Für Carlotta, Helene, Josua, Sophie und Richard.
Euch zu lieben ist das Einfachste auf der Welt!
P.S.Vergesst nicht, eure Zähne zu putzen!
@froschdomse Wenn man die eigenen Kinder als Quest und nicht als Endgegner sieht,
geht’s eigentlich!
Einleitung
Drahtseilakt Zahnlückenpubertät
Erziehung – ein Kinderspiel?
Zwei Wege aus dem Konflikt beim Abendbrot
Ziehen wir wirklich Tyrannen heran?
Schon groß und doch noch klein
Selbstständig werden, Freunde, Schule: Was wirklich zählt
Vom Unterschied zwischen Wünschen und Bedürfnissen
Was tun, wenn es schwierig wird?
Wenn die Bedürfnisse mehrerer Kinder aufeinandertreffen
Dem Wunschkind die Wurzeln stärken
In Beziehung gehen – wie geht das?
Paula: Schule und Eigenverantwortung
Sibel: Mithilfe im Haushalt
Ahmed: Von Gefahren und Naturerfahrungen
Selbstbestimmung für Wackelzahn-Rebellen
Simon: » Und meine Suppe ess ich nicht!«
Marie: Unsympathische Freunde
Manuel: Wie viel Handy ist okay?
Alexander: Jedes Kind ist einzigartig
Wenn nicht strafen, was dann?
Lina: Einfach mal so was angestellt
Pascal: Mein Kind hört nicht
Julie: Klauen, Lügen und die Entwicklung der Moral
Peter: Der Provokateur
Übersetzungshilfen: Krasse Worte
Die »vier Ohren« von Kindern und Eltern
Grit: Aktives Zuhören schafft Nähe
Vom Familiendesaster zum Win-win-Kompromiss
Lea: »Ich will mich wieder wohl in meiner Haut fühlen!«
Bedürfnis- und beziehungsorientiert durch die Jahre 5 bis 10
Nachwort: Liebevolles Begleiten zwischen Trotzphase und Pubertät
Quellenverzeichnis und Anmerkungen
Literatur
Register
Die Autorinnen
Weinend reichte mir meine beste Freundin Mara ihr Handy. Ich schaute aufs Display und sah ein Selfie ihres zehn Jahre alten Sohnes Mirko: Er lag auf ihrer weißen Couch, neben ihm auf dem Sofa ein Teller mit einem krümeligen Schoko-Nougat-Creme-Toast und ein Glas Cola. »Guck mal, was ich gerade mache!«, hatte er unter das Bild geschrieben. Erstaunt las ich weiter. »Du weißt genau, dass du da nicht essen sollst und schon gar nicht Schokolade!«, hatte seine Mutter erbost zurückgeschrieben. Mirkos Antwort war knallhart: »Und was willst du jetzt dagegen machen? Von der Arbeit nach Hause kommen, weil ich einen Toast esse?« Die nächste SMS seiner Mutter war erst zehn Minuten später abgeschickt worden. Offenbar hatte Mara eine Weile mit sich gerungen: »Warte nur, wenn ich das dem Papa erzähle!« – »Na und? Soll mir das Angst machen?«
»Ich muss Mirko irgendwie bestrafen«, stellte Mara bitter fest. »Hilf mir mal, etwas zu finden. Soll ich ihm für eine Woche das Handy wegnehmen? Oder soll ich das WLAN zu Hause abschalten? Hausarrest? Ich weiß nicht, ob ich das noch durchsetzen kann. Ich fürchte, dafür ist er schon zu groß geworden. Ich habe nicht die Kraft, ihn davon abzuhalten, einfach aus der Tür zu gehen. Eigentlich macht er nur noch, was er will. Ich hasse das. Mein kleiner, süßer Sohn ist mir so fremd geworden.« Sie fing an zu weinen und ich umarmte sie sanft, einen dicken Kloß im Hals.
Während es sie leise in meinen Armen schüttelte, schweiften meine Gedanken zurück zu der Zeit, als der heutige Zehnjährige fünf war. Damals saßen wir im Café und schauten mit liebevollen Augen dem bildhübschen Vorschulkind zu, das gewissenhaft und mit Zunge im Mundwinkel ein kompliziertes Feenbild malte. Auf meinen Kommentar, wie toll ihr Junge sei und dass sie wirklich stolz auf ihn sein könne, hatte sie damals nachdenklich gesagt: »Ja, Mirko ist toll. Aber weißt du, manchmal habe ich Angst, was passieren könnte, wenn ich nachlasse.« Ich verstand nicht, was sie meinte, und hakte nach. »Ach, ich finde es einfach so anstrengend, ihn immer in der Spur zu halten … ihn zu erziehen«, präzisierte sie. »Es fühlt sich an wie ein ewiger Kampf. Aber was, wenn ich nicht mehr so streng mit ihm bin? Ich möchte nicht, dass er mal auf die schiefe Bahn gerät, weißt du? Also darf ich nicht nachlassen.«
Meine Gedanken kamen zurück in die Gegenwart. Nun, die »schiefe Bahn« war der Schoko-Creme-Toast auf der weißen Couch vielleicht nicht, und doch begann die Situation gerade, unangenehm zu eskalieren. Dem Jungen das Handy wegzunehmen oder das WLAN auszuschalten, würde wahrscheinlich zu noch mehr Krieg führen. Meine Freundin schaute mich traurig an. »Er ist uns gegenüber so gehässig geworden. Du hast ja seine SMS gelesen – es ist, als wolle er uns irgendwas heimzahlen. Er entfernt sich immer weiter von mir. Muss das so sein? Ist der Sinn des Großwerdens, seine Eltern besonders stark zu verletzen, damit man selbst unabhängig wird? Das ist doch scheiße so. Das muss doch irgendwie anders gehen! Ich will mein Baby zurück.«
Wir sind fest davon überzeugt, dass es anders geht. Dass Kinder, die erwachsen werden und sich von ihren Eltern lösen wollen, dies auch ohne Gehässigkeit tun können, wenn – ja, wenn – sie nicht selbst im Laufe der Jahre immer wieder verletzt wurden. Denn viele der herkömmlichen Erziehungswege produzieren bei den Kindern Unmut und Wut über ihr Ausgeliefertsein den Eltern gegenüber und eine Sehnsucht nach eigener Macht, die entweder Schwächeren gegenüber ausgelebt wird, zum Beispiel durch Mobbing an der Schule, oder eben gegenüber den Eltern, wenn die Kinder ihnen in Größe und Kraft ebenbürtiger werden.
