es fordern, verbünden sie sich mit den Besatzern. Viele Germanen dienen sogar im römischen Heer. Den Römern scheinbar treu ergebene Opportunisten also. Doch wendet sich die Lage, wechseln sie schnell wieder die Seiten.

Auch wenn die Heldengeschichte um Armin oder Hermann den Cherusker allenfalls der halben Wahrheit entspricht, hatte die Schlacht beim Teutoburger Wald für die römisch-germanische, sogar für die spätere europäische Geschichte langfristige Konsequenzen. Augustus und seine Nachfolger geben nach dieser Niederlage endgültig den Versuch auf, die rechtsrheinischen germanischen Gebiete zu erobern. Damit werden die meisten germanischen Stämme |22|nicht »romanisiert«. Das bleibt für ihre Kultur, ihre Sprache und ihre Lebenshaltung, der die mediterrane Leichtigkeit fehlt, nicht ohne Folgen.

Ein Imperium zerbricht, das Christentum entsteht – und die Germanen gehen auf Wanderschaft

Die deutschen Geschichts- und Geschichtenschreiber erzählen vom ständigen Sturm der Germanen gegen die Grenzen des Römischen Reiches, der immer stärker wird, bis es schließlich kapituliert. Was so aber nicht stimmt oder zumindest grob vereinfacht ist. Die Germanen müssen immer wieder schwere Niederlagen hinnehmen, und Rom bleibt noch lange ein mächtiges Reich. Es geht erst viel später nicht allein durch die Angriffe aus den germanischen Wäldern, sondern vor allem an den eigenen internen Machtkämpfen und Wirtschaftskrisen zugrunde. Als Roms Eliten nicht mehr in der Lage sind, die wirtschaftliche und militärische Größe des Reiches zu bewahren, setzt der Niedergang ein. Rom zerbricht an den Intrigen, der Geld- und Machtgier seiner führenden Männer, nicht am Kampfgeist der Germanen.

Richtig ist allerdings, dass in dieser Zeit eine sich im Laufe der Jahrhunderte immer stärker ausbreitende Wanderung der germanischen Völker einsetzt, die den damaligen europäischen Kontinent gehörig durcheinander wirbelt. Die Goten kommen von Skandinavien an die Weichsel und dringen in den Raum am Schwarzen Meer ein. Sie verdrängen von dort die Wandalen und Markomannen, die in den Süden, und die Burgunder, die in den Westen ziehen und die dort lebenden Völker vernichten oder zum Aufbruch zwingen, weil sie nun ihrerseits nach neuen sicheren Siedlungsgebieten suchen müssen. Die Chatten überschreiten den Limes und lassen sich im heutigen Hessen nieder, die Franken fallen vom Niederrhein kommend in Gallien ein.

Nach einigen Jahrzehnten der vorläufigen relativen Ruhe beginnt dann in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts der Sturm der Hunnen auf Europa. Das mongolische Reitervolk erobert Südrussland und löst eine große Fluchtbewegung aus. Die Ostgoten werden von den Hunnen geschlagen. Unter ihrem König Attila dringen sie bis ins heutige Frankreich und nach Italien vor. Erst in der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern in Ostfrankreich können die Westgoten 451 die Hunnen stoppen. Ein Jahr später stirbt Attila in seiner Hochzeitsnacht, möglicherweise als Opfer eines Mordanschlages.

|23|Zwei Ereignisse in diesen bewegten Zeiten prägen die Geschichte Europas und damit auch Deutschlands: die Ausbreitung des Christentums zur römischen Staats- und zur Weltreligion und die Teilung des Römischen Imperiums in einen östlichen (griechisch-orientalischen) und einen westlichen Herrschaftsbereich. Kaiser Konstantin der Große erobert im 3. Jahrhundert Byzanz und macht die Stadt am Bosporus – sie heißt bald Konstantinopel, später dann Istanbul – zur neuen Hauptstadt des Imperiums. In Rom regiert künftig ein weströmischer Kaiser, der formell dem Herrscher in Byzanz untergeordnet ist. Das Weströmische Reich, innerlich von Parteienkämpfen zerrissen, hat den Eroberungszügen der Germanen nun militärisch kaum noch etwas entgegenzusetzen. Der Westgote Alarich marschiert 410 mit seinem Heer in Rom ein. Wenige Jahre darauf gründen die Westgoten ein Reich in Gallien und Spanien. Die Wandalen ziehen von Spanien nach Nordafrika und erobern Karthago. 455 fallen sie in Rom ein und plündern 14 Tage lang die Stadt. 476 stürzt Byzanz den letzten weströmischen Kaiser, Romulus »Augustulus«. Ein Weltreich ist untergegangen.

