Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann,
ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen.

George Santayana

Ich ging in mein Zimmer, kam mit einer Handvoll Blätter zurück und legte das erste vor ihn auf den Tisch. Das Deckblatt zeigte die Alte Synagoge im Licht des Vollmonds, darunter stand:

1349 – In Erfurt war es dunkel – nicht nur bei Nacht.

Dann legte ich die anderen Zeichnungen vor ihn hin. Alexej betrachtete sie und stellte plötzlich, ohne den Kopf zu heben, eine Frage, auf die ich nicht vorbereitet war. »Ich wollte dich schon die ganze Zeit etwas fragen: Warum hast du mich eigentlich angesprochen?«

Ich antwortete wahrheitsgemäß, ohne zu merken, dass ich in eine Falle tappte, von der ich nichts geahnt hatte: »Weil du Jude bist.«

Auf einmal war alles anders. Ein Schatten schien über sein Gesicht zu fallen, als hätte sich plötzlich eine dunkle Wolke vor die Sonne geschoben, seine Augen verengten sich, auf seinem Gesicht zeigten sich rote Flecken. Es war eine Stimmung wie vor einem Gewitter – das Licht verändert sich, man spürt die Spannung, die in der Luft liegt. Eine unangenehme Spannung. Ich fühlte, wie meine Bauchdecke hart wurde und mir das Zwerchfell bis in den Hals drückte. Meine Hände fingen an zu zittern, meine Finger wurden steif.

Ich hatte die falsche Antwort gegeben, das war mir sofort klar, irgendetwas war geschehen, was ich nicht verstand. Alexej warf einen Blick auf seine Armbanduhr und sagte, ohne mich anzuschauen: »Ich muss jetzt gehen.«

Das war alles. Er ging und ließ mich zurück.

1 Der Schatz

Ich war so naiv gewesen. Obwohl mir »naiv« damals als letztes Adjektiv eingefallen wäre, um mich zu beschreiben, ich hielt mich eher für misstrauisch und skeptisch, auf jeden Fall für klug genug, Zusammenhänge zu verstehen und einzuordnen. Trotzdem war etwas geschehen, was ich nicht verstand.

Wenn man von früheren Ereignissen erzählt, erkennt man plötzlich Dinge, die man vorher nicht gesehen hat, findet manches wichtig, was man nur nebenbei wahrgenommen hat, oder man stellt fest, dass man sich grundlos aufgeregt oder geärgert hat, Überflüssiges gedacht und getan hat, und dass manches, was einem schrecklich vorkam, im Grunde nur banal war. Oder umgekehrt. Denn in dem Moment, in dem man eine Situation erlebt, ist es unmöglich zu wissen, ob sie später irgendeine besondere Bedeutung haben wird oder nicht.

So geht es mir heute, wenn ich an die vielen Streitereien mit meiner Mutter denke, übers Aufräumen, nicht erledigte Aufträge, nicht eingehaltene Versprechungen. Es ist nicht so, dass ich mich jetzt nicht mehr über sie ärgere, aber manchmal denke ich, was soll’s, in einem Jahr sieht alles anders aus. Und ich glaube, meine Mutter empfindet es mir gegenüber ganz ähnlich. Wenn wir uns heute streiten, habe ich oft das Gefühl, als würden wir aus lauter Gewohnheit ein altes Spiel weiterführen, ein Spiel, über das wir manchmal sogar lachen können. Und wir können miteinander sprechen. Das ist erstaunlich, denn ich habe früher sehr wenig gesprochen. »Verschlossen wie eine Auster«, hat meine Mutter oft geklagt, »die Schalen schön fest geschlossen halten. Es könnte ja jemand auf die Idee kommen, sie aufzubrechen, um nach einer Perle zu suchen.«

Man weiß auch nicht wirklich, an welcher Stelle der Geschichte man mit dem Erzählen anfangen soll, was nichts mehr mit ihr zu tun hat oder bereits dazugehört. Ich habe beschlossen, mit meiner fixen Idee anzufangen, auch wenn ich nicht sagen kann, wann genau sie entstanden ist.

»Wie bist du eigentlich auf diese Idee gekommen?«, hat Alexej mich gefragt, als ich ihm zum ersten Mal einige zusammengeheftete Blätter überreicht habe. Ich habe nur mit den Schultern gezuckt. »Keine Ahnung. Manche Ideen sind plötzlich da, ohne dass man vorher darüber nachgedacht hat, es ist, als wären sie vom Himmel gefallen.«

Doch eigentlich glaube ich das nicht. Vermutlich schleichen sich Ideen heimlich ein, sind anfangs nur flüchtige Gedankenfetzen, die aufblitzen und sofort wieder verschwinden, weil sie von anderen Überlegungen verdrängt werden oder sich in ihnen auflösen. Trotzdem bleiben sie in irgendwelchen Winkeln des Gehirns hängen und warten auf eine günstige Gelegenheit, um wieder aufzutauchen.

Vielleicht hatte sich der Anfang zu meiner Idee bereits in meinen Gedanken festgesetzt, als es in der Schule mal wieder um den Schatz ging und Frau Küppers sagte, wir sollten uns doch mal vorstellen, wie vierzehn-, fünfzehnjährige jüdische Kinder in der Mitte des 14. Jahrhunderts in Erfurt wohl gelebt haben, und sofort hatte sie hinzugefügt: »Laura, du könntest doch mal ein Referat über dieses Thema halten, deine Mutter weiß bestimmt viel darüber.«

Ich spürte, wie Ärger in mir aufstieg, ich ballte die Fäuste und schüttelte heftig den Kopf. Nicht schon wieder! Ich hatte keine Lust, ein Referat über irgendetwas zu halten, was mit dem Schatz oder dem jüdischen Leben in Erfurt zu tun hatte, mir gingen die Gespräche darüber, die mich so ungefähr seit meiner Geburt verfolgten, auf die Nerven. Der Schatz war das ewige Thema meiner Mutter, und ich hatte nicht die geringste Lust, es von mir aus anzuschneiden. Im Gegenteil, ich setzte meine ganze Geschicklichkeit ein, ihm auszuweichen.

Den nächsten Anstoß für meine Idee bekam ich ein paar Wochen später, als ich meine Mutter aus irgendeinem Grund, den ich vergessen habe, fragte, ob es eigentlich heute noch Juden in Erfurt gäbe. An ihre Antwort erinnere ich mich ganz genau.

»Nicht noch, sondern wieder«, sagte sie.