In diesem Buch wollen wir einen Weg aufzeigen, der ohne Verletzungen der Integrität der Kinder auskommt und trotzdem nicht die Eltern zu willfährigen Dienern ihrer Söhne und Töchter macht. Ein Weg, der auf die Bedürfnisse aller achtet. Der Lebensabschnitt zwischen dem fünften und zehnten Geburtstag ist ideal, um unseren Kindern wichtige soziale und gesellschaftliche Regeln zu vermitteln. Die Voraussetzungen dafür sind in diesem Alter bereits im Gehirn angelegt: die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, Impulskontrolle, Empathie, Selbstberuhigungskompetenzen und ein schon gut arbeitsfähiger präfrontaler Cortex.
Doch jetzt müssen diese Fähigkeiten angewendet und ausgebaut werden. Das passiert nicht nur innerhalb der Kernfamilie, sondern auch in anderen sozialen Beziehungen. Kein Wunder also, dass Kinder zwischen fünf und zehn Jahren zunehmend den Drang haben, mehr Zeit mit ihren Freunden zu verbringen als mit uns. Sie haben ein gutes Bauchgefühl dafür, was sie brauchen. In der Regel gehen diese Freunde nämlich sehr viel nachsichtiger mit Verstößen gegen soziale Regeln um als wir Erwachsenen. Wir Großen haben bereits ein sehr starres Gerüst in unserem Kopf, was »man darf« oder »nicht darf«, was peinlich ist oder schlichtweg inakzeptabel. Wir wissen auch, was ein antisoziales Verhalten für die Zukunft unseres Kindes bedeuten könnte, und wollen ihm deshalb aus Sorge um Tochter oder Sohn möglichst schnell entgegenwirken. Ein ganzer Rattenschwanz aus Gedanken und Gefühlen hängt an unseren Reaktionen, wenn unser Kind etwas tut, das wir moralisch oder gesellschaftlich grenzwertig finden.
Unsere inneren Ängste bleiben Kindern aller Altersstufen nicht verborgen. Sie sind Meister darin, unsere unbewusste Mimik und Gestik zu interpretieren und zu erkennen, dass wir denken, mit ihnen stimme etwas nicht. Dieses fremde Bild von ihnen verankert sich möglicherweise in ihrem Inneren – es wird unter Umständen sogar zu ihrem Selbstbild. Andere Kinder hingegen haben keinen solchen Rattenschwanz an Gedanken, wenn sie mit unseren Kindern spielen, weil sie noch nicht erwachsen denken. Sie reagieren nur darauf, was das Verhalten unserer Kinder mit ihnen macht. Wenn es sie ärgert, sind sie ärgerlich. Wenn es sie freut, freuen sie sich. Selbstverständlich gibt es unter Kindern heftige Streits und manchmal sogar Beziehungsabbrüche, Manipulationsversuche und emotionale Erpressung. Wer hat nicht schon mal ein Kind gehört, das sagte: »Wenn du das machst, bin ich nicht mehr deine Freundin«? Doch bei all diesen Konflikten bleibt eins wunderbar unangetastet: das Selbstbild des Kindes. Es lernt die Kausalität seines Verhaltens (»Wenn ich immer herumkommandiere, spielen die anderen nicht mit mir.«) ohne das tonnenschwere Gefühl von Schuld, welches von uns Erwachsenen oft unbeabsichtigt eingepflanzt wird (»Was stimmt denn nicht mit mir, dass ich andere immer so herumkommandiere, statt freundlich zu bitten?«).
Dieses Buch will Eltern zurückführen zum bedingungslosen, sorgenfreien Annehmen ihrer Kinder. Wir werden zeigen, dass vermeintliches antisoziales oder sogar tyrannisches Verhalten mit der großen Lernaufgabe dieses Altersabschnitts zu tun hat und gar nicht so besorgniserregend ist, wie wir Erwachsenen denken und wie in einigen Ratgebern behauptet wird. Wir werden erklären, warum unsere Kinder manchmal nicht auf uns hören oder uns sogar absichtlich provozieren und was wir ändern können, damit das besser wird. Wir werden darstellen, was bedürfnis- und beziehungsorientierte Elternschaft bedeutet und dass, gerade im Hinblick auf die nicht mehr weit entfernte Pubertät, die Jahre fünf bis zehn ein immens wichtiger Entwicklungsabschnitt sind, dessen Bedeutung leider noch zu oft übersehen wird. Es ist verwunderlich, wie wenig Literatur es für dieses mittlere Alter gibt, obwohl doch gerade hier die Grundlagen für das soziale Miteinander in Familie und Gesellschaft gelegt werden.
In Teil 1 möchten wir Ihnen schildern, was eine beziehungs- und bedürfnisorientierte Elternschaft von fünf- bis zehnjährigen Kindern im Alltag bedeutet. In Teil 2 erläutern wir die wichtigsten Bedürfnisse von Kindern in diesem Alter sowie hilfreiche bzw. nicht so hilfreiche Strategien zu ihrer Erfüllung, und wir stellen Ihnen unsere Überlegungen vor, wie dieser Erziehungsstil sich bei den zentralen Themen in den mittleren Jahren der Kindheit, nämlich selbstständig werden, Freunde und Schule umsetzen lässt. Der 3. und 4. Teil widmen sich der kindlichen Selbstbestimmung und ihren Grenzen – Themen, die uns Eltern in diesen Jahren immer wieder beschäftigen. Der Themenkreis neue Medien hat hier genauso seinen Platz wie die (manchmal etwas beunruhigende) Einzigartigkeit unserer Kinder wie auch immer wiederkehrende Konflikte rund ums Essen, um die Eigenverantwortung bei den Hausaufgaben, bei der Mithilfe im Haushalt oder beim Zusammensein mit Freunden und vielem anderen mehr. Teil 5 behandelt die Frage, wie wir als Eltern reagieren können, wenn wir unsere Kinder nicht bestrafen wollen, und in Teil 6 geht es um krasse Aussagen von Eltern und Kindern und was sie eigentlich bedeuten. Wichtig ist uns auch, und darüber sprechen wir im letzten Teil unseres Buches, auf welche Weisen wir in Beziehung mit unseren Kindern sein können und welche Lösungwege und Win-win-Kompromisse sich aus dem Abwägen von Bedürfnissen ergeben können.