Ganz anders Byzanz. Mehr als 1 000 Jahre widersteht das östliche Reich allen Angriffen, bis es schließlich die osmanischen Truppen einnehmen. Am Kaiserhof in Konstantinopel kommt es zur Vermischung der orientalischen, hellenischen und römisch-christlichen Welt, die für die Kultur- und Geistesgeschichte Europas so bedeutungsvoll sein wird. Wirtschaft, Technik, Mathematik, Medizin, Philosophie, Religion – das Leben im christlichen Abendland ruht in den kommenden 1 500 Jahren auf unzähligen Entdeckungen und Entwicklungen der orientalischen und der griechisch-römischen Antike. Und neben allen Kriegen, Belagerungen und Völkerwanderungen wächst hier noch ein weiterer Machtfaktor heran, der die Verhältnisse nachhaltig verändern wird: das Christentum.

Im Imperium Romanum ist es zunächst verboten, seine Anhänger werden grausam verfolgt. An der Via Appia, der großen antiken Einfallsstraße der römischen Hauptstadt, kann der Reisende Tag für Tag die gekreuzigten Anhänger des Christentums sehen. In den Amphitheatern werden sie zur Belustigung der Zuschauer den Löwen vorgeworfen oder von Elefanten zu Tode getrampelt. Die Lehre der Christen basiert auf dem Judentum. Die hebräische Bibel, die wir als das Alte Testament kennen, und die Predigten des in Jerusalem als Aufrührer durch den römischen Statthalter Pontius Pilatus gekreuzigten Juden Jesus von Nazareth bilden den Mittelpunkt. Die Anhänger Jesu, es sind zunächst nur Juden, die später Christen genannt werden, sehen in ihm den Messias, den Retter der Welt, der sie von der Herrschaft der Römer befreien soll.

Konstantin der Große fördert als erster römischer Kaiser den neuen Glauben, |24|beendet die Christenverfolgung und macht Byzanz zu einer christlichen Metropole. Bis zum Jahr 300 hat sich die Lehre der Christen über die östliche Reichshälfte bis nach Italien, Gallien und Spanien ausgebreitet. Christliche Gemeinden gibt es zu dieser Zeit auch schon in Persien und Indien. Im Jahr 380 erhebt dann Kaiser Theodosius der Große das Christentum zur Staatsreligion. Für die Geistesgeschichte des Abendlandes ein einschneidender Moment. Das Christentum ist wie der jüdische Glaube eine monotheistische Religion. Demnach gibt es nur einen einzigen Gott, der den Himmel und die Erde geschaffen hat und das Schicksal der Menschen bestimmt. So ist es nun auch für die Germanen an der Zeit, von ihrer Göttervielfalt um Odin und Freyja Abschied zu nehmen.

Theoderich der Große (um 453–526)

Von den zahlreichen Germanenkönigen, die auf dem Boden des sich auflösenden Weströmischen Reiches eigene Herrschaftsgebiete errichten, ist der Ostgote Theoderich der Bedeutendste. Als er um 450 geboren wird, stehen die vom Stamm der Amaler geführten Ostgoten noch unter dem Einfluss der Hunnen. Als er gut 70 Jahre später im Sterben liegt, kann er auf eine über dreißigjährige erfolgreiche Königsherrschaft seines Volkes in Italien zurückblicken. Theoderich, der am Kaiserhof in Konstantinopel aufwächst und ausgebildet wird, erlebt einen raschen militärischen und politischen Aufstieg. Mehrere erfolgreiche Feldzüge auf dem Balkan schenken ihm die stets schwankende Gunst der byzantinischen Kaiser. Theoderich wird der mächtigste Mann in Italien. Formal dem Herrscher in Konstantinopel unterstellt, errichtet er ein eigenständiges Königreich, dessen Sitz in Ravenna liegt. Noch heute kann der Besucher das monumentale Grabmal des gotischen Königs und die byzantinischen Mosaiken in den Kirchen der einstigen weströmischen Hauptstadt bewundern.

Schon wenige Jahre nach dem Tod Theoderichs endet das ostgotische Königtum in Italien. Theoderich aber wird rasch zu einer Legende. Als Dietrich von Bern (das ist Verona) taucht er im Nibelungenlied auf, wo er am Hof des Hunnenkönigs weilt, obwohl Attila (in der Sage König Etzel) und Theoderich gar nicht zur gleichen Zeit gelebt haben. Zahlreiche Märchen und Heldensagen ranken sich um die Gestalt des Dietrich von Bern. Er tritt dort stets als edler, hilfreicher und die Parteien versöhnender Held auf.