»Kennst du welche?«

Sie nickte. »Du auch. Erinnerst du dich an den alten Mann von der Weinhandlung in der Rumpelgasse?«

»Klar«, sagte ich, »der mit dem witzigen Schild im Schaufenster, über das wir immer gelacht haben: Im Weinhaus hier, da gibt’s auch Bier

»Ja«, sagte meine Mutter, »ja, der Spruch war irgendwie rührend. Herr Bamberger, der Inhaber, war Jude. Ich nehme an, dass er inzwischen gestorben ist, die Weinhandlung gibt es jedenfalls seit über zwei Jahren nicht mehr, jetzt ist dort ein Laden für Modeschmuck. Und was Juden betrifft: Bei uns im Institut haben wir eine jüdische Assistentin, und im Klinikum arbeiten, soviel ich weiß, zwei jüdische Ärzte. Es gibt in Erfurt sogar eine jüdische Gemeinde, allerdings hauptsächlich wegen der vielen Einwanderer aus Russland, denn die Juden, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Erfurt gekommen sind, sterben langsam aus. Übrigens, du müsstest auch einen jüdischen Jungen bei dir in der Schule kennen, den Sohn eines Professors an der Uni, Tschernowitzer heißt er.«

Ich schaute sie verblüfft an. »Alexej Tschernowitzer? Er geht in meine Parallelklasse, aber ich habe nicht gewusst, dass er Jude ist. Ich habe immer nur gehört, dass er aus Russland stammt, alle nennen ihn ›den Russen‹.«

Meine Mutter nickte. »Stimmt, Professor Tschernowitzer ist aus Russland gekommen und lehrt Slawistik, irgendjemand hat mir mal gesagt, er sei Jude. Seine Frau ist ebenfalls Dozentin, in Jena, Pharmazeutin mit Schwerpunkt mittelalterliche Heilpflanzen, glaube ich. Ich habe ihn ein paarmal getroffen, seine Frau allerdings noch nicht.«

Der Russe war also ein Jude, zumindest dachte das meine Mutter und im Allgemeinen hatte sie recht. Ich fand das spannend, für mich waren Juden bis dahin nur mit historischen Ereignissen wie zum Beispiel dem Schatz oder mit dem Holocaust verbunden gewesen, und natürlich mit Israel, das in den Nachrichten oft »der Judenstaat« genannt wird. Abfällige Bemerkungen über Juden fielen mir ein, sie wurden als »grausame Aggressoren« bezeichnet, wenn an der Grenze zu Gaza israelische Soldaten arabische Zivilisten erschossen oder wenn im Westjordanland neue jüdische Siedlungen gebaut wurden. Und natürlich hatte ich auch von dem wachsenden Antisemitismus in Deutschland gehört. »Du Jude« galt unter Schülern ebenso als Schimpfwort wie »du Loser« oder »du Opfer«.

Wussten die anderen überhaupt, dass »der Russe« eigentlich ein Jude war?

Meine Neugier war geweckt, ich fing an, diesen Alexej Tschernowitzer in den Pausen zu beobachten. Er hatte offenbar nicht viele Freunde, er lief selten mit anderen Jungen herum, sondern stand meist irgendwo am Rand des Schulhofs und spielte mit seinem Handy, ein ziemlich großer, schlaksiger Junge, der erstaunlich gut aussah, was sogar mir auffiel, obwohl ich mich überhaupt nicht für Jungs interessierte. Ein Aufreißertyp, hätte man meinen können, aber dafür zog er sich zu unauffällig an, Jeans und einfache dunkle T-Shirts, er hatte auch keine Tattoos oder Piercings, zumindest keine sichtbaren. Und seine Haare waren einfach nur ziemlich lang und lockig, ohne ausrasierte Streifen oder Ecken.

»Kennst du ›den Russen‹?«, fragte ich Vanessa, von der ich annahm, dass sie alle Jungs der Schule kannte. Sie lachte und sagte: »Nicht besser als du. Schade eigentlich, der wäre wirklich ein Sahnestückchen. Aber er scheint sich nicht für Mädchen zu interessieren, jedenfalls habe ich ihn noch nie mit einer gesehen. Vielleicht ist er ja schwul. Die hübschesten Jungen sind immer schwul, sagt meine Schwester, und die muss es ja wissen, ihr bester Freund ist schwul.«

Vanessas Verdacht kam mir plausibel vor, auch wenn es mir egal war, ob der Russe schwul war oder nicht. Jedenfalls stand er in den Pausen meist allein unter der Kastanie am Zaun und starrte auf sein Handy, nur manchmal spielte er mit ein paar anderen Jungs Basketball. Ein paar Tage lang nahm ich Anlauf, um ihn anzusprechen, gab das Vorhaben aber jedes Mal wieder auf und ging zurück. Wie spricht man einen Jungen an, mit dem man noch nie ein Wort geredet hat? Hey du, ich möchte dich gern ein bisschen ausfragen? Das wäre zwar die Wahrheit, klang aber absolut bescheuert. Oder sollte ich sagen: Hey du, ich möchte dich gern kennenlernen? Das klang erst recht blöd. Außerdem hätte er es für simple Anmache halten können und das wäre mir noch peinlicher gewesen. Deshalb ließ ich es lieber bleiben.

Der wichtigste Schritt, der zur Geburt meiner Idee führte, geschah aber, als ich der verschwommenen, eher nebelhaften Gestalt in meinem Kopf einen Namen gab. Denn um wirklich an jemanden als Person zu denken, braucht es einen Namen. Ein Name ist untrennbar mit einem Gesicht, einer Stimme, mit Bewegungen und mit bestimmten Gedanken verbunden, an die man sich sofort erinnert, wenn dieser Name auftaucht.

Rachel bekam ihren Namen an jenem Abend Ende August oder Anfang September, als Tamara bei uns zu Besuch war, eine ehemalige Studienkollegin meiner Mutter, die sie zufällig auf einem Kongress in Berlin wiedergetroffen und nach Erfurt mitgebracht hatte. »Sie sieht toll aus«, hatte sie am Telefon gesagt, »noch genau wie damals, als sie allen Kommilitonen den Kopf verdreht hat.«

Und es stimmte, sie sah wirklich toll aus, diese Tamara, ich konnte gar nicht anders, als sie immer wieder neugierig anzuschauen. Sie war größer als meine Mutter und irgendwie üppig, nicht dick, aber mit Rundungen, die meine Mutter nicht hatte. Wenn sie sich vorbeugte, fiel das Licht der Hängelampe auf ihre roten Haare, die dann glitzerten, als würden sie Funken sprühen.