Sollten Sie an der einen oder anderen Stelle des Buches nicht mit unserer Sichtweise mitgehen können, legen Sie es bitte nicht gleich beiseite: Es werden andere Stellen kommen, die sich in Ihr Herz schleichen und für Sie Sinn ergeben. Diese sind es, die Ihrer Familie guttun werden. Denn Erziehung sollte sich nicht schwer anfühlen. Weder sollten Sie als Eltern das Gefühl haben, ständig in einen Machtkampf mit ihren Kindern verstrickt und nur noch Mecker-Mama oder Mecker-Papa zu sein, noch sollten Sie dauerhaft die Grenzen Ihrer Belastbarkeit ignorieren, um alle Wünsche und Bedürfnisse der Kinder zu erfüllen. Das Babyalter, in welchem das nötig ist, ist vorbei. Wir sind davon überzeugt: In einem Familiengefüge, in dem alle Mitglieder alt genug sind, um die Perspektive eines anderen einzunehmen, müssen die Bedürfnisse jedes Einzelnen gleichermaßen beachtet werden. Selbstverständlich wird es trotzdem immer wieder schwierige Phasen geben, aber insgesamt sollten alle – Kinder und Erwachsene – das Zusammenleben als leicht und schön empfinden. Dann ist man als Familie auf dem richtigen Weg.
Wir, das sind Katja Seide und Danielle Graf. Unsere Wunschkinder Carlotta, Helene, Josua, Sophie und Richard sind seit Erscheinen unseres ersten Buches Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn. Der entspannte Weg durch Trotzphasen größer geworden und nun zwischen vier und neun Jahre alt. Viele der Probleme, die Eltern mit ihren kleinen Wackelzahn-Rebellen durchmachen, haben wir selbst auch erlebt. In unserem zweiten Buch, das Sie nun in Ihren Händen halten, schildern wir sowohl Situationen aus unserem Alltag mit unseren fünf Kindern als auch häufige Probleme der Leser unseres Blogs Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn, der auch für dieses Buch namensgebend war. Deren Namen in den Beispielen haben wir geändert und die Geschehnisse an einigen Stellen zusammengefasst. Um den Lesefluss nicht zu stören, haben wir auf die Unterscheidung »der Leser/die Leserin« verzichtet.
Seit über fünf Jahren begleiten uns zahlreiche Mütter und Väter, Großeltern und Menschen in Berufen, die mit Kindern zu tun haben. Jeden Monat werden unsere Blogartikel über bindungs- und bedürfnisorientierte Elternschaft und viele andere Themen rund ums Elternsein über eine halbe Million mal angeklickt und auch unser erstes Buch hat viele Leser erreicht. Wir sind glücklich, so viele Menschen durch das Abenteuer Leben mit Kindern begleiten zu dürfen. Immer wieder erreichen uns E-Mails oder Nachrichten über die sozialen Netzwerke, in denen uns berichtet wird, dass unsere Gedanken und Anregungen zu einem entspannteren Familienleben geführt haben. Mit unserem Buch wollen wir diesen Weg durch die Jahre fünf bis zehn weitergehen.
Es ist uns wichtig, zu betonen, dass wir keine Bedienungsanleitung für Kinder bereitstellen wollen. Stattdessen möchten wir alternative Wege aufzeigen und begründen, warum wir diese selbst gehen oder gegangen sind. Da jedoch jede Familie ein individuelles Gefüge mit verschiedenen Charakteren und Bedürfnissen ist, kann es nicht »den einen« Erziehungsweg geben. Unsere Ausführungen sind darum weder objektiv als »richtig« noch als »falsch« einzustufen. Sie sind lediglich Ergebnis dessen, was wir in unserem Leben mit unseren Kindern an positiven oder negativen Erfahrungen gesammelt haben. Unsere Argumente sind als Anregungen und Augenöffner zu verstehen, nicht jedoch als abzuhakende »To-do-Liste«, an deren Ende garantiert ein glücklicher, zuvorkommender Zehnjähriger steht.
Oft stößt man auf Vorurteile, wenn man von beziehungs- und bedürfnisorientierter Elternschaft spricht. Das sei doch das, wo die Kinder keine Grenzen hätten, oder? Und ganz wild und laut durchs Restaurant springen würden, mit ungeputzten Zähnen und dreckigen Händen, immer geradezu danach lechzend, von den Eltern mal in die Schranken gewiesen zu werden – während diese zu faul seien, Grenzen zu setzen, oder Angst hätten, mit einem Nein die Liebe ihrer Kinder zu verlieren. Laissez-faire hieß das früher, und man hätte ja schon gesehen, wo das hinführt. Nee, nee, ehrlich mal, dieses Herumexperimentieren an den armen Kindern, wenn die Eltern ohne Bauchgefühl immer den neuesten Erziehungstrends folgten – das kann doch einfach nicht gut sein!