Wir hatten zu Abend gegessen, und ich war so beeindruckt von unserer Besucherin, dass ich freiwillig anbot, den Tisch abzudecken. Ich blies die Kerzen aus, räumte das Geschirr in die Spülmaschine und Käse, Schinken und Butter in den Kühlschrank, bevor ich ins Wohnzimmer zurückging. Meine Mutter und Tamara hatten es sich, jede mit einem Glas Wein, in den Sesseln bequem gemacht und waren, wie Leute es tun, die sich lange nicht gesehen haben, in Weißt-du-noch-Geschichten vertieft. Ich setzte mich mit meinem Zeichenzeug zu Herrn Schneider aufs Sofa.

»Weißt du noch, wie du einmal fast das ganze Wohnheim abgefackelt hast, weil du mit deinem Kopfkissen einer brennenden Kerze auf dem Nachttisch zu nah gekommen bist?«, fragte meine Mutter. »Mein Gott, haben die verbrannten Federn gestunken. Ich meine es sogar jetzt noch zu riechen, wenn ich daran denke.«

»Oder wie du dir mal den Knöchel gebrochen hast, weil du beim Lernen zu lange die Füße um die Stuhlbeine gewickelt hattest und zu heftig aufgesprungen bist, als das Telefon klingelte?«, sagte Tamara. »Ich habe wochenlang den Putzdienst für dich übernehmen müssen.«

Meine Mutter nickte und schaute versonnen vor sich hin. »Und weißt du noch, wie wir bei der Fete dieses Medizinstudenten aus dem ersten Stock so versumpft sind, dass wir zwei Tage lang im Bett gelegen haben? Mein Gott, was hatten wir für einen Kater!«

»Das war nicht das erste Mal«, sagte Tamara. »Und es hat dich nicht davon abgehalten, mit diesem Sebastian etwas anzufangen und von der großen Liebe zu träumen.«

Sie kicherten wie zwei Schulmädchen und schienen meine Anwesenheit vergessen zu haben.

Ich hatte keine Lust, ihnen zuzuhören, ich griff nach Block und Bleistift und zeichnete die beiden Frauen, die nicht auf mich achteten. Das Bild gelang mir nicht schlecht. Kein Wunder, meine Mutter hatte ich schon oft genug gezeichnet, und Tamara war mit ihren runden Augen, der Stupsnase und den vollen Lippen ein Geschenk für jeden Porträtisten, auch in Schwarz-Weiß, also ohne das auffallende Rot ihrer Haare, die natürlich gefärbt waren, aber super aussahen.

Nach den letzten Strichen stand ich auf. »Ich mache jetzt mit Herrn Schneider unseren Abendspaziergang«, sagte ich, und die beiden starrten mich an, als hätten sie mich noch nie gesehen, als wäre ich gerade in diesem Moment vom Mond gefallen.

Jeder hat seine Reizworte, auf die er sozusagen auch im Tiefschlaf reagiert. Herr Schneider stand sofort auf, als er »Abendspaziergang« hörte, streckte sich, stieg steif wie ein alter Mann vom Sofa und stakste zur Tür.

Ich riss die Zeichnung aus dem Block und hielt sie Tamara hin. »Schau, das seid ihr beiden«, sagte ich und fügte überflüssigerweise hinzu: »Es ist nur eine Karikatur.«

»Stimmt«, sagte Tamara. »Meine Nase ist noch stupsiger und meine Augen sind noch kulleriger als in echt, und was für einen Mund du mir geschenkt hast, was für Lippen! Toll! Kathrin hat mir auf der Fahrt hierher schon erzählt, wie gut du zeichnest. Aber dass du so gut bist, hätte ich nicht gedacht. Schenkst du mir das Bild?«

Ich nickte und wandte das Gesicht ab, um zu verbergen, dass mir das Blut in den Kopf stieg. Zu viel Aufmerksamkeit bekam mir nicht, ich hielt sie ebenso wenig aus wie zu viel Nichtbeachtung, an die ich allerdings gewöhnt war.

Herr Schneider warf mir von der Tür aus einen vorwurfsvollen Blick zu, als wollte er sagen: Mach schneller, ich muss mal, lass mich gefälligst nicht so lange warten.

Ich leinte ihn an, steckte mir zwei Kotbeutel in die Hosentasche und überlegte kurz, ob ich meine Jacke anziehen sollte. Aber ich ließ es bleiben, es war noch warm genug, mein langärmeliges T-Shirt reichte mir. Außerdem war mir die Jacke an den Ärmeln zu kurz geworden, das war mir peinlich, ich wollte nicht, dass Tamara mich so sah, so kindlich, meine ich. Ich machte die Tür auf und wir zogen los.

Meine Mutter und Tamara hatten sich zwei Jahre lang ein Zimmer im Studentenwohnheim geteilt und sich dann, wie meine Mutter es formuliert hatte, aus den Augen verloren. Ich überlegte, als ich die Treppe hinunterging, wie zum Teufel man sich aus den Augen verlieren konnte, wenn man sich wirklich gernhatte.

Wir, Herr Schneider und ich, gingen die Moritzstraße entlang zur Michaelisstraße. Das war nicht nur der kürzeste Weg ins Zentrum, ich war auch einfach daran gewöhnt. Bei uns drehte sich damals alles nur um die Michaelisstraße. Das lag natürlich daran, dass meine Mutter schon seit vielen Jahren mit dem Schatz und über den Schatz arbeitete, den man in dieser Straße bei Grabungsarbeiten gefunden hatte. Als Kunsthistorikerin interessierte sie sich grundsätzlich nur für die mittelalterliche jüdische Geschichte Erfurts, und für diese spielt die Michaelisstraße eine bedeutende Rolle, hier hatten die meisten Juden gewohnt.

Vor der Krämerbrücke bog ich nach links in die Anlage ab. Herr Schneider hob am ersten Baum das Bein, und als er einen Grasfleck unter sich spürte, kauerte er sich hin und erledigte sein Geschäft. Ich sammelte es auf und warf es in den nächsten Mülleimer, bevor ich über die Rathausbrücke zurück zur Michaelisstraße und dann weiter in die Moritzstraße ging. Zugegeben, es war nur ein kurzer Spaziergang, aber wir waren am Nachmittag schon über eine Stunde lang unterwegs gewesen, das musste Herrn Schneider genügen. Und es genügte ihm auch, er war nicht mehr der Jüngste. Als ihn meine Oma aus dem Tierheim geholt hatte, war er schon ausgewachsen gewesen, und dann hatte er ein paar Jahre lang bei ihr gelebt, bis sie vor drei Jahren starb und ich ihn übernahm. Die Tierärztin meinte, er sei vermutlich um die dreizehn, vierzehn Jahre alt, vielleicht sogar schon fünfzehn.