Es ist schwierig, jemanden, der einen ganz anderen Erziehungsweg gegangen ist oder noch geht, davon überzeugen zu wollen, dass es andere ebenso valide Wege gibt. Vielleicht ist es sogar unmöglich. Niemand lässt sich zu einem Erziehungsstil überreden, den er nicht zumindest ein bisschen aufgrund seiner bisher gemachten Erfahrungen kennengelernt hat. Die Überzeugungen, die ein Mensch in sich trägt, schreibt der Neurobiologe Dr. Gerald Hüther in seinem Buch Ein bisschen mehr Hirn bitte, entsprächen nur dem, was dieser betreffende Mensch bisher in seinem Leben an Erfahrungen gesammelt hätte. Unter anderen Lebensumständen, in einer anderen Familie, mit einem anderen sozialen Hintergrund, in einer anderen Region, in einer anderen Kultur hätte dieser Mensch ganz andere Erfahrungen gemacht, was sich wiederum in seinen inneren Überzeugungen niedergeschlagen hätte. Dann würde er oder sie anderes für wichtig und notwendig erachten und andere Ziele verfolgen1. Die erbitterten Glaubenskriege in den Internetforen für Eltern dieser Welt sind daher unproduktiv, denn es gibt objektiv gesehen keine Antwort auf die Frage, welcher Erziehungsweg »der Beste« ist. Es ist schlicht unmöglich, das pauschal festzulegen, da es in jeder Familie unterschiedliche Voraussetzungen und Lebensgeschichten gibt. Deshalb soll dieses Kapitel (und dieses Buch) nicht als Überzeugungsversuch gesehen werden, sondern einfach als Bemühen, den Unterschied zwischen der bisher gängigen autoritativen Erziehung und der bedürfnis- und beziehungsorientierten Elternschaft aufzuzeigen. Um das Verständnis zu erleichtern, greifen wir auf eine Metapher zurück: Stellen wir uns vor, Erziehung wäre ein Kinderspiel.
Es gibt, grob gesagt, zwei Arten, wie Kinder spielen können. Entweder sie finden sich in einer Gruppe zusammen und überlegen sich spontan, was sie spielen wollen. Das ist das, was man gemeinhin als freies Spiel bezeichnet. Oder sie organisieren sich in einer Mannschaft und werden dort von einem Trainer professionell betreut. Das nennt sich angeleitetes Spiel. Beziehungs- und bedürfnisorientierte Elternschaft ist, wenn man so will, wie das freie Spiel von Kindern, während autoritative Erziehung dem angeleiteten Spiel ähnelt. Keines ist besser oder schlechter als das andere. Sie sind einfach nur unterschiedlich.
Lassen Sie uns das Bild noch etwas ausbauen, um es ein wenig besser erklären zu können. Nehmen wir eine tatsächliche Spielsituation meiner Kinder, um die Grundsätze des freien Spiels und der bedürfnisorientierten Elternschaft zu skizzieren: Carlotta, Helene und Josua (damals 6, 6 und 3 Jahre alt) warteten morgens im Hinterhof. Geplant war, zuerst Josua und Helene zur Kita zu bringen, dann Carlotta zur Schule. Meine Töchter holten ihre Roller aus dem Fahrradraum, mein Sohn sein Kettcar. Dieses liebte er abgöttisch, aber man kann damit nicht besonders schnell fahren. Die Kinder waren bereits »im Spiel«, das heißt, sie hatten den Morgen damit verbracht, in imaginäre Rollen zu schlüpfen. Das ging unten auf dem Hof weiter.
Beispiel
Carlotta: »Passt auf, ich bin die Mama und ihr meine Kinder. Du bist die ältere Schwester, und du bist das Baby, Josua.«
Josua: »Nein! Ich bin doch schon groß! Ich bin kein Baby mehr!«
Helene lenkt ein: »Gut, dann bin ich das Baby. Und du bist der große Bruder. Riesengroß bist du, okay?«
Josua nickt zufrieden.
Carlotta: »Und, ähm, die Mama kann fliegen, weil die eine … äh … eine Zauberin ist.«
Helene: »Aber das Baby kann auch fliegen. Ich habe klitzekleine Flügel, weil ich eine Babyfee bin.«
Carlotta, irritiert, weil es von ihrem Spielplan abweicht: »Eine Fee? Aber eine Fee kann doch kein Kind einer Zauberin sein.«
Helene: »Wohl! Du hast mich halt adoptiert.«
Helene will auch im Spiel die höhere Position behalten, die sie im echten Leben gegenüber ihrem Bruder hat, obwohl sie die Babyrolle angenommen hat. Sie schlägt deshalb vor, dass sie fliegen kann, Josua aber nicht.
Carlotta überlegt, ob sie mit dieser Änderung ihrer Idee leben kann und antwortet: »Na gut, okay, du bist eine Babyfee und fliegst hinter deiner Mama her. Aber … du kannst es noch nicht so gut und fällst manchmal runter, und ich muss dich dann mit dem Zauberstab retten, ja?«
Helene stimmt zu: »Genau, ich fliege noch nicht so gut. Ich übe noch. Und Josua … äh … der kann nicht fliegen. Weil … er ist bestimmt zu schwer, wo er doch so riesengroß ist.«
Ihr Bruder guckt skeptisch abwartend, sagt aber nichts. Die Mädchen registrieren sein wachsendes Unbehagen und wissen, wenn sie nicht wollen, dass er aus dem Spiel aussteigt oder wütend wird, müssen sie ihm ein Zugeständnis machen.
Carlotta: »Ja, Josua, du kannst zwar nicht fliegen, aber du bist wirklich sehr stark und du … du passt auf, dass die Babyfee nicht runterfällt. Du fängst sie manchmal auf, wenn ich mit dem Zauberstab nicht schnell genug bin. Gut?«
Josua freut sich: »Ja! Ich fange sie auf. Ich bin der Stärkste!«
Carlotta gütig: »Na klar, voll stark bist du.«
Helene bestätigend: »Ja, du bist der Allerstärkste von uns.«
Carlotta: »Dann fahren wir jetzt los. Im Spiel fliegen wir und Josua fährt mit seinem schnellen Rennauto. Aber wir fliegen schneller.«
Josua empört: »Nein! Ich bin der Schnellste! Ein Auto ist doch schneller als eine Babyfee!«
Carlotta beschwichtigend: »Josua, du bist doch immer der Schnellste. Wir sind halt die Schnellsten. Du bist doch der einzige Junge bei uns, daher wirst du immer der Erste, der Schnellste und der Stärkste sein.«
Josua ist unbeeindruckt von dieser Logik (vor ein paar Wochen zog dieses Argument übrigens noch bei ihm): »Aber ich will wirklich der Schnellste sein. Ihr sollt hinter mir fahren mit den Rollern.«
Helene: »Nee … äh … wir wollen schnell fahren. Ich will nicht hinter dir fahren. Das ist voll lahm!«
Josua: »Doch! Ihr sollt hinter mir fahren!«
Gleich gibt es Streit. Wenn die Mädchen wollen, dass ihr Bruder im Spiel bleibt, müssen sie einen für ihn annehmbaren Kompromiss finden. Sie könnten ihn natürlich auch aus dem Spiel aussteigen lassen. Das ist jederzeit möglich und passiert auch häufiger mal. Freies Spiel ist immer freiwillig. Aber heute haben sie Interesse daran, zu dritt im Spiel zu bleiben.
Carlotta sagt darum nach einer Denkpause: »Pass auf, äääh, wir machen es so. Wir fahren mit den Rollern nicht ganz bis zur Kita. Wir fahren zwar vor, aber wir bleiben im Versteck bei den Büschen in der Nähe der Kita. Dann fährst du zwar nicht so schnell wie wir, aber du bist trotzdem der Erste, der bei der Kita ankommt. Gut?«
Josua überlegt einen Moment. Die Roller sind definitiv schneller als sein Kettcar, aber aufs Kettcar will er nicht verzichten. Wenn er auf die erste Position beim Fahren verzichtet, bekommt er trotzdem seinen Wunsch erfüllt, der echte Erste zu sein, weil seine Schwestern darauf verzichten, ganz zur Kita zu fahren. Er kann sie bei den Büschen überholen. Er kommt zu dem Schluss, dass er damit leben kann und bestätigt seine Entscheidung mit einem »Gut!«. Schon fahren alle drei glücklich los.
Wie Sie sehen, hatte jedes meiner Kinder eine starke eigene Vorstellung davon, wie das Spiel weitergehen sollte, doch um die Mitspieler nicht zu verlieren, bemühten sich alle darum, bei Streitpunkten einen Kompromiss zu erreichen. Kompromiss bedeutet im freien Spiel nicht unbedingt hundertprozentige Zustimmung, sondern eher, dass alle mit dem Beschlossenen soweit leben können, dass ein Weitergang des Spiels möglich ist. Die beiden Mädchen hatten in ihrem Alter bereits Hunderte solcher Rollenspiele gemacht, und man merkt ihnen an, dass sie geübt darin sind, ihre Wünsche argumentativ so einzubringen, dass ihre Spielpartner sich nicht verärgert zurückziehen. Auch fühlten sie sich in die Wünsche ihres Bruders ein, als sie ihm als Ersatz fürs Nicht-fliegen-Können eine große Kraft andichteten. Sie kannten ihn gut genug, um zu wissen, dass er dieses Angebot annehmen würde. Oft brachten sie ihre Spielideen auch als Vorschlag ein, der mit einer Nachfrage wie »Gut?« endete, um dem Mitspieler Gelegenheit zu geben, Veto einzulegen. Diese Fähigkeit hatte der kleine Josua mit seinen drei Jahren noch nicht, er forderte eher, als dass er verhandelte. Doch auch darauf nahmen seine größeren Schwestern Rücksicht. Wie man in diesem Beispiel sieht, sind Selbstbehauptung, Verhandlungsgeschick, Empathie und Kompromissbereitschaft die entscheidenden Voraussetzungen für freies Spiel.
Bedürfnisorientierte Elternschaft ist nicht viel anders als das freie gemeinsame Spiel von Kindern. Wenn wir wollen, dass der Alltag rund läuft und alle Mitglieder der Familie glücklich »dabei bleiben«, müssen wir immer wieder Kompromisse anbieten, mit denen wir leben können – aber auch auf Dingen bestehen, die uns selbst wichtig sind. Dann ist es Aufgabe der anderen, uns entgegenzukommen, damit wir nicht aus dem Miteinander aussteigen. Da unseren Kindern das Kompromisse-Finden eigentlich von der Natur in die Wiege gelegt wurde (wie man erkennt, wenn man sie beim freien Spiel beobachtet), gelingt es ihnen in der Regel auch gut innerhalb des Familienverbandes. Doch so, wie Carlotta und Helene auf ihren deutlich jüngeren Bruder geachtet haben und auf seine Wünsche stärker eingingen, als er es im Gegenzug mit ihren Wünschen konnte, müssen wir Erwachsenen beachten, dass unsere Kinder noch im Lernprozess sind, was Entgegenkommen und Win-win-Kompromisse angeht. Während es für einen Vierjährigen ein großer Schritt ist, wenn er überhaupt von seiner Position abrückt (und sei es noch so wenig), kann man von einem Zehnjährigen schon deutlich mehr Kompromissfähigkeit erwarten – wenn diese kontinuierlich von den Eltern unterstützt und auch eingefordert wurde.
Innerhalb der beziehungs- und bedürfnisorientierten Familie gibt es, wie beim freien Spiel, keinen wirklichen »Bestimmer«. Die Eltern sind nicht die Trainer, sondern Teil des Teams. Alle können und sollen ihre Vorstellungen in die Diskussion einwerfen und werden berücksichtigt. Dabei haben die Erfahrungen der Großen, wie in altersgemischten Kindergruppen auch, natürlich etwas mehr Gewicht als die der Kleineren, und doch bleibt das Akzeptieren dieser Führungsposition auf freiwilliger Basis. Ich kann als Erwachsener zwar sagen, dass ich es draußen als kalt empfinde und denke, eine Jacke wäre angebracht, doch es bleibt jedem überlassen, ob er meinen Rat annimmt oder nicht. Dazu zählen selbstverständlich nicht Gefahrensituationen wie befahrene Straßen, Steckdosen, offene Fenster oder giftige Substanzen. Da mein erwachsenes Gehirn besser planen kann als das meiner Kinder, nehme ich vorsichtshalber Jacken für sie mit, wenn sie sich dagegen entscheiden. Ich dränge sie ihnen nicht auf. Sie sind einfach da und werden ohne ein besserwisserisches »Ich hab es dir doch gesagt!« übergeben, falls die Kinder später merken, dass ihnen doch kalt ist.