Als ich zu Hause ankam, fand ich meine Mutter und Tamara noch immer ins Gespräch vertieft. Sie hatten ihre Weißt-du-noch-Geschichten offenbar abgehandelt, jetzt war der Schatz an der Reihe. Das hätte ich voraussagen können. Was denn sonst? So eine Chance, die Geschichte des Fundes jemandem zu erzählen, der noch nichts davon wusste, ließ sich meine Mutter nicht entgehen.

»Es war reines Glück, dass der Schatz entdeckt wurde«, sagte sie gerade. »Natürlich hatte ein Archäologe vorher, bevor man mit den Grabungsarbeiten begann, das ganze Gebiet untersucht, und erst als er es freigegeben hatte, wurde der ehemalige Kellerzugang mithilfe eines Baggers eingeebnet. Der Archäologe hatte ungefähr einen halben Meter vor dieser Stelle aufgehört zu suchen. Stell dir das vor: Er hätte die Entdeckung seines Lebens machen können und hat sie knapp verpasst. Bei den Bauarbeiten entdeckte dann einer der Arbeiter die ersten Fundstücke, silberne Becher, eine silberne Schale und eine Kanne, und weil er nicht erkannte, um was es sich handelte, hielt er die Sachen für altes Zinngeschirr und brachte seinen Fund zunächst einmal im Bauwagen unter. Zur gleichen Zeit fand in einem benachbarten Haus eine Ausstellung früherer Funde von Ausgrabungen in der Altstadt statt. Als dieser Arbeiter die Ausstellung besuchte, erzählte er etwas von einem ›schön verzierten Zinnteller‹, mit dem man ›doch ein bisschen Farbe in das Ganze‹ bringen könne. Dann übergab er dem Ausstellungsleiter seine Fundstücke. Der Ausstellungsleiter, ein Kunsthistoriker, erkannte natürlich sofort ihren Wert und ließ sich zeigen, wo er die Sachen ausgegraben hatte. Damit begann die systematische Suche und alles andere wurde gefunden, der Schmuck, die Münzen und die Silberbarren.«

»Es ist also nur einem neugierigen Bauarbeiter zu verdanken, dass der Schatz entdeckt wurde?«, fragte Tamara erstaunt. »Was für ein Zufall.«

Meine Mutter nickte. »Solche Funde sind immer zufällig. Sonst wären die Gegenstände doch längst gestohlen worden. Trotzdem hat der ehemalige Besitzer wohl nicht vorgehabt, seine Wertsachen langfristig unter dem Kellerzugang liegen zu lassen, dazu war das Versteck zu einfach und auch zu wenig geschützt. Er hat seinen Besitz offenbar vorsichtshalber verborgen, um ihn vor Raub und Plünderung zu schützen.«

Wie immer, wenn sie über etwas Historisches referiert, klang ihre Stimme zwei, drei Töne höher und seltsam distanziert, als trage sie etwas Auswendiggelerntes vor, während ich, wenn ich solche Geschichten höre, immer gleich Bilder vor mir sehe.

»Und woher wisst ihr, dass der Schatz genau 1349 versteckt wurde und nicht früher oder später?«

»Das lässt sich von der Datierung der gefundenen Münzen und von der Herstellungsart der Schmuckstücke ableiten, und außerdem davon, dass 1349 das sogenannte Pestpogrom gegen die Erfurter Juden stattgefunden hat.«

»Weiß man eigentlich, wer es war, der den Schatz versteckt hat?«, fragte Tamara.

»Alles spricht dafür, dass es sich um einen Juden handelte, einen gewissen Kalman von Wiehe.«

»Der Name hört sich aber nicht jüdisch an.«

»Doch, natürlich, der Name ist leicht zu erklären. Kalman ist eine Verkürzung des griechisch-jüdischen Namens Kalonymos und besonders verbreitet unter ungarischen Juden, und der Mann war wohl aus Wiehe im Unstruttal nach Erfurt gekommen.«

»Und warum war er so reich?«, fragte Tamara.

Meine Mutter hob die Schultern. »Er könnte ein Goldschmied gewesen sein, Erfurt war damals ein Zentrum der Goldschmiedekunst. Aber nach den alten Quellen war er wohl eher ein Bankier, der mit hohen Summen handelte, die Münzen und Silberbarren waren vermutlich das, was man heute als Portokasse bezeichnen würde. Doch das sind Spekulationen.«

»Weiß man sonst noch etwas über ihn? Hatte er Familie? Eine Frau? Kinder?«

»Das ist nicht bekannt«, sagte meine Mutter. »Aber er wird wohl eine Familie gehabt haben.«

Ich mischte mich ein. »Bestimmt hatte er eine fünfzehnjährige Tochter!«

Tamara lachte und nickte mir zu. »Bestimmt.«

»Möglich«, sagte meine Mutter. »Oder einen fünfzehnjährigen Sohn.«

»Nein«, sagte ich, »es war eine Tochter. Und sie hieß Rebekka oder Ruth oder Rachel oder Debora oder Miriam oder Bathseba …«

»Oder Sarah«, sagte meine Mutter. »Woher kennst du denn all die biblischen Namen?«

Sie schaute mich mit einem dieser Blicke an, von denen ich nie wusste, ob sie wirklich verwundert oder nur gespielt verwundert waren, um mich zu provozieren.

»Ach, hör doch auf«, sagte ich. »Abgesehen davon, dass diese alten Namen wieder modern sind und es in unserer Klasse zwei Sarahs und eine Miriam gibt – hast du vergessen, wie oft du mich bei Oma abgeladen hast? In den Ferien und wenn ich krank war? Oder wenn du an irgendeinem Seminar teilnehmen musstest? Und damals, als du bei dieser Ausgrabung in Trier mitgemacht hast, war ich den ganzen Sommer bei ihr in Niederzimmern, über ein halbes Jahr lang. Ich bin sogar dort in die Schule gegangen.«

»Hat sie dich etwa auch mit biblischen Geschichten gefüttert?«, fragte sie.