Selbstverständlich gibt es auch beim freien Spiel Regeln, doch diese werden gemeinschaftlich aufgestellt. Dementsprechend entscheiden auch alle gemeinsam, ob gerade eine Regel gebrochen wurde. Fühlt sich einer ungerecht behandelt, teilt er das lautstark und vehement mit. Aufgabe des Teams ist es dann, zu besprechen, was getan werden kann, damit dieser Spieler sich wohler fühlt. Gelingt das nicht, löst sich das Spiel womöglich auf. Es ist auch nicht so, dass es allen Kindern gleich leicht fällt, sich auf Kompromisse einzulassen oder von ihren Ideen abzurücken. Mit Kindern, denen es schwerer fällt, gibt es deutlich mehr Streit, und deutlich öfter wird das freie Spiel von einer der Parteien abgebrochen. Doch das ist nicht so schlecht, wie es auf den ersten Blick aussieht. Es ist ein menschliches Grundbedürfnis, zu spielen und Teil einer Gruppe zu sein. Dieses Bedürfnis ist so stark in uns verankert, dass auch solche Kinder, denen es schwerfällt, von ihren eigenen Wünschen abzurücken, es schließlich lernen, weil es sie immer wieder zur Gruppe zurückzieht. Sie müssen nur genügend Zeit haben, es zu üben. Sie müssen scheitern, die Konsequenzen des Scheiterns tragen und es erneut versuchen dürfen.2
Auch in der beziehungs- und bedürfnisorientierten Elternschaft gibt es Momente, in denen unsere Kinder kurzzeitig aus dem Alltagsspiel aussteigen, weil in ihren Augen kein gemeinsamer Weg gefunden wurde. Genauso wie beim Spiel braucht es dann Gesprächsbereitschaft. Macht ein Erwachsener oder ein Kind »zu«, ist also nicht bereit, Rücksicht auf die Bedürfnisse der anderen zu nehmen und dessen Argumente anzuhören, funktioniert es nicht. Ohne Verhandlungsbereitschaft kommt kein freies Spiel und kein bedürfnisorientiertes Zusammenleben zustande. Da die Eltern, die diesen Erziehungsstil verfolgen, nicht strafen wollen, haben sie auch nichts in der Hand, um ihren »Mitspieler« zu irgendetwas zu zwingen. Wenn man es gewohnt ist, eine klassische Führungsposition als Elternteil innezuhaben, lässt einen dieses »Nicht-am-längeren-Hebel-Sitzen« zunächst ratlos zurück. Wie bringt man ein »bockiges« Kind dazu, etwas zu tun, das es nicht möchte? Das ist die entscheidende Frage, auf die wir im Kapitel »Wenn nicht strafen, was dann?« eingehen werden. An diesem Punkt ist erst einmal nur wichtig, dass Eltern ihre Kinder in einem solchen Fall nicht anbetteln, etwas zu tun oder zu lassen. Sie reden auch nicht endlos auf sie ein, sie überreden sie nicht, sie locken sie nicht mit irgendwelchen Versprechungen. Drohen können sie ihnen auch nicht. Bedürfnis- und beziehungsorientierte Eltern sagen ihren Kindern klar, was sie sich wünschen, und oft auch, wie sie sich gerade fühlen, und dann vertrauen sie darauf, dass die Familie nach einer kurzen Wartezeit eine gemeinsame Lösung finden wird. Und das klappt in den meisten Fällen! So erstaunlich es klingt, es funktioniert wirklich ganz ohne Belohnung und Strafe.
Die autoritative Erziehung gestaltet sich dagegen eher wie ein angeleitetes Spiel nach Regeln. Es gibt einen oder zwei Trainer – die Eltern –, die die Regeln kennen und darauf achten, dass die Mitglieder der Mannschaft, also die Kinder, diese Regeln einhalten, damit alles fair und ohne Streit abläuft. Sie haben also eine höhere Position inne als die Spieler. Diese Position begründet sich darauf, dass sie älter und weiser sind. Immerhin haben sie schon fast ein halbes Leben hinter sich. Sie haben gute und schlechte Erfahrungen auf ihrem Weg gesammelt, und es wäre eine Vergeudung von Lebenszeit und Ressourcen, Erfahrungen nicht an den Nachwuchs weiterzugeben, so wie es ein guter Trainer nun einmal macht.
Außerdem haben die Eltern auch den Job des Schiedsrichters. Mit ihrem umfassenden Regelverständnis können sie vorausschauend und zum Besten aller das Spiel führen. Wenn die Mannschaft auf die Trainer und Schiedsrichter hört, gibt es keine Verweise, Rote Karten oder Auszeiten. Alles läuft wunderbar rund, und es ist eine Freude, Teil des Teams zu sein. Wenn einer der Spieler Mist baut und gegen die Regeln verstößt, dann hat das für ihn Konsequenzen, die ihm klar machen, dass dieses Verhalten unerwünscht ist. Der Schiedsrichter entscheidet, was ein Regelverstoß ist und wie die Strafe ausfällt. Manchmal ist das eine mündliche Verwarnung, manchmal eine Gelbe Karte, manchmal eine Auszeit auf der Bank. So lernt das Kind, sich an die Regeln zu halten und sich ins Team einzuordnen. Es lernt ebenfalls, sich darauf zu verlassen, dass die Trainer es gut mit ihm meinen, auch wenn ihm das angesichts der erfolgten Konsequenz nicht so vorkommt. Da unsere gesamte Gesellschaft in dieser Form hierarchisch aufgebaut ist, wird das Kind so gut auf »das richtige Leben« mit seinen ganz eigenen Regeln vorbereitet.
Ab und zu lehnen sich die Spieler gegen die Entscheidung des Schiedsrichters auf, oder sie stellen die Kompetenz des Trainers in Frage. Dann werden sie ebenso wie die Erwachsenen wütend und steigen aus dem Spiel aus, um sich erst einmal zu beruhigen. Um wieder mitspielen zu können, müssen sie sich allerdings wieder den von den Erwachsenen aufgestellten Regeln beugen. Je älter die Spieler werden, desto mehr Mitspracherecht bekommen sie, denn mit der Spielpraxis kommt Einsicht und Verständnis für die notwendigen Regeln. Die größeren Spieler dürfen dann ab und zu die Aufgaben des Schiedsrichters übernehmen und über ihre kleineren Teamkameraden wachen. Damit erhalten sie eine höhere Position und mehr Rechte und lernen peu à peu, andere umsichtig zu führen. Nutzen sie ihre neue Position aus, beschweren sich die Kleinen bei den Eltern, und diese rügen entweder das große Kind oder sie entziehen ihm als Folge das Anrecht zu führen. Doch wie äußert sich der Unterschied der Erziehungshaltungen im Alltag? Auf den nun folgenden Seiten werden wir die eher theoretischen Überlegungen dieses Kapitels anhand eines Praxisbeispiels tiefergehend erklären.
In vielen Familien bietet der Abendbrottisch Konfliktpotenzial. Nehmen wir eine alltägliche Situation wie diese: Eine Familie sitzt beisammen, alle hatten einen langen Tag in der Schule oder auf der Arbeit. Die Eltern wünschen sich eine ruhige, gesittete Mahlzeit, doch die Kinder sind laut, albern herum und hören mit ihrem Quatsch nicht auf, obwohl die Eltern schon mehrfach um Ruhe gebeten haben. Was nun?
In der klassischen autoritativen Erziehung wären die nächsten Schritte nun ziemlich klar:
Die Eltern sagen den Kindern noch einmal klar, dass sie leiser sein sollen und warum.
Sie drohen, dass das Essen für die Kinder beendet sei, wenn sie weiter herumalbern.
Die Eltern brechen das Essen tatsächlich ab (sie handeln konsequent) und schicken die Kinder aus der Küche.
Die Eltern essen in Ruhe weiter.
Die Kinder ziehen sich wütend in ihr Zimmer zurück.
Nach dem Essen reden die Eltern noch einmal freundlich mit den Kindern. Sie erklären ihnen, warum sie als Eltern so gehandelt haben und wie die Kinder das nächste Mal vermeiden können, dass das Essen für sie beendet wird.
Liebevolles Vergeben und Vergessen.
Diese Schritte kommen uns ganz natürlich in den Sinn, weil wir sie in der Kindheit häufig erlebt haben. Sie sind uns vertraut, wir brauchen nicht groß über sie nachzudenken.
Eine bedürfnis- und beziehungsorientierte Lösung für die gleiche Situation zu finden, gestaltet sich etwas schwieriger, wenn wir es nicht gewohnt sind, Konflikte so zu bearbeiten, dass es weder Sieger noch Verlierer gibt. Schauen wir uns die Situation einmal genauer an: Um alle Bedürfnisse der einzelnen Familienmitglieder berücksichtigen zu können, müsste man zunächst hinter das Verhalten gucken, um zu erkennen, was das Herumalbern auslöst. Da Bedürfnisse individuell sind, kann das recht schwierig sein. Es erfordert einiges an Einfühlung, um das Bedürfnis eines anderen, der sich vielleicht selbst nicht darüber im Klaren ist, herauszufinden. Doch ist es relativ wahrscheinlich, dass das Bedürfnis der Kinder nach einem anstrengenden Tag Erholung und Entspannung ist. Die Strategie, die sie zur Befriedigung wählen, ist Herumalbern. Die Eltern dürften nach dem langen Arbeitstag ebenfalls das Bedürfnis nach Entspannung haben, doch sie wünschen sich Ruhe, um dieses zu befriedigen. Sie wollen am Tisch sitzen und möglichst wenig Unruhe um sich herum haben, während sie essen. Das sind zwei Grundbedürfnisse, die miteinander kollidieren und gegeneinander abgewogen werden wollen. Wessen Bedürfnis wiegt schwerer, das der Kinder oder das der Eltern? In anderen Situationen fällt das Abwägen relativ leicht – wir kommen darauf noch einmal in Kapitel »Vom Familiendesaster zum Win-win-Kompromiss« zu sprechen – doch in unserem Beispiel ist das Bedürfnis nach Entspannung durch Herumalbern genauso relevant wie das Bedürfnis nach Ruhe. Sie sind gleichwertig. Was nun?
Da bedürfnis- und beziehungsorientierte Elternschaft wie freies Spielen ist, kommunizieren nun alle Familienmitglieder solange miteinander, bis sie einen Kompromiss finden. Die Eltern könnten zum Beispiel sagen: »Wir haben euch mehrmals um Ruhe gebeten, doch ihr habt nicht aufgehört. Daran merken wir, dass ihr wirklich gerade nicht leise sein könnt. Sonst hättet ihr unseren Wunsch erfüllt. Wir beide sind aber ziemlich kaputt und haben Ruhe nötig. Was könnten wir tun, damit wir alle das bekommen, was wir brauchen?«
Ziemlich oft kommen Kinder dann mit einer praktikablen Lösung um die Ecke, weil sie, im Gegensatz zu uns, noch nicht so sehr in eingefahrenen Bahnen denken. »Mami und du, ihr könntet doch euer Abendbrot im Wohnzimmer essen. Dann könnt ihr auf der Couch rumliegen und essen und euch unterhalten, und wir können hier in der Küche weiter Quatsch machen«, könnte eine der möglichen Lösungen sein. Eine andere wäre, dass die Kinder ihr Abendbrot als Picknick auf dem Hof, im Garten oder auf dem Spielplatz einnehmen und währenddessen herumalbern könnten. Zwar wäre, ähnlich wie beim klassischen Erziehungsweg, an diesem Abend eine gemeinsam eingenommene Mahlzeit nicht möglich, weil einfach die Bedürfnisse zu verschieden sind, um sie unter einen Hut zu bekommen – aber schließlich kommt eine solche Situation ja nicht allzu oft vor. Weder brechen klassisch erziehende Familien jeden Tag das Essen mit ihren Kindern ab, noch müssen bedürfnisorientierte Eltern jeden Tag in einem anderen Raum zu Ende essen. Doch anders als bei dem autoritativen Beispiel oben würde bei dieser bedürfnisorientierten Lösung niemandem die Schuld zugewiesen werden. Ein Win-win-Kompromiss wäre gefunden worden. Niemand wäre auf den anderen sauer, niemandes Integrität würde verletzt werden.