»Womit denn sonst?«, fragte ich zurück. »Das musst du doch gewusst haben.«

Natürlich musste sie das gewusst haben, Oma war doch ihre Mutter. Und Oma war im Alter immer frommer geworden. Früher war sie Lehrerin gewesen, schon deshalb hatte sie jede Möglichkeit genutzt, mir etwas beizubringen. Und weil meine Mutter sie gebeten hatte, mit mir nicht über Religion zu sprechen, hatte sie mir eben außer Märchen und Fabeln auch viele Geschichten aus der Bibel erzählt.

»Bestimmt hatte er eine Tochter, dieser Kalman von Wiehe«, sagte ich. »Eine Tochter, die so alt war wie ich. Eine Tochter, die er über alles geliebt hat.«

»Werd jetzt bloß nicht sentimental«, sagte meine Mutter. »Kindheit war damals ganz anders als heute, man hat sich nicht groß um seinen Nachwuchs gekümmert. Kinder wurden geboren, manche sind gestorben und neue kamen auf die Welt. Kinder sind irgendwie mitgelaufen. Bei den ärmeren Leuten mussten sie sehr früh hart arbeiten, und die Mädchen hat man oft schon mit vierzehn, fünfzehn Jahren oder noch jünger verheiratet, auch wenn sie körperlich noch nicht so weit waren. Sie waren entwicklungsmäßig später dran als wir heute. Soviel ich weiß, haben die meisten Mädchen damals erst mit fünfzehn, sechzehn Jahren menstruiert.«

»Trotzdem«, sagte ich. »Ich bin sicher, dass dieser Kalman von Wiehe eine Tochter hatte und dass sie fünfzehn war. Und sie hat von dem Schatz gewusst.«

»Ach ja?«, sagte meine Mutter ironisch. »Und sie hatte einen Hund, der Herr Schneider hieß.«

Wenn sie solche Sprüche losließ, musste ich mich immer beherrschen, sie nicht anzuschreien oder in mein Zimmer zu laufen und die Tür hinter mir zuzuknallen.

Sie stand auf. »Wir müssen noch das Sofa für Tamara herrichten, bevor wir losziehen. Tamara und ich wollen uns noch ein bisschen die Beine vertreten.«

Von wegen die Beine vertreten, dachte ich noch immer wütend, klar, so lange, bis ihr zwei Barhocker gefunden habt, aber laut sagte ich: »Vielleicht möchte Tamara lieber in meinem Zimmer schlafen, ich könnte ja das Sofa nehmen.« Ich staunte selbst über meine Worte. Tamara hatte mir offenbar genauso den Kopf verdreht wie damals ihren Kommilitonen.

»Nein, nein«, sagte Tamara. »Macht euch keine Umstände, das Sofa reicht mir.«

Ich holte die Bettwäsche aus der Kommode, und meine Mutter brachte die Steppdecke für Gäste, die oben in ihrem Schrank verstaut war, und wir richteten das Sofa her, das Herr Schneider nur widerwillig geräumt hatte. Aber nachts schlief er sowieso auf seiner Decke vor meinem Bett.

Tamara umarmte und küsste mich, bevor sie gingen. Ich wurde ein bisschen steif, ich hasste es, angefasst zu werden. Aber seltsamerweise war mir ihre Berührung nicht unangenehm. Im Gegenteil. »Wollen wir morgen zusammen zu Mittag essen?«, fragte sie. »Wann hast du denn Schule aus?«

»Um eins«, sagte ich. »Prima, ich geh gern mit dir essen.«

»Gut, ich suche morgen Vormittag etwas aus und schicke dir eine Nachricht, wo wir uns treffen.« Sie tippte meine Nummer in ihr Handy.

Ich schaute ihnen vom Fenster aus nach. Meine Mutter war einen halben Kopf kleiner als Tamara und sehr schmal, von hinten sah sie aus wie ein Junge. Und von hinten sah ich ihr auch ähnlich, aber von vorn nicht. Ich hätte gern so ausgesehen wie sie, sie war blond und hellhäutig und sehr schön, ich war braunhaarig und braunhäutig und nicht sehr schön, das größte Kompliment, das ich mal bekommen hatte, war, ich sähe »apart« aus.

Als sie um die Ecke zur Moritzstraße gebogen waren, machte ich das Fenster zu und ging in mein Zimmer. Herr Schneider folgte mir und ließ sich schwer auf seine Decke plumpsen. Mein geliebter Bettvorleger. Ich konnte mir ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen. Ich kannte ihn, seit ich mich erinnern konnte, und seit fünf Jahren gehörte er mir. Ich schob die Hand über die Bettkante und kraulte ihn zwischen den Ohren. Er grunzte und stöhnte, legte den Kopf platt zwischen die Vorderpfoten und schloss die Augen.

Bevor ich die Nachttischlampe ausmachte, schaute ich auf meinem Handy nach, was meine »Freunde« gepostet hatten. Nichts Besonderes. Am interessantesten war noch Vanessa. Sie war mit ihrer Mutter shoppen gewesen und hatte ein Bild von sich in ihrem neuen Outfit hochgeladen. Ein taubenblauer Jumpsuit mit einem schwarzen Retrogürtel. Sie sah super aus, wie immer, sie spielte in einer anderen Liga, wie man so sagt, nicht nur, was mich betraf. Sie hatte schon neunzehn Likes bekommen.

Der »Russe« gehörte nicht zu Vanessas Freunden. Gehörte er eigentlich irgendwo dazu?

Ich schaltete mein Handy auf Stand-by und knipste das Licht aus. Gute Nacht, Tamara, dachte ich, schlaf gut. Und ganz schnell, als hätte ich ein schlechtes Gewissen, fügte ich hinzu: Gute Nacht, Mama. Und damit du’s weißt: Er hatte eine Tochter und sie hieß Rachel.

Das war der Durchbruch gewesen. Rachel nahm Gestalt an. Und mein Interesse an Alexej Tschernowitzer, den ich in Gedanken damals noch den »Russen« nannte, wuchs. Schließlich war er der einzige Jude in meinem Umfeld.

2 Rachel

Ich wache verwirrt auf und weiß nicht, wo ich bin und wer ich bin. Ich kenne diese Verwirrung, so etwas passiert mir öfter. Es ist, als hätte meine Seele den Körper verlassen und weigere sich, zurückzukommen. Erst als ich mir, noch immer mit geschlossenen Augen, vorsage: Ich bin Rachel, die Tochter Kalmans, kehrt meine Seele langsam wieder in meinen Körper zurück; und ich merke, dass ich auf meinem Lager liege. Ein Strohhalm hat sich durch das Leinen gebohrt und kratzt mich an der Hüfte.

Hat mich ein Hahnenschrei geweckt oder habe ich ihn nur geträumt? Ich lausche, höre aber nur ein leises Plätschern. Doch da ist er wieder, der Hahnenschrei, er kommt aus dem Hühnerstall hinter unserem Schuppen. Von der anderen Zimmerecke, von dem Schränkchen mit der Waschschüssel, dringt Prusten und Schnauben an mein Ohr, Agatha wäscht sich das Gesicht.

Ich blinzle und reibe mir den Schlaf aus den Augen. Im Dämmerlicht des neuen Morgens sehe ich Agathas breiten Rücken, sie steht, noch im Nachtgewand, vor der Waschschüssel, ihre Schlafhaube liegt daneben. Sie trocknet sich mit einem Tuch ab, lässt ihr Schlafgewand zu Boden gleiten, bindet sich das Mieder um, schlüpft in ihr Unterkleid, dann in ihr graues Gewand und legt den Gürtel um. Ich schaue ihr zu, wie sie sich die Haare kämmt und zu einem Knoten schlingt, bevor sie sich die Haube mit dem Spitzenrand über den Kopf stülpt und die Bänder unter dem Hals mit einer Schleife zusammenbindet.

Ich ziehe mir die Decke aus Schaffell über den Kopf, kneife die Augen zusammen und versuche wieder, mich an meinen Traum zu erinnern. Aber es gelingt mir nicht. Es war ein schöner Traum, das weiß ich, weil mir immer noch ein angenehmes Gefühl in den Gliedern steckt, ein Traum, der mit einem Hahnenschrei geendet hat und dessen Einzelheiten ich leider vergessen habe.

Agathas Stimme dringt durch die Decke an mein Ohr, eine freundliche, liebevolle Stimme. »Guten Morgen, Kind, hast du gut geschlafen?«

Ich schlage die Decke zurück und öffne endgültig die Augen, um den neuen Tag zu begrüßen. Agatha lächelt mir zu, wie sie es jeden Morgen tut, bevor sie hinuntergeht, um das Feuer im Herd anzumachen.

Bei uns verlaufen alle Tage gleich, wir sehen die gleichen Menschen, haben die gleichen Aufgaben, die wir erledigen müssen, sagen die gleichen Worte, hören die gleichen Worte. Ein Tag ist wie der andere. »Todlangweilig«, sagt Joschua oft, ich aber genieße den gleichmäßigen Fluss der Zeit, die Regelmäßigkeit gibt mir Halt, ich weiß, was von mir erwartet wird, und tue es, ohne groß nachzudenken. Veränderungen beunruhigen mich.

Auch dieser Tag fängt an wie immer. Ich stehe auf, als Agatha die Kammer verlassen hat, wasche mir an der Schüssel Gesicht und Hände und kleide mich an. Bevor ich in meine Schuhe schlüpfe, binde ich mit einem schmalen Leinenstreifen meinen etwas abstehenden rechten kleinen Zeh am Fuß fest. Dann gehe ich hinunter und helfe Agatha, die Morgenmahlzeit vorzubereiten. Durch die offene Tür sehe ich Burkhard, unseren Kutscher, über den Hof gehen, wie üblich versorgt er morgens unser Pferd und die beiden Ziegen und füttert hinter dem Schuppen die Hühner und die Gänse. Inzwischen ist auch mein Vater aufgestanden, ich höre seine schweren Schritte auf der Treppe und seine Stimme, als er meinen Bruder Joschua weckt.

Nach dem Essen, während ich Agatha helfe, die Küche und die Vorratskammer aufzuräumen und zu fegen, horche ich gespannt, ob ich das Hoftor knarren höre. Josef ben Zion muss bald kommen, der meinen Bruder in der Thora und im Lesen und Schreiben unterrichtet. Mein Vater hat erlaubt, dass ich,ein Mädchen, am Unterricht teilnehme. Wir lernen nicht nur die hebräischen Buchstaben, sondern auch die deutschen. Anders als Joschua liebe ich das Lernen und freue mich jeden Tag auf diese Stunden und darauf, dass Josef ben Zion mich lobt, weil ich eine eifrige Schülerin bin, viel eifriger als Joschua, dem das Stillsitzen schwerfällt. Josef ben Zion ist noch jung, nur wenige Jahre älter als ich. Ich schaue ihn nie direkt an, weil auch er mich nie direkt ansieht, sein Blick gleitet immer irgendwie an mir vorbei, und selbst wenn er mich anspricht, ist es, als spräche er mit einem geisterhaften Wesen neben mir.

Er bestreitet seinen Lebensunterhalt mit Unterrichten, denn seine Mutter, eine arme Witwe, kann nicht für ihn aufkommen. Tag für Tag besucht er, nachdem er das Mittagsmahl bei uns eingenommen hat, die Synagoge der Talmudjünger und studiert die Thora. Manchmal betrachte ich ihn heimlich von der Seite und überlege, ob Samuel, der junge Mann aus Nürnberg, Sohn eines Geldverleihers, den mein Vater mir zum Bräutigam bestimmt hat, vielleicht so ähnlich aussieht, mit ebensolchen dunklen Locken, einer feinen, geraden Nase mit beweglichen Nasenflügeln, mit schön geschwungenen Lippen und einem flaumigen Bart. Dann erfüllt mich eine unbestimmte Sehnsucht, und ich muss den Kopf tief über die Bücher senken, um zu verbergen, dass mir das Blut in die Wangen steigt.

In zwei Jahren soll ich heiraten, so lange muss ich noch warten. »Ich brauche dich hier, bis Joschua seine Bar Mizwa gefeiert hat«, hat mein Vater gesagt, »erst danach kann ich dich ziehen lassen.« Das ist mir recht, denn ich weiß nicht, ob ich mich auf meine Vermählung freuen soll oder nicht, ich kann mir meine Zukunft als Ehefrau und Mutter nicht wirklich vorstellen, trotzdem denke ich manchmal darüber nach.

»Das Leben einer Frau besteht aus vielen Pflichten, von denen du noch nichts weißt«, hat Agatha gesagt, als ich Samuel neulich einmal erwähnt habe, beiläufig, damit sie nicht merkt, dass ich hin und wieder an ihn denke. »Mach dir keine Sorgen, Rachel, genieße es, dass du noch ein Kind bist.«

Hätte ich noch eine Mutter, könnte ich sie fragen, wie das ist und welche geheimen Pflichten auf mich warten. Oder wenn meine Großmutter noch lebte, die vor fünf Jahren in die andere Welt gegangen ist.