Blöd nur, dass unser angelerntes Bauchgefühl sich oft trotzdem meldet und uns besorgt fragen lässt, ob diese angebliche Win-win-Lösung wirklich gut ist? Haben wir Eltern nicht irgendwie verloren, wenn wir uns ins ruhige Wohnzimmer zurückziehen? Horchen Sie in sich hinein – hatten Sie dieses ungute Gefühl auch, als Sie die bedürfnisorientierte Lösung der Situation lasen? Das geht vielen Eltern so. Unsere eigenen Erziehungserfahrungen – die großen Einfluss auf unser Bauchgefühl haben – lassen uns immer wieder unsicher werden. Dass unsere erweiterte Familie ebenfalls oftmals skeptisch ist, macht es nicht einfacher. Wir haben unentwegt Angst, etwas falsch zu machen, sodass unsere Kinder womöglich zu egoistischen Tyrannen heranwachsen. Deshalb haben wir nicht nur Schwierigkeiten, außerhalb unserer klassischen Lösungsstrategien nach Kompromissen zu suchen, wir haben hinterher auch noch mit einem schlechten Gewissen zu kämpfen. Das ist nicht so prickelnd, nicht wahr? Gott sei Dank verflüchtigen sich diese Gefühle, wenn wir sehen, wie gut diese gleichwürdige Beziehung unseren Kindern tut und wie leicht das Zusammenleben wird.3
Doch kommen wir noch einmal auf unser altes Bauchgefühl zurück: Ja, man hat als Elternteil verloren, wenn man sich ins Wohnzimmer zum Essen zurückzieht, weil die Kinder in der Küche einfach nicht aufhören, Blödsinn zu machen – wenn man die Situation als Machtkampf versteht. Wenn man denkt, man müsse sich in jedem Fall gegen seine Kinder durchsetzen, weil sie sonst den Respekt verlieren und einem auf der Nase herumtanzen, dann darf man auf keinen Fall die Küche verlassen. Sieht man jedoch seine Kinder nicht als Gegner, sondern als Individuen, deren Bedürfnisse gleichwertig mit denen der Erwachsenen sind, dann verliert man nicht an Respekt, wenn man ihnen die Küche überlässt. Man hat einfach auf die Bedürfnisse aller geachtet.
Die Schritte für die bedürfnis- und beziehungsorientierte Elternschaft sind also:
Die Eltern sagen den Kindern noch einmal klar, dass sie leiser sein sollen und warum.
Sie warten kurz ab.
Die Eltern erklären, dass sie verstanden haben, dass die Kinder offenbar im Augenblick wirklich nicht anders reagieren können.
Alle versuchen, die Bedürfnisse hinter dem unterschiedlichen Verhalten zu finden.
Die Bedürfnisse aller werden verbalisiert und abgewogen.
Alle Familienmitglieder finden gemeinsam einen Kompromiss.
Die gefundene Lösung wird umgesetzt.
Wie Sie sich vielleicht denken können, dauert der bedürfnis- und beziehungsorientierte Ansatz länger. Natürlich wird die Familie mit der Zeit geübter darin, Kompromisse zu erzielen, doch braucht es naturgemäß mehr Zeit, wenn sich alle einigen müssen, als wenn einer die Richtung angibt. Dies wird von Kritikern des Erziehungsstils immer wieder als Gegenargument angeführt: Die beziehungs- und bedürfnisorientierte Elternschaft sei kein alltagstaugliches Konzept, weil sie zu viel Zeit in Anspruch nähme. Allenfalls Vollzeiteltern, die keine Termine wahrnehmen müssten, könnten sie umsetzen. Als voll arbeitende Erwachsene können wir diese Kritik nicht bestätigen, doch wollen wir nicht verheimlichen, dass der erforderliche Aufwand im Alltag manchmal lästig sein kann. Es ist in der Tat anstrengender, sich die Zeit zu nehmen, einen Kompromiss zu finden, als einfach anzuordnen, was gemacht wird. Wir können Ihnen jedoch versprechen, dass es sich lohnt, diese Zeit auch und gerade am Anfang der Erziehung zu investieren. Denn während es eine zähe Angelegenheit ist, abzuwarten, bis man mit einem Dreijährigen eine Lösung gefunden hat, gestaltet sich das mit einem Fünfjährigen schon sehr viel einfacher, und mit etwa sieben Jahren sind die Kinder dann so geübt, dass das Finden eines Win-win-Kompromisses nicht viel länger dauert als mit einem erwachsenen Freund.
Anhand des Abendbrotbeispiels kann man ganz gut erkennen, dass die beiden Erziehungskonzepte kindliche Kompetenzen auf unterschiedliche Art und Weise fördern. Vielleicht fördern sie sogar unterschiedliche Kompetenzen. Die Kinder, die wegen ihres Quatschmachens rausgeschickt wurden, werden sich vielleicht beim nächsten Mal stärker zusammenreißen und ihr Lautsein unterbinden, damit die Eltern ihre Ruhe haben. Damit hätten sie ihre Impulskontrolle trainiert und einen wichtigen Schritt in Richtung Sozialverhalten gemacht – sie nehmen sich selbst in einer Situation zugunsten anderer zurück. Ihr Beweggrund, sich zu zügeln, ist, gemeinsam mit den Eltern zu essen. Sie haben gelernt, sich in eine Gruppe einzufügen, ohne anzuecken. Sie haben gelernt, für ihren »Fehler« (das Quatschmachen zum ungünstigen Zeitpunkt) einzustehen und die Konsequenz (rausgeschickt zu werden) zu tragen. Die Kinder der anderen Familie lernen, ihre Bedürfnisse hinter ihrem Verhalten zu erkennen und sich in die Bedürfnisse der anderen hineinzuversetzen. Vielleicht ermöglicht ihnen dieses Wissen, sich beim nächsten Mal freiwillig für den anderen zurückzunehmen. In diesem Fall würden sie auch ihre Impulskontrolle trainieren. Sie lernen zudem, ihren Wünschen Gehör zu verschaffen. Sie haben ihre Kompromissbereitschaft und ihr Verhandlungsgeschick geschult und eine Win-win-Lösung gefunden.
Beide Erziehungswege sind von der Liebe der Eltern zu ihren Kindern geprägt. Egal, welches Erziehungskonzept wir verfolgen, sind die Werte, die wir Eltern unseren Kindern mit auf den Weg geben wollen, eigentlich fast überall gleich. Es gibt selbstverständlich kulturell bedingte unterschiedliche Gewichtungen, aber man kann sagen, dass fast alle Eltern sich wünschen, dass ihre Kinder