Draußen knarrt das Hoftor. Ich lasse den Besen einfach fallen und rufe nach Joschua. Josef ben Zion ist gekommen, die wichtigsten Stunden des Tages erwarten uns.

Später, nach dem Mittagessen, das bei uns oft nur aus einer Hafersuppe mit Sauermilch und Brot besteht, helfe ich Agatha, den Tisch abzuräumen, das Geschirr zu säubern und in den Schrank zu stellen. Dann gehe ich in den Garten zu dem Heilkräuterbeet, das meine Großmutter angepflanzt hat und das von Agatha sorgfältig gepflegt wird. Vor dem Beet wächst Löwenzahn. Ich pflücke die ersten Blätter, um unser Abendessen mit etwas frischem Grün anzureichern, bevor wir, Agatha und ich, die Wäsche für den morgigen Waschtag vorbereiten. Die groben Leintücher und unsere Leibwäsche müssen eingeweicht werden, ebenso die Beinkleider von Burkhard, unserem Kutscher, von meinem Vater und von Joschua. Danach wird es schon Zeit, dass wir uns um die Abendmahlzeit kümmern, zwei gebratene Hühner mit Hirsebrei und Bohnen.

Ich lege mir gerade die nackten Hühner zurecht, die Agatha schon gerupft, gewässert und gesalzen hat, und greife nach dem Messer, da höre ich, wie an unser Tor geklopft wird. Ein lautes, forderndes Klopfen, das »Aufmachen!« schreit. Ich hebe neugierig den Kopf und recke mich, um durch das kleine Fenster zu sehen, was draußen passiert.

Burkhard, unser Kutscher, der auch als Knecht dient, geht zum Tor. Nachdem er sich erkundigt hat, wer Einlass begehrt, schiebt er die Riegel zurück und öffnet die beiden großen Torflügel. Vom Küchenfenster aus kann ich, wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle, alles genau beobachten. »Was ist?«, fragt Agatha neugierig. Sie trocknet sich die Hände an ihrer Schürze ab und stellt sich neben mich.

»Eine Kutsche kommt«, berichte ich und halte mich mit beiden Händen an der Fensteröffnung fest, um ja nichts zu verpassen.

Die Kutsche ist zweispännig und eleganter, als man sie bei uns für gewöhnlich sieht. Auf dem Bock sitzt ein Kutscher in einem dunkelgrünen Wams und mit einer grünen Kappe auf dem Kopf. Er legt die Peitsche zur Seite, springt ab und reißt die Wagentür auf. Ein groß gewachsener, etwas dicklicher und offenbar nicht mehr junger Mann steigt umständlich heraus und dehnt Arme und Beine, die vom langen Sitzen wohl ein wenig steif geworden sind. Sein Bart ist von grauen Strähnen durchzogen, das kann ich sogar von hier aus sehen. Er trägt einen dunklen Umhang und über einer blauen Gugel eine tief ins Gesicht gezogene Kopfbedeckung, die er erst zurückschiebt, als mein Vater aus der Haustür tritt, die Arme ausbreitet und mit schnellen Schritten auf ihn zugeht.

Erstaunt sehe ich, wie herzlich mein Vater den Fremden begrüßt. Die beiden Männer fallen einander in die Arme wie Brüder, die sich nach langer, viel zu langer Zeit endlich wiedersehen. Sie küssen sich auf die Wangen und klopfen sich gegenseitig auf Rücken und Schultern. Ihre Freude ist offensichtlich, doch was sie sagen, kann ich nicht verstehen, ich sehe nur, dass sich ihre Lippen bewegen, wenn sie sich zwischendurch voneinander lösen, einen Schritt zurücktreten und sich anschauen, als könnten sie dieses Wiedersehen nicht fassen, bevor sie sich erneut in die Arme fallen.

Agatha schiebt mich zur Seite, um durch das Fenster schauen zu können. »Weißt du, wer das ist?«, fragt sie erstaunt, und als ich den Kopf schüttle, geht sie zum Herd zurück und murmelt: »Da werden wir für heute Abend wohl ein bisschen mehr kochen müssen.«

Inzwischen hat Burkhard das Tor geschlossen. Er hilft dem Kutscher des Fremden, die beiden Pferde, einen Fahlbraunen und einen Gescheckten, auszuspannen, holt ein Bündel Stroh und macht sich mit dem anderen Mann daran, die beiden Tiere abzureiben, die vor Anstrengung förmlich dampfen. Als sie einigermaßen trocken sind, nimmt Burkhard sie am Zügel und führt sie in den Stall, zu unserem alten Braunen, um sie zu füttern. Der fremde Kutscher folgt ihm.

Mein Vater und sein Gast können sich noch immer nicht voneinander lösen, wieder und wieder schauen sie sich staunend an und fallen sich in die Arme. So freudig erregt habe ich meinen Vater nicht oft gesehen, eigentlich noch nie. Endlich lassen die beiden Männer die Arme sinken und mein Vater führt seinen Gast zur Haustür neben dem Küchenanbau.

Die Hühner liegen vor mir auf der Holzplatte und warten darauf, in Stücke zerteilt zu werden, die wir später auf der offenen Feuerstelle vor der Küche rösten werden. Agatha hat, was sie öfter tut, wenn wir allein sind, ihre Haube abgesetzt, unter der es ihr leicht zu heiß wird, und zerstößt Hirse zu einem Brei, den wir zu den gebratenen Hühnern essen wollen. Die Bohnen sind schon seit dem Vorabend eingeweicht.

Meine Finger bewegen sich wie von selbst, sie kennen ihre Arbeit und wissen, was sie zu tun haben. Ich muss nur aufpassen, dass ich mich nicht schneide, während ich gleichzeitig angestrengt horche, ob ich durch das offene Fenster irgendetwas von dem mitbekomme, was in der Stube, in der mein Vater seine Leihgeschäfte erledigt, gesprochen wird, doch Agathas gleichmäßiges Mörsergestoße macht es mir unmöglich. Außer einem unverständlichen Gemurmel dringt nichts an mein Ohr, jedenfalls kein klares Wort.

Ich bin gerade mit dem Zerteilen der Hühner fertig geworden, da öffnet mein Vater die Tür und ruft laut nach Joschua und mir. »Kommt und begrüßt unseren lieben Gast!«, ruft er.

Ich wasche mir die Hände im Wasserkübel und gehe zögernd hinüber zur Haustür. Hinter dem Schuppen gackern die Hühner, ab und zu hört man das Fauchen einer Gans, und auf dem Dach gurren ein paar Tauben. Mein Bruder wartet schon vor der Tür auf mich, er deutet auf die Kutsche und fragt neugierig: »Hast du gesehen, wem sie gehört?« Im Gegensatz zu mir, die ich eher zurückhaltend und ängstlich bin, ist er freudig erregt, ihm ist jede Abwechslung willkommen. Er hat Hummeln im Hintern, wie Agatha es ausdrückt.

Der Besucher hat Umhang, Hut und Gugel abgelegt und über eine Stuhllehne gehängt. Sein langer Leibrock, der über seinem Bauch ein bisschen spannt, ist hellgrün, dazu trägt er dunkelblaue Beinlinge und rote Schnabelschuhe. Im Gegensatz zu unserem Vater legt er offenbar Wert auf elegante Kleidung. Er ist fast ebenso groß wie unser Vater, wirkt aber wegen seiner gebeugten Haltung etwas kleiner. Auf dem Hinterkopf trägt er, genau wie unser Vater, ein blaues, silberbesticktes Käppchen. Seine grauen Pejes sind in lange Locken gedreht und sein Bart ist sorgfältig gestutzt, auch darin gleicht er unserem Vater. Die beiden Männer sehen sich ähnlich, sie könnten Brüder sein, auch wenn der Gast deutlich fülliger und wohl auch ein paar Jahre älter ist.

»Das ist Meir Nachum von Köln, mein alter Freund«, sagt unser Vater und legt dem Mann den Arm um die Schulter. »Und das sind meine Kinder Joschua und Rachel. Sie sind groß geworden, nicht wahr?«

»Groß und schön«, sagt der Mann und lächelt uns freundlich zu. »Ihr könnt euch bestimmt nicht an mich erinnern. Als ich euch das letzte Mal gesehen habe, wart ihr noch sehr klein. Du, Joschua, hast gerade deine ersten Schritte gemacht und bist dauernd hingefallen, aber du hast nicht geweint, du bist immer wieder aufgestanden und hast es erneut versucht. Das hat mich damals sehr beeindruckt.«

Das heißt, dass er unsere Mutter gekannt hat, schießt es mir durch den Kopf. Damals war sie noch am Leben. Sie ist im Kindbett gestorben, zusammen mit unserem kleinen Bruder, als Joschua zwei Jahre alt war und ich sechs. Ich kann mich nur noch undeutlich an sie erinnern, auch wenn ich oft versuche, ihr Gesicht vor mir zu sehen. Doch genau dann, wenn ich glaube, jetzt, jetzt weiß ich wieder, wie sie ausgesehen hat, verschwimmt ihr Gesicht zu einem hellen Fleck mit zwei dunklen Augen, der sich auflöst, je mehr ich ihn mit den Blicken festzuhalten versuche, und am Schluss verschwindet ihr Antlitz in einer Art Nebel, in einer Wolke an einem grauen Himmel.

Joschua, der sich überhaupt nicht mehr an sie erinnert, lacht den Fremden an. »Jetzt kann ich nicht nur auf den Füßen laufen, sondern sogar auf den Händen!«, ruft er und springt sofort auf, um Meir Nachum von Köln, dem Freund unseres Vaters, sein Kunststück vorzuführen. Er macht einen Handstand und fängt an, sich rasch und geschickt vorwärtszubewegen. Seine Beinkleider rutschen bis zu den Knien, man sieht seine nackten Waden.

»Joschua!«, ruft mein Vater tadelnd. Es ärgert ihn, dass mein Bruder lieber Kunststücke übt, als bei unserem Lehrer Lesen und Schreiben und die Thora zu lernen. Joschua springt mit einem Satz zurück auf die Füße.

»Wie geschickt du bist, ein richtiger Akrobat«, sagt Meir Nachum. »Du könntest tatsächlich auf dem Jahrmarkt auftreten.« Er streckt die Hände aus, um Joschua zu umarmen. Aber mein Bruder, der es hasst, angefasst zu werden, zieht eine Grimasse und duckt sich unter den Armen des Gastes hinweg. Er lässt sich die Umarmung erst gefallen, als mein Vater noch einmal »Joschua!« sagt, diesmal etwas lauter und schärfer.

Meir Nachum mustert mich, und ich spüre, wie mir die Röte ins Gesicht steigt. So bin ich immer, wenn ein Fremder mich anschaut, am liebsten würde ich mein Gesicht hinter den Händen verstecken und noch lieber würde ich in der Erde versinken.

»Du siehst deiner seligen Mutter sehr ähnlich«, sagt Meir Nachum dann, »du hast auch ihre schönen, rotblonden Haare geerbt.« Und er fügt, wie es die Sitte verlangt, hinzu: »Sie war eine gute Frau, deine Mutter, ihr Andenken gereiche uns zum Segen.«

Ich wische mir mit der Hand über die Augen, wie ich es immer tue, wenn es um meine Mutter geht, obwohl meine Augen trocken sind und ich nur ein leichtes Brennen spüre. Hilflos lasse ich die Hand wieder sinken und fange vor Verlegenheit an zu stottern. »Ich muss in die Küche zurück«, stammele ich. »Agatha braucht meine Hilfe, damit wir unseren Gast angemessen bewirten können.«

»Geh nur, Tochter«, sagt mein Vater. »Und decke den Tisch zur Feier des Tages.«

Das hätte er mir nicht aufzutragen brauchen, seine überschwängliche Freude über die Ankunft seines Freundes hat mir schon gezeigt, dass ich die Decke, die meine Mutter selbst mit blauen Blumen bestickt hat, auflegen und das kostbare Silbergeschirr aus dem Schrank holen muss.

»Und kümmere dich bitte darum, dass mein Kutscher etwas zu essen bekommt«, sagt Meir Nachum. »Er ist bestimmt rechtschaffen hungrig, ich habe unterwegs das Brot gegessen, das uns der Wirt heute Morgen mitgegeben hat, aber der arme Kerl hat die ganze Zeit auf dem Bock gesessen.«

»Ja«, sage ich, »ja, natürlich. Ich werde unseren Kutscher Burkhard bitten, ihm einen Imbiss vorzusetzen, bis zur Abendmahlzeit dauert es noch eine Weile.«

»Und vergiss nicht, ein Nachtlager für unseren Gast herzurichten!«, ruft mein Vater mir noch nach.

Joschua nützt die Gelegenheit, um mit mir aus der Stube zu verschwinden.